Home   Was ist ot ?   Regeln   Mitglieder   Maintainer   Impressum   FAQ/Hilfe  

Eigentum und Produktion am Beispiel der Freien Software -- Hauptteil

Maintainer: Stefan Merten, Version 1, 23.02.2003
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

2. Bedingungen einer emanzipatorischen Vision

(1) Nach diesen Begriffsklärungen möchte ich nun eingehender zur Frage Stellung nehmen, wie individuelles Eigentum und vergesellschaftete Produktion - genauer: arbeitsteilige Produktionsformen - in einer emanzipatorischen Vision zusammenspielen. Dabei ist unter anderem zu erörtern, ob die Widersprüchlichkeit "von individuellem Eigentum und vergesellschafteter Produktion" bei einem "Ziel einer universellen Entwicklung der Individuen und der Gesellschaft" überhaupt existiert. Es wird sich vielmehr zeigen, dass auf dem erreichten Stand der Produktivkraftentwicklung Verhältnisse, die gerade auf der Vereinbarkeit von individuellem Eigentum und arbeitsteiliger Produktionsform gründen, die Voraussetzung einer emanzipatorischen Vision sind.

(2) Als ständig wiederkehrendes Beispiel für ein modernes Phänomen, das einige dieser Verhältnisse keimförmig zeigt, soll in diesem Text die Freie Software dienen.

2.1. Eigentum

(3) In den folgenden Betrachtungen spielt die Unterscheidung zwischen individuellem und kollektivem Eigentum eine untergeordnete Rolle. Ich lasse sie daher beiseite.

(4) Ich unterscheide im folgenden dagegen zwischen Informationsgütern und materiellen Gütern. Diese Unterscheidung kann zwar getroffen werden, seit die Menschheit existiert, jedoch ist die Bedeutung von Informationsgütern erst in unserer Zeit in ein entscheidend neues Stadium getreten.

(5) Der eigenständige Charakter von Informationsgütern ergibt sich daraus, dass Informationsgüter zwar immer an ein materielles Substrat gebunden sind (beispielsweise Bücher, CDs, Gehirne), das Wesen des Guts aber nicht auf dieses materielle Substrat reduzierbar ist. Dies bedeutet insbesondere auch, dass das je verwendete Substrat austauschbar ist, solange die Information nur darauf repräsentiert werden kann. Mit der modernen Technikentwicklung entmaterialisiert dieses Substrat immer mehr. Beim Surfen durch das World Wide Web (WWW) ist - abgesehen von kurzlebigen Platten-Caches - spätestens nach dem Ausschalten des Surf-Computers die abgerufene Information wieder vollständig von jeglichem lokalen materiellen Substrat verschwunden. Selbst bei den alltäglichen Mobiltelefonen ist das Substrat der Informationsübertragung nur noch mit aufwendigen Messungen überhaupt sichtbar zu machen.

2.1.1. Eigentum an Informationsgütern

2.1.1.1. Geistiges Eigentum in der Geschichte

(7) Historisch ist das Konzept des Eigentums an Informationsgütern - besser bekannt unter der Bezeichnung geistiges Eigentum - relativ neu. Tatsächlich deutet vieles darauf hin, dass dieses Konzept erst entstanden ist, als Informationsgüter an materielle Güter nicht nur gebunden wurden, sondern diese auch auf einem Markt verkauft werden konnten. Hierzu gibt es Beispiele sowohl aus dem Bereich der Bücher als auch der Musikmedien (Schallplatten und ihre Vorläufer).

(8) Das Interesse an dem Konzept des geistigen Eigentums liegt daher damals wie heute nicht so sehr bei den ProduzentInnen des Informationsguts - der AutorInnen, MusikerInnen, Software-EntwicklerInnen - sondern vielmehr bei den Verlagen, die dieses geistige Eigentum aufbereiten, auf ein materielles Substrat übertragen und dieses Substrat vertreiben. Das Interesse der Verlage folgt unmittelbar daraus, dass dieses materielle Substrat als verkaufbare Ware dienen soll und daher sowohl das Substrat selbst als auch die auf ihm repräsentierte Information knapp sein und bleiben muss. Ist diese Knappheit nicht mehr gewährleistet, da es entweder von jedermann leicht selbst produzierbar ist oder das Informationsgut auf solche Substrate übertragen werden kann, so ist die Verkäuflichkeit der Informationsware und damit die Profitgenerierung der Verlage bedroht.

(9) Die ProduzentInnen hatten und haben dagegen im allgemeinen kein besonderes Interesse an einer Verknappung. Sie stellen ja im Gegenteil das Informationsgut im allgemeinen vielmehr zur allgemeinen Benutzung her. Besonders deutlich wird dies in der Wissenschaft, wo seit jeher der Fluss von Informationen in der Wissenschaftsgemeinschaft als Fundament für die Weiterentwicklung angesehen wurde. Jede Verknappung behindert diesen Fluss und damit die Weiterentwicklung der Wissenschaft. Eine Verknappung von Information ist auch nicht durch eine Begrenzung begründet, da Information im Gegensatz zu materiellen Gütern die Eigenschaft hat, durch Verbreitung nicht weniger zu werden: Das Wissen, dass in meinem Kopf ist, wird nicht dadurch weniger, dass ich es anderen mitteile, sondern im günstigen Falle durch einen Reflexionsprozess sogar vermehrt. Genausowenig wird die Information auf einer CD dadurch weniger nützlich, dass eine Kopie von ihr angefertigt wird. Ausnahmen bilden alle Arten von Geheimnissen, Informationsgütern also, die ihren Nutzen verlieren, wenn sie über einen bestimmten Kreis hinaus bekannt werden.

(10) Natürlich müssen in der Warengesellschaft auch WissenschaftlerInnen und beispielsweise KünstlerInnen ein Einkommen haben. Es ist jedoch keine Selbstverständlichkeit, dass dieses Einkommen unmittelbar an die Erzeugung von Informationsgütern gebunden ist. Tatsächlich werden WissenschaftlerInnen in der Regel nicht für bestimmte Einzelleistungen bezahlt, sondern werden für ihre wissenschaftliche Arbeit im Ganzen entlohnt. Historisch ähnelt dies den Mönchen, deren Versorgung durch das Kloster sichergestellt war. Deren individuelle Leistung bei der Erzeugung von Informationsgütern wurde dagegen als so irrelevant betrachtet, dass heute oft nicht mal mehr zu ermitteln ist, wer bestimmte künstlerische Leistungen tatsächlich vollbracht hat.

2.1.1.2. Geistiges Eigentum heute

(11) Betrachten wir die technische Seite der Entwicklung der Produktivkräfte, so lässt sich feststellen, dass die Bedeutung von Information immer stärker steigt. Dieser Trend, der von Marx als Verwissenschaftlichung bezeichnet worden ist, lässt sich in der Realität vielfach verorten: Eine moderne industrielle Produktionsstätte ohne Computer ist heute kaum noch vorstellbar - nicht zu reden von dem vielfältigen Geflecht von Lieferbeziehungen zwischen den Produktionsstätten.

(12) Konsequenterweise verschiebt sich auch der Fokus bei den Eigentumsverhältnissen. Dabei verliert das Eigentum an materiellen Produktionsmitteln zunehmend an Bedeutung. Dies wird zum Beispiel im Franchising sichtbar, bei dem nicht mehr konkrete Produktionsmittel im Vordergrund stehen, sondern nur noch Marken verkauft werden. Das Eigentum an Informationsgütern - und dies bedeutet hier nur noch die Möglichkeit der Verknappung - bzw. Informationswaren wird dagegen immer wichtiger. Es ist kein Zufall, dass die WIPO (World Intellectual Property Organization (http://www.wipo.org/)) 1970 gegründet wurde, aber erst anlässlich des Copyright Treaty (http://www.wipo.int/treaties/ip/wct/) 1996 sowohl an Bedeutung als auch an öffentlicher Wahrnehmung gewann.

(13) Mit der digitalen Kopie betritt in dieser Situation eine technologische Entwicklung die Bühne der Geschichte, die mit ihren Möglichkeiten die Verbreitung (digitaler) Information so einfach macht wie nie zuvor. Auf der Grundlage der in den industrialisierten Staaten vorhandenen Infrastruktur ist das verlustfreie Erstellen von Kopien, mithin also die Reproduktion von Informationsgütern, mit vernachlässigbaren Kosten verbunden. Die besondere Eigenschaft von Informationsgütern durch Verbreitung nicht weniger zu werden, wird durch die digitale Kopie von einer grundsätzlichen Möglichkeit zur manifesten und alltäglichen Tatsache.

