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Zum Verhältnis von materieller und immaterieller Arbeit

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 21.06.2002
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) Das Begriffspaar materiell/immateriell ist geeignet, eine Veränderung der Tätigkeiten in der Arbeit zu fassen: Jede Tätigkeit zeichnet sich durch ein bestimmtes, historisch sich veränderndes Verhältnis von materiellen und immateriellen Anteilen aus. Der Begriff ist damit angemessener als die traditionelle Entgegensetzung von Hand- und Kopf-Arbeit (vgl. Meretz/Schlemm 2001).

(2) Das Begriffspaar materiell/immateriell ist nicht geeignet, ökonomische Veränderung der kapitalistischen Produktion zu untersuchen. So ist es z.B. irreführend, in der immateriellen Arbeit "die neue Dominante in der Wertschöpfungskette" (Möller 2002) zu verorten: Vom Verhältnis materieller-immaterieller Arbeit kann nicht auf den "Wertcharakter" geschlossen werden.

(2.1) Wert?, 21.06.2002, 19:06, Benni Bärmann: Mir ist nicht klar, was genau Dein Argument gegen den Abschnitt

"Immaterielle Arbeit dient der Realisierung des Mehrwerts. Sie schafft Wert, wenn 'Wert' als gesellschaftliches Verhältnis verstanden wird, und sie schafft Mehrwert besonders wenn sie als unbezahlte Arbeit in den Verwertungsprozess eingeht. Das geschieht heute gerade bei der immateriellen Arbeit in verstärktem Maße.

in C.Möllers Text ist. Was meinst Du mit "Wertcharakter"? Ob eine Arbeit Wert erzeugt oder nicht?

(2.1.1) Re: Wert?, 22.06.2002, 08:33, Stefan Meretz: In deinem herausgegriffenen Zitat kannst du immateriell durch materiell ersetzten, und die Aussage ist genau "richtig" oder "falsch", weil die Frage, ob eine Tätigkeit Wert schafft (ja, meine ich mit "Wertcharakter"), eben der Tätigkeit selbst nicht anzusehen ist.

(2.1.1.1) Re: Wert?, 22.06.2002, 09:26, Benni Bärmann: Ich kenne ja leider die ursprünglichen Aussagen, die Du kritisierst nicht, aber mal generell aus postoperaistischer Perspektive: Es sagt glaube ich niemand, dass nur "immaterielle Arbeit" Wert erzeugen würde. Was nur gesagt wird, ist dass die Wertschöpfung sozusagen gesamtgesellschaftlich geworden ist und nicht mehr eingrenzbar ist. "masslos" nennen das Negri/Hardt. Es gibt keinen Ort der Ausbeutung mehr und also auch kein "aussen" mehr. Ausdruck davon ist eben auch die Verschiebung der Dominanz von der materiellen zur immateriellen Arbeit. Das ist ganz ähnlich zu Deinen Vorstellungen von der Selbstentfaltung als Produktivkraft. Aber vorsicht: Manchmal reden sie von "Selbstverwertung" und meinen damit aber was anderes als in unserem Kontext, eher etwas Richtung Selbstentfaltung.

(3) Um die Rolle im Verwertungsprozess zu begreifen, ist der Begriff der produktiven/unproduktiven Arbeit geeigneter. Er fasst die Rolle von Arbeit im erweiterten Reproduktionszyklus des Kapitals, den Marx auf die Formel G-W-G' brachte. Ist Arbeit konstitutiver Beitrag zum G', so ist sie produktiv; ist sie Abzug davon, so ist sie unproduktiv (vgl. Kurz 1995, Mausebär 2002).

(3.1) 21.06.2002, 19:14, Benni Bärmann: Genau diese Unterscheidung zwischen Produktiv/Nicht-Produktiv greift nicht (meinen zumindestens die Postoperaisten). Siehe: http://www.copyriot.com/unefarce/no4/tarde.html

(3.1.1) 22.06.2002, 09:05, Stefan Meretz: Ist eine eigene Baustelle. In dem von dir genannten Text geht es um eine z.T. völlig berechtigte Kritik des platten Traditionsmarxismus, etwa des Basis-Überbau-Schemas. Was selbst präsentiert wird, ist jedoch keine Ökonomiekritik, sondern eine soziologische Theorie. Und gerade produktiv/unproduktiv wird nicht immanent ökonomisch oder - wenn man das ablehnt - kategorial, sondern soziologisch kritisiert (Lazzarato nennt das "ökonomische Psychologie").

