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Attac-Positionspapier:
Alternative Weltwirtschaftsordnung

Maintainer: Markus Göker, Version 4, 05.10.2004
Projekt-Typ:
Status: Archiv

(1)

Attac-Memorandum
Wege zu einer Alternativen Weltwirtschaftsordnung (AWWO)

Positionen in Attac-Deutschland

dritter Entwurf (September 2004)

Hinweise zur Nutzung dieses Forums: Siehe www.attac.de/awwo/opentheory
Vorwort
Einleitung
I. Die herrschende Weltwirtschaftsordnung führt die Menschheit in die Sackgasse
1. Was bedeutet "Globalisierung"? - Begriffsklärungen
2. Folgen der neoliberalen bzw. kapitalistischen Globalisierung
3. Triebkräfte der Globalisierung
3.1 Freihandelsdoktrin
3.2. Wachstumsdoktrin
3.3. Neue technologische Möglichkeiten und Bedingungen
3.4 Transnationale Konzerne (TNK)
3.5 Das Welthandelssystem
3.6 Die EU: Motor der Globalisierung
3.7 Globale Finanzströme und ihre Institutionen (IWF und Weltbank)
3.8 Globale Machtasymmetrien schaffen Gewaltpotenziale
II. Eine alternative Weltwirtschaftsordnung ist möglich
1. Leitbilder und Leitideen
1.1 Leitbild: nachhaltige Entwicklung
1.2 Leitideen für zukunftsfähige Gesellschaften
2. Strategien: Wie umgehen mit der Globalisierung
     - Position Globalisierung gerechter gestalten
     - Position Entglobalisierung
     - Position Lokalisierung
3. Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
     - Position Öko-soziale Marktwirtschaft
     - Position Ökologische Wirtschaftsdemokratie (...)
     - Position Demokratisches Wirtschaften (...)
III. Wege zu einer alternativen Weltwirtschaftsordnung
1. Weltwirtschaftsordnung im ökologischen Gleichgewicht
1.1 Der ökologische Umbau
2. Beschränkung der Macht transnationaler Konzerne
3. Neuordnung des Welthandels
3.1 Mechanismen der Welthandelsordnung
3.2 Neuordnung des Warenhandels
3.3 Neuordnung des internationalen Dienstleistungsverkehrs
3.4 Weltagrarmarkt
3.5 Geistiges Eigentum und Technologietransfer
4. Für eine andere EU und faire Handelsverträge
4.1 Regionale Handelsblöcke und bilaterale Verträge
4.2 Eine andere EU - sozial, ökologisch und antimilitaristisch
5. Neuordnung der Währungs- und Finanzbeziehungen
5.1 Finanzbeziehungen
5.2 Währungsbeziehungen
5.3 Internationale Organisationen und Institutionen
5.4 Steuerpolitik
6. Strategien und Bündnisse auf dem Wege zu einer Alternativen Weltwirtschaftsordnung

(2) Vorwort

(3) Liebe LeserInnen,
vor Euch liegt der dritte Entwurf des Memorandums „Wege zu einer Alternativen Weltwirt- schaftsordnung – Positionen in Attac Deutschland", bekannt geworden als „AWWO- Papier". Dieser Entwurf ist das Ergebnis eines 21-monatigen Diskussions- und Arbeitspro- zesses, der mit dem Beschluss des Attac-Ratschlags in Göttingen im Januar 2003 gestartet wurde, ein Attac-Positionspapier „Für eine ökologische und solidarische Weltwirtschafts- ordnung" zu erarbeiten. An dem Diskussionsprozess haben sich seither mehrere Hundert Attac-AktivistInnen beteiligt: auf der Tagung des Wissenschaftlichen Beirats von Attac ge- meinsam mit der AG AWWO zum ersten Entwurf des Papiers im Juni 2003, deren Fachbei- träge in einem Buch „Alternative Weltwirtschaftsordnung" (Biesecker et al., VSA, Berlin 2004) der Öffentlichkeit vorgestellt wurden; als TeilnehmerInnen der AWWO-Workshops auf der Sommerakademie in Münster 2003, des McPlanet.com-Kongresses in Berlin 2003, der Attac-Ratschläge in Göttingen, Aachen und Essen, als TeilnehmerInnen der AWWO- Regionalkonferenzen in Tübingen, Hannover, Dresden (während der Sommerakademie 2004) oder Schwerte bei Dortmund (als Konferenz „Mythos Wirtschaftswachstum?"), als TeilnehmerInnen eines der sechs bundesweiten AWWO-Treffen oder von zahlreichen lokalen Arbeitsgruppen, die an dem Thema AWWO gearbeitet haben; oder einfach über die Website, die Email-Liste oder das open-theory-Webforum (alles über http://www.attac.de/awwo/ erreich- bar).

(4) Naomi Klein hat darauf hingewiesen, dass der Kapitalismus selbst wieder in Frage gestellt wird – endlich, nachdem zehn Jahre lang das „Ende der Geschichte" verkündet worden war. Attac vereint reformorientierte Globalisierungskritiker, radikale Globalisierungsgegner und Antikapitalisten im Kampf für eine andere Welt.
Eine Welt,

(5) Über die Ziele, die Wege dorthin und die einzusetzenden Instrumente wird bei Attac enga- giert und kompetent diskutiert – Ausdruck gelebter Vielfalt und Wurzel der Stärke der Be- wegung. Diese kontroversen Diskussionen sind im Papier herausgearbeitet:

(6) Dieses Memorandum (dritter Entwurf) stellt den derzeitigen Diskussionsstand bei Attac Deutschland dar, es gibt alten und vor allem neuen Mitgliedern Orientierung und trägt zur argumentativen Schärfung nach innen und nach außen bei. So unterstützt es unser Ziel, eine andere Welt auf diesem Planeten und in unserer Zeit Wirklichkeit werden zu lassen. Im Sin- ne jenes Wortes der Zapatistas:
Fragend schreiten wir voran.

(7) Eure AWWO-Redaktionsgruppe
Markus Göker (Tübingen)
Michael Kox (Kiel)
Till Mossakowski (Bremen, Oekonux-AG)
Eberhard Schlecht (Pforzheim)
Oliver Schmidt (Mainz, Attac-AG Welthandel und WTO)
Eckhard Stratmann-Mertens (Bochum, Attac- AG Welthandel und WTO)

(8) Einleitung

(9) „Eine andere Welt ist möglich". Weltweit eint dieser Slogan Globalisierungskritiker und -gegner in ihrem Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung. Wir sind nicht länger bereit, die Globalisierung wie einen Sachzwang oder gar als naturhaft- unausweichlich hinzunehmen. Indem wir die Möglichkeit von Alternativen propa- gieren, untergraben wir auch die Legitimation derjenigen, welche die konzernge- steuerte Globalisierung vorantreiben und von ihr profitieren. Die Zunahme von Armut in weiten Teilen der Erde, die immer größer werdende Kluft innerhalb der reichen Industriestaaten und zwischen ihnen und den armen Gesellschaften des Südens, die Ausbreitung von globalen Umweltproblemen sowie die Konzentration von ökonomischer und politischer Macht in Händen von transnationalen Konzer- nen zwingen uns, die treibenden Kräfte und Interessen hinter diesen Entwicklungen beim Namen zu nennen, aber gleichzeitig auch nach Auswegen zu suchen.

(10) „Wir setzen uns ein für eine ökologische und solidarische Weltwirtschaftsordnung" (Attac-Erklärung, Frankfurt 2002). Diese Zielmarke reicht auf Dauer genauso wenig aus wie der pure Appell, eine andere Welt sei möglich. Zunehmend wird sowohl in der globalisierungskritischen Bewegung selbst als auch in der hellhörig gewordenen Öffentlichkeit konkret nach unseren Alternativen gefragt. Diese Fragen wollen wir mit der vorliegenden Positionsbestimmung von Attac aufgreifen.

(11) Das Memorandum beschreibt „Wege zu einer alternativen Weltwirtschaftsord- nung". Es gibt nicht den einen Königsweg, sondern zur Vielfalt der globalisierungs- kritischen Bewegung und von Attac selbst gehört auch eine Vielfalt von politischen und strategischen Wegen und Ansätzen. Das Papier bringt diese Vielfalt zum Aus- druck und soll zugleich einen breiten gesellschaftlichen Diskurs über diese Wege anstoßen. Damit ist dieses Papier zugleich eine Station des Diskussionsprozesses, in dessen Verlauf sich diese Positionsbestimmung weiter differenzieren und verän- dern wird.

(12) Die Absicht des Memorandums ist es, das zum Ausdruck zu bringen, was allen Gruppierungen und Aktiven bei Attac gemeinsam, was Konsens ist. Damit kann dieser Konsens auch in der Gesellschaft breiter diskutiert und verankert werden. Genauso werden in dem Papier aber auch verbleibende Unterschiede und Differen- zen bei Attac hinsichtlich der Zielbestimmung und der Wege zum Ziel deutlich ge- macht. Darin sehen wir nicht eine Schwächung unseres Netzwerkes und der Bewe- gung. Im Gegenteil: Je klarer Differenzen deutlich gemacht werden, umso lebhafter und fundierter kann der Diskurs darüber geführt werden. Die Lebendigkeit der politischen Auseinandersetzung bringt uns voran und bietet Orientierung für alle diejenigen, die Unbehagen an den Auswirkungen der Globalisierung empfinden.

(13) Das Spannungsverhältnis zwischen reformorientierten Globalisierungskritikern, radikalen Globalisierungsgegnern und Antikapitalisten kann sich als förderlich für eine gemeinsame Wegstrecke zu einer alternativen Weltwirtschaftsordnung erwei- sen: Denn ohne langfristige Utopien laufen kurz- bis mittelfristig ansetzende Re- formvorschläge Gefahr, von den herrschenden Kräften vereinnahmt zu werden; und ohne die Fähigkeit, konkrete und praktisch wirksame Reformen vorzuschlagen, verlieren radikale Utopien ihren Realitätsbezug.