(14) Dazu kommt, dass die digitale Kopie universell gegenüber den Inhalten ist, da immer nur gleichförmig Bits kopiert werden. Sie lässt sich hier mit dem Elektromotor als einer der entscheidenden Erfindungen der industriellen Ära vergleichen. Wie der Elektromotor maschinelle Bewegungsenergie überall da für jeden beliebigen Zweck verfügbar macht, wo Strom zur Verfügung steht, so ist mit der digitalen Kopie überall da die Reproduktion von Informationsgütern möglich, wo die entsprechenden Kopiereinrichtungen - d.h. Computer und ggf. Netzwerke - zur Verfügung stehen.

(15) Es liegt auf der Hand, dass hier ein Konfliktpotential entsteht. Auf der einen Seite sind die, die Verknappung von Informationsgütern benötigen, um die Wareneigenschaft der von ihnen gefertigten Informationsträger zu sichern. Diese Konfliktpartei braucht die durch geistiges Eigentum sichergestellte Verknappung überlebensnotwendig. Ein derzeit besonders öffentlichkeitswirksamer Konflikt spielt sich im Bereich der Musik ab, wo die Musikindustrie versucht ein vitales Interesse daran glaubwürdig zu machen, die überkommenen Formen von Erzeugung, Herstellung und Vertrieb von Musikwaren zu erhalten.

(16) Auf der anderen Seite stehen einerseits die (potentiellen) NutzerInnen der Informationsgüter, die die Verknappung durch die Anbieter von Informationswaren als Preis erleben, der durch die Möglichkeiten der digitalen Kopie erheblich gesenkt werden könnte. Ein weiteres Beispiel sind hier die Raubkopien, die Software-Waren praktisch zum Nulltarif reproduzieren.

(17) Andererseits stehen auf der anderen Seite aber auch die ProduzentInnen der Informationsgüter selbst, die aus unterschiedlichen Gründen ein Interesse an der Verbreitung der Informationsgüter haben. In der Wissenschaft gibt es mittlerweile vielfältige Initiativen, die Ergebnisse wissenschaftlicher Tätigkeit allgemein zugänglich zu machen (s. zum Beispiel die Public Library of Science (http://www.publiclibraryofscience.org/)).

(18) Doch auch in Bereichen, in denen die digitale Kopie nicht unmittelbar eine Rolle spielt, gibt es Bewegungen, die die künstliche Verknappung von Information durch Patente und/oder Copyright-Regelungen zunehmend in Frage stellen. Bekannt geworden ist insbesondere das Beispiel der Herstellung von Generika (s. zum Beispiel http://www.genericsnow.org oder http://www.accessmed-msf.org/). Hier wird die Information über die stoffliche Zusammensetzung eines Medikaments direkt für die Produktion des materiellen Guts eingesetzt, deren Kosten im Einzelfall relativ niedrig sein können.

2.1.1.3. Freie Software und geistiges Eigentum

(19) An vielen Stellen wird heute also die Legitimität geistigen Eigentums zunehmend in Frage gestellt - kein Wunder, dass die entsprechenden Machtgruppen um so aggressiver auf einer Einhaltung des geistigen Eigentums bestehen. Gab es schon bei Einführung des Patentregimes im 19. Jahrhundert heftige Diskussionen um diese Frage, so ist in der Tat heute immer weniger klar, inwieweit geistiges Eigentum einen positiven Beitrag zur Entfaltung der Menschheit leistet. Die heute durch technische Begrenzungen immer weniger begründete Verknappung dient allerdings der Sicherung der Profite einiger weniger.

(20) Bei genauerem Hinsehen stellt sich auch das oft vorgebrachte Anreizargument als Scheinargument heraus: Wirklich innovative geistige Leistungen werden in aller Regel aus ganz anderen Motiven heraus vollbracht, als der Aussicht auf eine Vermarktung der in Warenform gegossenen Ergebnisse. Untersuchungen zeigen, dass vom Inhalt der Leistung entfremdete Anreizsysteme wie Geld Motivation und damit kreative Leistung tendenziell sogar gefährden (s. zum Beispiel http://www.gnu.org/philosophy/motivation.html).

(21) Mit der Freien Software ist seit knapp zwanzig Jahren nun ein Phänomen in der Entstehung begriffen, dass all diese Linien aufgreift und zu einer erfolgreichen Synthese vereinigt. Das staatliche Copyright-Regime wird bei Freier Software nur noch dazu benutzt, um es in sein Gegenteil zu verkehren: Copyleft. Das Konzept geistigen Eigentums ist für Freie Software insofern nicht mehr relevant, wie es zur Durchsetzung von Knappheit dient. Freie Software kann und soll vielmehr frei und ohne Behinderung fließen können. Dies umfasst sowohl die direkt benutzbaren Programme als auch deren menschenlesbaren Quellen.

(22) Neben der Verfügbarkeit für potentielle NutzerInnen ist mit diesem Vorgehen auch ein maximaler Nutzen für die ProduzentInnen gewährleistet. Diese können auf freiwilliger Grundlage miteinander kooperieren und durch Code-Inspektion voneinander lernen, ohne dass sie durch eine künstliche Verknappung behindert würden. Sie tragen so gemeinsam zu einem ständig größer werdenden Pool Freier Informationsgüter bei, dessen gemeinsamer Nutzen ständig steigt.

(23) Dadurch, dass künstliche Verknappung ausgeschaltet ist, gibt es auch keinen entfremdeten Nutzen mehr, der aus Freier Software gezogen werden könnte. Dies schlägt sich unmittelbar in der Produktqualität nieder, die gerade im Vergleich mit als Ware produzierter proprietärer Software oft in vielfältiger Weise höher ist. Augenfällig wird demonstriert, dass wenn entfremdete Gründe für eine Produktion nicht mehr existieren, der unmittelbare Nutzen eines Produkts der wichtigste Grund für seine Produktion wird.

(24) Auf dem erreichten Stand der Produktivkraftentwicklung sind also sowohl die Handlungsmöglichkeiten von Individuen als auch eine überindividuelle Entfaltung maximal gewährleistet, wenn Informationsgüter allen Frei zur Verfügung stehen. Freie Software zeigt also keimförmig, wie im Bereich der Informationsgüter das Eigentum einer emanzipatorischen Vision aussehen muss: Es darf nicht existieren. Das Eigentumsregime in einer emanzipatorischen Vision hat im Bereich der Informationsgüter lediglich die künstliche Verknappung zu verhindern.

2.1.2. Eigentum an materiellen Gütern

(25) Nun steht der Replikator, der beliebige materielle Güter auf Wunsch reproduzieren kann, im Gegensatz zur digitalen Kopie noch nicht zur Verfügung. Die technische Entwicklung auch auf diesem Sektor ist zwar teilweise nur noch schwer von Science Fiction zu unterscheiden - Maschinen, die Materie auf Atomebene gezielt manipulieren, gibt es immerhin schon -, bis zum universellen Materiekopierer ist aber noch ein weiter Weg.

(26) Bis dahin unterliegen materielle Güter also anderen Gesetzen als Informationsgüter, da sie nicht mit wenig Aufwand aufgrund einer Vorlage reproduziert werden können. Könnten sie es, so wäre die Frage nach dem Eigentum an materiellen Gütern nicht mehr davon abhängig, wieviele Güter konkret zur Verfügung stehen. Vielmehr würden dann andere Faktoren wie Umweltverbrauch und ggf. Ressourceneinsatz entscheidende Faktoren werden.

2.1.2.1. Eigentum und Automatisierung

(27) Eine in der industriellen Phase sehr wichtige Größe für die Produktion war die Verfügbarkeit menschlicher Arbeitskraft. Dass diese Größe täglich unwichtiger wird, zeigen uns die epochalen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, bei dem menschliche Arbeitskraft auf historisch so hoher Stufenleiter durch Maschinen ersetzt wird, dass das gesamte, auf der Verwertung von Arbeitskraft gegründete System ins Wanken gerät.

