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Hoch die internationale Selbstentfaltung !

Maintainer: Annette Schlemm, Version 1, 05.06.2001
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Oekonux-Ökonomie

(1) Ein Blick in die Welt hinein straft alle Volkswirtschaftslehre-Bücher über komparative Vorteile für alle Länder in einer kapitalistischen Wirtschaft Lügen. Auch die Verbreitung moderner Technologien kann das nicht prinzipiell ändern. Die Rede vom "Globalen Dorf", eins fast als Utopie verkündet, ist enttäuscht:

"Die Welt ist ein globales Dorf? Dann kommen auf ein Landhaus drei Jauchegruben. Und in den Villen bröckelt der Putz." (Gremliza 1996)

(1.1) Zum Titel des Projekts, 09.06.2001, 11:31, Annette Schlemm: Uli (L.) machte mich berechtigt darauf aufmerksam:
"Transantionalisierung" ("Internationalisiserung" ist der falsche Begriff, keine Nationen und nicht zwischen Nationen, sondern über jedes Nationale hinweg - übrigens ist dies für mich wie "free software" in einem anderen Bereich auch eine positive Aufhebung der in der negativen kapitalistischen Globalisierung angelegten "Keimform" der Sprengung nationaler Eingrenzungen und Bornierheiten, Rassendiskriminierungen usw.)

Der Zustand der Welt

(2) Ca. 800 Millionen Menschen hungern immer noch. Es wird eingeschätzt, daß ca. 335 Millionen Menschen, das sind etwa 5 % der Weltbevölkerung, aufgrund von Katastrophen und Verwüstungen ihrer Lebensgrundlagen aufgrund des Klimawandels ihre Heimat verlassen mußten. (Ling 2001). Seit die "2. Welt" sich fast vollständig der "3. Welt" hinzugesellt hat,. und auch territorial keine eindeutige Zuordnung von Gewinner- und Verliererkontinenten mehr auszumachen ist, ist es schwer geworden, die Unterdrückten dieser Erde irgendwie als Gemeinsame zu bezeichnen. Untereinander sind sie ja auch überhaupt gar nicht einheitlich. LohnarbeiterInnen, Erwerbslose, Hausfrauen, sog. "kleine Selbständige", Flüchtlinge, im Krieg Leidende, Gefolterte....

(3) Zum Elend aus Armut und Ausbeutung gesellt sich die Bedrohung durch ökologische Desaster, die auch meist zuerst jene Menschen trifft, die sich nicht in schützende Gebiete zurückziehen können und ihre Häuser mit Hilfe von Versicherungen neu aufbauen können... Die ökologischen Veränderungen schaden jenen Menschen am meisten, die durch ihre Subsistenzlebensweise am abhängigsten von einem funktionierenden Ökosystem sind und ihm selbst am wenigsten schaden.

(4) Wie kann es weiter gehen? Das kapitalistische Entwicklungsmodell ist z.B. in Kenia und Elfenbeinküste gescheitert, auch das "realsozialistische" Modell erwies sich als nicht geeignet (Zaire/Kongo, Madagaskar). Auch das Bestehen auf eigenständigen Traditionen (Tansania) war nicht erfolgreich.

Technokratische Beherrschung: der Probleme und der Menschen

(5) Unter den Herren dieser Welt gibt es ja sogar einige, die sich wirklich verantwortlich fühlen für den Zustand der Welt. Ihnen fallen jedoch nur neuen Formen der Weltbeherrschung als Lösung der Probleme ein. Speziell Al Gore, die "bessere Alternative" gegenüber George Bush, "vertritt eine globalistische technokratische Vision. Nicht die Demokratisierung der Gesellschaft und die Auflösung geballter Machtzusammenhänge stehen im Mittelpunkt seines Programms [wer hätte das auch ernsthaft erwartet, A.S.], sondern die Einführung neuer Technologien durch eine zentralstaatlich organisierte Bündelung der Interessen von Industrie, Wissenschaft, Militär und parlamentarische Instanzen." (Reinhardt 1997, S. 27)