(14) Attac ist ein Netzwerk innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung; dieses Memorandum ist gerade aufgrund seiner Offenheit und Vielfältigkeit kein stati- sches Programm, vielmehr ein Zwischenergebnis. Es nimmt die Alternativansätze aus den unterschiedlichen Bewegungs- und Gruppenzusammenhängen auf. Ohne sich in detaillierten Einzelforderungen zu verlieren, will es Eckpunkte einer ökolo- gischen, solidarischen und demokratischen Weltwirtschaftsordnung deutlich ma- chen und damit öffentlich zur Diskussion stellen.

(15) Die Auseinandersetzung um Alternativen zum Neoliberalismus oder zur Markt- wirtschaft, um private und öffentliche Interessen, um die Verwirklichungschancen reicher und armer Menschen ist selbstverständlich nicht auf die Gestalt der inter- und supranationalen Ordnung beschränkt. Sie findet genauso auf nationaler Ebene statt, in Deutschland z.B. in der politischen Auseinandersetzung um die Agenda 2010. Gestaltung und Finanzierung von Gesundheitsversorgung, Alterssicherung, Arbeitsbeziehungen, Bildung,…: Eine Bewegung, deren Gründungsepos eine steu- erpolitische Forderung ist, setzt sich selbstverständlich mit diesen Fragestellungen auseinander. So zeigen auch wir an verschiedenen Stellen Anknüpfungspunkte zu Fragestellungen der genannten Art auf. Diese gebieten jedoch eine eigenständige, intensive Auseinandersetzung mit diversen Sachfragen. Wir maßen uns nicht an, sie alle innerhalb eines 36-seitigen Papiers beantworten zu können und wollen es auch nicht. Dafür sind andere bei Attac kompetent, wie z.B. die Anti- Privatisierungskampagne oder die jüngeren Vorschläge zur Einfachsteuer zeigen. Wir konzentrieren uns auf die Gestalt der internationalen und globalen Beziehun- gen und ihre Ordnung sowie auf die Strategien, diese Gestalt im Sinne unserer ge- meinsamen Grundsätze zu verändern.

(16) Gegliedert ist das vorliegende Memorandum in die drei Hauptabschnitte „I. Die herrschende Weltwirtschaftsordnung führt die Menschheit in die Sackgasse", „II. Eine alternative Weltwirtschaftsordnung ist möglich" und „III. Wege zu einer alter- nativen Weltwirtschaftsordnung"; diese Gliederung entspricht den drei Stufen einer Entscheidungsfindung: Diagnose („Was ist die Situation?"), Utopie („Welche Ziele haben wir?") und Planung („Wie erreichen wir angesichts der momentanen Situati- on diese Ziele?"). Parallele Kontroversen ziehen sich durch alle drei Kapitel: Eine andere Auffassung von den Ursachen der gegenwärtigen Krise (Kapitel I) wird i.d.R. einer anderen Utopie entsprechen (Kapitel II) und dementsprechend oft ande- re politische Vorschläge und Praktiken (Kapitel III) nach sich ziehen – auch hier schlägt sich die Vielfalt der Ansätze bei Attac nieder.

(17) I. Die herrschende Weltwirtschaftsordnung führt die Menschheit in die Sackgasse

(18) 1. Was bedeutet „Globalisierung"? – Begriffsklärungen

(19) Der Prozess der Globalisierung ist nicht neu, er ist mindestens so alt wie die Entste- hung von Welthandel und Weltmarkt. Neu am derzeit stattfindenden Prozess der Globalisierung – die seit Anfang der 1990er Jahre so genannt wird – ist die Entfesse- lung globaler Finanz- und Kapitalströme. Während sich von 1985 bis 1997 das weltweite Bruttoinlandsprodukt (BIP) lediglich verdoppelte, wurden die weltweiten Exporte verdreifacht, die (außenhandelsbezogenen) Finanzströme verfünffacht und die Kapitalströme (Direktinvestitionen) versiebenfacht. Seit etwa Mitte der neunzi- ger Jahre haben auch Unternehmenszusammenschlüsse und Firmenübernahmen an Häufigkeit und Transaktionsvolumen drastisch zugenommen. Die Transnationalen Konzerne wickeln einen zunehmend großen Teil des Welthandels konzernintern ab. Wesentlich für diesen Prozess der Globalisierung ist die Tendenz, Selbstversor- gungswirtschaften und regionale Wirtschaftsformen zu zerstören, um globale Märk- te und abhängige Konsumenten zu schaffen.

(19.1) Alternative Weltwirtschaftsordnung, 18.10.2004, 14:32, Manfred Kopf: siehe 3. Zeile: "Entfesselung" ist in der Regel ein positiver Begriff. Oder wollen wir alle in Fesseln herumlaufen? "starke Intensivierung" oder "extreme Verstärkung" wäre vielleicht angebrachter.

(20) Position Kritik der Globalisierung: Die Globalisierung hat dabei durchaus posi- tive Aspekte: nach der feudalen Kleinstaaterei werden nun auch die National- staaten (deren Geschichte mit Blut geschrieben wurde) mehr und mehr über- wunden, die ökonomische Vernetzung führt – neben ökonomischen Vorteilen – zur Überwindung kultureller Schranken. Die Kritik richtet sich gegen die neoli- berale Globalisierung, d.h. die weltweite Dominanz der Ökonomie und die Zu- rückdrängung politischer Einflussmöglichkeiten. Diese Kritik ist selbst global geworden, sichtbar z.B. auf den Weltsozialforen: eine Globalisierung des Protes- tes, des Widerstands, der Hoffnung („Globalisierung von unten").

(21) Position Gegen Globalisierung: Das Charakteristische an der sogenannten Glo- balisierung ist, dass nationale, regionale und lokale Einheiten und Besonderhei- ten unterworfen werden unter die Verwertungsinteressen global agierender transnationaler Kapitalgruppen und der ihnen hörigen globalen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen sowie nationaler Regierungen (bis hin zur EU). Diese Unter- werfung und Gleichschaltung vollzieht sich keineswegs nur auf den Finanz- und Gütermärkten, sondern auch im gelebten Alltag von Frauen und Männern in Be- trieben, auf den Feldern, in Haushalten und in sozialen Beziehungen. Dabei ist es zweitrangig, um welche Variante der globalen kapitalistischen Entwicklung es sich handelt: um das Projekt des Neoliberalismus mit seiner universellen Durch- setzung der Freihandelsdoktrin oder um die neo-keynesianische Re-Regulierung des expandierenden kapitalistischen Weltmarktes. – Internationalismus ist im Unterschied zur Globalisierung die gleichberechtigte Form grenzüberschreiten- der Zusammenarbeit und Vernetzung auf ökonomischer, politischer und kultu- reller Ebene.

(22) 2. Folgen der neoliberalen bzw. kapitalistischen Globalisierung

(22.1) Textvorschlag, 18.10.2004, 14:45, Manfred Kopf: Die Folgen der neoliberalen Globalisierung sind die Auflösung der traditionellen zwischenmenschlichen Beziehungen, wie sie sich in den Wertvorstellungen, Gesellschaftsordnungen und Rechtssystemen der Völker und Staaten etabliert haben. Einer Phase der Befreiung der Menschen von überholten Moralvorstellungen, wie sie z. B. in den letzten Jahrzehnten in den meisten Staaten Europas stattgefunden hat, folgt nun eine Phase der Vereinzelung der Menschen. Der Mensch lernt, sein - endliches - eigenes Leben in den Mittelpunkt seines Denkens zu stellen und das Vergnügen zu maximieren. Somit wird die Rolle des Menschen als Konsument seine wichtigste, in Zukunft vielleicht seine einzige Rolle.

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(25.1) 18.10.2004, 15:01, Manfred Kopf: Textvorschlag: "Steigender internationaler Handel bedeutet nicht nur beschleunigte Stoffströme sowie Steigerung von Verkehr, Energieverbrauch, vorübergehend auch Steigerung von Schadstoffausstoß und Treibhausgasemissionen, sondern auch Austausch von Informationen, Wissen und Erfahrung, Austausch von Menschen, von Arbeitsplätzen, Austausch von Erfahrungen im Umgang mit Problemen. Voraus es uns ankommt ist, dass nicht der Neoliberalismus die erste Welt in die dritte Welt verwandelt, sondern dass die dritte Welt zur ersten Welt aufholt.

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(28) 3. Triebkräfte der Globalisierung

(29) 3.1 Freihandelsdoktrin

(30) „Freihandel" meint unbeschränkten Waren- und Dienstleistungsaustausch zwi- schen Nationalstaaten oder größeren oder kleineren Regionen. Das Gegenteil von Freihandel bedeutet dementsprechend nicht die Abwesenheit von Handel zwischen solchen Einheiten, sondern dessen Regulierung durch Ein- oder Ausfuhrbeschrän- kungen. Die Freihandelstheorie, ursprünglich von Ricardo mit dem Theorem der komparativen Kostenvorteile begründet, geht davon aus, dass Freihandel in jedem Fall für alle beteiligten Regionen bzw. Nationen von Vorteil sei und selbst zwi- schenzeitliche Ungleichheiten durch den vom Freihandel hervorgerufenen Produk- tionszuwachs bei weitem aufgewogen würden. So hätten sich Nationen, die sich für den Freihandel geöffnet hatten, ökonomisch deutlich vorteilhafter entwickelt. Heute bezieht sich diese Doktrin (die von IWF, Weltbank und WTO durchgehend vertre- ten wird) neben Waren und Dienstleistungen auf alle Produktionsfaktoren (Ströme von Arbeit, Kapital, Eigentumsrechten an Boden, Wissen). Eine wichtige Kontrover- se entspinnt sich aber schon beim Warenhandel:

(31) Position Globalisierung gerechter gestalten: Freihandel ist als eine Form friedli- chen, gleichberechtigten Austausches zwischen Völkern und Regionen wün- schenswert; Freihandel als eine Form konzerngesteuerter Wirtschaft, frei von staatlicher und gesellschaftlicher Kontrolle sowie frei von Verantwortung für die Natur und die kommenden Generationen ist dagegen abzulehnen. Märkte brau- chen national wie international einen demokratisch fundierten Rahmen, der lenkt und erhält. Nur Volkswirtschaften, deren Regelsystem diese Funktionen ausfül- len kann, können erfolgreich Marktwirtschaften ausbilden und am internationa- len Handel teilnehmen. Noch nicht hinreichend entwickelte Volkswirtschaften müssen zunächst mit Hilfe protektionistischer Maßnahmen ihre Position stärken. Die Verfechter der Freihandeldoktrin verwechseln dagegen Ursache und Wir- kung.