(3.1.1.1) 22.06.2002, 09:13, Benni Bärmann: Witzig. Du hast scheinbar einen anderen Text gelesen :-) Also für mich geht es darin genau um die Kritik an der Vorstellung es gäbe unproduktive Tätigkeit. Ob Du das jetzt soziologisch, ökonomisch oder kategorial nennst, ist doch erstmal egal.

(4) Das Attribut "unproduktiv" bedeutet nicht, dass auf diese Arbeit für die Wert-Verwertung verzichtet werden könnte. Es handelt sich um notwendige Arbeiten, die zur Realisierung des Werts als Tauschwert unabdingbar sind, obwohl sie selbst diesen zum Teil verzehren. Unproduktive Arbeit muss sich stets auf produktive Arbeit beziehen, sie ist nicht "selbsttragend".

(4.1) 21.06.2002, 22:39, Benni Bärmann: Ja, aber "produktive" Arbeit ist eben auch nicht "selbsttragend", das hast Du doch selbst gerade ausgeführt.

(4.1.1) 22.06.2002, 09:07, Stefan Meretz: Was meinst du?

(4.1.1.1) 22.06.2002, 09:15, Benni Bärmann: Wenn Du schreibst

"Das Attribut "unproduktiv" bedeutet nicht, dass auf diese Arbeit für die Wert-Verwertung verzichtet werden könnte. Es handelt sich um notwendige Arbeiten, die zur Realisierung des Werts als Tauschwert unabdingbar sind, obwohl sie selbst diesen zum Teil verzehren."

bedeutet das doch genau, dass die - vermeintlich - produktive Arbeit sich nicht selbst trägt.

(4.1.1.1.1) 22.06.2002, 10:59, Stefan Meretz: Mit "nicht selbsttragend" meinte ich, dass unproduktive Arbeit "grundsätzllich" nicht eigenständig kapitalreproduktiv sein kann, produktive aber "grundsätzlich" schon. In gewisser Weise stimme ich dir dennoch zu: Auch die produktive Arbeit trägt sich zunehmend eigenständig nicht mehr, weil sie zunehmend unproduktive Arbeit einsaugen muss, die die Wertbasis nicht erweitert, sondern davon zehrt, und weil sie sich ihre eigene "Substanz" unterm Arsch wegrationalisiert. - Mir ist klar, dass man diese Betrachtung wiederum "postoperaistisch umdrehen" kann:-)

(5) Jede Arbeit mit einem je spezifischen Verhältnis materieller und immaterieller Tätgkeiten kann kapitalproduktiv oder -unproduktiv sein. Von der (erweiterten) Reproduktion des Kapitals durch Arbeit abzuheben sind solche Tätigkeiten, die der Reproduktion der Individuen dienen - missverständlich oft als "Reproduktionsarbeit" bezeichnet. Diese von der Wertverwertungssphäre "abgespaltenen Tätigkeiten" unterliegen einer anderen Logik, werden jedoch von der Verwertungslogik überformt und durchdrungen (vgl. Scholz 2000).

(6) Entlang der Sphärenspaltung erfolgt die geschlechtliche/sexistische und überlagert auch rassistische Zuweisung der Tätigkeiten: Die sorgenden, putzenden, reproduktiven Tätigkeiten der armen / schwarzen / Frau; die kreativen, symbolischen, produzierenden Tätigkeiten dem reichen / weissen / Mann. In der "Grauzone" zwischen beiden Sphären bewegen sich die informellen Arbeitsverhältnisse von MigrantInnen und anderen von formaler Arbeit Ausgeschlossenen.

(7) Jede individuelle Reproduktion im Kapitalismus reproduziert diesen auch - unabhängig, ob durch formelle oder informelle Arbeit. Gleichzeitig gibt es keine Emanzipation durch Arbeit, sondern nur von Arbeit. Dieser Widerspruch ist auszuhalten. Kriterium, ob ein Ziel "richtig" oder "falsch" ist, kann nicht die Form der Arbeit sein. Kriterien müssen sein: Macht uns das angestrebte Ziel handlungsfähiger oder nicht. Und: Reduziert es die instrumentelle Macht (potestas) zugunsten der kreativen Macht (potencia) - dies nicht nur gegenüber den Herrschenden, sondern auch unter uns (vgl. Holloway 2002).