Neue technologische Entwicklungen im Kapitalismus

(6) Hoffnungen auf eine nachholende Entwicklung, also die Entwicklung einer Industrie mit weitestgehender Vollbeschäftigung und ein wachsender Wohlstand, sind nicht nur deshalb irreführend, weil die Herrschenden dies nicht wollen, sondern weil sich die Grundlage, auf der es teilweise für einige Länder möglich war, sich so zu entwickeln, verändert hat. Früher wurde aus den Kernländern des Kapitalismus lohnintensive Produktion in Niedriglohnländer ausgelagert – für diese bedeutete das Arbeit, teilweiser Wohlstand und teilweise Industrialisierung ("verlängerte Werkbank".

(7) Die früher real-sozialistischen Länder hofften, sich hierdurch sanieren und einigermaßen vernünftig weiter existieren zu können. Durch den vermehrten Einsatz der Informationstechnologie und die Automatisierung kam es aber dazu, daß für die Industrieländer die Bedeutung der Lohnkosten wieder sank und auch für just-in-time-Produktion war eine räumliche Entfernung eher ungünstig. Schon in den 80er Jahren kam es deshalb zu einer massiven Rückverlagerung der Produktion aus der "3. Welt" (z.B. mit Massenentlassungen in Malaysia in den Niederlassungen der multinationalen Elektronikkonzerne) (Meyer-Stahmer 1985, S. 24).

(8) Ohne hier eine ausführliche Analyse zu bringen, sei aber erwähnt, daß diese Entwicklung nicht nur pauschal zu einer allgemeinen Verelendung geführt hat, sondern sich vor allem die Unterschiedlichkeit innerhalb der betroffenen Weltregionen enorm verstärkt hat.

Eigenständige Vielfalt in Nischen

(9) Zu dieser Unterschiedlichkeit gehört auch, daß zumindest aus der Sicht kleiner Regionen es durchaus auch Rückbesinnungen auf andere Wirtschaftsformen gibt und diese brauchen i.a. keinen "äquivalenten" Tausch oder Geld oder eben gar Kapital. In Ostnigeria (bei den Ibos) werden z.B. gegenseitige Verdienste irgendwie im Gedächtnis behalten, aber nicht zahlenmäßig verrechnet. "Im Grunde können sie dieses Verfahren genauso wenig erklären, wie wir das Geld" (Weinrich 1999)

(9.1) Re: Eigenständige Vielfalt in Nischen, 05.06.2001, 22:41, Michael Below: Ist die Abkoppelung von der Weltwirtschaft in Afrika nicht eher die Folge totaler Armut? "Vielfalt in Nischen" klingt irgendwie romantisch -- geht es dort nicht um den rapide fortschreitenden Verfall des Lebensstandards, der Lebenserwartung etc.?

(9.1.1) Re: Eigenständige Vielfalt in Nischen, 06.06.2001, 13:00, Annette Schlemm: Die Abkopplung ist nicht Folge der Armut, sondern die Armut ist eine Folge
1. der erzwungenen Ankopplung in Kolonialismus, Neokolonialismus und neoliberaler Globalisierung
2. der Abkopplung, nachdem durch 1. alle vorherigen Subsistenzstrukturen nachhaltig zerstört worden sind.
Hilfe gegen die Verelendung etc. bringt auf keinen Fall die Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaft – der Traum von der nachholenden Entwicklung

Neue Widerstandsbewegung

(10) Nach den antikolonialen Befreiungsbewegungen und dem Niedergang des real gewesenen Sozialismus schien die neoliberale Variante des Kapitalismus ohne große Störungen ihren Siegeszug rund um den Globus anzutreten. Das erste Signal, daß sich auch Widerstand international und informationstechnisch organisieren kann, war der erfolgreiche Widerstand gegen das Multilateralen Investitionsabkommen (MAI). Seit dieser Zeit entstand ein globales Netzwerk aus sozialen, ökologischen und entwicklungspolitischen Bewegungen gegen neoliberale Globaliserung, die sich i.a. in deutlichen Protesten gegen die G7-Gipfel und WTO-Konferenzen öffentlich zeigt. 1998 wurde das Netzwerk Peoples Global Action gegründet, das sich mittels gewaltfreiem zivilen Ungehorsam in einer konfrontativen Grundhaltung gegen alle Formen von Herrschaft und Diskriminierung, besonders gegen die neoliberale Globalisierung, richtet. Eine Interkontinentale Karawane mit 500 indischen und lateinamerikanischen BäuerInnen protestierte 1999 auch in der BRD gegen das ungerechte Weltwirtschaftssystem, Ihre eigene Vision ist eine "Dorfrepublik" mit lokalen Versorgungsnetzen, nachhaltigen Technologien und solidarischen Bündnissen.