(32) Position Entglobalisierung: Handelsregulierung muss die Regel sein, von der Freihandel nur die begründete Ausnahme sein kann. Freihandel widerspricht unter anderem dem Ziel einer Internalisierung von sozialen und ökologischen Kosten und führt zu einem globalen Standardsenkungswettbewerb („race to the bottom"). Selbst wenn dem durch internationale Vereinbarungen entgegenge- wirkt werden könnte, widerspricht Freihandel immer noch den Vorteilen, die ei- ne starke Regionalisierung der Wirtschaft für Demokratie und Ökologie hat und zwingt zu einer Spezialisierung, die unabhängige Produzenten zu abhängigen Konsumenten macht.

(33) 3.2 Wachstumsdoktrin
Unumstritten ist, dass die Wachstumsdoktrin, z.B. in Verbindung mit der Freihan- deldoktrin (vgl. I.3.1), ein wesentlicher Bestandteil der Globalisierungsideologie ist. National wie global ist Wirtschaftswachstum, gemessen an den Indikatoren Brutto- inlandsprodukt (BIP) oder Bruttosozialprodukt (BSP) das zentrale Ziel aller wirt- schaftspolitischen Anstrengungen. Armut ist in der Sichtweise von IWF, Weltbank und WTO das Resultat eines zu geringen Wirtschaftswachstums. Strittig ist in Attac allerdings die Haltung zu Wirtschaftswachstum als solchem; für diese Kontroverse verweisen wir auf Abschnitt II.1.1.

(34) 3.3 Neue technologische Möglichkeiten und Bedingungen
Die ökonomische Globalisierung ist untrennbar verbunden mit der Entwicklung von Technologien, welche es erst ermöglichen, weltweit natürliche Ressourcen, Ge- sellschaften und Individuen für das westliche Entwicklungsmodell nutzbar zu ma- chen. Diese entgrenzenden Technologien wie Satelliten, Glasfasernetze und Compu- tertechnik tragen zur Ausbreitung von Informationen, Lebensstilen, Produkten, Rechtsnormen und Infrastruktur bei. Begleitet wird diese geographische Entgren- zung von einer zeitlichen Beschleunigung bislang ungekannten Ausmaßes. Moder- ne Kommunikationstechnologien ermöglichen persönliche Kontakte und Geschäfte auch mit abgelegensten Personen und Regionen.
Komplexe Technologien ziehen neue Grenzen durch die Gesellschaften. Sie erfor- dern lange, teure Ausbildungszeiten. Durch die Spezialisierung im Arbeitsprozess wird der Einzelne immer abhängiger von seiner ausgeübten Tätigkeit. Er empfindet sich dabei immer mehr als ein Rädchen im Getriebe, das sich zunehmend glücklich schätzt, wenn es am Produktionsprozess überhaupt noch Teil haben darf.

(35) 3.4 Transnationale Konzerne (TNK)
Als Triebkraft und Folge der neoliberalen Globalisierung nutzen Unternehmen im- mer stärker ihre Möglichkeiten zu fusionieren, zu Global Players zu werden und ihre Marktmacht auszuweiten. Inzwischen nutzen transnationale Konzerne ge- schickt alle Lücken in Gesetzen und Unterschiede zwischen Regionen, um die Profi- te zu maximieren. Sie sind in der Lage, ihre Gewinne über Tochtergesellschaften an fast jeden Ort der Welt zu verlagern, um ihre Besteuerung zu minimieren. Sie erhal- ten mit dem Arbeitsplatzargument hohe Subventionen und tragen damit in vielen Fällen zur explosiven Staatsverschuldung bei.
Die regionalen, nationalen und internationalen Gesetzgebungsorgane sind gegen- über den TNK nicht mehr in der Lage, berechtigte Interessen durchzusetzen. Zu- sätzlich erhalten die TNK über Lobbyarbeit ihren Einfluss auf Gesetzgebung und Handlungsweisen der Politik und erwirken z.B. Sozialabbau in Industriestaaten. Durch die TNK wird weltweit der Graben zwischen Verlierern und Gewinnern im- mer tiefer; zudem verschärfen sie Klimakatastrophen und andere ökologischen Probleme. Die TNK errichten zunehmend ein globales Herrschaftssystem.

(36) 3.5 Das Welthandelssystem

(37) Die Welthandelsorganisation (WTO) ging 1995 aus dem GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) von 1947 hervor, dessen Unterzeichner sich auf freihändleri- sche Prinzipien verpflichteten. Der Geltungsbereich dieser Prinzipien wurde aus- geweitet und zugleich wurden deutliche Senkungen der Durchschnittszölle erreicht. Durch die 1994 abgeschlossene Uruguay-Runde des GATT verteilt sich der Zu- wachs des Welthandels infolge der beschlossenen Handelsliberalisierung zu gut zwei Dritteln auf die OECD-Wirtschaften und zu knapp einem Drittel auf den Rest der Welt. Die WTO-Prinzipien unterminieren stringente Standards für die einheimi- sche Wirtschaft und stehen im Widerspruch zu einigen multilateralen Umweltab- kommen. Aufgrund schwerer Mängel hat diese WTO keine Legitimation als multi- laterales Forum.

(38) Viele arme Länder können ihre Interessen nicht in die Verhandlungsprozesse der WTO einbringen, obwohl formal das Prinzip „one country – one vote" gilt. Gleich- zeitig sind die Kosten der administrativen Umsetzung von WTO-Abkommen e- norm. Die Rechtsprechung hingegen geschieht durch das WTO- Streitschlichtungsverfahren, das von Handelsjuristen ausgeübt wird.

(39) Der Agrarsektor wurde mit dem Agreement on Agriculture (AoA) erst 1995 in die multilaterale Welthandelsordnung einbezogen. Diese Einbeziehung ist sehr dürftig, da Agrarlobbys und Regierungen der Industrieländer bisher keine substantiellen Angebote gemacht haben, die den Interessen der sogenannten Entwicklungsländer entgegen kommen. Exportsubventionen machen Überschüsse so billig, dass sie auf ausländischen Märkten verkauft werden können. Die OECD-Landwirte erhielten 2001 rund 230 Milliarden US-Dollar an Subventionen, das waren rund 35% (21%) der Einkommen der EU (US-)-Landwirte.

(40) Das Abkommen TRIPS (Trade-Related Intellectual Property Rights) soll geistiges Eigentum international schützen, vor allem indem weltweite Patentrechte geschaf- fen und durchgesetzt werden. Für TNK sind geistige Eigentumsrechte eine wichtige Einrichtung zum Ausbau und zur Festigung ihrer marktbeherrschenden Stellung. Das TRIPS-Abkommen ermöglicht die privatwirtschaftliche Ausbeutung geneti- schen Materials (Patente auf Leben) und bringt dadurch die Landwirtschaft in den sogenannten Entwicklungsländern zunehmend unter die Kontrolle der Pharma- Unternehmen. Dies führt zu einem radikalen Verlust an agrarischer Biodiversität.

(41) 3.6 Die EU: Motor der Globalisierung

(42) Regionale Wirtschaftsblöcke wie die EU und bilaterale Abkommen mächtiger Volkswirtschaften mit schwächeren spielen für die neoliberale bzw. kapitalistische Globalisierung eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie internationale Organisa- tionen. Die EU zeigt sich nach außen – ob in der WTO oder in bilateralen Handels- gesprächen (z.B. mit den AKP-Staaten) – neben den USA als treibende Kraft bei der Handelsliberalisierung. Innerhalb Europas hat sie die Ideologie des Freihandels und der Liberalisierung der Kapitalströme weit schneller und entschlossener umgesetzt als die internationalen Handels- und Finanzinstitutionen auf globaler Ebene. Damit wurde in den EU-Mitgliedstaaten in weiten Teilen das vorgelebt, was heute welt- weit durchgesetzt werden soll. Die Aufrüstung der EU – wie sie auch im EU- Verfassungsentwurf geboten ist – sowie der Aufbau einer EU-Interventionsarmee dienen auch der militärischen Absicherung der ökonomischen Expansion der EU.

(43) Während der Verwirklichung des EU-Binnenmarktprojektes stieg die Erwerbslosig- keit nahezu ununterbrochen. Die Durchsetzung des neoliberalen Wirtschafts- und Wachstumsmodells hat zu einem massiven Anstieg des Verbrauchs natürlicher Res- sourcen und der Umweltzerstörung geführt, was die EU-Umweltpolitik trotz ein- zelner Erfolge nicht verhindern konnte. Die Europäische Wirtschafts- und Wäh- rungsunion (EWWU) und die Einführung des Euro Anfang 2003 sind ein wesentli- cher Schritt zur Vollendung des Europäischen Binnenmarktes. Eine gemeinsame europäische Währung kann dazu beitragen, auch über Europa hinaus schädliche Wechselkursschwankungen sowie ihre spekulative Ausnutzung zu verhindern und die Koordinierung der Währungspolitik zu erleichtern. Mit den Grundpfeilern der EWWU wurden allerdings die Weichen in eine Richtung gestellt, die im Hinblick auf ein demokratisches und solidarisches Europa höchst fragwürdig sind.

