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Der wilde Dschungel der Kooperation

Maintainer: Stefan Meretz, Version 2, 14.11.2001
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) Christoph Spehr hat eine postmoderne große Erzählung vorgelegt, eine Theorie der Freien Kooperation. Noch vor einigen Jahre hätte ich seinen Text schnell beiseite gelegt: zu unscharfe Begriffe, zu unanalytisch, zu unökonomisch. Heute erkenne ich, dass diese Schwäche auch seine Stärke ist, denn der Text vermag Menschen anzusprechen, die eher scharfe, analytische und ökonomisch begründete Texte beiseite legen. Er spricht auch mich an, denn ich bin das nicht, was ich als Form der Erkenntnis bevorzuge.

(2) Wir reden über die gleiche Welt in unterschiedlichen Sprachen. Diese Sprachen vermögen je unterschiedliche Dinge besonders und andere weniger gut sichtbar zu machen. Sie sind potenziell transformierbar, sicherlich in Grenzen. Hätte ich früher die Unterschiede und Defizite hervorgehoben, um die Schärfe und Stärke meiner eigenen Sprachwelt hervorzuheben, so kann ich heute die Gemeinsamkeiten herausholen und dadurch ein gemeinsames Lernen einleiten. Wenigstens bei mir. Mir wird dabei klar, dass der alte, abgrenzende Modus strukturell dem Modus der warenproduzierenden Gesellschaft entspricht, in der sich der Einzelne stets auf Kosten anderer behauptet. Ein integrierender Modus hingegen guckt erst einmal auf die gemeinsame Schnittmenge, Er erfordert viel mehr Anstrengung, die Übersetzung zu leisten, weil beim Übersetzen das eigene Gedachte in einer anderen Weise herausgefordert wird, als in der bloße Abgrenzung. Von dort aus werden auch die Unterschiede und Defizite wesentlich deutlicher. Das ist der Modus einer Freien Gesellschaft, in der die Entfaltung des Anderen die Voraussetzung für je meine Entfaltung ist. Dazu später mehr. Zunächst ein wenig »Übersetzung«.

Kooperation

(3) Der Begriff »Kooperation« darf nicht normativ verstanden werden. Kooperation ist weder gut noch schlecht, Kooperation ist Kooperation. Was ist aber Kooperation? Kooperation ist eine bestimmte Form interpersonaler Aktivität. Nicht jede interpersonale Aktivität ist Kooperation (z.B. Sexualität). Kooperation nutzt und bezieht sich auf gesellschaftlich geschaffene Mittel und Strukturen. Beispiele: zusammen Abwaschen, zur Schule gehen, lohnarbeiten gehen, alle uns knechtenden Verhältnisse umstürzen. Die Reichweite solcher Kooperationen ist unterschiedlich. Wo in (der Theorie der) Freien Kooperation Aufzählungen stehen - von der Beziehung zwischen Zweien bis zur gesamten Gesellschaft -, dort bringe ich eine qualitative Differenzierung an. Nicht alle Kooperationen sind selbstähnlich. Ich will deutlich machen, dass ich im Nichterkennen der qualitativen Unterschiede von personalen Kooperationen und der gesamtgesellschaftlichen Kooperation in der Theorie der Freien Kooperation den wesentlichen blinden Fleck erblicke.

(3.1) Re: Kooperation, 17.01.2002, 20:12, Ano Nym: Vielleicht als Ersatz für den angestaubten Begriff "Solidarität"?

(3.2) Re: Kooperation, 03.02.2002, 22:39, Birgit Niemann: "Nicht jede interpersonale Aktivität ist Kooperation (z.B. Sexualität)" Wieso ist Sexualität nicht kooperativ? Es kooperieren doch zwei Individuen (natürlich müssen es nicht immer zwei sein, aber dass scheint mir beim Menschen der häufigste Fall zu sein) zwecks Reproduktion von Nachkommen. Zumindestens ist das der jeder Sexualität zugrundeliegende ursprüngliche Zweck und es liefert auch der Gesellschaft neue Mitglieder. Doch auch wenn man Sexualität im Lichte der Psyche betrachtet, wird kooperiert. Und zwar bei der Herstellung entspannter und glücklicher Beziehungen für die beteiligten Individuen. Und die Psyche selbst ist doch auch eine gesellschaftlich hergestellte Struktur.

(3.2.1) Re: Kooperation, 09.02.2002, 23:55, Stefan Meretz: Eine längere Diskussion, der Kern ist: Kooperation ist eine durch Mittel vermittelte interpersonale Aktivität. Bloß interaktive Beziehungen wie Sexualität brauchen keine Mittel und beziehen sich auf keinen gesellschaftlichen Zweck. Dass wir trotzdem auch "Mittel" benutzen - zur Verhütung, Luststeigerung etc. - ist nicht Voraussetzung für Sexualität, sondern historisch gewachsene, aber keineswegs überall gegebene Möglichkeit.

(3.2.1.1) Re: Kooperation, 10.02.2002, 23:19, Birgit Niemann: Nichts gegen die Neudefinition von Begriffen, wenn diese überholt sein sollten. Doch kollidieren sie dann mit den alten Bedeutungen. Kooperation enthält als Kern den Begriff Operation (lat. Verrichtung). Der Operator aber ist der Verrichter und operativ heißt gar: unmittelbar, konkret wirksam. Kooperation ist also in der mir bekannten Definition die "unmittelbare Mitverrichtung" oder eleganter ausgedrückt: das unmittelbare Zusammenwirken. Nirgendwo erscheint in der Kooperation das Mittel. Wenn Du die vermittelte Kooperation meinst, dann musst Du auch vermittelte Kooperation sagen und nicht einfach Kooperation neu definieren. Denn Kooperation ist nicht einmal an Personen gebunden, sondern an agierende Individuen, die nicht unbedingt Personen sein müssen. Unabhängig davon, ob körperliche oder vom Körper abgelöste Mittel dafür gebraucht werden. Was meinst Du übrigens mit ... Kooperation darf nicht normativ gesehen werden ....? Norm ist bei mir so etwas wie eine Regel, an die sich alle Beteiligten halten sollen. Insbesondere gesellschaftliche Kooperation ist natürlich keine vereinbarte Regel (obwohl sie das unter bestimmten Umständen auch sein kann) sondern ein aus der Notwendigkeit geborenes "miteinander Verrichten". Verschärfend kommt hinzu, dass der Erfolg der "Verrichtung" eben vom "miteinander" abhängig ist, weil er allein nicht erreicht werden kann. Sind wir hier einmal übereinstimmend? Interessant finde ich allerdings, dass Du Dich auf das Mittel als zentrales Unterscheidungskriterium hier festlegst. Denn das gibt mir sofort die Chance zu fragen: Woher kommt denn das abgelöste Mittel? Und schon sind wir beim reflektierenden Geist, bzw. bei der Reflexionsfähigkeit als entscheidenden Kriterium (nicht für Gesellschaft an sich, aber auch für die menschliche Gesellschaft).

(3.2.1.1.1) Re: Kooperation, 12.01.2004, 23:26, Ing. Hanspeter RIEDMANN: als entscheidende m Kriterium

(4) Die Freie Kooperation wendet sich zurecht gegen die verbreitete Vorstellung, Gesellschaft sei komplex, während eine Kooperation in kleinem Rahmen einfach sei. Jede Kooperation hat die ihr eigene Komplexität, danach kann man die unmittelbare Kooperation in der Küche und gesamtgesellschaftliche Kooperation in der Tat nicht unterscheiden. Daraus aber abzuleiten, alle Kooperationen seien im Sinne der Selbstähnlichkeit prinzipiell nicht unterschiedlich, ist kurzschlüssig. Den Unterschied zwischen personaler und gesamtgesellschaftlicher Kooperation versteht man, wenn man versteht, was Gesellschaft ist.

(4.1) 17.01.2002, 20:13, Ano Nym: Kooperieren ist also eine Folge der Existenz des Menschen? Kooperation = soziales Sein?

(4.2) personal und gesamtgesellschaftlich, 03.02.2002, 22:50, Birgit Niemann: " Den Unterschied zwischen personaler und gesamtgesellschaftlicher Kooperation versteht man, ..... " Einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden sehe ich z. B. in der unterschiedlichen Kommunikationsdistanz der kooperierenden Individuen, wovon die Zahl der möglichen Kooperationen abhängt. Etwa so: mit steigender Kommunikationsdistanz wächst die Zahl und Komplexität der möglichen Kooperationsbeziehungen für das einzelne Individuum. Dadurch werden die Kooperationsbeziehungen irgendwann so komplex, dass sie vom Individuum im Einzelnen nicht mehr überschaut und erst recht nicht direkt beeinflusst werden können. Deshalb schieben sich vermittelnde Prozess-Ebenen zwischen ein einzelnes Individuum und seine Kooperationspartner. Natürlich gibt es für jedes Individuum in der Menge der tatsächlichen Kooperationspartner auch noch die Teilmenge der direkten, also persönlichen Kooperationspartner.