(11) Wenigstens erkennen all diese Bewegungen im besonders aggressiven Vordringen kapitalistischer Verwertungsmechanismen die Hauptgefahr. Ob sie aber in einem "normalen" Kapitalismus vielleicht sogar ihre Perspektive sehen, ist zu befürchten. Die EZLN in Mexiko setzt zwar beispielsweise auf eine völlig neue Vorstellung von Politik: Sie will nicht selbst die Macht erobern, sondern sie den Menschen überlassen, sie ihnen nur freikämpfen. Ökonomisch haben sie, soweit ich weiß, kein alternatives Konzept entwickelt. Sollte die Herrschaft der auswärtigen und nationalen Großunternehmen vielleicht eines Tages abgeschafft sein – bestünde die Tendenz, daß sich wieder quasi "naturwüchsig" ein klein- und mittelständiger Kapitalismus entwickelt.

(11.1) Ansätze zu anderer Individualität?, 09.06.2001, 11:30, Annette Schlemm: Mehrere MailschreiberInnen haben mir bestätigt, daß auch sie ein die Individuen beherrschendes "Wir" auch in Befreiungsbewegungen kritisieren.
Mir ginge es darum, dies nicht nur von außen zu kritisieren, sondern danach zu suchen, welche Ansätze zu einer eigenständigen Entwicklung von Individualität (mgl. nicht über die bürgerlich-kapitalistische Entwicklung) es in anderenLändern vielleicht schon gibt.
Diese wären ein geeigneter Anknüpfungspunkt für uns. Vielleicht finden wir die ersten Ansätze dazu sogar eher in belletristischer als politischer Literatur?!

(11.2) Kommentar zu Absatz 11Hoch die internationale Selbstentfaltung, 21.06.2001, 12:23, Matthias Stickel ??: warum braucht mensch denn ein ökonomisches alternativ konzept für die zukunft. das ganze erscheint mir immer unsinniger den wie es schon 1988 beim protest gegen die tagung des iwf in berlin hies, "the future is unwritten". das problem dr politischen ökonomie erscheint mir zu seien das sie mit daten aus der vergangenheit die zukunft versucht zu erstellen.ich sehe oder nehme als meta theoretische ebene für dieses verlangen ein modell oder menschenbild was oft zutiefst pessimistisch ist und wenig bis kein vertrauen in die menschen und ihre ungeheuere kraft und gestaltungsfähigkeit setzt. meiner meinung kann es gar kein modell einer umsetzungsgesellschaft geben - hat nicht auch der olle marx gesagt das die geschichte sich hinter dem rücken der akteure vollzieht. für mich haben visionen was mit dem zu tuen wie wir SEIEN wollen. nur menschen die frei sind können freie vereinbarungen treffen. diese freiheit die ich meine erreicht mensch nicht durch eine bessere erziehung in einem system irgendeiner übergangsgesellschaft, wobei ich nicht verschweigen will das auch ich glaube das es unterschiedlich gute oder meistens eher schlechte zugangsvoraussetzungen für die oder den einzelnen gibt. trotzdem menschen sollten befähigt werden einen schritt nach dem anderen zu gehen und zu wachsen, wobei und das macht die sache für viele wohl so schwierig jede/r voll und ganz bejahen, sprich leben soll das heute, jetzt das leben wunderschön ist, aber heute auch ein wunderschöner tag zum sterben ist. wer sich selbst zu seht aufbläht, vergänlichkeit bei sich selbst nicht empfindet, wie bitte altern wir denn der/die kann meines erachtens nicht frei sein,und dann auch keine freien kooperationen eingehen. was heisst den die macht erobern und sie dann anderen geben? könnte so etwas wie selbstlosigkeit meinen aber auch das eingestehen des wissens das das leben und damit die zukunft nicht planbar ist. dieser komkmentar soll allerdings nicht sagen das theoriebildung, etc. unnötig ist. ziele, pläne und visionen sind wichtig sollten aber ihren platz im gesamten grossen ganzen haben.