(44) Die Geldpolitik der unabhängigen Europäischen Zentralbank (EZB) ist vor allem dem Ziel der Inflationsbekämpfung verpflichtet. Während sich Kapitalanleger da- durch auf hohe Renditen ohne große Inflationsrisiken verlassen können, werden arbeitsmarktpolitische und konjunkturelle Auswirkungen der Geldpolitik vernach- lässigt. Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt bindet die Ausgabenpolitik der Regierungen an diese EZB-Ausrichtung – er schreibt die Verringerung der Staatsverschuldung verbindlich vor und verhindert nicht nur eine konjunkturför- dernde Wirtschaftspolitik in Zeiten der Krise, sondern hat auch in zahlreichen Län- dern zur Kürzung sozialer Leistungen geführt.

(45) Position Zukunft des Wachstums: Die einseitige Ausrichtung der EZB auf die Inflationsbekämpfung verhindert, dass die Geldpolitik das Wirtschaftswachstum ankurbelt. Ebenso vernachlässigt der Stabilitätspakt den Aspekt des Wachstums, weil er nicht auf die Konjunkturphasen reagiert. Das Beispiel der US-Geldpolitik ebenso wie der US-Ausgabenpolitik zeigt, dass es anders möglich ist.
Position Abschied vom Wachstum: Zielsetzung einer „Ökonomie im stationären Zustand" ist es, dass alle Politikbereiche, also auch die Geldpolitik, die Finanz- und die Konjunkturpolitik, das makroökonomische Ziel des BIP-Wachstums aufgeben (die Wachstumskontroverse ist ausführlich in Abschnitt II.1.1 darge- stellt).

(46) Über die Hälfte des Finanzhaushalts der Europäischen Union wird für die gemein- same Agrarpolitik (GAP) ausgegeben. Noch immer steht dabei die Steigerung der Produktionsmengen im Vordergrund. Das führt unter anderem dazu, dass hoch subventionierte landwirtschaftliche Erzeugnisse aus der EU an der Zerstörung regi- onaler Märkte in sogenannten Entwicklungsländern beteiligt sind, Böden und Grundwasser verseucht werden und Methanemissionen nicht unerheblich zur Er- wärmung der Erdatmosphäre beitragen.

(47) Position Gegen aggressive EU-Expansion nach außen und innen: Im Jahr 2000 verabschiedeten die EU-Regierungschefs in Lissabon eine aggressive Expansi- onsstrategie: Innerhalb von zehn Jahren soll die EU zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt werden. Die damit einhergehende forcierte Fortsetzung der Liberalisierungs- und Deregulierungslogik wird – wie schon bei der Konstruktion des Euro und beim Abbau der sozialen Sicherungs- systeme – nicht die versprochenen Verbesserungen der Lebensbedingungen für alle Menschen bringen, sondern nur eine Minderheit begünstigen. Und beim Kampf um Weltmarktanteile sind zukünftig militärische Interventionen der EU vorprogrammiert.

(48) Position EU als Stoßdämpfer: Die EU hat den Druck der neoliberalen Globalisie- rung zwar teilweise nach innen weitergegeben (Stabilitätspakt, Lissabon- Strategie), aber dadurch eine bessere Abfederung gegen die Schockwellen der globalisierten Finanzmärkte erreicht, als es einzelnen Nationalstaaten je möglich gewesen wäre. Forderungen nach sozialen und ökologischen Mindeststandards sind heute – wenn überhaupt – nur auf EU-Ebene durchsetzbar, z.B. wird z.Zt. eine ambitionierte Chemikaliengesetzgebung diskutiert. Im Bereich der öffentli- chen Dienstleistungen gibt es in den Regionen und Kommunen wie im EU- Parlament Ansätze, der von der EU-Kommission vorangetriebenen Deregulie- rungsinitiativen (Stichworte: Grünbuch Dienstleistungen von allgemeinem Inte- resse, Bolkestein-Richtlinie) einen Riegel vorzuschieben. Die Sicherheitsdoktrin der EU enthält im Gegensatz zu den USA eine starke Betonung von Armutsbe- kämpfung, Ressourcenzugang usw.; Präemption wird einmütig abgelehnt. Zu- dem gibt die EU pro Jahr 33 Mrd. Euro für die Unterstützung schwacher EU- Regionen aus – darin liegt ein Bekenntnis zu einer solidarischen Politik jenseits der Marktlogik, das in Zukunft gestärkt werden muss.

(49) 3.7 Globale Finanzströme und ihre Institutionen (IWF und Weltbank)
Eine mächtige Triebkraft der wirtschaftlichen Globalisierung sind die internationa- len Finanzmärkte. Sie erreichten eine neue Dimension mit der Auflösung des Sys- tems fester Wechselkurse und der daran anschließenden, auch vom Internationalen Währungsfonds (IWF) vorangetriebenen Liberalisierung der Finanz- und Banken- märkte.

(50) 3.7.1 Zinsdebatte

(51) Im Jahr 2001 lag der globale Devisenmarktumsatz pro Tag bei rund 1 200 Mrd. US- Dollar. Nur 30-40 Mrd. davon reichen zur Abwicklung des Welthandels, der Rest ist spekulatives Kapital. Im Jahr 2002 hatten 80% der weltweiten Kapitalflüsse von ca. 2 000 Mrd. Euro pro Tag eine Anlagedauer von unter 7 Tagen. Während das bun- desdeutsche BIP seit 1991 um 9% gewachsen ist und die Nettolöhne um 2% gesun- ken sind, wuchsen Zinserträge und Geldvermögen real um 60%. Damit wachsen die Geldbestände schneller als die allgemeine Wirtschaft, die Kaufkraft der Arbeitneh- mer wird geringer, da die Vermögen sehr ungleich verteilt sind. 2001 haben die Banken in Deutschland ihren Anlegern 391 Mrd. Euro oder 66% der Nettolöhne gutgeschrieben.

(52) Position Freigeldtheorie: Die kapitalistische Komponente unseres Wirtschafts- systems basiert auf dem Zins als Anreiz zur langfristigen Anlage von Geldver- mögen. Geld ist per se kein gerechtes Tauschmittel. Der Wert von Gütern ist zeit- abhängig: bei Knappheit hoch, bei Überfluss oder Alterung niedrig. Dies gilt noch extremer bezüglich Arbeitskraft. Der Geldbesitzer ist demgegenüber hoch privilegiert. Den Unternehmen kann Geld langfristig als Kredit gegen Bezahlung von Zinsen für Investitionen zur Verfügung gestellt werden. Dank dieser Investi- tionen vermehrt sich das Kapital, die allgemeine Produktivität und damit der Wohlstand. Mit zunehmender Vermehrung und Verfügbarkeit des Kapitals sinkt jedoch der Zins, auch weil Unternehmen bei weitgehender Marktsättigung in den Industrieländern keine hohen Kreditzinsen mehr bezahlen können.
Die seit den 1970er Jahren ständig über den – noch stärker zurückgehenden – realen BIP-Wachstumsraten liegenden Zinssätze tragen wesentlich zu einer Um- verteilung des Reichtums bei: von der Arbeit zum Besitz, national und zwischen den Staaten (Nord vs. Süd). Damit wachsen die Geldbestände schneller als die allgemeine Wirtschaft. Immer größere Kapitalakkumulationen suchen nach Ren- ditemöglichkeiten und erzwingen die Privatisierung öffentlicher Bereiche. Diese Situation war in der Vergangenheit immer der Ausgangspunkt für Kolonialisie- rung und Krieg, für Währungs- und Verschuldungskrisen. Somit ist unser der- zeitiges Zinssystem die entscheidende Ursache für die weltweite Neoliberalisie- rung, für steigende Rüstungsaufgaben und systemimmanente Kriege, die ca. alle 70 Jahre die angehäuften Vermögen (und damit verbundenen Staatsschulden) wieder reduzieren. Für eine gerechtere Geldwirtschaft muss daher der Zins letzt- lich gegen Null sinken.

(53) Position Kapitalismuskritik: Der Kapitalismus basiert auf konkurrenzgetriebe- ner Profitsteigerung und Kapitalakkumulation; Der Zins ist nur ein Ausdruck der Verwertungsinteressen des Kapitals, er ist real bestimmt und deshalb keine eigenständige Triebkraft: „Der Kapitalismus ist wie das berühmte Fahrrad, das immer in Schwung bleiben muss, wenn es nicht fallen soll, und die Konzerne stehen in Konkurrenz zueinander, um zu sehen, wer am kräftigsten in die Pedale treten kann, bevor er gegen die Wand fährt". Diese Bewegung des Kapitalismus hat historisch eine enorme Steigerung der Produktivkräfte erreicht und zu einem Überfluss an materiellen Gütern geführt. Heute ist der Kapitalismus jedoch mehr und mehr destruktiv: Immer größere Kapitalakkumulationen suchen weltweit nach Renditemöglichkeiten und erzwingen die Privatisierung öffentlicher Berei- che. Die sozialen Ungleichheiten verschärfen sich immer stärker (s.o.), es gibt ei- ne strukturelle Sockel-Erwerbsarbeitslosigkeit – immer weniger Menschen und Regionen können mit den Weltmarktanforderungen, die über die globalisierten Finanzmärkte blitzschnell in jede Weltregion vermittelt werden, mithalten. Die Individuen werden durch den Rhythmus des Turbokapitalismus entwurzelt und vereinzelt.

(54) 3.7.2 Verschuldung
Dass sich ein kleiner Teil der Weltbevölkerung in den reichen Ländern des Nordens auf Kosten der Mehrheit der Menschen im Süden anhaltend bereichert, ist einer der Hauptgründe für globale, häufig gewaltsam ausgetragene Konflikte. Die Verschul- dung des Südens bei nördlichen Gläubigern ist dabei einer der wichtigsten Mecha- nismen von Bereicherung bzw. Verarmung. Bisherige Schuldenerlasse wurden zum überwiegenden Teil zu Lasten der Steuerzahler der Industrieländer vereinbart, die somit die Zinseinnahmen privater Anleger sichern. Ein strukturelles Problem kann nicht allein durch einzelne Schuldenerlasse überwunden werden. Vielmehr müssen die Beziehungen zwischen Schuldnern und Gläubigern auf eine neue Grundlage gestellt werden.