Gesellschaft als Kooperation

(5) Menschen reproduzieren sich, in dem sie Stoffwechsel mit der äußeren Natur betreiben. Das tun Tiere auch. Doch im Unterschied zu Tieren geschieht der Stoffwechsel nicht unmittelbar, sondern vermittelt. Unmittelbar meint hier die Abwesenheit einer überdauernden, außerhalb der jeweiligen Individuen bestehenden Instanz, die für den Stoffwechsel genutzt wird: Tier - Umwelt. Vermittelt meint demgegenüber die Anwesenheit einer solchen Instanz: Mensch - Gesellschaft - Welt. Zwischen den individuellen Menschen und die Welt schiebt sich die Gesellschaft als Ebene, die allgegenwärtig ist. Sie ist zwar konkret präsent - etwa als gesellschaftliches Produkt »Buch« - und doch abstrakt: Niemand kann sie anfassen. Deswegen entgleitet sie dem Denken leicht. Sie muss aktiv in der Erkenntnis reproduziert, erkannt werden.

(5.1) Re: Gesellschaft als Kooperation, 15.11.2001, 08:35, Hans-Gert Gräbe: Das Bild trifft es m.E. nicht ganz: Gesellschaft steht nicht zwischen individuellem Mensch und Welt, sondern der individuelle Mensch ist in Gesellschaft eingebettet. Gesellschaft ist in dem Sinne kein Mittel, sondern Nährboden, Infrastruktur, in der auch Mittel produziert werden. Ebenso ist m.E. menschliches Handeln in Bezug auf die Welt im kausalen Sinne unmittelbar und bedient sich nur der gesellschaftlich produzierten Mittel (der Kultur). Gesellschaft steht in dem Sinne also _hinter_ dem individuellen Menschen als Rückzugs- und Rückversicherungsraum und nicht zwischen ihm und der Welt. Sein Handeln, besonders aber sein Denken, ist gesellschaftlich -kulturell- hochgradig geprägt (allerdings nicht determiniert). Gesellschaftlichkeit bestimmt die Möglichkeitsrahmen von Handeln, die je individuell ausgeschöpft werden. Insofern ist Gesellschaft auch nicht abstrakt. Sie kann nicht angefasst werden, weil sie nicht örtlich lokalisiert werden kann. Außerdem spricht die Prozesshaftigkeit gegen das "Anfassen".

(5.1.1) Re: Gesellschaft als Kooperation, 16.11.2001, 11:10, Stefan Meretz: Mit Bildern ist das so eine Sache - ich stimme dir mit deiner Beschreibung weitgehend zu. Am besten gefällt mir deswegen auch der Begriff der Gesellschaft als "Medium" oder "Infrastruktur" des Handelns. Vorsichtig bin ich mit Begriffen wie "Prägen", denn es handelt sich auch um ein Bild, das in dem Fall von der Münzprägung abstammt. Menschen werden aber nicht wie Münzen "geprägt" (ein determistischer Vorgang!), sondern - wie du richtigerweise betonst - sie vehalten sich in Möglichkeitsrahmen bzw. -räumen. Gleichwohl gibt es stark verselbstständigte Verhaltensweisen, die sich in der Individualbiographie als subjektiv funktional erwiesen haben. Warum soll ich das Rad jeden Tag neu erfinden? Der Mediums- oder Infrastruktur-Charakter von Gesellschaft unterstreicht IMHO aber ihre Abstraktheit. Gesellschaft als Handlungsmedium faktisch zu kapieren (als Übergang von der Unmittelbarkeit zur Vermitteltheit), ist übrigens ein entscheidender Entwicklungsschritt in der Individualbiographie.

(5.2) Re: Gesellschaft als Kooperation, 17.01.2002, 20:15, Ano Nym: Das haut daneben. Der Mensch als höheres Wesen, naja. Das kann man bequem auf die Reflektionsfähigkeit reduzieren.

(5.2.1) Re: Gesellschaft als Kooperation, 03.02.2002, 22:27, Birgit Niemann: "Das kann man bequem auf die Reflektionsfähigkeit reduzieren." Eben. Genauso sehe ich es auch. Und nicht mal diese ist einzigartig unter den Organismen auf dieser Erde. Einzigartig ist die menschliche Reflektionsfähigkeit lediglich in ihrer verselbstständigten Gestalt als Sprache. Wobei letzteres aber genau der Grund ist, warum allein die menschliche Reflektionsfähigkeit eine hochkomplexe eigene Welt hervorgebracht hat. Denn nur mit Hilfe der Sprache kann sich eine Reflektionsfähigkeit voll entfalten. Natürlich ist die Eigenschaft Reflektionsfähigkeit nur gesellschaftlich (also abhängig kooperativ) ent- und verstehbar. Das gilt aber wiederum für jede und nicht nur für die menschliche.

(5.2.2) Re: Gesellschaft als Kooperation, 10.02.2002, 00:05, Stefan Meretz: Nein, das kann man nicht bequem auf Reflexionsfähigkeit reduzieren. Ich schrieb weder was vom "höheren Wesen", noch von "Reflexionsfähigkeit". Ich argumentiere nicht normativ - ist das so undeutlich? Als wesentlichen Unterschied habe ich "unmittelbar" vs. "vermittelt" in Bezug auf die Relation des Tieres zur Umwelt bzw. des Menschen zur Welt thematisiert.

(5.2.2.1) Re: Gesellschaft als Kooperation, 10.02.2002, 23:49, Birgit Niemann: Was bitte schön ist an der Reflexionsfähigkeit normativ? Reflexionsfähigkeit ist keine zu vereinbarende Regel. Entweder man kann reflektieren, oder man kann es eben nicht. Das aber ist allein abhängig von der Komplexität des Gehirns. Es gibt Arten mit Gehirnen die reflektieren können und es gibt Arten mit Gehirnen, die das nicht können. Aber auch hier gefällt mir das in aller Deutlichkeit favorisierte "Mittel". Denn diese "Mittel" sind nichts anderes als die virtuell neu kombinierten und in die stoffliche Welt zurücktransformierten Reflexionsergebnisse, die es ohne Reflexionsfähigkeit selbstverständlich nicht geben kann. Also kommst auch Du an der Reflexionsfähigkeit als entscheidendes Kriterium nicht vorbei. Nur das Du wieder einmal meinst, außer Menschen kann keiner reflektieren. Das steht Dir ja frei und ist als Meinung unabhängig vom echten Leben.

(5.2.2.1.1) Können und Wollen, 11.02.2002, 15:15, Ano Nym: "... allein abhängig von der Komplexität des Gehirns. Es gibt Arten mit Gehirnen die reflektieren können und es gibt Arten mit Gehirnen, die das nicht können." Und es gibt Menschen (die ja per biologischer Befähigung allesamt reflektieren können müssen), die reflektieren wollen, und solche, die es nicht wollen: Taliban, Faschisten, andere Dogmatiker.

(5.2.2.1.2) Re: Gesellschaft als Kooperation, 13.02.2002, 11:47, Stefan Meretz: Das "normativ" bezog sich auf das "höhere Wesen". Aber auch von Reflexionsfähigkeit schrieb ich nichts. Ich finde den Begriff der RF sehr allgemein und nicht zur Unterscheidung von Mensch und Tier besonders nützlich. - Doch ist es auf keinen Fall so, dass die RF "allein abhängig von der Komplexität des Gehirns" ist. Gehirne können auch kein bisschen reflektieren, egal wie komplex. Leg dir so ein Gehirn auf den Tisch, und du wirst es sehen: Da passiert nix. Ich meine das nicht als Witz. Es ist geradezu klassisch, dass das Gehirn völlig isoliert betrachtet wird. Wer nur auf das Gehirn guckt, sieht gar nichts (kenn ich aus der sog. Neuroinformatik und sog. Kognitionswissenschaft zur Genüge). Wenn dir das mit den externen Mittel einleuchtet, dann musst du das auch sprachlich abbilden. Das haben Lurija, Wygotskij und Leontjew schon in den 70er kapiert.

(5.2.2.1.2.1) Re: Gesellschaft als Kooperation, 12.03.2002, 19:37, Birgit Niemann: "Leg dir so ein Gehirn auf den Tisch, und du wirst es sehen: Da passiert nix." Also ein Gehirn, dass auf dem Tisch liegt, ist tot. Kein vernünftiger Mensch kommt auf den Idee, von einem toten Gehirn noch einen Gedanken zu erwarten. Wenn es das ist, was Du mir unterstellst, dann weiß ich wirklich nicht, wozu wir uns über Prozess und notwendiger Prozessumgebung jemals verständigt haben. Im Übrigen halte ich die Reflexionsfähigkeit an sich ebenfalls nicht für ein geeignetes Unterscheidungskriterium zwischen Mensch und Tier, weil es auch Tiere gibt, die reflektieren können. Allerdings ist außer dem Menschen noch kein einziges anderes Lebewesen gefunden wurden, dass seine eigene Reflexionsfähigkeit reflektiert hat, also auch eine Idee von der Idee hat. Das scheint mir wirklich für den rezenten Menschen einzigartig zu sein. Während Vergesellschaftungsprozesse in der lebendigen Welt geradezu alltäglich sind.