Was kann eine Ökonux-Oekonomie für die Welt bedeuten?

(12) Zuallererst müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, wir könnten ein neues Weltwirtschaftssystem auf dem Grünen Tisch herbeizaubern. Eigentlich entwickeln wir in Oekonux lediglich eine Vorstellung, wie wir, das heißt Ich und Du und Du und... alle, die sich selbst beteiligen wollen, miteinander bei der Produktion der nötigen Dinge im Leben kooperieren und zusammenarbeiten wollen.

(12.1) Re: Was kann eine Ökonux-Oekonomie für die Welt bedeuten?, 23.11.2001, 21:42, Stefan Merten: Hmm... Mir geht es nicht so sehr um das Wollen - das ist ja ziemlich beliebig und mit dem Wollen alleine kommen wir schon seit 150 Jahren nicht in die neue Gesellschaft. Ob wir die Möglichkeit dazu haben, wie sie aussieht, wo sie heranwächst und warum diese Möglichkeit so viel besser ist, daß sie nicht zu wollen irrational ist - das ist für mich mehr das Thema bei Oekonux.

(13) Ausgangspunkt ist hier die unmittelbar frei verhandelte Zusammenarbeit innerhalb eines umfassenden Netzwerks, das eine gesamtgesellschaftliche Kohärenz erzeugt, die über die direkten Kooperationen hinaus geht. Der Systemcharakter der gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhangs bleibt aber in den unmittelbaren Bedürfnissen und Tätigkeiten begründet – er kann sich nicht mehr als Selbstzweck gegenüber den menschlichen Aktivitäten verselbständigen. Um diese Verselbständigung zu verhindern, sind einige "Sicherungen" notwendig. Diese Sicherungen regeln nur, was aus dem System nicht werden darf – sie legen die Regeln, wie die Abstimmungen und Verhandlungen zu laufen haben, aber nicht fest. Dies zu vereinbaren, bleibt den jeweils Beteiligten überlassen.

(13.1) 23.11.2001, 21:46, Stefan Merten: Ich behaupte mal ganz frech, daß wenn "der Systemcharakter der gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhangs bleibt aber in den unmittelbaren Bedürfnissen und Tätigkeiten begründet" ist und wenn er kann "sich nicht mehr als Selbstzweck gegenüber den menschlichen Aktivitäten verselbständigen" kann, dann sind Sicherungen auch nicht mehr notwendig. Der Prozeß kann strukturell nicht mehr aus dem Ruder laufen - was sollten irgendwelche Sicherungen dann überhaupt noch verhindern?

Selbstentfaltungs-Ökonomie...

(14) Ausgangspunkt für diese neue Form gesellschaftlicher Reproduktion und Produktion sind die Selbstentfaltungsmöglichkeiten der Individuen. Selbstentfaltung ist dabei nichts egoistisch-nur von innen-nach-außen-Gerichtetes. Menschliche Individuen sind bereits "natürlich gesellschaftlich". Heute leben wir in Verhältnissen, die die Individuen dazu zwingen, ihre eigenen Interessen fast nur auf Kosten anderer realisieren zu können (z.B. in der Konkurrenz um Arbeitsplätze, des Widerstreits zwischen Arbeitsplatznotwendigkeit und dem Interesse an einer intakten Umwelt). Wirkliche Selbstentfaltung funktioniert aber nur, wenn auch um mich herum alle Menschen sich individuell selbst entfalten können. Wenn sie das nicht tun können, erleide auch ich in meinen Kontakten mit ihnen einen Verlust. Gerade in jenen Freiräumen, die es auch jetzt noch gibt, ist dies auch heute schon zu beobachten.