(55) 3.7.3 Rolle von IWF und Weltbank
Die Weltbank und der IWF sind die Träger der nach dem Zweiten Weltkrieg in Bret- ton Woods entstandenen Weltfinanzordnung. Die von ihnen finanzierten Großpro- jekte stehen einer lokalen eigenständigen Entwicklung oft entgegen.
Der Washington Consensus überhöhte den IWF zu einem Machtinstrument, um die neoliberale Doktrin durchzusetzen, ohne Ansehen spezifischer Situationen von Volkswirtschaften. Lange genug hat der IWF als Krisenmanager – in Asien 1997/98, Brasilien 1998/99 und Argentinien 2001 – versagt und die Krisen im Interesse der wirtschaftlich Mächtigen noch verschärft. Immer wieder intervenierte er in den Kri- senländern, um als Schuldeneintreiber das Kapital der ausländischen Gläubiger und Kapitalanleger zu retten.
Im IWF und in der Weltbank haben die USA eine Vetoposition und zehn Industrie- länder zusammen eine absolute Mehrheit. Sie bestimmen damit die internationale Finanzordnung allein, und sie richten sich dabei oft nach den Interessen von Banken und Multis und nicht nach denen der Menschen in jenen 130 sogenannten Entwick- lungsländern, die zusammen nur rund 33% der Stimmen halten.
Die globalisierten Finanzmärkte verlangen stabile Währungen, ausgeglichene Bud- gets und Rückzahlung der Auslandsschulden. Nötig ist daher die Erwirtschaftung von Exportüberschüssen und Devisen. Für die sogenannten Entwicklungsländer bedeutet dies hauptsächlich den Verkauf ihrer natürlichen Ressourcen. Fallende Preise und Währungen führen zu weiter steigender Ressourcenextraktion, um den Geldwert der Exporte stabil zu halten. Dass sich damit die Handelsbedingungen verschlechtern, ist ein herausragender Faktor sowohl für die Armutsentwicklung in vielen Regionen der Welt als auch – damit zusammenhängend – für die Wohlstandsgewinne in den Industriestaaten.

(56) 3.8 Globale Machtasymmetrien schaffen Gewaltpotenziale
Die ungleiche und asymmetrische Entwicklung, die sich in und zwischen den ver- schiedenen Gesellschaften und Nationen auf der Grundlage der kapitalistischen Wirtschaftsordnung unter neoliberalem Regime ergibt, wird durch die Kriege ge- stärkt, welche die G8-Staaten führen und geführt haben, sowie durch viele Klein- kriege in einer ganzen Reihe von Ländern der Peripherie. Die Opfer sind in der Mehrheit Frauen und Kinder.
In diesen Kriegen geht es um weltweite oder regionale Vorherrschaft, um die Kon- trolle wichtiger Rohstoffe, um die Kontrolle von Waren- und Finanzmärkten, um die Kontrolle von Migrationströmen oder um den verzweifelten Kampf um Überle- benschancen.
Die politische Ökonomie der westlich dominierten Weltgesellschaft bereitet auf die- se Weise nicht zuletzt die Grundlage für terroristische Aktivitäten. Diese Entwick- lungen in der Welt wie ethnische Massaker, Vertreibungen und Terror liefern gleichzeitig die willkommenen Vorwände, um unter Verweis auf die Aufrechterhal- tung des westlichen Wertehorizonts (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Marktwirtschaft, die Achse des Guten) die nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des Kalten Krieges entwickelten und anerkannten rechtlichen Standards (UN- Charta, Menschenrechte, Völkerrecht, Genfer Konvention) massiv zu deregulieren. Ein Beispiel hierzu ist die Nichtanerkennung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag durch die USA.
Solange nicht überall menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen herr- schen, ist Freizügigkeit ein Privileg weniger, während die meisten MigrantInnen durch wirtschaftlichen Druck oder durch Verfolgung zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen werden. Viele Migrantinnen werden nicht nur Opfer materieller, son- dern auch sexueller Ausbeutung. MigrantInnen werden oft als billige Arbeitskräfte eingesetzt, um einheimische zu erpressen. So werden jene Menschen, nach dem Ver- lust ihrer Heimat, erneut zu Opfern, es kommt zu schweren sozialen Spannungen und oft weiteren gewaltsamen Konflikten.

(57) II. Eine alternative Weltwirtschaftsordnung ist möglich

(58) 1. Leitbilder und Leitideen

(59) 1.1 Leitbild: Nachhaltige Entwicklung

(60) 1992 einigte sich die Weltgemeinschaft auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro auf das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung, wobei die Industriestaaten ihre vorrangige Verantwortung für ein Umsteuern in Richtung ressourcenschonender Entwicklung anerkannten. Die Erklärung von Rio prokla- miert: „Das Recht auf Entwicklung muss derart verwirklicht werden, dass die Be- dürfnisse gegenwärtiger und zukünftiger Generationen auf Entwicklung und Um- welt gerecht erfüllt werden" (Grundsatz 3). Das Prinzip der nachhaltigen Entwick- lung wird seitdem gerne für Fensterreden verwendet, tatsächlich umgesetzt wird jedoch das der neoliberalen Globalisierung, wie es in der WTO seit 1995 sinnbildlich institutionalisiert wurde: anstelle eines den Naturverbrauch beschränkenden Um- weltschutzes das Niederreißen jeglicher Beschränkungen.

(61) Trotz der Vereinnahmung des Nachhaltigkeitskonzeptes („nachhaltige Globalisie- rung") enthält dieses Konzept ein grundlegend kritisches Potential gegenüber den herrschenden ökonomischen und ökologischen Ausbeutungsverhältnissen. Nach dem Gleichheitsgrundsatz haben alle Menschen auf der Erde das gleiche Recht auf Entwicklung und damit gleiche Zugangs- und Nutzungsrechte zu Ressourcen und der Umwelt (Boden, Luft und Wasser). Dieses Recht wird jedoch begrenzt durch die Endlichkeit des Ökosystems Erde sowie die gleichrangigen Rechte zukünftiger Ge- nerationen. Demgemäss haben die sogenannten Entwicklungsländer ihre Nut- zungsrechte bei weitem noch nicht ausgeschöpft, die Industrieländer hingegen ihr Konto längst und bei weitem überzogen. Es können nicht weiterhin 20% der Welt- bevölkerung 70-80% der natürlichen Ressourcen konsumieren; ansonsten ist eine Überwindung der Armut in den Ländern des Südens bei Wahrung der globalen ökologischen Stabilität nicht möglich.

(62) Eine wichtige Kontroverse entzündet sich am Verhältnis von Nachhaltigkeit und Wachstum. Wirtschaftswachstum wird anhand der Indikatoren BIP oder BSP ge- messen, in denen alle Transaktionen positiv bilanziert werden, gleichgültig, ob es sich dabei um gesellschaftlich oder ökologisch nützliche oder schädliche Aktivitäten oder um Reparaturkosten handelt; außerdem wird nur bilanziert, was in Geldwer- ten erfasst wird. Andere Indices für ökonomischen Wohlstand wie der Genuine Progress Indicator (GPI) versuchen im Gegensatz zum BIP die realen sozialen und ökologischen Kosten der Wirtschaftstätigkeit mit einzubeziehen, darunter Faktoren wie Ressourcenbestand, Umweltverschmutzung, Freizeit, Gesundheit, Kriminalität, Verteilungsgerechtigkeit, Arbeitslosigkeit sowie unbezahlte Arbeit in Ehrenamt und Haushalt. Auffällig ist zumindest, dass sich seit den 70er Jahren die Arbeitslosigkeit in den Industrieländern trotz anhaltenden BIP-Wachstums vervielfacht hat.

(63) Position Abschied vom Wachstum:

(64) Eine nachhaltige Weltwirtschaftsordnung setzt die Abkehr von einer Fortschritts- und Entwicklungsidee voraus, die auf Wirtschaftswachstum basiert – und das zunächst und vor allem in den industria- lisierten Ländern, die mit ihrem übermäßigen Ressourcenverbrauch die Lebens- chancen der Menschen im Süden und der künftigen Generationen verringern. In den wenig industrialisierten Ländern dagegen könnte das Wachstum bestimmter Wirtschaftssektoren, auch das des BIP insgesamt, durchaus ein wichtiger und notwendiger Bestandteil auf dem Weg aus der Armut sein; entscheidend jedoch ist, auf welcher Ressourcenbasis und unter welchen sozialen Bedingungen dieses Wachstum stattfindet. Das lässt sich am BIP selbst aber nicht ablesen.
Alternative Indices zum BIP wie der GPI (siehe oben) deuten darauf hin, dass in den Industriestaaten ab einem Wendepunkt, der zwischen ca. 1970 (USA) und ca. 1980 (BRD) lag, der Wohlstand bei anhaltendem BIP-Wachstum sinkt. Eine Stei- gerung des Pro-Kopf-BIP kann zeitweilig mit einer Erhöhung der Lebensqualität einhergehen, dann jedoch in das Gegenteil umschlagen; die Grenzkosten über- steigen dann den Grenznutzen. Dementsprechend ist Wirtschaftswachstum auch kein Heilmittel gegen Massenarbeitslosigkeit in den Industrieländern: Bei jedem Konjunkturaufschwung finden Investitionen in kapitalintensive Technologien statt, so dass sich seit den 70er Jahren beim nächsten Abschwung ein noch höhe- res Plateau an Erwerbsarbeitslosigkeit als zuvor ergab.
BIP-Wachstum als makroökonomisches Ziel ist aufzugeben. Anzustreben ist statt dessen eine Ökonomie im stationären Zustand (Steady-State Economy), die die Nettodurchlaufmenge der Weltwirtschaft an Materie und Energie auf einem nachhaltigen Niveau konstant hält. Sinkende Stoffströme können hierbei durch- aus auch ein Schrumpfen des BIP zur Folge haben. Da der Gesamtnatur- verbrauch das Produkt ist aus Bevölkerungszahl, Pro-Kopf-Konsum und Natur- verbrauch pro Einheit Konsum, muss der stationäre Zustand unbedingt auch die Kontrolle der Bevölkerungszahl mit beinhalten. Wichtiger als das BIP pro Kopf sind hier direkte Maßnahmen, vor allem zur Familienplanung, aber auch zur Verbesserung des Bildungsstands und des Arbeitsplatzangebots – speziell für Frauen –, zur sozialen Altersfürsorge und zur Senkung der Kindersterblichkeit. Diese können unter geringen ökologischen Kosten durchgeführt werden. Es gilt in den sogenannten Entwicklungsländern auch die Chance zu nutzen, direkt auf ressourcenleichte Produktions-, Verteilungs- und Konsumweisen zu setzen, zu denen die Industrieländer ohnehin finden müssen.
Um unser bisheriges Wachstums- und Entwicklungsmodell (und die dahinter stehenden Kapitalinteressen, das westliche Konsummodell und die asymmetri- schen Wirtschaftsbeziehungen) nicht in Frage stellen zu müssen, hat man als Ausweg aus dem Widerspruch zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit den Begriff des „nachhaltigen Wachstums" geprägt, der bereits vielerorts die „nach- haltige Entwicklung" ersetzt. Es zeigt sich jedoch, dass die (bislang ohnehin nicht ausreichenden) technischen Gewinne bei der Umwelteffizienz durch das Produk- tionswachstum national wie global bei weitem überkompensiert werden (Bume- rang-Effekt), die absolute Belastung also in wichtigen Bereichen steigt. Genauso wenig ist die oft beschworene Umschichtung zugunsten des Dienstleistungssek- tors hinreichend, unter anderem, weil dieser weitaus weniger „ressourcenleicht" ist, als vielfach angenommen wird. Ist in den westlichen Industrieländern in den letzten Jahren eine Abnahme z.B. des Energieverbrauchs festzustellen, so liegt das lediglich am Nettoimport ökologischer Kapazität, der infolge der Globalisie- rung zunimmt. Angesichts der Dimensionen der drohenden ökologischen und daraus folgenden sozialen Katastrophen gibt es somit keine rein technologische Lösung, sondern ist ein tieferer struktureller Wandel notwendig. Laut Umwelt- programm der Vereinten Nationen müssen die Industrieländer ihren Rohstoff- verbrauch um 90% senken und ihr Konsumverhalten ändern – eine Zielsetzung, die dem Prozess der weiteren Globalisierung und der allseits angestrebten Pro- duktionssteigerung durch weitere Liberalisierung des Welthandels diametral entgegengesetzt ist.

(65) Position Zukunft des Wachstums: Weiteres Wirtschaftswachstum mit den der- zeitigen Produktionstechnologien führt zu weiterer Verschwendung knapper Ressourcen und weiterer Umweltbelastung. Daraus folgt jedoch nicht die Forde- rung nach Nullwachstum, sondern die Forderung nach Änderung der Produkti- onstechnologien, nach nachhaltigem (und verteilungsgerechtem!) Wachstum. Die ökologische Problematik muss zwar in der vollen Breite anerkannt werden, aber BIP-Wachstum wird sich durch technologischen Fortschritt und Umschichtungen innerhalb und zwischen den Wirtschaftssektoren vom Naturverbrauch entkop- peln lassen.
Weiteres Wirtschaftswachstum ist notwendig: Arbeitslosigkeit und Armut auf der Welt sind nicht bei Nullwachstum zu bekämpfen. Es müssen mehr und bes- ser bezahlte Arbeitsplätze entstehen. Beschäftigung ist eine abhängige Variable der Produktionsmenge. Also muss die Produktionsmenge wachsen. Selbst wenn eine radikale Umverteilung von Vermögen, Einkommen und Arbeit bei Null- wachstum politisch durchsetzbar wäre, würde die Weltbevölkerung für immer in konstanter Armut leben. Hinzu kommt, dass die Weltbevölkerung wächst und damit ständig mehr Arbeitsplätze und damit Wachstum benötigt, um ihren Le- bensstandard auch nur zu erhalten. Hinzu kommt auch, dass die ständig stei- gende Arbeitsproduktivität durch technischen Fortschritt ständig Arbeitsplätze vernichtet und daher Wachstum notwendig ist, um die bestehende Beschäfti- gung auch nur zu erhalten.

(66) 1.2 Leitideen für zukunftsfähige Gesellschaften
Neben dem Leitbild der Nachhaltigkeit gibt es verschiedene Leitideen, Grundsätze, „Kernprinzipien für zukunftsfähige Gesellschaften", welche die globalisierungskri- tische Bewegung einen und das Fundament unserer Gegenentwürfe zur neolibera- len bzw. kapitalistischen Globalisierung formen.

(67) 1.2.1 Vielfalt und Kooperation
Vielfalt ist der Schlüssel für Vitalität, Anpassungsfähigkeit und Erneuerungsfähig- keit menschlicher Gesellschaften. Der Reichtum menschlicher Erfahrung und menschlichen Potenzials spiegelt sich in der kulturellen Vielfalt, die einen Ansporn für soziale, intellektuelle und spirituelle Innovationen gibt. Außerdem vermittelt sie ein Gefühl von Identität, Zusammengehörigkeit und Lebenssinn. Kulturelle Vielfalt bedeutet, dass alle Kulturen der Welt eigenständige Wertsysteme besitzen. Eine alternative Weltwirtschaftsordnung muss diese Eigenständigkeit anerkennen. Viel- falt kann nicht ausschließlich nach dem Kriterium der (monetären) Marktfähigkeit bewertet werden. Denn damit gehen Prozesse der Externalisierung einher, d.h. der Ausblendung, Abwertung und Aneignung reproduktiver Leistungen. Es sind je- doch gerade diese reproduktiven Leistungen, die gesellschaftliche Vielfalt ermögli- chen: Zu ihnen gehören die unbezahlten, oft von Frauen geleisteten Sorge- und Ü- berlebensarbeiten, die gemeinsam mit der Produktivität der ökologischen Natur die Grundlagen allen ökonomischen Handels bilden. Im herrschenden (neoliberalen) Denken jedoch gelten natürliche, kulturelle und menschliche Vielfalt nicht als ei- genständige Werte.
Wettbewerb im Sinne der Vielfalt ist belebend. Die neoliberale bzw. kapitalistische Konkurrenz ist jedoch auf Verdrängung angelegt und zerstörerisch. Zukunftsfähige Gesellschaften leben von der Fähigkeit zur Kooperation. Sie begreifen die Menschen als sozial vernetzt, daher schaffen und bewahren sie Raum für die Bildung von Ko- operationen. Hierunter fallen die Markt-, die Versorgungs- und die Non-Profit- Organisationen gleichermaßen.

(68) 1.2.2 Menschenrechte und Arbeit in Würde

(69) 1948 haben die Regierungen der Welt den 30 Artikeln der Menschenrechtsdeklarati- on der Vereinten Nationen zugestimmt, die jedem Menschen politische bzw. bür- gerliche ebenso wie ökonomische, soziale und kulturelle Grundrechte garantiert. Hinter diesen Standard darf die Politik nirgendwo auf der Welt zurückfallen, auch wenn sie bisher nur für eine – zumeist männliche – Minderheit der Weltbevölke- rung Wirklichkeit geworden sind. So soll etwa eine Lebenshaltung gewährleistet werden, die Frauen, Männern und Kindern gleichermaßen „Gesundheit und Wohl- befinden, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge" erschließt.

(70) Manche Leute meinen, das Prinzip der Menschenrechte könne mit dem Prinzip der Subsidiarität (siehe III.1.2.5) in Konflikt geraten, etwa durch spezifische Praktiken mancher Gesellschaften (z.B. die Verstümmelung weiblicher Genitalien). Wir treten für den Vorrang der Menschenrechte bei einem Konflikt dieser beiden Prinzipien ein.

(71) Die Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen bestätigt das Recht aller Menschen auf „Arbeit, freie Berufswahl, angemessene und befriedigende Arbeits- bedingungen sowie den Schutz gegen Arbeitslosigkeit". In den Ländern des Südens sichern die meisten Menschen den Lebensunterhalt ihrer Familien durch Arbeit im sogenannten informellen Sektor. Davon sind Frauen überproportional betroffen. In den Industrieländern halten vergleichbare Formen unsicherer Beschäftigung (Scheinselbstständigkeit u.a.m.) wieder Einzug. Vielen dieser Menschen hilft die neoliberale bzw. kapitalistische Globalisierung nicht, sondern raubt ihnen die Mög- lichkeit, in Würde zu arbeiten. Und viele, die eine Arbeitsstelle haben, arbeiten un- ter unwürdigen oder gefährlichen Bedingungen oder unter ständig steigendem Druck. Zukunftsfähige Gesellschaften müssen beides leisten: Einerseits den Schutz der Arbeitnehmerrechte im formellen Sektor, vor allem durch Stärkung der Ge- werkschafts- und Mitbestimmungsrechte, sowie durch eine gleichmäßige Vertei- lung der Arbeit auf alle, das bedeutet eine umfassende Arbeitszeitverkürzung, vor allem in den Industrieländern. Andererseits ein gesichertes Mindesteinkommen und Sozialrechte aller Menschen, die im sogenannten informellen Sektor oder in unsi- cheren Beschäftigungsverhältnissen arbeiten oder durch Arbeitslosigkeit ausge- grenzt werden.