(28) Die Automatisierung von Produktion hebt also eine wesentliche Begrenztheit der industriellen Phase tendenziell auf. Eine emanzipatorische Vision wird sie daher als Aspekt mit zentraler Bedeutung enthalten müssen, will sie nicht Gefahr laufen, in die gesellschaftlichen Mechanismen zurückzufallen, die zur Geldgesellschaft geführt haben. Spielt die Begrenztheit von Produkten eine immer kleinere Rolle, so spielt das Eigentum an ihnen ebenfalls eine immer kleinere Rolle. Dadurch wird ein Konfliktpotential entschärft, dass die bürgerliche Gesellschaft bis in ihre Wurzeln geprägt hat.

(29) Tatsächlich stehen schon heute im Bereich des Rapid Prototyping zunehmend Maschinen (Fabber) zur Verfügung, die eine Automatisierung materieller Produktion auf einem ganz neuen Niveau ermöglichen. Diese Maschinen materialisieren mit verschiedenen Verfahren direkt aus digitalen Daten materielle Werkstücke. In ihrer Unmittelbarkeit und Universalität übertreffen sie dabei CNC-Maschinen und Industrieroboter, die ja ebenfalls aufgrund digitaler Daten materielle Werkstücke fertigen. Die Losgröße Eins ist hier das Prinzip.

(30) Schon heute gibt es zahlreiche Firmen, die auf der Grundlage solcher Maschinen Lohnproduktion betreiben (siehe zum Beispiel http://www.rpd-news.de/). Es wäre denkbar, dass solche Maschinen zukünftig so einfach bedienbar werden, dass ihr Betrieb auch für Privatpersonen oder Gruppen von Privatpersonen attraktiv wird. Damit würden sie dezentral über die Möglichkeit verfügen, Produkte herzustellen, die exakt auf ihren Zweck zugeschnitten sind.

(31) Bei diesem Typ der Produktion verschiebt sich der Schwerpunkt endgültig auf den Sektor der Information. Die Produktionsmaschinen sind lediglich noch ausführendes Organ der sie steuernden Computer und ihre Bedeutung ist gegenüber der Maschinerie der industriellen Ära wesentlich reduziert.

(32) Damit verschiebt sich aber der Schwerpunkt auch der materiellen Produktion auf die Produktion von Informationsgütern, deren spezielle Eigenschaften wir oben untersucht haben. Konkret wäre im obigen Szenario vorstellbar, dass die BesitzerInnen der Fabber sich Freie Baupläne für ein gewünschtes Produkt über das Internet besorgen, ggf. mit Hilfe der heimischen Freien Simulations-Software eine individuelle Konfiguration vornehmen, und die Produktion dann veranlassen.

(33) Der verbreitete Besitz solcher Produktionsmittel wäre also in einer emanzipatorischen Vision ein wichtiges Ziel.

2.2. Arbeitsteilige Produktionsformen

(34) Wie bereits festgestellt ist eine arbeitsteilige Produktionsform auch in einer emanzipatorischen Vision von großer Bedeutung, da nur sie in der Lage ist, die Güter zu erzeugen, die auf dem erreichten Stand der Produktivkraftentwicklung möglich und wünschenswert geworden sind.

(35) Das Beispiel der Freien Software zeigt in großartiger Weise, wie eine gesellschaftliche Produktion jenseits staatlicher oder geldförmiger Eingriffe nicht nur funktionieren kann, sondern auch heute schon bemerkenswert erfolgreich ist. Hierin hebt sich die Freie Software als Produktionsweise entscheidend von anderen Versuchen ab, Produktion jenseits der Tauschgesellschaft zu organisieren.

2.2.1. Ausführung der Produktion

(36) Freie Software wird von sehr vielen Leuten produziert, die irgendwo auf diesem Planeten leben und typischerweise einen Zugang zum Internet haben. Es handelt sich dabei durchaus nicht nur um ProgrammiererInnen, sondern eine Vielzahl von Fähigkeiten ist hier gefragt (beispielsweise für Dokumentation incl. Übersetzung, Gestaltung von Web-Sites oder Design von Benutzeroberflächen).

(37) Die Motivation für diese ja durchaus auch anstrengende Tätigkeit entspringt verschiedenen Quellen. So wird in eher seltenen Fällen die Entwicklung bestimmter Freier Software bezahlt, in anderen Fällen ist Freie Software das Nebenprodukt beispielsweise einer wissenschaftlichen Arbeit, die ihrerseits nicht nur aus selbstentfalteten Motiven begonnen wurde. Das Gros Freier Software wird aber auf der Grundlage verschiedener Sorten von Selbstentfaltung geschaffen. Die Freude daran, ein gutes Produkt zu schaffen, dürfte dabei eine der wichtigsten sein.

(38) Deutlich ist hier zu sehen, wie bei einer veränderten Grundlage von Produktion sich die Ziele von Produktion verschieben. Während bei marktorientierter, mithin also entfremdeter Produktion lediglich das entfremdete Motiv der Verkaufbarkeit zählt, ist bei Freier Produktion wie zum Beispiel Freier Software das unter emanzipatorischen Gesichtspunkten zu fordernde Ziel einer maximalen, allseitigen Produktqualität direktes Ziel der Produktion. Dies muss nicht verordnet werden, sondern stellt sich offensichtlich ein, wenn enthusiastische Menschen (Hacker), die Freie-Software-EntwicklerInnen oft sind, genügend Spielraum haben.

(39) Vielen ProduzentInnen Freier Software ist gemeinsam, dass sie Art und Umfang ihrer Tätigkeit frei bestimmen. Niemand sagt ihnen, wann oder wo sie sich beteiligen sollen oder können. Da hier weder direkte noch strukturelle (zum Beispiel geldförmige) Zwänge vorliegen, führt das natürlich auch dazu, dass für Außenstehende wünschenswerte Entwicklungen unter Umständen nicht oder nicht wunschgemäß stattfinden. Allerdings kann aufgrund der offenen Struktur der Projekte, vor allem aber aufgrund der vorliegenden Quellen jedeR dazu beitragen, dass ihre Wünsche erfüllt werden. Dazu kann jedeR entweder selbst tätig werden, oder, falls sie selbst nicht dazu in der Lage ist, auch strukturelle Zwangsmittel wie Geld einsetzen, um von anderen das Gewünschte zu kaufen.

(40) Das Beispiel Freie Software zeigt, wie Produktion funktioniert, wenn deren Ausführung denen überlassen wird, die diese als Teil ihrer Selbstentfaltung ohnehin übernehmen wollen und wie eine solche Produktionsweise noch zusätzliche Potentiale freisetzt, die für eine emanzipatorische Vision wünschenswert sind. Aufgrund der individuellen Unterschiedlichkeit der Menschen und damit auch der individuell unterschiedlichen Arten ihrer Selbstentfaltung, sollten erhebliche Teile von bedürfnisbefriedigender Produktion auf diese Weise abzuwickeln sein. Das Ergebnis einer solchen Produktionsweise ist eine allseitige Emanzipation, da einerseits die Selbstentfaltung der ProduzentInnen zur Voraussetzung ihres Handelns wird, andererseits die Produkte die Selbstentfaltung anderer auf verschiedene Weisen fördern.

(41) Die restlichen Anteile an Produktion, für die sich nicht ohne weiteres Menschen finden, die sie übernehmen wollen, die aber für die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse als notwendig erachtet werden, müssen möglichst beseitigt werden. Hierzu bietet es sich einerseits an, nach alternativen Wegen der Bedürfnisbefriedigung zu suchen, andererseits sollte die offensichtlich unangenehme Produktion so weit wie möglich automatisiert werden. Insbesondere letzteres ist wiederum eine Aufgabe mit erheblichem Selbstentfaltungspotential.

2.2.2. Organisation der Produktion

(42) Die Aufgabe der Organisation eines großen Software-Projekts ist nicht zu unterschätzen. Software erreicht leicht eine Komplexität, die anderen hochkomplexen industriellen Gütern wie beispielsweise Autos nicht nachsteht. Nun haben gerade die bekannten Freien-Software-Projekte wie Linux (der Kernel des Betriebssystems GNU/Linux), Apache (ein Web-Server) oder Gimp (ein Bildbearbeitungsprogramm) eine erhebliche Dimension und die einhergehende Komplexität ist nicht einfach im Griff zu behalten. Da Freie Software wesentlich unter Bedingungen der Selbstentfaltung entwickelt wird, ist es für die Entwicklung einer emanzipatorischen Vision daher spannend zu betrachten, wie die notwendige Organisationsleistung vollbracht wird.