(14.1) Re: Selbstentfaltungs-Ökonomie..., 05.06.2001, 22:21, Michael Below: Was bedeutet diese Absage an den Egoismus? Spaltest Du die Individualität in die gute Selbstentfaltung und den bösen Egoismus? Wie soll dann der böse Egoismus im Zaum gehalten werden?
Ist Egoismus nicht ein notwendiger Bestandteil menschlicher Existenz: Nur wer auf sich selbst achtet, kann selbstbestimmt kooperieren?

(14.1.1) Re: Selbstentfaltungs-Ökonomie..., 06.06.2001, 13:03, Annette Schlemm: Das ist eine gute Frage. Also, ich versuche gar nichts als gut oder böse festzuhalten. Alles ist für den jeweiligen Menschen in irgendeiner Weise „subjektiv funktional“ (so nennt es die Kritische Psychologie). Es hilft ihm, handlungsfähig zu bleiben oder zu werden.
Ich setze voraus, daß niemand „von sich aus“ freiwillig etwas tut, was man dem „bösen Egoismus“ zuschreiben würde. Unter bestimmten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen liegt es aber leider für viele sehr nahe, ihre Handlungsfähigkeit zu erkämpfen und zu erweitern, indem sie „nur an sich“ denken. Ja, die jetzigen gesellschaftlichen Strukturen erzwingen es tendenziell fast: ich kann nur mittels eines Jobs überleben, wenn eine andere diesen Job nicht hat. Deshalb macht ist es in dieser Gesellschaft subjektiv sehr funktional, egoistisch zu sein. Ausgehend von meiner eigenen Erfahrung und vielen Bestätigungen weiß ich aber, daß eine wirkliche Entfaltung meiner Möglichkeiten nur dann gelingt, wenn ich dies nicht auf Kosten anderer tue. Dies meinen wir mit „Selbstentfaltung“.
„Wie soll der böse Egoismus im Zaum gehalten werden? „ Indem strukturell einige Sicherungen vorhanden sind. Der „böse Egoist“ darf strukturell keine Möglichkeit haben, über andere Menschen verfügen zu können. Dann wird er bald alleine dastehen...
„Ist Egoismus nicht ein notwendiger Bestandteil menschlicher Existenz, nur wer auf sich selbst achtet, kann selbstbestimmt kooperieren?“ Ja, wenn Du das „Ausgehen vom eigenen Selbst“ als Egoismus definierst, dann ist genau das notwendig. Ich würde aber das Wort “Egoismus“ als Begriff eher für das verwenden, was in unserer jetzigen Gesellschaft der eigenen Selbstentfaltung sogar entgegensteht, also eher etwas meint, was allem Äußeren nur negativ gegenübertritt. Ich verstehe Max Stirners „Egoismus“ z.B. als notwendigen Befreiungsschlag gegen Vereinnahmungsversuche. Würde aber nicht bei der Vereinzelung stehen bleiben...

(14.1.1.1) Re: Selbstentfaltungs-Ökonomie..., 23.11.2001, 21:54, Stefan Merten: "Alles ist für den jeweiligen Menschen in irgendeiner Weise `subjektiv funktional' (so nennt es [nicht nur - SM] die Kritische Psychologie)." Ja genau. Damit setzt sich jedeR selbst einen Rahmen. "Ich setze voraus, daß niemand `von sich aus' freiwillig etwas tut, was man dem `bösen Egoismus' zuschreiben würde." springst du aber aus diesem Rahmen wieder raus. Es gibt in dieser Sichtweise keinen "bösen Egoismus". Gerade dann, wenn die Selbstentfaltung aller die Voraussetzung meiner Selbstentfaltung ist, dann kann ich mir nur noch selbst schaden oder nicht. Ich kann meine je eigenen Interessen also ganz zwanglos maximieren. "Böse" ist hier die völlig falsche Kategorie.