(7.1) Zum ganzen Text (1), 22.06.2002, 08:46, Benni Bärmann: Also scheinbar gibt es ja zwei unterschiedliche marxistische Schulen, wenn ich das richtig verstanden habe, die man als "wertkritisch" bzw. als "operaistisch" beschreiben kann. Für erstere ist das bestimmende Element am Kapitalismus die abstrakte Maschine, die aus Wert mehr Wert macht. Du nennst das immer "kybernetische Maschine". Die Operaisten betonen hingegen dass die Geschichte eine Geschichte von sozialen Kämpfen ist und das der Kapitalismus immer nur reagiert. In diesem Kontext muss man auch die Rede von der "immateriellen Arbeit" ansiedeln. Ich glaube mit Deinem wertkritischen Ansatz verfehlst Du da ein bisschen das Thema. Die beiden Ansätze haben beide ihre Vor- und Nachteile. Wertkritik neigt dazu zu totalisieren und Handlungsmöglichkeiten zu negieren (siehe Krisis) wärend der operaistische Ansatz oft zu "optimistisch" erscheint in dem Sinn, dass die Eigendynamik der Verwertung geleugnet wird. Man kann den Operaismus also möglicherweise ganz ähnlich kritisieren, wie Du das mit der Freien Kooperation in Deinem Dschungel-Text getan hast (bin mir da aber noch nicht ganz sicher). Ziel könnte es also sein, die Vorteile beider Ansätze zu nutzen und die Nachteile mit dem jeweiligen anderen Ansatz auszubügeln.

(7.2) Zum ganzen Text (2), 22.06.2002, 09:10, Benni Bärmann: Was genau hat mein Geschwafel aber mit "immaterieller Arbeit" und der Tauglichkeit dieses Begriffes zu tun? Wenn "die Multitude" (siehe Empire) die treibende Kraft ist (wie die Operaisten meinen), dann folgt daraus, dass auch aus dieser Immanenzperspektive heraus, irgendeine Dynamik in Gang setzbar ist, die am Ende den Kapitalismus abschafft. Man kann das auch "Keimform" nennen. "Immaterielle Arbeit" kann also so etwas sein, wie die Verallgemeinerung der Vorstellung von Freier Software als Keimform. Deine Bedingungen für Keimformen (Global, Wertfrei, Selbstorganisiert, Selbstentfaltung) sind natürlich nicht identisch mit der Produktionsweise, wie sie die Postoperaisten mit dem Begriff "immaterieller Arbeit" zusammenfassen. Aber alle vier Bestimmungen finden sich schon darin wieder. Ganz gut wird das klar im vierten Kapitel des dritten Teils von Negri/Hardts "Empire" (S.291 - S.314 in der dt. Ausgabe)

(7.2.1) Re: Zum ganzen Text (2), 02.07.2002, 22:57, Benni Bärmann: Etwas mehr zum Thema von mir in einem eigenen Projekt: http://www.opentheory.org/fs_empire/text.phtml

Literatur:

(8) Kurz, R. (1995), Die Himmelfahrt des Geldes, in: Krisis 16/17, online: http://www.giga.or.at/others/krisis/r-kurz_himmelfahrt-des-geldes_krisis16-17_1995.html
Holloway, J. (2002), Zwölf Thesen über Anti-Macht, online: http://www.buko.info/buko25/holloway.html
Mausebär (2002), Produktive Arbeit und Krise - Krise und Zusammenbruch bei Karl Marx und der Gruppe "Krisis", online: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/ci/nf/86/29.html
Meretz, S., Schlemm, A. (2001), Zwischen Selbstverwertung und Selbstentfaltung, online: http://www.opentheory.org/selbst-selbst/text.phtml
Möller, C. (2002), Immaterielle Arbeit - die neue Dominante in der Wertschöpfungskette, online: http://www.expertbase.net/forum/reader/moeller.html
Scholz, R. (2000), Das Geschlecht des Kapitalismus, Bad Honnef: Horlemann Verlag.

(8.1) Re: Literatur:, 21.06.2002, 19:00, Benni Bärmann: Der Link zu dem Text, den Du scheinbar kritisieren willst, sollte hier auch hin. Alleine schon, weil er auf der Projekt-Seite falsch ist ;-)

(8.1.1) Re: Literatur:, 22.06.2002, 10:42, Stefan Meretz: Welchen Link meinst du? Ich kritisiere keinen Text explizit. Den einzigen, den ich kritisch erwähne, ist der von Carola Möller, und der Link steht in der Literaturliste. Der Link zu der Veranstaltung, für die ich die Thesen erstellt habe, lautet: http://www.expertbase.net/forum/.

(8.1.1.1) Re: Literatur:, 22.06.2002, 11:32, Benni Bärmann: Ja, das war ein Missverständnis, sorry. Fährst Du denn zu der Veranstaltung hin? Als Vortragender? Als Teilnehmer? Achne, ich seh grad, die läuft schon. Oder bist Du grad in Hamburg? Verflixte Virtualität :-)


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