(43) Zunächst muss festgehalten werden, dass die aktive Organisation eines solchen Projekts eine Herausforderung an sich bedeutet, die Menschen durchaus als Teil ihrer Selbstentfaltung begreifen können. In der Freien Software werden Menschen mit solchen Funktionen innerhalb eines Projekts als MaintainerInnen bezeichnet. Sie kümmern sich um den Zusammenhalt des Projekts und treffen auch schon mal Entscheidungen. Im allgemeinen sind die Entscheidungen allerdings keine Ergebnisse einsamer Geistesblitze der MaintainerIn, sondern spiegeln das Ergebnis einer Diskussion wieder, die unter den EntwicklerInnen und anderen Interessierten zum Thema stattgefunden hat.

(44) Da alle an einem Freien-Software-Projekt Beteiligten in der Regel freiwillig an dem Projekt teilnehmen, muss die MaintainerIn auch zumindest dafür sorgen, dass die EntwicklerInnen nicht einfach gehen. Sie muss also aus strukturellen Gründen dafür sorgen, dass die in einem Projekt getroffenen Entscheidungen einem möglichst großen Konsens entsprechen. Tut sie es nicht, so steht sie bald alleine da und dies ist für große Projekte das Aus. Ist die MaintainerIn also selbst an dem Erfolg des Projekts interessiert - wovon auszugehen ist, denn warum sollte sie sonst dabei sein -, so hat sie ein natürliches Interesse daran eine Führungsfunktion, die sie im Projekt wahrnimmt, zur maximalen Zufriedenheit aller auszuführen.

(45) Neben dem MaintainerInnen-Prinzip gibt es aber auch eine Reihe produktionstechnischer Hilfsmittel, die die Organisation einer verteilten Produktion vereinfachen. Diese sind durchaus nicht auf Software beschränkt, sondern sind für alle Produktionsprojekte von Interesse, die am Nutzen des Produkts interessiert sind und bei denen entfremdete Interessen wie Profit keine Rolle spielen. Besonders erwähnt werden sollen drei ineinandergreifende Methoden.

(46) Eine Möglichkeit Komplexität zu reduzieren ist die Modularisierung. Damit wird die Komplexität, die ein monolithisches Ungetüm darstellen würde, aufgebrochen in viele kleine Teile, die für sich überschaubar sind. Dadurch reduziert sich die Gesamtkomplexität eines großen Projekts auf die je einzeln zu betrachtende Komplexität eines Moduls einerseits und die Verbindung der Module untereinander andererseits. In der industriellen Technik können wir solche Entwicklungen ebenfalls seit längerem beobachten, wo zugelieferte Teile zwar eine hohe innere Komplexität besitzen, aber nur über einfache Schnittstellen in ein Ganzes eingebettet sind.

(47) Eine Voraussetzung für Modularisierung ist die Existenz möglichst klarer Schnittstellen, die desto nützlicher sind, je stabiler sie sind. Die Schnittstellen bilden die Verbindung zwischen den einzelnen Modulen und beschreiben die technischen Parameter für die Kommunikation der einzelnen Module untereinander.

(48) Auf einer etwas anderen Ebene dienen offene Standards ähnlichen Zwecken wie Vereinbarungen über Schnittstellen. Sie ermöglichen es ganz verschiedenen Projekten, sich mit ein und demselben Inhalt auf gleiche oder unterschiedliche Weise zu befassen.

(49) Das bekannteste Beispiel für solche offenen Standards dürfte die Sprache des Web HTML sein. Exemplarisch ist hier zu verfolgen, wie das internationale Gremium W3C (World Wide Web Consortium (http://w3.org)) sich um eine möglichst große Offenheit des Standards bemüht, so dass die NutzerInnen des Standards auf möglichst einheitliche Bedingungen treffen, auf deren Grundlage sie dann ihre Anwendungen aufsetzen können. Im Gegensatz dazu stehen Bemühungen kommerzieller Anbieter von Web-Software wie Microsoft oder Netscape den W3C-Standard mit eigenen Erweiterungen quasi zu verseuchen, um so über Alleinstellungsmerkmale einen Vorteil in der Konkurrenz herauszuschlagen. Es wird deutlich sichtbar wie das entfremdete Konkurrenzinteresse sich direkt bis in die Produktentwicklung niederschlägt und Nützlichkeitserwägungen eine untergeordnete Rolle spielen.

(50) Den NutzerInnen von Microsoft Office dürfte ein weiteres Beispiel bekannt sein, wie offene Standards dem entfremdeten Geldinteresse zuwider laufen. Denn während sich inhaltlich seit langem kaum noch etwas verändert, gestaltet Microsoft mit (fast) jeder neuen Version seines Office-Pakets das Dokumentenformat inkompatibel um. Ziel ist es, dass die gesamte Microsoft-Kundschaft zum Kauf der neuen Office-Version genötigt wird, da die neuen Formate mit den alten Versionen desselben Pakets nicht zu lesen sind. Dass dies nicht so sein muss, hat Microsoft im Bereich der Textformate sogar selbst mit der Entwicklung des RTF-Formats bewiesen, das von vorneherein als kompatibel erweiterbar ausgelegt war und bereits in seiner Grundform so reichhaltig war, dass es die allermeisten Anforderungen an ein modernes Textformat erfüllte.

(51) Ein Vorteil dieser Produktionstechniken Modularisierung unter Verwendung von klaren Schnittstellen und offenen Standards ist neben der Komplexitätsreduktion, das verschiedene Gruppen von EntwicklerInnen relativ unabhängig voneinander an einem gemeinsamen Großprojekt arbeiten können. Die Ergebnisse ihres Tuns sind über Schnittstellen und Standards miteinander verbunden, während die Interna ihres Moduls nach Außen hin nicht von Interesse sind und somit autonom in dem jeweiligen Teilprojekt entschieden werden können.

(52) Neben der technischen Organisation ist aber auch interessant, wie sich Freie-Software-Projekte sozial organisieren. Der bei weitem größte Teil dieser sozialen Organisation findet über das Internet statt, wo vor allem Mailing-Listen (eMail-Verteiler, mit Hilfe derer sich angemeldete InteressentInnen mit einem gegebenen Thema befassen), Newsgroups (thematisch begrenzte Foren auf einer eMail-artigen Basis, zu denen der Zugang allerdings allen Internet-NutzerInnen jederzeit offen steht) und Chat-Möglichkeiten (gleichzeitige Kommunikation mehrerer Interessierter über IRC (Internet Relay Chat) oder Web-Interfaces). Allen Kommunikationsformen gemeinsam ist der lockere Ton, der nicht durch eine formale Steifheit oder hierarchische Abgrenzungen gebremst wird. Das gemeinsame Interesse an der Sache führt zu einer nicht immer emotionsfreien, im wesentlichen aber ergebnisorientierten Vorgehensweise, in der Kreativität gefördert wird.

(53) Eine emanzipatorische Vision kann vom Beispiel der Freien Software also lernen, wie eine arbeitsteilige Form von Produktion auf einer emanzipatorischen Grundlage aussehen kann. Die Mittel und Techniken der Selbstorganisation, die sich in der Freien Software als Folge eines Bedürfnisses nach Kooperation einerseits und Produktqualität andererseits ausgebildet haben, sind richtungweisend.

2.2.3. Entscheidung über die Produktion

2.2.3.1. Bedürfnisorientierte Produktion

(55) In den Randbereichen Freier Software, in denen sie sich mit proprietär erstellter Software zu überschneiden beginnt, gibt es das Phänomen, das EntwicklerInnen aus entfremdeten Gründen Freie Software entwickeln. Diese Gründe können dabei neben dem Gelderwerb beispielsweise auch in der Erstellung von Studienarbeiten o.ä. bestehen. In diesen Randbereichen kann die Entscheidung über die Produktion indirekt von Leuten gesteuert werden, die kein direktes Interesse an der Software selbst haben, sondern zum Beispiel an deren Verkaufbarkeit interessiert sind. Es gibt in diesem Bereich viele unterschiedliche Phänomene und die Diskussion darüber hat gerade erst begonnen. Eine der vertretenen Thesen ist, dass die Qualität der so erstellten Freien Software tendenziell unter den entfremdeten Bedingungen ihrer Produktion leidet.