(5.2.2.1.2.1.1) Re:flektion, 13.03.2002, 11:10, Bertrand Klimmek: Wenn "noch kein anderes Lebewesen gefunden" worden ist, das "seine eigene Reflexionsfähigkeit reflektiert hat", wo ist dann die tierische Reflektion? Du schreibst doch vorher, es gebe auch "Tiere, die reflektieren können" ...
Ich dachte immer, Reflektion hieße bereits, sich selbst - und damit auch das eigene Denken, d.h. Reflektieren - zu denken. Nicht nur steckt das semantisch im Wort, sondern schon bloß grammatisch ist das Wort reflexiv.

(5.2.2.1.2.1.2) Re: Gesellschaft als Kooperation, 14.03.2002, 10:22, Stefan Meretz: "...ein Gehirn, das(s) auf dem Tisch liegt, ist tot" - sic! Warum argumentierst du dann mit solchen toten Teilen und diesem entschwebenden mystischen Entitäten wie dem "Geist"?

(6) Folgende Aspekte von Gesellschaft, die gleichzeitig gelten, sind wichtig:

(6.1) Gesellschaftsbegriff, 03.02.2002, 23:09, Birgit Niemann: Also mein Gesellschaftsbegriff ist etwas kürzer und kompakter. Ich würde ihn ungefähr so formulieren: "Eine Gesellschaft ist eine abhängig-kooperative Reproduktionsgemeinschaft gleichartiger Individuen." Denn gerade in der Tatsache, das gleichartige Individuen sich voneinander abhängig-kooperativ reproduzieren, sehe ich den entscheidenden Kern einer Gesellschaft. Das Wie der abhängig-kooperativen Reproduktion ist natürlich in jeder Gesellschaft (auch in nichtmenschlichen) historisch-spezifisch, wie es so schön heißt. Weil die Reproduktion aber abhängig und kooperativ stattfindet, werden neben den Individuen notwendigerweise auch die Bedingungen für die abhängig-kooperative Reproduktion der Individuen mit reproduziert. Dadurch hat eine Gesellschaft mindestens zwei Reproduktionsebenen. Eine Ebene ist die Reproduktion der Individuen und die zweite die Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse (einschließlich ihres spezifischen Stoffwechsels). Der Begriff "gleichartig" in obiger Definition bezieht sich dabei auf die biologische Artdefinition, die da lautet: Zwei Individuen gehören dann zur selben Art, wenn sie miteinander fruchtbare Nachkommen hervorbringen können. Die ausführlichen anderen Beschreibungen die Du hier noch machst, beschreiben aus meiner Sicht das konkrete Wie menschlicher Gesellschaften, machen aber aus meiner Sicht nicht das Wesen von Gesellschaft aus. So für mich nehme ich jetzt erst einmal mit, dass immer wenn Du von Gesellschaft redest, Du eben das meins, was ich im wesentlichen unter menschlicher Gesellschaft verstehe (Kleine Unterschiede eingeschlossen). Das wird für einen Teil der Verständigung ausreichen, aber nicht für alles. Den Unterschied zwischen unseren Begriffen werde ich erst 'mal aber nur noch thematisieren, wenn es für eine Fragestellung notwendig ist.

(6.1.1) Re: Gesellschaftsbegriff, 09.02.2002, 23:40, Stefan Meretz: Dein Begriff fasst nicht die Gesellschaft, sondern einen tierischen Sozialverband. Es ist mitnichten der Kern von Gesellschaft, dass "gleichartige Individuen sich voneinander abhängig-kooperativ reproduzieren" - das ist viel zu unspezifisch. Die von mir genannten Bestimmungen sind auch nicht bloß historisch-spezifische Produkte (es ist nicht das Wie), sondern genuiner Bestandteil von Gesellschaft überhaupt. Das unterscheiden wir uns deutlich. Dein Begriff wird auch noch nicht mal von aufgeklärten Bürgerlichen geteilt, die als Erkennungskriterium von Gesellschaft immerhin "Kultur" anführen, sondern du kommst ins Fahrwasser der Biologisten und Rechtsextremen. Das ist kein inhaltliches Argument, aber macht dich das nicht misstrauisch?

(6.1.1.1) Re: Gesellschaftsbegriff, 10.02.2002, 23:59, Birgit Niemann: "Dein Begriff fasst nicht die Gesellschaft, sondern einen tierischen Sozialverband." Dann ist eine Menschengesellschaft in Deinen Augen also keine abhängig-kooperative Reproduktionsgemeinschaft von Menschen, die ja ebenfalls gleichartige Individuen sind. Was ist denn sonst der Zweck menschlicher Gesellschaften? Du kannst Dir ja mal in der Realität anschauen, was aus menschlichen Gesellschaften wird, wenn der abhängig-kooperative Reproduktionszusammenhang verloren geht.

(6.1.1.1.1) Re: Gesellschaftsbegriff, 13.02.2002, 11:52, Stefan Meretz: Der Begriff ist zu unspezifisch - das ist meine Aussage. Das ist, als wenn ich sagen würde: Menschen und Tiere sind Lebewesen, also sind sie gleich. Ja, natürlich sind sie bezüglich der Dimension "Leben" gleich. Dein verkürzter Gesellschaftsbegriff ist inhaltlich auf den Niveau tierischer Sozialverbände und trägt der Spezifität menschlicher Gesellschaft keine Rechnung.

(6.1.1.1.1.1) Re: Gesellschaftsbegriff, 12.03.2002, 19:13, Birgit Niemann: Der Begriff ist nicht spezifisch menschlich. Das ist richtig, denn genau deswegen ziehe ich ihn vor. Aber er umfasst hochspezifisch eine bestimmte Kooperationform in Verbindung mit einem bestimmten Kooperationszweck, worin ich das Wesen von Gesellschaftlichkeit sehe. Nämlich in der von einander abhängigen Kooperation zum Zwecke der Reproduktion. Und nicht der Reproduktion von Irgendwas, sondern von gleichartigen Individuen. Ob das Menschen, Aliens, Ameisen oder sonstwas sind, dass ist dann wichtig, um eben die Spezifik herauszuarbeiten. Und ob die Individuen dabei Mittel benutzen und welche Mittel das sind, ist dann auch eine Frage der Spezifik. Aber nur wenn man das Allgemeine, dass sich bei der abhängigen Kooperation zum Zwecke der Reproduktion ergibt, davon analytisch abtrennen kann, kommt man an das Spezifische überhaupt heran. Und nun komm mir nicht wieder mit der historischen Rekonstruktion. Die muss bei allen biologischen und sozialen Vergesellschaftprozessen vorgenommen werden. Ohne die geht es selbstverständlich nicht, dass ist nun wirklich nichts Besonderes seit Marx und Darwin.

(6.1.1.2) Re: Gesellschaftsbegriff, 11.02.2002, 00:13, Birgit Niemann: ".... die als Erkennungskriterium von Gesellschaft immerhin "Kultur" anführen,.." Aha, schon wieder haben wir hier den reflektierenden Geist bzw. die Reflexionsfähigkeit. Denn Kultur ist ja wohl nichts anderes als das Ergebnis "geistgesteuerten" (reflektierten) Handelns. So wird die Sache doch schon viel genauer. Selbstverständlich kann man definitorisch festlegen, dass nur eine "geistgesteuerte" abhängig-kooperative Reproduktionsgemeinschaft gleichartiger Individuen Gesellschaft genannt werden soll. Nur ist mir dann nicht klar, mit welchem Begriff man dann die Gemeinsamkeiten der "geistgesteuerten" mit den durch blinde Organisatoren gesteuerten abhängig-kooperativen Reproduktionsgemeinschaften zusammenfassen kann. Wieso ist übrigens Reproduktion kein Inhalt? Alles Leben dreht sich um (Re)produktion. Auch der Geist will nichts anderes, als sich selbst erweitert reproduzieren. Zumindestens gilt das für meinen, denn das ist es ja gerade, was ich hier in virtueller Kooperation treibe. Im übrigen fürchte ich die falschen Zuordnungen nicht (Biologsmen etc.). Als an Marx sozialisierte Molekularbiologin blieb mir in der heutigen Zeit gar nichts anderes übrig, als mir sehr viel klarere Kriterien zur Unterscheidung von echtem und behauptetem Biologismus zu erarbeiten, als es die meisten, die dieses Totschlagargument reflexartig beim Auftauchen von bestimmten Signalwörtern benutzen, getan haben. Ansonsten wäre ich davon ja längst erschlagen. Auch würde mich interessieren, woran Du denn einen Biologismus erkennst und wo genau sich in meiner obigen Definition ein Biologismus versteckt haben soll?

(6.1.1.2.1) Alles Leben, 11.02.2002, 15:18, Ano Nym: "Alles Leben dreht sich um (Re)produktion." Aber nur in der Vorgeschichte, hoffe ich. Sonst wäre der Kommunismus ziemlich langweilig ...
:O)

(6.1.1.2.1.1) Re: Sonst wäre der Kommunismus ziemlich langweilig ..., 11.03.2002, 01:13, Birgit Niemann: Offensichtlich kannst Du Dir Reproduktion nur stofflich vorstellen. Doch auch unser Geist reproduziert sich erweitert. Meine Vorstellung vom Kommunismus beinhaltete immer vor allem die geistige Reproduktion (einschließlich ihrer nichtrationalen Komponenten) auf der Grundlage einer ausreichenden stofflichen Reproduktion, die aber allen ganz selbstverständlich zugänglich ist. Das fände ich gar nicht langweilig.