(72) Weitgehende Arbeitszeitverkürzungen bei existenzsicherndem Einkommen bieten auch die Möglichkeit für eine Entfaltung freier Tätigkeiten jenseits der Erwerbsar- beit: vielfältige Formen der Eigenarbeit, Selbstorganisation, soziale Tätigkeit und eine Neuaufteilung der Familienarbeit zwischen Männern und Frauen. So kann die Bedeutung von Erwerbsarbeit hinter die freien Tätigkeiten zurücktreten; einkom- mensbezogener Wohlstand verliert an Gewicht gegenüber den Zuwächsen an selbstbestimmter Zeit (Zeitwohlstand).

(73) 1.2.3 Chancengleichheit und Geschlechtergerechtigkeit
Mehr Chancengleichheit zwischen den Nationen wie auch innerhalb einzelner Län- der würde sowohl die Demokratie stärken als auch die Zukunftsfähigkeit von Ge- sellschaften. Die neoliberale bzw. kapitalistische Globalisierung benachteiligt über- proportional viele Frauen, weil sie bestehende geschlechtsbezogene Ungleichheiten fortschreibt und verschärft. Gesunde Gesellschaften sorgen für eine angemessene Sozialstruktur und bemühen sich um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Anreiz und Fairness. Soziale Gerechtigkeit und mehr Chancengleichheit – zwischen Natio- nen, im Inneren von Nationen, zwischen ethnischen Gruppen, zwischen sozialen Schichten sowie zwischen Männern und Frauen sind die Eckpfeiler zukunftsfähiger Gesellschaften. Zur Verwirklichung der Chancengleichheit müssen die Impulse ko- operativen Handelns, z.B. zivilgesellschaftlicher Gruppen und Netzwerke, verstärkt in die Gestaltung und die Institutionen des globalen Zusammenlebens einfließen.

(74) 1.2.4 Das Vorsorgeprinzip
Das Vorsorgeprinzip bedeutet, wenn eine Praxis oder ein Produkt eine Bedrohung für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt darstellen könnte, sollten Vor- sichtsmaßnahmen ergriffen werden, um eventuelle Schäden zu begrenzen oder zu vermeiden. Dies auch, wenn der wissenschaftliche Nachweis noch nicht endgültig geführt ist, ob oder wie es zu einem Schaden kommen kann. Weil dieser Nachweis Jahre dauern kann, und sich in diesem Zeitraum ständig unerwünschte aber unwi- derrufliche Wirkungen ereignen können, sollten die Befürworter einer Praxis oder die Hersteller eines Produkts die Beweislast dafür tragen, dass ihre Praxis bzw. ihr Produkt sicher ist. Z.Zt. geht man häufig genau umgekehrt vor, etwa bei den WTO- Regeln. Wären diese WTO-Regeln schon in den 1950er Jahren in Kraft gewesen, hätte z.B. die amerikanische Regierung das Arzneimittel Thalidomid (Contergan) nicht verbieten dürfen, das in vielen Ländern (auch in Europa) von schwangeren Frauen eingenommen wurde und bei deren Kindern zu lebenslangen Behinderun- gen geführt hat.

(75) 1.2.5 Demokratie
Verantwortlichkeit steht im Mittelpunkt einer lebendigen Demokratie. Freie Wahlen sind fundamental, aber Demokratie ist wesentlich mehr. Entscheidungen sollen nicht z.B. von TNK getroffen werden, deren Manager selbst Tausende von Meilen entfernt leben und überdies den Auftrag haben, die alljährliche Dividende für Akti- onäre, die wiederum wahrscheinlich nichts über die Betroffenen wissen, zu maxi- mieren. Macht und Herrschaft sind so zu verteilen, dass die Entscheidungen von den Menschen getroffen werden, die auch die Folgen zu tragen haben. Es bedeutet auch, die Rechte und die Macht abwesender Eigentümer zu begrenzen und dafür zu sorgen, dass diejenigen, die Entscheidungen treffen, auch für die Schäden verant- wortlich sind, die sie anderen zufügen. Gerade in diesem Zusammenhang muss die Frage der Delegitimierung bzw. der Reformierbarkeit internationaler Institutionen wie des IWF oder der WTO oder transnationaler Konzerne diskutiert werden.
Nicht nur für die neue Debatte über Demokratie ist der aus der katholischen Sozial- lehre stammende Begriff der Subsidiarität entscheidend. Er dreht sich um das Prin- zip der Selbstbestimmung: Das, was von Individuen bzw. kleineren sozialen Einhei- ten aus eigener Kraft entschieden und getan werden kann, soll nicht von der Gesell- schaft bzw. von übergeordneten sozialen Einheiten übernommen werden. Wenn- gleich die neoliberale Konstruktion eines Gegensatzes von Subsidiarität und Solida- rität einhellig abgelehnt wird, bestehen in Attac doch unterschiedliche Vorstellun- gen darüber, welches das kleinstmögliche Gemeinwesen ist – vielleicht doch die Weltgesellschaft? –, das im Einzelnen die jeweilige Leistung zu erbringen vermag, bzw. in welcher Weise Subsidiarität gegen andere Wertvorstellungen abzuwägen ist. Diese Kontroverse ist wesentlich für die verschiedenen Strategien in Bezug auf die Globalisierung, die im Folgenden dargestellt werden.

(76) 2. Strategien: Wie umgehen mit der Globalisierung?
STRATEGIE-KONTROVERSE: Kann Globalisierung reformiert werden im Sinne der Leit- ideen, soll durch Entglobalisierung der Vorrang von Binnen- vor Außenwirtschaft geschaf- fen werden oder sollen wir uns lokalen Wirtschaftskreisläufen zuwenden?

(77) Position Globalisierung gerechter gestalten: Den Vorteilen weltweiter Märkte bei der quantitativen Versorgung stehen qualitative Nachteile (Raubbau an öko- logischen Ressourcen, Entfremdung, Peripherie-Regionen) entgegen. Manche dieser Nachteile sind durch veränderte Steuerung begrenzbar. So könnten um- weltbezogene Standards die Ausdehnung von Welthandel beschränken, da sie wie eine Erhöhung von Transportkosten wirken würden. Dies ließe Raum für die Entstehung von weltweiten Märkten, wo der technologische Fortschritt sie im Rahmen der ökologischen Ressourcen sinnvoll erscheinen ließe. Solche Standards können nur Mindestniveaus definieren, die dann einen völkerübergreifenden Werte-Konsens darstellen.
Orientierungsrahmen dieses Minimalkonsenses sollten die faktische Verwirkli- chung der allgemeinen Menschenrechte sowie ein allgemeines Prinzip der Nach- haltigkeit sein: Keine Volkswirtschaft bzw. Gemeinschaft hat das Recht, Ressour- cen so in Anspruch zu nehmen oder Sozialbeziehungen so zu regulieren, dass unwiderrufliche Schäden für nachfolgende Generationen oder andere Gemein- schaften entstehen. Für den Handelsbereich bedeutet dies, dass keine Form von „Beggar-thy-neighbour"-Politik akzeptiert werden darf. Dieses Prinzip kann je- doch nur umgesetzt werden, wenn die großen Wirtschaftsmächte sich einer Selbstbindung unterwerfen und dazu eine multilateral verankerte Rechtsetzung und Rechtdurchsetzung akzeptieren.

(78) Position Entglobalisierung:

(79) Eine nachhaltige Entwicklung (vgl. II.1.1) zielt auf eine je eigenständige Entwicklung der Volkswirtschaften und Gesellschaften durch Binnen- und Regionalorientierung. Eine industrielle Gleichgewichtsöko- nomie erfordert einen Bruch mit der Doktrin der Globalisierung (sei sie neolibe- ral oder neo-keynesianisch) und eine Wende hin zur Entglobalisierung. Dabei müssen gerade die reichen Industriestaaten Vorreiter sein.

(80) Entglobalisierung heißt nicht Autarkiestreben und eine Abkopplung von interna- tionalen Märkten. Internationaler und weltweiter Handel bleiben in vielerlei Hinsicht von Vorteil. Doch die Prioritäten für die wirtschaftliche Entwicklung und die Wirtschaftspolitik ändern sich grundlegend: Statt die wirtschaftliche, technologische und gesellschaftliche Entwicklung auf die Bedarfe für den Export, für den Weltmarkt auszurichten, steht im Vordergrund die Produktion für klein- räumigere Märkte: lokale, regionale (auch grenzüberschreitend; vgl. Euregio Aa- chen), nationale Märkte bis hin zu regionalen Wirtschaftsverbünden. Die Über- schaubarkeit dieser Zusammenhänge ist eine wesentliche Voraussetzung für die Sicherung ihrer demokratischen Kontrolle und für verantwortliches Handeln der wirtschaftlichen Akteure.

(81) Eine Strategie der Entglobalisierung sucht den Weg zwischen den Versuchen, „die Globalisierung gerecht zu gestalten", und einer Lokalisierungsstrategie. Während die „gerecht gestalten"-Strategie die Dynamik der Globalisierung stärkt, indem sie sie reformiert, unterliegt die Lokalisierungsstrategie der Gefahr einer Nischenpolitik ohne durchgreifende Wirkung. Es wäre sinnlos und im Ein- zelnen nicht begründbar, am grünen Tisch die Art und den Grad einer wün- schenswerten nationalen und internationalen Arbeitsteilung zu skizzieren. An- gemessen ist ein induktives Verfahren: Von der tatsächlichen Weltmarktintegra- tion und den damit gegebenen Problemen auszugehen und Schritte zu einer Re- gionalisierung, einer Binnenorientierung der Wirtschaft anzugeben. Konkrete Schritte zur Entglobalisierung verbinden die Unterlassung von Maß- nahmen, welche die Globalisierung weiter vorantreiben, mit solchen, die aktiv eine Wende zu einer regionalen Orientierung einleiten. Das betrifft sowohl die Neuordnung des Welthandels (vgl. III.3) als auch den ökologischen Umbau (vgl. III.1).