(56) Im Kernbereich der Entwicklung Freier Software liegt die Entscheidung darüber, wer was wann produziert letztlich einzig bei den Individuen selbst. Dies ist eine unmittelbare Folge davon, dass es im Kernbereich der Freien Software kein (strukturelles) Zwangssystem wie zum Beispiel Geld gibt, mit dem eine EntwicklerIn zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden könnte. Die Mühe, die in eine bestimmte Entwicklung gesteckt wird, muss letztlich immer auf eine Motivation direkt bei der EntwicklerIn stoßen, muss letztlich immer in irgendeiner Weise ihrer Selbstentfaltung dienen.

(57) Da die Inhalte der individuellen Selbstentfaltung sehr vielfältig sein können, können auch die Motive für eine EntwicklerIn sehr vielfältig sein. Der persönliche Bedarf nach einem bestimmten Stück Software, die Lust daran, ein bestimmtes Programmierproblem zu lösen, der Wunsch, zum Pool Freier Software etwas beizutragen, aber auch das Interesse daran, ein für andere möglichst nützliches Produkt zu erstellen, sind mögliche Motive für die EntwicklerIn. Durch diese Vielfalt an Motivationslagen ist gewährleistet, dass in vielen Fällen nach und nach die bestehenden Bedürfnisse nach Freier Software gedeckt werden.

(58) Eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Entwicklung der Benutzeroberflächen von GNU/Linux. Galt GNU/Linux vor ein paar Jahren noch als kommandozeilenbasiertes Monster, so gibt es inzwischen mit KDE und Gnome zwei Desktop-Oberflächen, die proprietären Desktops in nichts nachstehen, sie vielmehr oft übertreffen. Bestechend dabei auch, dass die umfangreichen Möglichkeiten, die die Kommandozeile unter Unix-Systemen bietet, nicht etwa verschwunden sind. Diese sind vielmehr nach wie vor für die zugänglich, die die höhere Leistungsfähigkeit dieses Instruments für ihre Zwecke weiter nutzen wollen.

(59) An diesem Beispiel wie an vielen anderen ist erkennbar, dass die wichtigste Motivation für die Entwicklung Freier Software die Befriedigung von Bedürfnissen ist. Der Entscheidung über eine bestimmte Produktion liegt daher immer eine Bedürfnisbefriedigung zu Grunde, die aufgrund der Abwesenheit entfremdeter Motivationslagen sich lediglich aus dem konkreten Nutzen der Produkts oder aus der dafür notwendigen Tätigkeit selbst beziehen kann.

(60) Die emanzipatorische Forderung nach einer bedürfnisorientierten Produktion ist also bei Freier Software sowohl hinsichtlich der ProduzentInnen als auch der NutzerInnen der Produkte vorbildlich erfüllt.

2.2.3.2. Materieller Ressourcenverbrauch

(61) Ein Problem, dass bei der Produktion Freier Software nur eine äußerst untergeordnete Rolle spielt, ist der materielle Ressourcenverbrauch. Als am Computer erstelltes Informationsgut ist Software allgemein mit relativ wenig materiellen Ressourcen herzustellen - die notwendige Infrastruktur einmal voraus gesetzt. Die bei weitem wichtigste Ressource ist vielmehr die menschliche Kreativität gepaart mit einerseits Motivation und andererseits den sozialen Fähigkeiten, die eine Team-basierte Tätigkeit begünstigen.

(62) Bei einer Produktion materieller Güter ist die Frage des Ressourcenverbrauchs aber durchaus nicht so einfach vom Tisch zu wischen und eine emanzipatorische Vision muss diesen Komplex zumindest thematisieren. Der Verbrauch von Energie soll hier unter den materiellen Ressourcenverbrauch gerechnet werden, obwohl er im engeren Sinne getrennt betrachtet werden müsste.

(63) Wie schon bemerkt ist einer der fundamentalen Unterschiede zwischen Informationsgütern und materiellen Gütern der, dass letztere nicht ohne weiteres kopiert werden können. Während die Nutzung von Informationsgütern vielleicht deren materielles Substrat, nicht aber das Informationsgut selbst in Mitleidenschaft zieht, hat die Verwendung materieller Güter vielmehr zur Folge, dass deren Nutzen nach und nach vermindert wird - sie verbrauchen sich.

(64) Letztlich reduziert sich die Frage nach der Entscheidung über den für eine bestimmte Produktion notwendigen materiellen Ressourcenverbrauch auf die Situationen, in denen Konflikte durch den Verbrauch materieller Ressourcen entstehen können. Neben allgemeinen Konfliktlösungsstrategien gibt es für Konflikte im Bereich des materiellen Ressourcenverbrauchs einige spezielle Lösungsstrategien. Steht eine materielle Ressource im Überfluss zur Verfügung, so gibt es darum keine Konflikte. Unter Beachtung ökologischer Ressourcen ist Überfluss an materiellen Ressourcen also konfliktmindernd und von daher für eine emanzipatorische Vision sinnvoll.

(65) Eine wesentliche Forderung wäre also zunächst, das Konfliktpotential schon dadurch möglichst klein zu halten, dass die vorhandenen begrenzten Ressourcen nicht mit dem Bedarf kollidieren. Dies bedeutet nichts anderes, als dass vorhandene Begrenzungen möglichst soweit gedehnt werden müssen, dass jeder vorhandene Bedarf gedeckt werden kann. In einer emanzipatorischen Gesellschaftsform sollte dies wesentlich leichter möglich sein, als in einer geldbasierten Gesellschaftsform, die auf der Verwertung von Knappheit beruht. Hierbei muss natürlich für jede Ressource eine umfassende Betrachtung ihrer Begrenzungen durchgeführt werden, die insbesondere auch ökologische Begrenzungen berücksichtigt.

(66) Eine weitere konfliktmindernde Strategie ist der Versuch, die Bedürfnisse auf eine Weise zu lösen, die nicht an die bestehenden Ressourcenbegrenzungen stößt. Dies kann durchaus möglich sein, da neben der gesellschaftlichen Bestimmung des Bedürfnisses selbst auch die nahegelegte Form seiner Befriedigung gesellschaftlich bestimmt und somit also änderbar ist. So ist ein Bedürfnis nach Mobilität zwar einerseits selbst schon gesellschaftlich bestimmt - u.a. durch die Notwendigkeit zur Mobilität zur Erreichung beispielsweise beruflicher Ziele - andererseits ist seine nahegelegte Befriedigung weitgehend durch gesellschaftliche Größen determiniert: Ob Auto oder öffentlicher Verkehr verwendet werden, hängt auch maßgeblich von der Verfügbarkeit der jeweils notwendigen Infrastruktur ab. Von den bestehenden Bedürfnissen selbst hat eine emanzipatorische Vision dagegen einfach auszugehen, denn eine Vision, die den Menschen ihre zulässige Bedürfnisstruktur vorschreibt, kann nicht emanzipatorisch sein.

(67) Sind diese Strategien nicht dazu in der Lage, einen Konflikt aufgrund materieller Ressourcenbegrenzungen zu umgehen, so muss der Konflikt auf emanzipatorische Weise mit allgemeinen Konfliktlösungsstrategien bearbeitet werden.

2.2.3.3. Konfliktlösung

(68) Auch wenn durch unter anderem die genannten Maßnahmen Konfliktpotential reduziert werden kann und auch wenn der gesamtgesellschaftliche Hintergrund eher auf (konfliktreduzierender) Kooperation statt (konfliktfördernder) Konkurrenz aufbaut, selbst dann sind im Zusammenleben zwischen Menschen Konflikte unvermeidlich. Eine emanzipatorische Vision muss sich also mit der Frage nach Konfliktlösungsstrategien befassen, die dem emanzipatorischen Anspruch gerecht werden. Solche Konfliktlösungsstrategien müssen eine Reihe von Eigenschaften haben.