(6.1.1.2.1.1.1) Re:produktion?, 11.03.2002, 10:35, Ano Nym: "Offensichtlich kannst Du Dir Reproduktion nur stofflich vorstellen." - Keineswegs. Doch, gelinde gesagt, schwingt im Begriff der allseitigen Reproduktion noch immer die Unterwerfung unter eine Notwendigkeit mit, wohingegen aber der Kommunismus doch das Reich der Freiheit (Marx) werden soll, oder?

(6.1.1.2.1.1.1.1) Re:Reich der Freiheit, 12.03.2002, 18:25, Birgit Niemann: Wenn man leben will, wird man wohl nicht umhinkommen, sich zu reproduzieren. Wenn Du diese Notwendigkeit los werden will, dann musst Du wohl aus dem Fenster springen, dich vor die Bahn werfen oder irgend wie anders den Löffel abgeben. Auch weiß ich nicht, wie man innerhalb und von einer Gesellschaft leben will und gleichzeitig frei von ihr sein kann. Das marx'sche Reich der Freiheit, verstehe ich zumindestens nicht als Freiheit von den gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhängen (stofflich und geistig), sondern als Freiheit vom "Ausgeliefertsein" an blinde Entwicklungzusammenhänge innerhalb der menschlichen Vergesellschaftungsprozesse. Die sollten von den kooperierenden Individuen ersetzt werden durch bewußte und gewollte Gestaltung des eigenen Vergesellschaftungsprozesses zum Zwecke ihrer aller Selbstentfaltung, die aber gerade im Rahmen der gesellschaftlichen Reproduktionsprozesse stattfindet. Wo sollte die Selbstentfaltung von kooperierenden Menschen auch sonst stattfinden?

(6.1.1.2.1.1.1.1.1) Reich der Notwendigkeit?, 13.03.2002, 10:36, Ano Nym: Meinetwegen. Ich habe mich ja nur daran gestoßen, daß sich "alles Leben [...] um (Re)produktion" drehe. Irgendwie muß man/fra sicher schon seine/ihre Notdurft verrichten und auch den inversen Stoffwechsel hinbekommen, aber ob sich dann noch "alles" darum "dreht"?? Oder ob das dann doch eher eine lächerlich marginale Selbstverständlichkeit zu sein hat in einer Gesellschaft, die den Namen Kommunismus verdient ...

(6.1.1.2.2) Re: Gesellschaftsbegriff, 13.02.2002, 12:02, Stefan Meretz: Das mit der "Kultur" ist nicht von mir, sondern ich habe es wiedergegeben. Und wie ich anderenorts darstellte, gibt es keinen Geist, der da steuert. Da hockt niemand in uns, der da steuert, es gibt auch niemand da draussen, der steuert, sondern wir sind es, die handeln. Das ist keinesfalls das Gleiche oder etwa nur eine sprachlichen Feinheit, sondern resultiert in krasser pseudowissenschaftlicher Verwirrung - etwa, wenn die Hirnforscher im Hirn rumbuddeln und nach den Komponenten des "Geistes" suchen. Und wenn du von Marx sozialisiert wurdest, dann kannst auch wirklich nicht ernst den Satz "der Geist will nichts anderes, als sich selbst erweitert reproduzieren" schreiben. Oder hängst du dem Hegelschen Weltgeist an?

(6.1.1.2.2.1) Re: sondern wir sind es, die handeln., 11.03.2002, 01:16, Birgit Niemann: Was handelt denn in Dir? Der Magen? Die Niere? Der Darm? Oder was sonst? Selbstverständlich agieren alle diese Organe und sorgen für Dein Ich, aber mein gesellschaftlicher Handlungsorganisator ist immer noch mein geisterzeugendes Gehirn. Damit lese ich auch Bücher, streite mich herum, denke mir Experimente aus etc. etc. Auch ist mein eigener Geist geprägt durch andere Geister. z.B. durch den von Lao dse, den von Charlotte Welskopf, den von Marx, den von Darwin und unzählige andere. Aber vielleicht ist es bei Dir ja anders. Allerdings kann ich mir das nur schwer vorstellen, denn ausgerechnet in folgendem Bild sehe ich den typischen Prozess des sich erweitert reproduzierenden Geistes: http://www.kritische-informatik.de/ (Kontakt anklicken). (Natürlich bin ich wieder 'mal zu blöd die Verlinkung hinzukriegen.)

(6.1.1.2.2.1.1) Re: sondern wir sind es, die handeln., 11.03.2002, 14:49, Stefan Meretz: In mir handelt gar nichts. Ich handele, oder ich lasse es. - Du liest mit deinem Gehirn ein Buch? Das kann ich mir nicht vorstellen. Und bitte probiere es nicht aus, das geht schief. Guck nochmal ganz genau hin auf das Bild von mir, das du hier anführst: Was siehst du? Ein Gehirn? Einen Geist? Ich bin das (natürlich nur ein Foto von mir) beim Lesen eines Buches. Ich lese da und niemand sonst. Der Geist ist eine metaphysische Fata Morgana bürgerlicher Wissenschaft. Über einen Entitätsbegriff wie "Geist" kommst du an die ja wirklich spannenden Fragen des Denkens und des Bewusstseins nicht ran.

(6.1.1.2.2.1.1.1) "Ich", Metaphysik, Psychoanalyse, 12.03.2002, 10:46, Bertrand Klimmek: Sehr richtig, die positivistische Abspaltung "des Geistes" vom integralen Menschen nicht mitzumachen. [ Fußnote: Formalistisch gegen den Szientismus argumentiert - wenn eine solche Münchhausiade gelingen kann - hieße das, daß bereits Gödels Satz die sog. Gehirnforschung ad absurdum führen muß. Ein System kann sich nicht selbst erklären. Zumindest nicht befriedigend, denn die bürgerlichen Wirtschafts"wissenschaften" versuchen das ja auch zirkulär und dogmatisch. ] Auch Meretzens letzter Satz leuchtet angesichts dröger akademischer Debatten unmittelbar ein.
Allerdings sollten die Fallstricke, die über einem derart vagen Terrain wie der bürgerlichen Subjektivität zuhauf gewoben sind, nicht verkannt werden; wenn Du schreibst "Ich bin das [...]. Ich [...] und niemand sonst", dann ist dies im Lichte totaler Fetischvergesellschaftung zwar als Wunsch nachvollziehbar, bleibt aber sehr prekär. Keine Mißverständnisse: Sophistiken über "den Geist" sind scharf abzulehnen, weil dieser i.d.R. als voraussetzungslose Instanz affirmiert wird, ohne seiner sozialen Konstitution Rechnung zu tragen. Wie die Psychoanalyse lehrt, ist das Subjekt in Epochen wie diesen aber tatsächlich ein heilloses Gemenge aus internalisiertem Über-Ich (Sachzwänge) und unterdrücktem Es (Körper), das sich nicht sehr glaubwürdig in das kleidsame Mäntelchen eines integralen Ich hüllt. Die Aufspaltung des Menschen in einen zerfahrenen Automaten ist also nicht zu negieren, sondern zu bekämpfen.

(6.1.1.2.2.1.1.1.1) Re: "Ich", Metaphysik, Psychoanalyse, 12.03.2002, 18:34, Birgit Niemann: "Sophistiken über "den Geist" sind scharf abzulehnen, weil dieser i.d.R. als voraussetzungslose Instanz affirmiert wird, ohne seiner sozialen Konstitution Rechnung zu tragen." Wenn es in der Regel so ist, heißt das noch lange nicht, dass die vorraussetzungslose Instanz dem Begriff Geist inhärent ist. Das der Geist (mit dem Bewußtsein im Zentrum) sowohl in seinem historischen Ursprung als auch in jeder konkreten historischen und individuellen Ausprägung sozial konstituiert ist, ist unbestrittene Vorraussetzung und wurde von mir zu keinem Zeitpunkt in Abrede gestellt. Das es Sinn macht, die virtuellen Produkte von Gehirntätigkeit mit einem Begriff zu belegen, halte ich nach wie vor für unbestreitbar. Der Bewußtseinsbegriff reicht mir dafür nicht aus, denn der erfasst lediglich die Spitze des Eisberges der virtuellen Produkte von Gehirntätigkeit. Es gibt natürlich die Alternative, ganz neue Begriffe zu definieren. Wenn Du einen guten und nachvollziehbaren Vorschlag dafür hast, schließe ich mich dem gern an.