(14.2) Re: Selbstentfaltungs-Ökonomie..., 16.02.2003, 14:07, Rolf Herzog: Ist Selbstentfaltung hier wirklich der richtige Begriff? Gemeint ist doch eigentlich, eine Einschränkung der eigenen Selbstentfaltung durch den Respekt vor der Selbstentfaltung anderer. Im Grunde ist das ein ethischer Ansatz mit einen Schuß Eigennutz. Um es am Beispiel von Open Source Software zu verdeutliche: Indem ich meine Software unter die GPL stelle, verzichte ich darauf, mein Copyright wahrzunehmen und den letzten Cent aus meinem geistigen Eigentum herauszuquetschen. Dafür gewinne ich die Kooperation mit anderen Entwicklern.
Wenn man nur von Selbstentfaltung spricht, wird der Aspekt der Verzichts zu Gunsten anderer unterschlagen. "Fremdenfaltung" käme meiner Meinung nach der Sache schon näher (wenn auch noch nicht nahe genug, klingt zu sehr nach "Fremdbestimung"). Die buddistische Ethik drückt das m.a. nach ganz gut aus (ich bin kein Buddist, aber warum soll man nicht auch mal dort Ideen klauen):
Die Ethik der perönlichen Befreiung ist der Verzicht auf Dinge, die letztlich nur Leiden verursachen, auch wenn sie zunächst einmal positiv gewandet daherkommen.
Die Ethik der Fürsorge für andere ist im Bhuddismus die eigene Befreiung von der Selbstsucht, könnte aber auch (das ist jetzt eher meine Interpretation) als Hinwendung zur Gesellschaft verstanden werden.
Es gibt hier jedenfalls keine Ähnlichkeit zu dem Theorem von Adam Smith, daß der Egoismus einzelner zum Wohle aller beiträgt.

(14.2.1) Re: Selbstentfaltungs-Ökonomie..., 17.02.2003, 12:59, Benni Bärmann: 1. Es geht nicht um Einschränkung, sondern im Gegenteil um die Ablehnung jeglicher Einschränkung. Es ist nicht wahr, dass man nur durch Einschränkung des Eigennutzes sich selbst entfalten kann, vielmehr beinhaltet wohlverstandener Eigennutz immer die Interessen anderer. Das wollte Annette sagen, wenn sie vom "gesellschaftlichen Menschen" spricht. Ein falscher Eigennutz, der Andere nicht wahrnimmt, ist also in Wirklichkeit ein eingeschränkter Eigennutz und ein selbstentfalterischer Eigennutz ist ein uneingeschränkter Eigennutz.

2. Es geht dabei überhaupt nicht um Ethik sondern um die Wahrnehmung ureigenster materieller Interessen.

3. Wenn man Code unter die GPL stellt, dann verzichtet man nicht auf sein Copyright, sondern nimmt es nur anders war als üblich.

4. Mit buddhistischer oder irgend einer anderen Verzichtsethik hat Selbstentfaltung überhaupt nix zu tun. Es geht eher im Gegenteil um den Verzicht des Verzichts.

(15) Ausgehend von den je individuellen Interessen und Bedürfnissen gehen wir Freie Vereinbarungen ein, um die Dinge gemeinsam zu regeln, bei denen wir jeweils die anderen brauchen. Wie diese Vereinbarungen aussehen, können wir nicht allgemein festlegen. Erfahrungen, wie ohne Geld oder "äquivalenten" Tausch auch hochkomplexe und qualitativ hochwertige Produkte kooperativ hergestellt werden können, können wir aus der Freien-Software-Bewegung entnehmen. Sobald einige Leute für sich wieder Geld einführen, sollen sie das auch dürfen – sie dürfen aber niemals andere Menschen zwingen können, sich dem anschließen zu müssen. (Ausführlichere Darstellungen in den Texten und Diskussionen in www.oekonux.de und bei Gruppe Gegenbilder).

(15.1) 05.06.2001, 22:27, Michael Below: Ich sehe da eine Unklarheit: Entweder die Gesellschaft ist durch freie Vereinbarung bestimmt, dann gibt es kein zentrales Gremium, das Standards vorschreibt. Oder es gibt ein derartiges Gremium, das eine Art "Grundgesetz" wahrt, also die Einführung von Geld verhindert...