(69) Emanzipatorische Konfliktlösungsstrategien müssen problemangemessen und lösungsorientiert sein. Dazu ist es notwendig, den Konflikt möglichst genau heraus zu kristallisieren, denn nur so ist es möglich, problemangemessene Mittel zu definieren und sich auf eine Lösung des Konflikts zu orientieren. Um den Sachverhalt, um den sich ein Konflikt dreht, möglichst gut einschätzen zu können ist eine möglichst hohe inhaltliche Kompetenz auf diesem Sektor überaus nützlich. Ist diese bei den Konfliktparteien nicht vorhanden, so sollte sie von Außen dazugeholt werden.

(70) Zur Analyse eines Konflikts gehört es, die unterschiedlichen Interessen der von dem Konflikt Betroffenen offen zu legen. Je weniger entfremdete Motive (Geldinteressen, Machtkämpfe) in einen Konflikt hineinspielen, desto einfacher ist eine Konfliktlösung zu erreichen. Alle Arten von Störungen, die u.a. aufgrund von entfremdeten Interessen auftreten können, sollten getrennt von der eigentlich anstehenden Konfliktlösungen geregelt werden. Dadurch können neue Konfliktfelder identifiziert werden, die dann in einem ähnlichen, aber getrennten Prozess bearbeitet werden können.

(71) Möglichst gute Lösungen können nur dann erzielt werden, wenn der Konfliktlösungsprozess ergebnisoffen ist. Wenn nur noch zwischen verschiedenen Alternativen entschieden werden kann, dann brauche ich keine Konfliktlösung mehr, sondern kann per einfachem Abstimmungsverfahren zwischen diesen Alternativen entscheiden. Zu unterscheiden sind hier Situationen, in denen schon vor dem Konfliktlösungsprozess die Alternativen vorgegeben sind von solchen, wo Alternativen während eines Konfliktlösungsprozesses identifiziert werden. Während im ersten Fall eine wirkliche Konfliktlösung tendenziell verhindert wird, kann der zweite Fall das Ergebnis eines ausführlichen Konfliktlösungsprozesses sein, bei dem sich diese Alternativen herauskristallisiert haben.

(72) Emanzipatorische Konfliktlösungsstrategien müssen gewaltfrei sein, denn wenn ich den Einsatz von Gewalt fürchten muss, dann bin ich in meinen Möglichkeiten von vorneherein beschränkt und damit schränkt sich auch der mögliche Lösungsraum automatisch ein. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass diese Forderung nach Gewaltfreiheit eine Verantwortung sowohl für das Kollektiv gegenüber dem Individuum, als auch dem Individuum gegenüber dem Kollektiv bedeutet. Gewaltfreiheit bedeutet hier auch, dass ein Konflikt tatsächlich bis zu seinem Ende ausgetragen wird und eine echte Konfliktlösung nicht durch unangemessen vorzeitig durchgedrückte Lösungen vereitelt wird.

(73) Selbstredend muss eine emanzipatorische Konfliktlösungsstrategie partizipativ sein. Nur wenn alle, die von einem Konflikt betroffen sind, die Möglichkeit haben sich zum Thema zu äußern, ist sichergestellt, dass ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden können.

(74) Die Erfahrung zeigt, dass sich unter den genannten Bedingungen eine Konfliktlösungskultur ausbildet, die sowohl dem Kollektiv als auch dem Individuum gerecht wird und dies von den Beteiligten auch wahrgenommen wird. Eine solche Kultur ermöglicht letztlich Konsens, bei dem keine Beteiligte mehr Einspruch gegen die letztendlich gefundene Lösung erheben muss. Konsens ist sicher von allen bekannten Konfliktlösungsformen die emanzipatorischste und muss somit ein Ziel einer emanzipatorischen Vision sein.

(75) Nun gibt es natürlich auch bei der Entwicklung Freier Software Konfliktmöglichkeiten. Zuweilen gibt es recht unterschiedliche Richtungen, in die sich ein gegebenes Projekt weiterentwickeln kann und natürlich ist es immer möglich, dass die an einem Projekt Tätigen unterschiedliche Ansichten über den "richtigen" Weg haben. Da in den meisten Fällen die EntwicklerInnen freiwillig in einem Projekt tätig sind, kann eine Konfliktlösungsform, die auf irgendeiner Form von Zwang basiert, mittelfristig nicht funktionieren - die EntwicklerInnen würden das Projekt einfach verlassen anstatt sich weiter dem Zwang auszusetzen.

(76) Freie-Software-Projekte müssen also Strategien gefunden haben, die einerseits die weitere Entwicklung des Projekts ermöglichen und andererseits die in dem Projekt Tätigen zumindest nicht so verärgern, dass sie sich abwenden. In den meisten Freie-Software-Projekten bilden sich Strukturen heraus, die sich um den Fortbestand des Projektes kümmern. Die Art der Struktur ist dabei sehr unterschiedlich. So gibt es von der EntwicklerInnengemeinschaft demokratisch gewählte Gruppen genauso wie Rotationssysteme, aber auch sich historisch etabliert habenden Core-Teams oder auch einzelne Personen. Allen gemeinsam ist aber, dass sie die Maintainerschaft für das Freie-Software-Projekt übernehmen, d.h. also genau die beschriebenen Konfliktlösungsformen anwenden.

(77) Da die Tätigkeit in Freie-Software-Projekten in der Regel durch Selbstentfaltung und nicht durch entfremdete Interessen bestimmt ist, ist eine lösungsorientierte Herangehensweise an einen Konflikt naheliegend. Da i.a. die EntwicklerInnengemeinschaft selbst über die Konflikte innerhalb des Projekts entscheidet, ist die maximal mögliche Kompetenz automatisch vertreten.

(78) Aufgrund der offenliegenden Quellen ist eine Ergebnisoffenheit allein dadurch gegeben, dass alle auf der existierenden Grundlage eigene Wege ausprobieren können. Im Extremfall können auf diese Weise so genannte Code-Forks entstehen, bei denen sich Teile der EntwicklerInnengemeinschaft vom Rest abtrennen und fürderhin auf der bis dahin gemeinsam entwickelten Basis aufsetzend unterschiedliche Ziele anstreben. Der Erfolg der angewandten Konfliktlösungsformen zeigt sich übrigens darin, dass solche Code-Forks ausgesprochen selten vorkommen und oft auch nach einer Phase der Parallelentwicklung wieder zusammenfließen. Unter Konkurrenzbedingungen werden Code-Forks dagegen provoziert, wie an den gescheiterten Versuchen der OSF (Open Software Foundation) der Schaffung eines vereinheitlichten Unix studiert werden kann: Proprietäre Erweiterungen verurteilten diese an sich lobenswerte Initiative zum Scheitern.

(79) Nun ist über das Internet Gewaltausübung, wie wir es beispielsweise von staatlichen Repressionsorganen kennen, von vorneherein nicht möglich. Gewalt kann sich in einem Freie-Software-Projekt im wesentlichen durch persönliche Beleidigungen oder aber das Verwehren des Zugangs zu bestimmten Ressourcen bestehen (zum Beispiel die Mailing-Liste der EntwicklerInnen). Zu den Quellen als zentraler Ressource kann aber aufgrund der Copyleft-Lizenzen der Zugang nicht verwehrt werden. Eine funktionierende Maintainerschaft wird diese oder andere Gewaltmittel aber nur in Fällen einsetzen, in denen andere Mittel versagt haben. Die Maintainerschaft muss immer damit rechnen, dass einerseits die von der Gewalt betroffenen EntwicklerInnen sich vom Projekt abwenden, andererseits werden damit auch Beispiele gegeben, die auch die Motivation anderer EntwicklerInnen negativ beeinflussen kann, so dass auch die von ihnen eingebrachte Leistung sich vermindert.

(80) Wie ganz allgemein Partizipation in Freie-Software-Projekten eine große Rolle spielt, leben die Konfliktlösungsformen geradezu von der Partizipation der Beteiligten. Erst wenn die Möglichkeit von Beteiligten besteht, ihre je spezifische Sichtweise und ggf. auch Lösungsvorschläge einzubringen, ist gewährleistet, dass deren Bedürfnisse sich in einer Lösung eines Konflikts wiederfinden können. Eine gute Maintainerschaft besteht darin, den während einer Diskussion des Konflikts sich abzeichnenden Konsens zu kristallisieren und damit seine Umsetzung einzuleiten. In den meisten Freie-Software-Projekten schließt diese Partizipation in gewisser Weise auch die NutzerInnen der Software ein, die sich nicht direkt an der Entwicklung beteiligen: Von ihnen entdeckte Fehler werden oft schnell behoben und deren Wünsche an eine bestimmte Software spielen bei der Weiterentwicklung eine mehr oder weniger große Rolle.