(6.1.1.2.2.1.1.1.1.1) Re: "Ich", Metaphysik, Psychoanalyse, 14.03.2002, 10:54, Stefan Meretz: IMHO brauchst du einen neuen Begriff, kein neues Wort. Du suchst nach etwas für die "virtuellen Produkte von Gehirntätigkeit". Da ich die Frage für irreführend halte, formuliere ich es (mit Bauchschmerzen) so um: Du suchst nach einem Begriff für virtuelle Produkte der denkenden Tätigkeit von Menschen (die Frage, ob das sowieso nur Menschen können, mal aussen vor gelassen). Ok, wie wäre es dann mit dem Begriff der "objektiven Gedankenform" von Marx? Der ist allerdings ein überindividueller, gesellschaftstheoretischer - aber darum gings dir doch, oder? Individualtheoretisch wird es komplizierter, lasse ich erstmal weg.

(6.1.1.2.2.1.1.2) Re: sondern wir sind es, die handeln., 12.03.2002, 18:46, Birgit Niemann: "Du liest mit deinem Gehirn ein Buch? Das kann ich mir nicht vorstellen." Ja selbstverständlich, selbst wenn ich vom Hals ab gelähmt wäre, könnte ich weiterlesen, solange mir jemand die Seiten umblättert. Auch wenn ich blind wäre, könnte ich Blindenschrift lernen. Oder jemand könnte mir etwas vorlesen. Die Transformation der Sequenz der gehörten Töne bzw. gesehenen Buchstaben in zusammenhängenden Sinn und Bedeutung nimmt mein Gehirn vor und ich bezweifle, dass es bei Dir ein anderes Organ ist. Daran ändert auch die Tatsache nichts, das auch ein menschlicher Organismus ganzheitlich funktioniert und nur ein im lebendigen menschlichen Körper existierendes Gehirn überhaupt etwas produzieren kann, also Transformations-, Synthese- und Integrationsleistungen überhaupt vornehmen kann. Es kommt mit absurd vor, dass zu bestreiten, denn fast alles im menschlichen Körper bis hin zu Därmen, Gebärmüttern und Hoden ist heute schon auswechselbar und wird auch ausgewechselt. Nur ein Gehirn lässt sich nicht auswechseln, ohne das der ursprüngliche Mensch dann weg ist. Was nicht bedeutet, dass ich von der biologischen "Ersatzteilentwicklung" zu Verwertungszwecken begeistert bin. Denn noch kann ich es mir schadlos leisten, auf so etwas zu verzichten und die Sache nur theoretisch und in ihren Folgen zu durchdenken.

(6.1.1.2.2.1.1.2.1) Re: sondern wir sind es, die handeln., 14.03.2002, 10:43, Stefan Meretz: Jetzt verwendest du das Argument der "Austauschbarkeit" der Organe - damit hättest du im Diskurs mit der normalen Informatikbande schon verloren: Warum soll ein Gehirn nicht austauschbar sein? Innerhalb des positivistischen (biologistischen s.o.) Diskurses gibt es kein Halten mehr. - Das Gehirn ist ein Stück Biomasse, und isoliert dazu noch ein totes wie du sehr richtig in (5.2.2.1.2.1) feststellst. Auch wenn du gelähmt oder sonstwie gehandicapt bist ändert sich daran kein bisschen: Du bist nicht dein Gehirn, und dein Gehirn ist nicht dein Handler. Aber das ist das wirklich schwierige: Wie kann ich "über" Menschen (und damit mich) anders als vom Drittstandpunkt, von Außenstandpunkt nachdenken? Das geht vom Drittstandpunkt nicht in angemessener Weise, und wenn man es tut, kommt das heraus, was bürgerliche Wissenschaft eben an Schrott produziert. Das ist doch gerade das Resultat der bürgerlich-rationalen Denkform als Produkt der objektivierten Verwertungslogik: Die Objektivierung von alles und jedem, auch des nicht objektivierbaren. Du reproduzierst das völlig unkritisch.

(6.1.1.2.3) Biologismus, 13.02.2002, 12:21, Stefan Meretz: Es ist richtig: Von Schlagwörtern soll man sich nicht mundtot machen lassen. Doch auch berechtigt scheint mir, die Indizien nicht zu ignorieren, sondern ihnen nachzugehen. Biologismus nennt man - so kenne ich es jedenfalls - die Verwendung biologischer fundierter Erklärungen für eigentlich gesellschaftliche Sachverhalte. Die Aussage etwa "Der Mensch ist nun mal von Natur aus egoistisch" ist biologistisch. In deiner Definition steckt der Biologismus in der Ausdehnung eines "Gesellschaftsbegriffs", der auf dem inhaltlichen Spezifitätsniveau tierischer Sozialverbände liegt, auf die menschliche Gesellschaft. Damit setzt du tierische Sozialverbände und menschliche Gesellschaft gleich und öffnest die Tür für eben genau die Verwendung biologischer fundierter Erklärungen für eigentlich gesellschaftliche Sachverhalte. - Dennoch ist nunmal der Mensch ein biologisches Mensch. Wenn also, wie ich behaupte, die Gesellschaftlichkeit seine Spezifität ausmacht, dann muss diese auch biologisch erklärbar sein. Sonst, und das wäre das andere Extrem, kommt es zu einer unvermittelten Entgegensetzung von unspezifisch biologischer Basis und menschlicher Spezifik (beobachtbar bei normativ argumentierenden Leuten: Der Mensch solle bitte auf keinen Fall nur Tier sein). Eine biologisch-fundierte Erklärung der menschlichen Spezifik, nämlich seiner Gesellschaftlichkeit, kann nur logisch-historisch erfolgen. Mit anderen Worten: Es geht um die Rekonstruktion der biologischen Gewordenheit des Menschen und seiner gesellschaftlichen Natur. - Damit habe ich kurz die Aufgabe für materialistisch denkende Biologen und Anthropologen skizziert. Dies wurde zu großen Teilen geleistet von der Kritischen Psychologie, die ich dir gerade als "an Marx sozialisierte Biologin" nur ans Herz legen kann.

(6.1.1.2.3.1) Re: Biologismus, 12.03.2002, 18:59, Birgit Niemann: "Eine biologisch-fundierte Erklärung der menschlichen Spezifik, nämlich seiner Gesellschaftlichkeit, kann nur logisch-historisch erfolgen. Mit anderen Worten: Es geht um die Rekonstruktion der biologischen Gewordenheit des Menschen und seiner gesellschaftlichen Natur." Wie hübsch du mir hier Dinge an's Herz legst, die mir seit mindestens 25 Jahren, wenn nicht länger schon klar sind. Gerade wenn ich den spezifischen historischen Werdegang der menschliche Vergesellschaftung verstehen will, dann muss ich in der Lage sein, ihn von anderen Vergesellschaftungsprozessen abzugrenzen und zu unterscheiden, aber dass habe ich jetzt oft genug wiederholt. Das macht an dieser Stelle keinen Sinn mehr.

(6.1.1.2.3.1.1) Re: Biologismus, 14.03.2002, 11:08, Stefan Meretz: Ok, dann lies - mit deinem Wunsch, die menschliche Vergesellschaftung von scheinbar "anderen" abgrenzen zu wollen, Vorbegriffe haben wir ja alle im Kopfe - doch bitte das Buch "Grundlegung der Psychologie" von Klaus Holzkamp. Ich kenne nichts anderes, was das genau dieses von mir formulierte Programm auf dialektisch-materialistischer Grundlage auch umgesetzt hat. Mich würde doch interessieren, ob deine Selbstgewissheit noch Raum für Anderes lässt.

(6.2) Gesellschaft, 15.03.2002, 12:23, Bertrand Klimmek: (!Achtung: bezieht sich auf Absatz (6), d.h. viel hochscrollen über diesen Diskussionswust!)

Auch ich würde diese fünf Thesen unterschreiben. Sie haben schon ein gehöriges kritisches Potential, das die Ideologeme des stets personalisierenden Alltagsverstands unterhölt (der ja Bedingung ist für den strukturellen Antisemitismus des bürgerlichen Denkens). Nun gibt es aber die plausible Kritik an Marx, ob der erdrückenden Gegenwart einer totalen kapitalistischen Gesellschaft sei der Begriff Gesellschaft (Gesellschaft als Etwas) bereits die Ontologisierung, Verdinglichung eines historischen Sachverhalts. Demnach ist die Frage, ob die (einer jeden) Gesellschaft zugeschriebenen Thesen nicht vielmehr spezifisch sind für eine fetischistische Gesellschaft, die der Kontrolle durch die Menschen entronnen ist - und dadurch erst zu einem autonomen Abstraktum, einem automatischen Subjekt wird.
Eine kommunistische "Gesellschaft" bräuchte bzw. hätte wohl keine "Gesetze" mehr, wenn sie wirklich menschliche Emanzipation bedeutet. Nichtsdestotrotz stimmen die Thesen für diese vorgefundene Gesellschaft.
Hier wird es sehr spannend.