(15.1.1) 06.06.2001, 13:05, Annette Schlemm: Warum soll die Einführung von Geld verhindert werden? Wenn eine Anzahl Menschen frei vereinbart, welches nutzen zu wollen, sollen sie das tun können. Sie dürfen nur nicht andere zwingen können, sich beteiligen zu müssen. Und das wird darüber abgesichert, daß keine einzelnen Menschen oder andere Gruppen die Macht haben, über jeweils andere verfügen zu können. Das funktioniert, wenn jeweils jene, die einen Vorschlag (oder eine Anordnung) von anderen nicht mögen, immer gehen können. Dann bleiben die etwas nicht von anderen Gewolltes Vorschlagenden oder Anordnenden schließlich alleine stehen („Abstimmung mit den Füßen“).
(siehe das Konzept der Freien Kooperation von Christoph Spehr).

(15.1.1.1) Gehen können? Freie Kooperation?, 14.06.2001, 17:56, Michael Below: Ja, aber wer sorgt dafür, daß die Menschen gehen können? Zur Durchsetzung dieses Prinzips müßte doch jemand von außerhalb eingreifen... Ist hier das Prinzip der freien Kooperation durch eine Form von Aufsicht durchbrochen? Oder ist das "Gehen können" eher eine moralische Forderung?

... für den "Rest der Welt"?

(16) Dieses Nicht-Festlegen allgemeiner Regeln verweist schon darauf, daß Ökonox sich nicht in die selbstbestimmten Regeln der jeweiligen Menschen einmischen will. Wichtig dafür sind allerdings die "Sicherungen", die ermöglichen, daß wirklich die Menschen über ihr Schicksal und ihre Vereinbarungen frei entscheiden können.

(17)

(20) Fortschritt für die Welt wird nicht mehr mit Wachstum und Industrialisierung und Staat verbunden. Es gibt keine "nachholende" Entwicklung mehr – sondern Eigenständigkeit. "Eine Welt mit Platz für viele Welten" – wie auf einem Treffen emanzipativer politischer Bewegungen von Vertretern der sog. "3. Welt" gefordert, ist geradezu die Grundlage einer globalen Oekonux-Ökonomie.

(21) "Tragfähige Strukturen können nur entstehen, wenn ein globales Netz lokal und regional orientierter Reproduktionseinheiten aufgebaut wird, die sich gegenseitig unterstützen, Erfahrungen, Erkenntnisse und Produktionswissen austauschen und, last but not least, gemeinsam den Widerstand gegen die heißlaufende Verwertungsmaschinerie und ihre barbarischen Zerfallserscheinungen organisieren. Dieser zu entwickelnde Zusammenhang wäre ein breites Erprobungsfeld für neue Formen sozialer Organisation, und in ihm könnte eine dezentral vernetzte und selbstreflexiv bewußte Weltgesellschaft heranwachsen." (Trenkle 1994, S. 56)

Ist Freiheit zynisch?

(22) Eine Kritik an dem Vorhaben, die Erfahrungen der Freien Software für eine Freie Gesellschaft fruchtbar zu machen, äußert C. Fuchs:

"Der Begriff "frei" ist hier außerdem äußerst zynisch und unangebracht, da der Großteil der Weltbevölkerung so arm ist, daß er von Softwareproduktion noch nie etwas gehört hat oder andere Sorgen hat, die sich auf das unmittelbare Überleben beziehen." (Fuchs 2000, S. 151)

Brauchen arme Menschen etwa keine Freiheit? Klar brauchen die Hungernden keine Software zum Sattwerden. Aber dies war auch nie mit "Freier Gesellschaft" gemeint.