(81) Dieses Modell von Partizipation geht im übrigen weit über demokratische Wahlen hinaus. Bei demokratischer Partizipation geht es letztlich vor allem um die entscheidende Mehrheit. Hierbei handelt es sich aber bereits um einen Entfremdungsprozess, da die Mehrheitsbildung mit dem zu entscheidenden Problem nichts zu tun hat, sondern in den Bereich des Machtkampfs gehört. In den Demokratien westlichen Zuschnitts ist zu beobachten, wie überlebensnotwendige Themen wie beispielsweise der umfassende Schutz der natürlichen Lebensumwelt - der bei Lichte besehen die erste Aufgabe jeder Politik sein muss - hinter die unterschiedlichsten Machtinteressen zurücktritt. Dass in den repräsentativen Demokratien reale Partizipation der BürgerInnen letztlich nicht gewünscht ist, lässt sich heute auch daran festmachen, dass die mit dem Internet ungemein gestiegenen Möglichkeiten der Bürgerpartizipation von den demokratischen Parteien oder staatlichen Institutionen nicht oder nur sehr zögerlich aufgenommen werden. Warum gibt es kein Internet-Forum zu jedem der im Parlament diskutierten Themen? Warum wird diese Form einer breiten demokratischen Beteiligung nicht über die Medien einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht? Hier entblößt sich Demokratie als leere Versprechung.

(82) Nach all diesen Betrachtungen zu emanzipatorischen Konfliktlösungsformen soll nicht unerwähnt bleiben, dass Ansätze dazu auch unter Geldbedingungen mehr und mehr versucht werden. Dies verweist darauf, dass die Produktivkraftentwicklung allgemein dahin geht, dass die Kreativität der MitarbeiterInnen eine wichtige Ressource bildet. Und diese Kreativität ist am besten unter emanzipatorischen Bedingungen zu bekommen. Allerdings bilden die Geldbedingungen immanente Grenzen, die nicht überschritten werden können. Diese Grenzen fallen erst mit Formen jenseits von Geld, Tausch und anderen strukturellen Zwangsbedingungen.

(83) Wir können also auch in der Frage der Konfliktlösung uns die in der Freien Software gewachsenen Strukturen anschauen und als Modell für emanzipatorische Modelle verwenden. Für kleinere Konflikte klappt das vermutlich auch ganz gut, jedoch gibt es vermutlich einige Unterschiede zu gesamtgesellschaftlichen Großproblemen wie sie beispielsweise in der Bereitstellung großräumiger Infrastruktur (Straßen, Wasserversorgung, etc.) auftreten. Unterschiede zwischen den in der Freien Software entwickelten Ansätzen zu gesamtgesellschaftlichen Großproblemen könnten darin bestehen, dass die von einer Konfliktlösung Betroffenen und die jeweiligen ExpertInnen für das Sachgebiet weiter auseinanderfallen als dies bei der Freien Software der Fall ist. Gleichzeitig sind die ExpertInnen in der Freien Software auch in aller Regel diejenigen, die eine gefundene Lösung ausführen müssen. Auch dies ist bei gesamtgesellschaftlichen Konfliktlösungen eher selten der Fall. Hier muss überlegt werden, wie emanzipatorische Konfliktlösungsformen aussehen und vor allem real implementiert werden können.

2.3. Universelle Entwicklung der Individuen

(84) In einer Gesellschaftsformation, die auf den Prinzipien der Entwicklung Freier Software beruht, ist die universelle Entwicklung auf drei Ebenen prinzipiell sichergestellt.

2.3.1. Individualisierbare Produkte

(85) Produkte, die aus entfremdeten Zwecken wie dem Gelderwerb hergestellt wurden, verfolgen in erster Linie diesen entfremdeten Zweck. Es liegt in der Natur der Sache, dass seitens des Produzenten kein primäres Interesse daran besteht, den Nutzen des Produkts zu maximieren. Allseits bekannt sind beispielsweise Produkte, bei denen eine Reparatur unnötig erschwert wird - beispielsweise indem sie nicht beschädigungsfrei zu öffnen sind. Im Rahmen entfremdeter Produktion handelt es sich um eine logische Konsequenz, denn die Produktqualität muss ja gerade nur so hoch sein, dass die Verkaufbarkeit gewährleistet ist. Reparierbarkeit oder auch nur ein niedriger Ressourcenverbrauch bei der Herstellung spielen für die Verkaufbarkeit aber eine äußerst untergeordnete Rolle.

(86) Bei Produkten, die auf der Grundlage von Selbstentfaltung hergestellt werden, ist der Nutzen des Produkts oft ein wichtiges Ziel der Produktion. Dieser Nutzen hat dabei durchaus unterschiedliche Dimensionen. Ressourcenverbrauch während der Nutzung eines Produkts kann ebenso eine Dimension sein wie beispielsweise einfache Handhabung.

(87) Als ein wichtiger Nutzen eines Produkts kann die Konfigurierbarkeit angesehen werden. Konfigurierbarkeit bedeutet, dass ich das Produkt an je meinen konkreten Zweck anpassen kann. Bei Software finden wir diese Konfigurierbarkeit u.a. in Form von Präferenzeinstellungen. Aber auch bei materiellen Produkten kann Konfigurierbarkeit den potentiellen Nutzen steigern. Als aktuelles Beispiel mögen die unterschiedlichen Klingelsignale dienen, mit denen Handys ausgestattet werden können und mit deren Hilfe das Signal des eigenen Handys leicht zu identifizieren ist. Ein weiteres Beispiel bilden moderne Möbelsysteme, bei denen wenige Grundelemente baukastenartig zu beliebigen Möbeln zusammenkonfiguriert werden können. Weit fortgeschrittene Systeme gehen hier bereits dazu über, das über eine Web-Site erstellte Design direkt für die Steuerung der Produktionsmaschinen zu verwenden (s. http://www.holzmann-stoll.de/). Optimal sind Produkte, die mit einer einfach zu benutzenden Basiskonfiguration ausgeliefert werden, die aber reichhaltige Konfigurationsmöglichkeiten für die NutzerInnen bieten, die diese benutzen wollen.

(88) Da durch konfigurierbare Produkte Handlungsmöglichkeiten von Individuen erweitert werden, wird die universelle Entwicklung eines Individuums durch Freie Produkte, die diesen Nutzen besser unterstützen, begünstigt.

2.3.2. Automatisierung und Selbstentfaltung

(89) Doch nicht nur den Produkten ist ihr Herstellungszweck eingeschrieben. Auch den Produktionsmitteln ist ihre vorgesehene Verwendung in entfremdeter Produktion teilweise überdeutlich anzumerken. Überall dort, wo Menschen ihre Potentiale nicht nutzen, sondern nur als Verlängerung der Maschine tätig werden können, ist es offensichtlich, dass Menschen nur mit (strukturellem) Zwang wie Entlohnung dazu gebracht werden können, sich in einem Dasein als Maschinenfortsatz selbst fremd zu werden. Dies gilt umso mehr, wenn solche Arbeit nicht direkt eigenen Zwecken dient und somit eine individuell einsehbare Notwendigkeit darstellt, sondern auch die Zwecke der Produktion von anderen gesetzt werden.

(90) Nun haben wir heute aufgrund der technischen Seite der Produktivkraftentwicklung eine Phase erreicht, wo Maschinen immer weniger Menschen zum Ausgleich ihrer eigenen Unzulänglichkeit benötigen. Standen noch in der letzten Generation Unmengen von ArbeiterInnen an Fließbändern um stupidste Arbeit zu verrichten, so werden diese stupiden Tätigkeiten heute nicht selten von Industrierobotern übernommen. Diese Entwicklung ist im Grunde genommen als riesiger emanzipatorischer Fortschritt zu werten, da Menschen unter emanzipatorischem Blickwinkel grundsätzlich zu schade für Tätigkeiten sind, die von Maschinen übernommen werden können. Leider haben sich die Produktionsverhältnisse weder der der technologischen noch der sozialen Seite der Produktivkraftentwicklung angepasst, so dass ihr emanzipatorisches Potential sich heute als Destruktivkraft in Form von Arbeitslosigkeit niederschlägt.