(7) Die Gesellschaft ist demnach ein besonderer kooperativer Zusammenhang, der sich von anderen Kooperationen unterscheidet. Es ist der abstrakte Zusammenhang, in dem sich die konkreten kooperativen Zusammenschlüsse der Menschen bewegen. Oder wie Klaus Holzkamp es formuliert: »Wir müssen unterscheiden zwischen gesamtgesellschaftlicher Kooperation als Wesensbestimmung der menschlichen Lebensgewinnungsform überhaupt und Kooperationen auf Handlungsebene als interpersonalem Prozess zwischen Individuen.« (1983, 325)

(8) Es ist u.U. verwirrend, dass beides, der personale Zusammenschluss und der übergreifende und überdauernde Zusammenhang, als »Kooperation« bezeichnet werden. Wenn ich den Begriff der gesamtgesellschaftlichen Kooperation verwende, dann meine ich diesen abstrakten und sich eigengesetzlich reproduzierenden Zusammenhang der Gesellschaft. Demgegenüber bezeichne ich die konkreten personalen Zusammenschlüsse als personale Kooperationen oder schlicht auch nur als Kooperationen. Erkenntnistheoretisch handelt es sich hier folglich um zwei unterschiedliche analytische Bezugsebenen: um die gesellschaftstheoretische und die individualtheoretische Ebene.

(8.1) 15.11.2001, 08:52, Hans-Gert Gräbe: Es ergibt sich für mich die Frage, ob es dazwischen noch was gibt. Kann FS wirklich unter "personale Kooperation" subsumiert werden oder entsteht hier etwas, das den Rahmen klassischer "personaler Kooperation" übersteigt in dem Sinne, dass Effekte eintreten, die sich nicht lokal erklären lassen. Ob es also Effekte gibt, die - genau wie bei der "unsichtbaren Hand des Marktes" - keiner geplant hat, die also "hinter dem Rücken der Akteure", aber trotzdem eingetreten sind. Über solche Effekte kann man natürlich reflektieren (wie ja auch über die "unsichtbare Hand" reflektiert wird), aber sie sind nur sehr begrenzt steuerbar und schon gar nicht aus der Perspektive der Freien Kooperation (weil jede Art von Verhandlung zwischen individuellen Akteuren lokaler Natur ist).

(8.1.1) Freie Software noch personale Koop?, 16.11.2001, 11:11, Stefan Meretz: Gute Frage! Ich würde Freie Software als Übergangs-Phänomen zwischen personaler und gesamtgesellschaftlicher Kooperation sehen - also auch in diesem Sinne "Keimform". Sie hat als einzige Bewegung, der ich eine Potenz für eine neue Produktionsweise zuschreibe, eine gesamtgesellschaftliche Dimension gewonnen. Das unterscheidet sie wesentlich von anderen "Bewegungen".

Gesamtgesellschaftliche Kooperation

(9) Die gesamtgesellschaftliche Kooperation ist überindividuell andauernd. Sie ist nicht verhandelbar. Sie kann nicht verlassen werden, die je individuelle Beteiligung unterscheidet sich nur in ihrem Vermittlungsgrad. Der individuelle Ausstieg ist identisch mit dem Ende der eigenen Existenz - ein einseitiger, hoher »Preis«. Dies gilt genauso, wenn ich an die Stelle der Individuen personale Kooperationen setze. Das Ende gesamtgesellschaftlicher Kooperation ist identisch mit dem Ende der Menschheit.

(10) Die Unverhandelbarkeit gesamtgesellschaftlicher Kooperation hat für den Einzelnen einen eminenten Vorteil. Da sie überindividuell und überdauernd besteht, wird meine Existenz auch dann miterhalten, wenn ich mich an der gesamtgesellschaftlichen Kooperation nicht beteilige. Diese allgemeine Aussage ist nicht zu verwechseln mit dem konkreten, tausendfach realen Existenzentzug. Der Existenzentzug ist keine Eigenschaft gesamtgesellschaftlicher Kooperation überhaupt, sondern Ausfluss historisch konkreter gesellschaftlicher Kooperationsformen. Aus der prinzipiellen Eigenschaft, die je eigene Existenz bedingungsunabhängig erhalten zu können, leitet sich die grundsätzliche Möglichkeit ab, eine gesellschaftliche Form zu finden, in der die grundsätzliche Potenz gesellschaftlicher Kooperation auch konkret und für jeden Einzelnen wirksam entfaltet wird. Die Entfaltung aller Menschen ist also keine bloß utopische Idee, sondern genuine Potenz gesamtgesellschaftlicher Kooperation.

(11) Mir ist hier folgendes wichtig: Durch die Entkopplung eigener Existenz von der Beteiligung an gesamtgesellschaftlicher Kooperation verfügt der Mensch über eine unhintergehbare Möglichkeitsbeziehung zur Realität. Sein Handeln ist nicht festgelegt, er bewegt sich stets in Möglichkeitsräumen. Der Mensch kann Wollen. Das gilt auch für personale Kooperationen. Der Möglichkeitsraum wird ganz entscheidend durch die jeweilige gesellschaftliche Form bestimmt. Sie bildet das Medium, in dem wir uns bewegen: handelnd, denkend, fühlend. Dieses Medium nicht zu thematisieren in einer Theorie vom Handeln der Menschen, ist in etwa so blindfleckig wie über das Schwimmen zu theoretisieren, ohne über das Wasser zu sprechen. Die gesamtgesellschaftliche Kooperation ist das Wasser, in dem die personalen Kooperationen schwimmen - so sie das Schwimmen gelernt haben. Die Theorie der Freien Kooperation kann eine Theorie vom Schwimmen-lernen werden.

(12) Die Stärke der Theorie der Freien Kooperation ist, dass sie sich mit einem blinden Fleck anderer emanzipatorischer Theorien sehr ausführlich befasst: Sie spricht über die Sphäre des gesellschaftlich vermittelten Handelns, über den so schwierig thematisierbaren Vermittlungsraum zwischen dem Einzelnen, dem Individuum, und dem großen Ganzen, der Gesellschaft. Sie diskutiert den je konkreten Möglichkeitsraum, also all die Handlungsmöglichkeiten, über die ich verfüge auch ohne eine befreite Gesellschaft vorauszusetzen. Sie spielt heute und verweist nicht auf ein imaginiertes Morgen. Sie ist dabei weder normativ (»du sollst...«) noch moralisierend (»sei ein guter Mensch...«), sondern sie spricht über den Alltag, den ganz persönlichen und den emanzipatorischer Bewegung. Sie würde jedoch ein Mehr an Kraft gewinnen, redete sie auch über das Wasser, in dem sie schwimmt.

Der kybernetische Dschungel der Warenproduktion

(13) Die heutige gesamtgesellschaftliche Kooperation hat die Form einer Warenproduktion - auch bekannt unter dem Namen »Kapitalismus«. Das ist ein ziemlich hinterhältiges Konstrukt. Obwohl »eigentlich« die gesellschaftliche Kooperation jedem die Möglichkeit der freien Entfaltung bieten könnte, geschieht Entfaltung in der Warenproduktion auf Kosten Anderer. Ursache und Antrieb ist kein böser Wille, obwohl selbiger nicht selten auftritt, sondern ist die spezifische Eigengesetzlichkeit der Warenproduktion. Das Win-Loose-Prinzip ist dieser gesellschaftlichen Kooperationsform eingeschrieben. Das fiese ist: weil ich mein Leben nur vermittels dieser Kooperationsform erhalten kann, muss ich sie gleichzeitig reproduzieren: »Wir nehmen unser Gefängnis überall hin mit, wohin wir auch gehen, in jedes konkrete Verhältnis. Und das Ausmaß, in dem wir in Wirklichkeit versklavt sind, ist weit totaler als das jeder antiken oder bürgerlichen Sklavenhaltergesellschaft vor uns« (S. 16).

(13.1) Re: Der kybernetische Dschungel der Warenproduktion, 17.01.2002, 20:20, Ano Nym: Die heutige gesamtgesellschaftliche Kooperation hat die Form einer Warenproduktion das ist aber jetzt arg auf das Ökonomische reduziert. Wenn Ökonomie sich mich Tausch- und Austauschprozessen beschäftigt, dann findest Du natürlich* kooperatives Handeln. Betreibt man da nicht eine finstere Tautologie? Muss man denn wie ein Marxist alles auf dieser Ebene allokieren?

(14) Produkte werden im Kapitalismus als Wertdinge hergestellt, denn im Tausch interessiert nicht ihre konkrete Sinnlichkeit, sondern nur ihr Wertsein. Das produktive Tun nimmt folglich die Gestalt abstrakter Arbeit an. Ware, Wert, Geld, Arbeit sind unsinnliche Abstrakta, die sich selbst organisierend bewegen, wobei jede Bewegungsrunde auf erweitertem Niveau stattfinden muss. Die Arbeitenden, gleich, ob als Funktionäre der Wert-Selbstbewegung oder als Verkäufer ihrer Arbeitskraft, exekutieren die unerbittliche Eigenlogik dieser Form gesellschaftlicher Kooperation in der Konkurrenz. Die Eigengesetzlichkeit ist nicht verhandelbar, und ob ich rausgehe, ist zwar meine Wahl, einen Einfluss auf die Gesetze der Kooperationsform habe ich damit jedoch nicht. Die Logik ist: Ich behaupte mich nur dann, wenn sich andere nicht behaupten. Meine Durchsetzung erfolgt notwendig auf Kosten Anderer. Das gilt für Einzelne wie für personale Kooperationen. Was uns heute als Win-Win-Kooperationen präsentiert werden, sind in Wahrheit Win-Win-Loose Verhältnisse: Es gibt kann nicht nur Gewinner geben, es gibt immer auch Verlierer.