(82) Position Lokalisierung:

(83) Der Ansatz „Lokalisieren statt Globalisieren" bedeutet nicht einfach eine geographische Verengung der Wirtschaftsräume. Er impliziert eine andere Perspektive, ein anderes Modell von Wirtschaft und Gesellschaft als das herrschende kapitalistisch-patriarchalische Modell. Diese neue Ökonomie muss zunächst von einem anderen Begriff vom „Guten Leben" ausgehen: Eine neue Perspektive – die Subsistenzperspektive – kann uns von der selbstmörderi- schen Wachstumslogik des Industriesystems befreien. Der Versuch, von oben her eine neue Weltwirtschaft mit humanem Gesicht zu entwerfen, ist ein Wider- spruch in sich und wird unweigerlich in einem neuen Totalitarismus enden. Die- ses Ziel kann nur durch eine Strategie der Lokalisierung erreicht werden:

(84) Wenn wir von lokaler Ökonomie reden, haben manche die Befürchtung, dass dies die Rückkehr zu vormodernen Herrschaftsformen nach patriarchalischen und feudalen Prinzipien bedeuten könnte. Dagegen setzen wir einen bewussten Kampf von Männern und Frauen gegen patriarchale Verhältnisse, der mit einer Umstrukturierung der hierarchischen, geschlechtlichen Arbeitsteilung beginnen kann. In einer neuen Ökonomie müssten nicht nur die Frauen die Arbeit machen, die Männer machen, sondern auch die Männer müssten die gesellschaftlich not- wendige, unbezahlte Haus- und Subsistenzarbeit im Haus, in der Umwelt und in der Gemeinschaft machen. Erst wenn die Hälfte der Menschheit diese Arbeit nicht mehr als Last, unwürdig und minderwertig ansieht, wird sich etwas an dem Geschlechterverhältnis ändern.

(85) Eine Umstrukturierung der lokalen Ökonomien im Norden wie im Süden im Sinne einer antikapitalistisch-antipatriarchalen Subsistenzperspektive müsste notwendigerweise zu einer Veränderung der globalen Strukturen führen. Mehr oder weniger auf Self-Reliance (Selbstständigkeit) ausgerichtete Ökoregionen, in denen der Import aus anderen ähnlichen Regionen nur eine ergänzende Funkti- on hat, nicht aber die Grundversorgung sichert, werden dazu führen, dass der Welthandel schrumpft, sie werden die Ressourcenverschwendung, den Trans- port, den Verpackungsmüll, die Monokulturen aller Art, den Einsatz von Chemie in Landwirtschaft und Industrie drastisch reduzieren. Was vom Welthandel dann noch übrig bleibt, muss nach den Prinzipien des fairen Handels organisiert sein; das bedeutet, dass es sogenannte Billiglohnländer nicht mehr geben wird.

(86) 3. Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
SYSTEM-KONTROVERSE: Streben wir eine weltweite öko-soziale Marktwirtschaft an, wollen wir eine ökologische Wirtschaftsdemokratie durchsetzen oder treten wir für eine demokratische Systemalternative ohne Marktwirtschaft ein?

(87) Position Öko-soziale Marktwirtschaft: Es gilt, das Zusammenleben der Menschen auf unserem begrenzten Planeten Erde zu gestalten. Dazu müssen solche Regeln gefunden und mit Leben erfüllt werden, welche die unzählbaren individuellen Bedürfnisse, Wünsche und Ideen in Einklang bringen mit wenigen, wohl bestimmten Prinzipien von Gerechtigkeit. Diese Regeln müssen der Freiheit verpflichtet sein, zwischen zahlreichen Verwirklichungschancen zu wählen. Sie sollen darauf zielen, die Zahl der Wahlmöglichkeiten zu erhöhen: Das bedeutet nicht zuerst, mehr Verwirklichungschancen zu schaffen, sondern vor allem, die Auswahl allen Bürgerinnen und Bürgern zugänglich zu machen. Dies ist eine Form des Leitbildes der Nachhaltigkeit.
Dazu bedarf es eines handlungsfähigen Sozialstaates. Er sichert die Teilhabe- chancen der Individuen für alle Lebensbereiche, vor allem durch die Bereitstel- lung öffentlicher Güter und Dienstleistungen. Um die Tendenz zu Zentralbüro- kratien zu beschränken, muss der Sozialstaat demokratisch und rechtsstaatlich sein, insbesondere einen wirkungsvollen Minderheitenschutz gewährleisten. Demokratie und Rechtsstaat werden in den zahlreichen Gruppen lebendig, wel- che allgemeine Interessen des Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutzes, der sozialen oder gesellschaftlichen Teilhabe, Vielfalt, Aufklärung vertreten. Ein so verstandenes Rechtsstaatsprinzip schließt nicht zuletzt die gesellschaftliche Einbettung der Geldpolitik ein.
Menschliches Zusammenleben, welches dem Leitbild der Nachhaltigkeit durch eine lebendige Zivilgesellschaft, durch eine ebenso streitbare wie kompromissfä- hige Demokratie, durch einen handlungsfähigen Rechts- und Sozialstaat Gestalt gibt, soll nicht auf die Vorzüge des Wettbewerbs verzichten. Unter jenen Voraus- setzungen sind Wettbewerb und Märkte kraftvolle Instrumente, die eine große Anzahl von Informationen in kurzer Zeit aufbereiten und verbreiten können, in- novative Dynamik freisetzen und Entscheidungen koordinieren. Zugleich bietet die beschriebene, handlungsfähige öffentliche Hand die besten Voraussetzungen für eine stabile Wirtschaftsentwicklung, ggf. unterstützt durch eine geeignete Konjunkturpolitik. Gesellschaften, welche auf die Nutzung von Marktkräften verzichten, gleichen einem hochgradig verkalkten Kreislauf, ebenso wie jene, die auf starke öffentliche Prinzipien verzichten, einem Kreislauf mit extremem Blut- hochdruck und Herzrasen entsprechen. Die öko-soziale Marktwirtschaft steht dagegen für ein Gleichgewicht, welches viele Lebensjahre bei guter Gesundheit verspricht.

(88) Position Ökologische Wirtschaftsdemokratie (Mitarbeitergesellschaften, de- mokratische Rahmenplanung, Markt): Die sogenannte soziale Marktwirtschaft ist ihrem Wesen nach eine Variante des Kapitalismus: In ihm dominieren die In- teressen privater Kapitaleigner vor entgegengesetzten gesellschaftlichen Bedürf- nissen. Es gilt, die kapitalistische Wirtschaftsordnung in Richtung einer „ökologi- schen Wirtschaftsdemokratie" zu transformieren. Diese trägt zum einen dafür Sorge, dass die wirtschaftliche Entwicklung nur in den ökologisch verantwortba- ren Grenzen erfolgt. Zum anderen soll gewährleistet werden, dass die ökonomi- sche bzw. gesellschaftliche Entwicklungsrichtung durch den Ausbau von Parti- zipation und Planung den Bedürfnissen der BürgerInnen – der Beschäftigten und der KonsumentInnen – Rechnung trägt.
Der Steuerungsmechanismus der Wirtschaftsdemokratie ist ein Mix aus Markt- mechanismus und demokratischer Rahmenplanung; Innovations- und Effizienz- vorteile von Märkten werden gezielt genutzt. Insgesamt geht es aber darum, die offenkundigen Defizite der Marktsteuerung durch eine ökonomisch-ökologische Rahmenplanung auszugleichen. Diese greift nicht unmittelbar in die Investiti- onsautonomie der Einzelunternehmen und in die Tarifautonomie der Tarifpart- ner ein, sondern steuert indirekt über die Vorgabe und Kontrolle von mittelfristi- gen Zielvorgaben: z.B. zur Erreichung von CO2-Reduktionszielen, zur schrittwei- sen, aber starken Reduzierung und Umverteilung von Erwerbsarbeit, zur Finanz- und Investitionsplanung der öffentlichen Hände und (in der BRD) zur wirt- schaftlichen Angleichung der neuen und alten Bundesländer.
Die Demokratisierung der Wirtschaft bezieht sich auch auf die einzelnen Unter- nehmen. Diese bleiben autonom in ihren Entscheidungen und produzieren für den Markt. Auf den Anreiz des Gewinnstrebens wird nicht verzichtet. Eine pro- gressive Beteiligung der Beschäftigten am Gewinn des eigenen Unternehmens (Investivlohn) könnte sie schrittweise zu Miteigentümern an ihren Unternehmen machen und mit einem gleichzeitigen Ausbau ihrer Mitbestimmungs- und Mit- entscheidungsrechte im Unternehmen verknüpft werden. Für den Bereich der Großunternehmen bzw. Konzerne ist das Instrumentarium der Entflechtung neu anzuwenden und – sofern dafür gesellschaftliche Bewegungen streiten – sind Großunternehmen in Belegschaftseigentum zu überführen (Vergesellschaftung). – So umfasst eine ökologische Wirtschaftsdemokratie eine Vielfalt von Eigen- tumsformen: vom Privateigentum, insbesondere bei kleinen und mittleren Un- ternehmen, über kommunales Eigentum (z.B. Stadtwerke) bis hin zu genossen- schaftlichem bzw. Belegschaftseigentum (Mitarbeitergesellschaften).

(89) Position Demokratisches Wirtschaften (Überwindung des Marktes zugunsten von Demokratisierung der Ökonomie): Ausgangspunkt ist die Analyse, dass die von Attac kritisierten globalen sozialen, ökologischen und politischen Missstände primär aus der kapitalistischen Produktionsweise resultieren. Zur Überwindung der globalen Missstände ist daher die Überwindung des kapitalistischen Wirt- schaftssystems erforderlich. Die Diskussion dreht sich u.a. um die Frage, wie die folgenden Ziele

(90) III. Wege zu einer alternativen Weltwirtschaftsordnung


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