(91) In einer Gesellschaftsformation, die wesentlich auf Selbstentfaltung der Individuen beruht, könnte dieser emanzipatorische Schatz nicht nur endlich gehoben werden, vielmehr bildet er die Grundlage für einen permanenten Ausbau dieses Potentials. Während in einer auf Arbeit beruhenden Vergesellschaftungsform die Vernichtung von Arbeitspotential bei Strafe ihres Untergangs nicht im Interesse der Arbeitsseite sein kann, wäre in einer auf Selbstentfaltung beruhenden Gesellschaftsformation das Interesse aller an einer möglichst weitgehenden Automatisierung gegeben. Die Menschen könnten also immer mehr von lästigen und unangenehmen Notwendigkeiten beFreit werden.

(92) Die Maschinen, die dies ermöglichen, bieten gleichzeitig ein erhebliches Kreativitätspotential. Die Flexibilität einer hochmodernen Produktionsmaschine macht erst dann Sinn, wenn sie kreativ genutzt wird. Die technischen Freiheitsgrade, die beispielsweise ein Roboterarm haben kann, übersetzen sich in gewisser Weise direkt in die Freiheitsgrade der Menschen, die etwas mit ihm anfangen möchten.

(93) Dieses Kreativitätspotential ist aber nichts anderes als die Basis bestimmter Formen individueller Selbstentfaltung und damit der universellen Entwicklung des Individuums.

2.3.3. Selbstgesetzte Ziele

(94) Nicht zuletzt wird das individuelle Handeln nicht länger durch entfremdete Vorgaben bestimmt. Vielmehr ist jedes Handeln in einer auf Selbstentfaltung beruhenden Gesellschaftsformation auf je eigene Zwecke gerichtet. Diese Zwecke werden dabei letztlich immer vom Individuum selbst gesteckt und auch verantwortet. Eine universelle Entwicklung der Individuen könnte keine bessere Grundlage haben als diese.

(95) Nehmen wir in den Blick, dass die universelle Selbstentfaltung der Individuen unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass diese sich maximal in einem gesamtgesellschaftlichen Rahmen einbringen können, so stellen wir fest, dass für eine emanzipatorische Vision die Selbstentfaltung der Individuen nicht nur ideologisch eine unhintergehbare Voraussetzung ist, sondern auch im direkten Interesse der Gesamtgesellschaft liegt.

2.4. Universelle Entwicklung der Gesellschaft

(96) Wenn wir bei Freien-Software-Projekten - die umstandslos als Interessengruppen begriffen werden können - von einem Herrschaftsmodell sprechen, dann ist festzustellen, dass die Machtmittel der Herrschenden, die i.a. mit den MaintainerInnen zusammenfallen, äußerst gering sind. Das gemeinsame Werk steht als Quellen qua Lizenz allen Interessierten innerhalb und außerhalb des Projekts zur Verfügung, so dass davon niemand ausgeschlossen werden kann. Lediglich innerhalb der Kommunikationsstrukturen eines Projekts kann mit Mitteln wie Ausschluss aus Mailing-Listen Macht ausgeübt werden. Wenn aber praktisch keine Machtmittel vorhanden sind, dann kann der dominative Anteil von Herrschaft, der ohne Machtmittel nicht auskommt, ebenfalls nur gering sein.

(97) Die oben ausgeführten Interessenlagen der MaintainerInnen verhindern zudem tendenziell einen Missbrauch der Machtmittel, da die Mitglieder eines Projekts in der Regel auf freiwilliger Grundlage teilnehmen und somit jederzeit das Projekt verlassen können. Da die MaintainerIn i.a. die Aufgabe der Maintainerschaft ebenfalls als Teil ihrer persönlichen Selbstentfaltung betrachtet, hat auch die MaintainerIn selbst einen Schaden daraus, wenn viele TeilnehmerInnen das Projekt verlassen, da der Gegenstand ihrer eigenen Selbstentfaltung dadurch verschwindet.

(98) Das Beispiel der Freien Software führt uns vor, wie das Interesse der Herrschenden an der individuellen Selbstentfaltung der Beherrschten Machtmissbrauch strukturell verhindert. Dies schließt zwar Machtmissbrauch nicht grundsätzlich aus, schafft aber die Möglichkeit, dass sich die Missbrauchssituation nicht verfestigt, sondern sich die Beherrschten neue Herrschende suchen. Im Fall der Freien Software werden solche Vorgänge als Code-Fork bezeichnet, bei dem der vormals gemeinsam entwickelte Code mehr oder weniger unabhängig voneinander in verschiedenen Folgeprojekten weiterentwickelt wird. Die auffallend niedrige Anzahl von Code-Forks, die noch dazu nicht selten nach einer Weile wieder verschwinden, deutet an, wie wirkungsvoll das Herrschaftsmodell Freier Software Machtmissbrauch verhindert.

(99) Dass MaintainerInnen überhaupt als solche anerkannt werden und sie in Ausübung ihrer Funktionen i.a. akzeptiert werden, verweist darauf, dass es Bedingungen geben muss, unter denen Herrschaftsfunktionen als legitim, ja als nützlich betrachtet werden. Solche Herrschaftsfunktionen sind i.d.R. repräsentative Funktionen, mit denen eine MaintainerIn die Sozialeinheit repräsentiert, die das Freie-Software-Projekt bildet. Einsicht in die Sinnhaftigkeit von Herrschaftsfunktionen erleichtert ihre Umsetzung und vermindert die Notwendigkeit dominativen Eingreifens erheblich. Im günstigen Fall kann sogar grundsätzlich jedes Mitglied einer Sozialeinheit Herrschaftsfunktionen übernehmen. Sowohl dominatives Eingreifen als auch die Repräsentation nach Innen sind in solchen günstigen Situationen tendenziell ganz verzichtbar.

(100) Einsicht wächst aus dem je individuellen konkreten Erleben der Sinnhaftigkeit der Ausübung der Herrschaftsfunktionen, wenn aus der Ausübung für das Individuum konkret erfahrbarer Nutzen erwächst. In einem Freie-Software-Projekt ist es beispielsweise vorstellbar, dass nach einer langen, zähen Diskussion ohne klares Ergebnis die MaintainerIn eine Entscheidung trifft. Diese Entscheidung schneidet damit - zumindest für den Moment - zwar bestimmte Entwicklungsmöglichkeiten des Projekts ab, eröffnet dem Gesamtprojekt aber eine neue Perspektive, die letztlich auch den Beteiligten weiterhilft, deren Alternative von einer Entscheidung nicht berücksichtigt wurde. Obwohl solche Entscheidungen einen gewissen dominativen Charakter haben, werden sie im Allgemeinen akzeptiert, da ersichtlich ist, dass die MaintainerIn für das Freie-Software-Projekt wirkt.

(101) Einsicht in die Sinnhaftigkeit von Herrschaftsfunktionen wird außerdem durch Vertrauen auf die Prinzipien der Sozialeinheit begünstigt. Solches Vertrauen wächst mit der Erfahrung der Verlässlichkeit dieser Prinzipien. Im Interesse der Sozialeinheit ausgeführte regelmäßige Herrschaftsfunktionen können eine solche Verlässlichkeit demonstrieren. Im Falle eines Freien-Software-Projekts stellt sich ein solches Vertrauen dann ein, wenn die MaintainerIn über einen längeren Zeitraum hinweg nachvollziehbar im Sinne des Gesamtprojekts wirkt. Ist ein solches Vertrauen erreicht, so kann ein individuelles Mitglied auch darauf vertrauen, dass seine Interessen im Kontext des Gesamtprojekts ausreichend gewürdigt werden. Eine mehr oder weniger gewaltsame Durchsetzung der individuellen Interessen wird unnötig, ja sogar kontraproduktiv.

(102) Was in einer solchen gesellschaftlichen Formation, die auf der allseitigen Selbstentfaltung beruht, aus dem Konzept des Staates wird, ist heute kaum abzuschätzen. Seine administrativen Anteile, die sich mit der Verwaltung von Infrastruktur befassen, müssen im Prinzip lediglich nach Selbstentfaltungsprinzipien umgemodelt werden. Die dominativen Anteile von Staat könnten dagegen nach dem eben Erwähnten voraussichtlich weitgehend abgebaut werden.


Valid HTML 4.01 Transitional