(14.1) Zu ungenau, 17.01.2002, 20:21, Ano Nym: Dann widerspräche die WinWin-Situation ihrer Definition und das müsstest Du besser begründen.

(15) Es ist der klassische Fall einer erzwungenen personalen Kooperation: »Herrschaft ist erzwungene soziale Kooperation. Die Kooperation ist erzwungen, weil die eine Seite sich nicht aus ihr lösen kann, weil sie nicht darüber bestimmen kann, was sie einbringt und unter welchen Bedingungen, weil sie keinen oder nur geringen Einfluss auf die Regeln der Kooperation hat.« (S. 16) Nur leider kann ich der gesamtgesellschaftlichen Zwangskooperation nicht entkommen. Es fehlt gewissermaßen der Adressat meines Widerstands: Der Ober-Erzwinger, der Meta-Herrscher, ist keine Person, sondern eine sich selbst reproduzierende und totalisierende »kybernetische Maschine« - und mit »Maschinen« ist schlecht zu verhandeln.

(15.1) Lektüretipp, 17.01.2002, 20:22, Ano Nym: Les mal Canettis Masse und Macht...

(16) Im kybernetischen Dschungel der Warenproduktion ist der wilde Dschungel der Freien Kooperation am Ende angelangt, weil es um die Wurst geht. Wie in keiner anderen historischen gesellschaftlichen Kooperationsform, ist hier die je individuelle Reproduktion mit der Reproduktion der totalitären Warenproduktion verkoppelt. Wenn ich »drin« bin, muss ich die Logik denkend und handelnd reproduzieren - oder ich bleibe nicht länger »drin«. Die Logik rückt mir auf den Pelz, ich muss sie alltäglich nachvollziehen, mitdenken, erfühlen, ausführen. Sich auch nur denkend dort hinauszubegeben, ist schon ein heroischer Widerstandsakt. Viele verzweifeln vorher oder werden zynisch.

(16.1) Satz1, 17.01.2002, 20:23, Ano Nym: Der erste Satz klingt ein bisschen merkwürdig.

(17) Dennoch: Das Hinausbegeben ist möglich, teilweise, schrittweise, nicht nur denkend, sondern auch fühlend und handelnd. Es geht darum, die Möglichkeiten aufzumachen, um die je eigene und die gemeinsame Handlungsfähigkeit zu erweitern - auch unterhalb der kompletten Änderung des totalitären Zusammenhangs kybernetischer Warenproduktion. Die Freie Kooperation stärkt einem dabei den Rücken.

Allgemein- und Partialinteressen

(18) Die Freie Kooperation beginnt hier und heute. Eine Kooperation muss sich jetzt als besser erweisen, es muss sich in und mit ihr besser leben als ohne sie, es muss sich »lohnen«: »Unter Gleichen definieren wir 'es lohnt sich' als: 'Diese Kooperation ist besser für mich als wenn ich sie nicht hätte'. Wir definieren 'es lohnt sich' nicht als: 'Diese Kooperation lohnt sich, weil ich dir weniger gebe als du mir'« (S. 14). Dennoch handelt es sich nicht einen »Tausch«, der etwa »gerecht« sein solle. Darum geht es nicht. Es geht nur darum, dass die Kooperation so beschaffen ist, dass sich niemand auf je meine Kosten durchsetzt. Ob das gelingt, ist Sache der Kooperation und der Vereinbarungen in ihr.

(18.1) Re: Allgemein- und Partialinteressen, 17.01.2002, 20:24, Ano Nym: Ungenau, hier sind die Ökonomen und Spieltheoretiker weiter.

(19) Freie Kooperationen basieren auf gemeinsamen Eigeninteressen, während erzwungene Kooperationen in Partialinteressen gründen. Die Gemeinsamkeit in einer freien Kooperation entsteht nicht dadurch, dass alle die gleichen Interessen verfolgen, sondern dadurch, dass sich die je eigenen Interessen in der Kooperation bewegen und entfalten lassen. Nicht die Übereinstimmung ist wichtig, sondern die Bewegung in der Unterschiedlichkeit. Damit das geht, müssen die 3 Kriterien freier Kooperationen erfüllt sein: »In einer freien Kooperation kann über alles verhandelt werden; es dürfen alle verhandeln; und es können alle verhandeln, weil sie es sich in ähnlicher Weise leisten können, ihren Einsatz in Frage zu stellen.« (S. 22).

(20) Die beiden Bewegungsmodi personaler kooperativer Zusammenschlüsse lassen sich noch schärfer formulieren: Freie Kooperationen sind solche, in denen die Entfaltung des Einzelnen die Entfaltung der Anderen erfordert. Erzwungene Kooperationen sind solche, in der Durchsetzung des Einzelnen auf Kosten der Anderen funktioniert. Auch dies ist wieder nicht normativ oder statisch zu verstehen, sondern als Grundtendenz ihrer jeweiligen Entwicklung. Die Theorie der Freien Kooperation als Theorie von der Überführung erzwungener in freie Kooperationen würde an Klarheit gewinnen, formulierte sie den hier zugespitzten Unterschied explizit.

(21) Ich will es noch ein Schritt weiterdenken: In erzwungenen Kooperationen werde ich mir selbst zum Feinde, denn der Andere bin ich, und das Durchsetzen-auf-Kosten-Anderer ist immer reziprok ein Durchsetzen auf meine Kosten. Das ist eine mögliche Erkenntnis, die ich in erzwungenen Kooperationen nicht zulassen kann, die ich personalisierend auf Andere schieben und verdrängen muss. Mit der Freien Kooperation als Alternative werden Handlungsoptionen sichtbar: Welche Regeln und Bedingungen kann, will und muss ich ändern, damit ich mich entfalten kann? Denn die Bedingungen sind es, die mir Entfaltung ermöglichen oder nicht. Welche Ausstiegssicherheit brauche ich, um Vertrauen in die Stabilität der Kooperation zu gewinnen? Denn nur die Kooperation, die ich ohne Beschädigung verlassen kann, will ich erhalten. Die Freie Kooperation lenkt den Blick auf Situationen und nicht auf Personen. Es ist eine Ermöglichungs- und keine Verhinderungsperspektive.

Die Grenzen der Freien Kooperation

(22) Die Theorie der Freien Kooperation beginnt heute. Weil sie das tut, bewegt sie sich notwendig in den Formen, die heute möglich sind. Sie greift zu Mitteln, die in dieser Gesellschaft funktionieren: Verhandlungen, Drohungen, Verweigerungen. Sie verwendet diese Mittel jedoch nicht, um eine Organisation im vorgeblichen Gesamtinteresse »stark zu machen«, sondern ihre Perspektive ist die des Individuums: Wie kann der Einzelne ermächtigt werden, zur Geltung zu kommen, wie kann er oder sie wieder »jemand sein« - »to be someone« - oder um es mit den Erfahrungen der Freien Software zu formulieren: Wie kann ich mich selbst entfalten? (vgl. dazu das Projekt Oekonux).

(22.1) Re: Die Grenzen der Freien Kooperation, 17.01.2002, 20:26, Ano Nym: Verhandlungen, Drohungen, Verweigerungen sind ganz normale menschliche Verhaltensweisen, das gibt es bei jedem zu haus.

(23) Was die Gewerkschaft für das Kollektiv der abhängig Beschäftigten, ist die Freie Kooperation für den individuellen Menschen. Die warenproduzierende Gesellschaft, der übergreifende, unsere Freiheit verhindernde Zusammenhang, wird nicht überschritten. Es geht »nur« darum, den Einzelnen hier und heute handlungsfähiger zu machen, ihm oder ihr den Rücken zu stärken. Aber das ist unter den heutigen Bedingungen schon viel.

(23.1) 17.01.2002, 20:27, Ano Nym: Du willst doch nicht auf eine Früherwarallesbesserschiene, oder? Und deine kommende Zeit benötigt wenigstens eine schwammige Utopie...

(24) Will die Freie Kooperation noch ein Mehr an revolutionärer Potenz gewinnen, will sie dem Vertrauen auf einen Prozess noch Ideen für einen Weg hinzufügen, muss sich sie die warenproduzierende Gesellschaft als unhintergehbare gesamtgesellschaftliche Zwangskooperation erkennen und gedanklich überschreiten. Der »freie Prozess« wäre sonst im Zweifel nur die Wiederholung des ewig Gleichen mit den postmodernen Mitteln der Freien Kooperation. Viele Fundamental-Kritiken betonen zurecht diesen Punkt.

(25) Die entscheidende Grenze - praktisch wie in der Theorie - ist die gesamtgesellschaftliche Kooperation in warenproduzierender Form, die als solche nicht in eine gesamtgesellschaftliche freie Kooperation überführbar ist. Sie ist nur als Ganzes aufhebbar, denn ihre Regeln sind nicht Ergebnis einer Verhandlung, sondern setzen sich gleichsam als zweite Natur hinter dem Rücken der Beteiligten durch. Die Tatsache des »hinter-dem-Rücken-Durchsetzens« muss als Ganzes zur Disposition gestellt werden. Eine gesamtgesellschaftliche freie Kooperation, eine freie Gesellschaft, wirft noch ganz andere Fragen auf, als dies personale Kooperationen unterhalb der gesamtgesellschaftlichen Ebene tun.

Der wilde Dschungel der Freiheit

(26) Die auf der Warenform basierende gesamtgesellschaftliche Kooperation, dieser sich selbst regulierende und reproduzierende und alles beherrschende Mechanismus, leistet in jedem Fall eines: Er vermittelt. Er stellt ein Medium bereit, in dem wir uns und den vermittelnden Zusammenhang dieser Form reproduzieren. Diese Form der Vergesellschaftung, so erzwungen und alles verschlingend sie auch sein mag, hat - wie jede überdauernde Vermittlungsform - eine individuell entlastende Funktion. Es ist gut, wenn sich Dinge auch ohne mein Mitdenken und Mitmachen hinter meinem Rücken fügen. Fatal an der »unsichtbaren Hand des Marktes« ist, dass sie Resultat eines entfremdeten, inhumanen Verwertungsprozesses ist, dass die Verwertung nur ihrer eigenen Logik, aber nicht meinen Bedürfnissen genügt.

(27) Die Warenform der gesellschaftlichen Kooperation aufzuheben, bedeutet Zerstörung und Bewahrung gleichzeitig. Zerstört werden muss die »subjektlose Herrschaft« der kybernetischen Verwertungsmaschine. Bewahrt werden muss die Funktion der entlastenden Vermittlung. Das ist »eigentlich« selbstverständlich, denn wie ich vorher darstellte, ist das ein Kennzeichen von Gesellschaft überhaupt. Dennoch ist es notwendig, sich das Selbstverständliche immer wieder klar zu machen, um die zunächst theoretisch zu beantwortende Frage klar formulieren zu können: Wie muss ein gesellschaftlicher Vermittlungsmechanismus beschaffen sein, der einerseits individuell entlastend, also selbstorganisierend ist, andererseits aber von den Menschen nach ihren Kriterien, Regeln und Bedürfnissen gesteuert wird?

(28) Diese Frage liest sich auf den ersten Blick wie ein nicht aufzulösender Widerspruch. Ist es nicht so, dass nur eine umfassende Kontrolle (gar durch je mich) gewährleistet, dass die Kriterien gesellschaftlicher Kooperation im Interesse der Menschen (also von je mir) erfüllt werden? Ist also gesamtgesellschaftliche Planung und zentrale Steuerung unumgehbar? - Nein, das hat sich nicht nur als real gewesenes Experiment erledigt, sondern es widerspricht auch fundamental den Prinzipien freier Kooperation: Jede zentrale Planung und Steuerung schafft sakrosankte Regeln, bedeutet Herumpfuschen in je meinem Leben.

(29) Ist es aber andererseits nicht so, dass jeder »sich selbstorganisierende Mechanismus«, sich irgendwann stets gegen die Menschen verselbstständigt? - Nein, das ist ein Kurzschluss. Das gilt nur für erzwungene Kooperationen, insbesondere natürlich für die der »subjektlosen Herrschaft« der warenproduzierenden Gesellschaft. Das gilt nicht für freie Kooperationen. Ich will zeigen, dass gerade hier die systemsprengende Kraft der Theorie Freier Kooperation liegen kann: Sie ermöglicht es, eine Vergesellschaftung jenseits von Ware, Wert, Geld, Markt und Staat zu denken.

Die freie Gesellschaft als freie gesamtgesellschaftliche Kooperation

(30) Ich hatte dargestellt, dass die Freie Kooperation auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene an eine unverhandelbare Grenze stößt. Im Kapitalismus ist dies die subjekt- und endlose Verwertung des Werts, die den »selbstreproduktiven Kern« der warenproduzierenden Gesellschaft ausmacht. Auch in einer freien Gesellschaft wird es - wie in jeder Gesellschaft - einen solchen »selbstreproduktiven Kern« geben, nur wird seine Dynamik anders beschaffen sein. Die Fragen lauten nun also: Was kann ein solcher »selbstreproduktiver Kern« sein? Wie ist dann das Verhältnis der personalen Kooperationen zur dieser gesamtgesellschaftlichen Kooperation beschaffen?

(31) Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass durchaus auch personal-konkrete Vergesellschaftungsformen eine solche Dynamik konstituieren können. So war die »naturale Epoche« vor der Dominanz der warenproduzierenden Gesellschaften durch personale Abhängigkeitsverhältnisse bestimmt. Die Gesellschaft reproduzierte sich und ihre Herrschaftsformen über diese personalen Abhängigkeitsgeflechte. Diese waren durchaus sehr unterschiedlicher Gestalt: Sklaven/Sklavenhalter, Leibeigene/Feudale, Freie/Bürger etc. Davon unterscheidet sich qualitativ die Epoche abstrakter, »subjektloser Herrschaft« warenproduzierender Gesellschaften wie ich sie vorher beschrieben habe.

(31.1) Oben und unten, 17.01.2002, 20:35, Ano Nym: Dein Verständnis von Macht ist etwas verkürzt. Auch der "Mächtige" ist ja nicht wirklich frei. Auch sein Verhalten kann man auf verschiedene Art und Weisen erklären. Was hat jemand davon, einen anderen zu erniedrigen? Warum schickt der General seine Soldaten in den Tod? Warum lässt der Besitzende einen anderen für sich arbeiten? (... wird er doch damit um die ganze freie "Arbeitsfreude" gebracht... :-)

(31.1.1) Nein., 15.03.2002, 11:54, Bertrand Klimmek: Nein, sein Verständnis von "Macht" ist eben nicht verkürzt. Vielmehr das überlieferte, das z.B. heuer auch Leute wie Globalisierungsgegner strapazieren (Projektion). Daß eben die Herrschaft heute subjektlose Herrschaft ist und eben nicht eine ominöse personale Qualität namens Macht, das ist doch gerade Meretzens Aussage. Denn seit der Aufklärung - d.h. so einigen Menschenaltern - wird wohl niemand mehr so blöd sein, sich direkt von jemand anderem unterwerfen zu lassen ("Macht"); es sind primär Sachzwänge, die Herrschaft ausüben, die gesellschaftliche Form des allseitigen Konkurrenzverhältnisses, die herrscht als Selbstläufer. Deshalb ist ja auch das Insistieren auf Klassentheorie heutzutage etwas abgeschmackt: der Besitzbürger hat qualitativ (wenn auch nicht quantitativ, worauf er sich einiges einbildet) dieselben Probleme wie der Proletarier. Bin ich jetzt ein Revisionist?

(32) Gewalt spielte in all diesen Formen der Vergesellschaftung eine zentrale »Vermittlungsrolle«, wobei die »Gewalt des Sachzwangs« z.B. der Märkte ungleich schwerer zu bekämpfen ist, als die Unterdrückung durch sinnlich erfahrbare Personen. So ist es kein Zufall, dass die personifizierende »Schuldzuweisung« mit all seinen rassistischen und auch antisemitischen Konnotationen in Gesellschaften »subjektloser Herrschaft« der gängige Modus der Konfliktaustragung ist.

(33) Für eine freie Gesellschaft ziehe ich daraus folgende Schlüsse:

(34) Welche konkrete Ausprägungsform die Kooperationen haben, wie groß sie sind, wie sie ihre interne Struktur bilden, welche Regeln sie sich geben, wie sie sich mit anderen vernetzen - all das ist Sache der Kooperationen und der in ihnen tätigen Menschen. Die drei Prinzipien freier Kooperationen kommen erst in einer freien Gesellschaft voll zum Tragen, da erst hier die individuelle Existenz bedingungslos, also ohne Kopplung an eine zu erbringende Leistung erhalten wird. Erst dadurch wird die je individuelle Entfaltung auch angstfrei möglich, erst dadurch können die je individuellen Potenzen zum Tragen kommen, erst dadurch gewinnen Konflikte ihre Eigenschaft als Anstoß zu neuen Entwicklungen zurück.

(35) »Wir brauchen keine utopische Gesellschaft, um damit anfangen zu können. In gewissem Sinne ist es egal, wo wir anfangen. Die Frage ist nur, wie weit wir gehen.« (S. 40) - und wo wir lang gehen!

(35.1) 17.01.2002, 20:31, Ano Nym: "wohin"!! Aber Dein kollektives "wir" könnte ja auch durch einen individualistischeren Term ersetzt werden. Was kann ich tun? Was kann ich machen, um meinen Globalzielen nachzujagen? Dies wäre freie Kooperation. Das Ergebnis entsteht auf der Basis individueller Ideen, Marschrouten usw.

Literatur

(36) Gruppe Gegenbilder (2000), Freie Menschen in freien Vereinbarungen, Saasen: Eigenverlag. Internet: www.opentheory.org/gegenbilder

(37) Holzkamp, Klaus (1993), Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/M.: Campus.

(38) Projekt Oekonux, www.oekonux.de


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