Armut

(23) Meiner Meinung nach kann sogar nur unter den Bedingungen freier Beziehungen die Armut endgültig aufgehoben werden. Dafür gibt es zwei Argumente:

(24) Erstens setzt die Selbstenfaltungs-Ökonomie voraus, daß sie nur aus freien Vereinbarungen der Beteiligten erwächst. Das heißt, daß die zur Armut führende Ausbeutung (siehe unten) durch andere nicht mehr vorhanden ist und alle Menschen selbst über ihre Reproduktion/Produktion bestimmen können. Erfahrungsgemäß setzte die übergroße Not für den "Großteil der Weltbevölkerung" nicht deswegen ein, weil sie zu frei gewesen wären, sondern weil sie gezwungen wurden, für den Weltmarkt zu arbeiten oder nach Verlust ihrer Subsistenzbasis "überflüssig" geworden sind.

(25) Zweitens setzt die Selbstenfaltung als Motivation der gemeinsamen Tätigkeit Kräfte frei, die eine höhere Produktivität und Effektivität der Tätigkeit ermöglichen, als wir sie aus Zwangsbedingungen kennen. Nicht umsonst setzen auch moderne Managementmethoden des Kapitals zur Mehrwertsteigerung auf "Selbstverwirklichung im Job" – allerdings zugunsten der Kapitalakkumulation. Die Selbstentfaltung als neuem Zentrum der Produktivkraftentwicklung ermöglicht letztlich insgesamt eine hohe Arbeitsproduktivität und damit die Voraussetzung, daß die "alte Scheiße" (Marx) aufgrund von Mangelbedingungen nicht wieder einsetzt.

Ausbeutung

(26) Der Ausgangspunkt der Selbstentfaltungs-Ökonomie (daß alle Beteiligten aus ihren eigenen Interessen heraus frei verhandeln) und die Regelung, daß niemand anderen Kooperationsregeln aufzwingen können darf, verhindert Ausbeutung. Wie diese Regelung jeweils abgesichert wird, ist auch Thema der Beteiligten und kann nicht im Vorhinein endgültig festgelegt werden. Wichtig ist auch hier die Sicherung, daß jede jederzeit gehen können muß (dann kann auch niemand gezwungen werden, sich ausbeuten zu lassen). Die alte Frage nach dem Eigentum an Lebens- und Produktionsmitteln hat besonders im Übergang eine große Bedeutung. Hier kann die Erfahrung des subversiven Umgangs mit dem Copyright bei der General Public License für Freie Software hilfreich sein.

Ökologie

(27) Menschen haben nicht wirklich das Bedürfnis in einer kaputten Umwelt zu leben. Jahrzehntausende lang konnten Menschengruppen auch unter harten Überlebensbedingungen ihre natürliche Umwelt ökologisch stabil erhalten. Die bereits in der antiken Vergangenheit nachweisbaren eklatanten Umweltschäden beruhten nicht auf Selbstentfaltungsbedürfnissen von Menschen, sondern auf der Durchsetzung herrschaftlicher gesellschaftlicher Verhältnisse (Holzraubbau zum Bau von Kriegsschiffen...).

(28) Unter dem Primat der Selbstentfaltungsbedürfnisse fällt die "kompensatorische" Bedürfnisbefriedigung weg, die heute noch viele unerfüllte Bedürfnisse im sozialen und Selbstentfaltungsbereich in eine eher materiell-konsumistische Richtung orientiert. Die selbstbestimmte freie Verhandlung über die Modi der Bedürfnisbefriedigung ermöglicht eine zwanglose Einbeziehung der Bedürftigkeit nach funktionierender ökologischer Einbindung.

(29) Das sog. Allmendeproblem, daß Einzelne im Eigeninteresse gemeinschaftliche Güter übernutzen würden, taucht dann nicht auf, wenn die als verhandelbare Interessen nur wirklich gemeinsame Interessen auftreten (d.h. wenn niemand andere Beteiligte oder Unbeteiligte erpressen kann oder Zugriff auf sie und ihre Ressourcen hat). Die wirklichen Allmenden haben ja auch nachweislich jahrhundertelang funktioniert, weil jede Person, die sie nutzt, weiß, daß sie sie in Zukunft nur nutzen kann, wenn sie sie mit erhält. Erst wenn diese natürlicherweise gegebene perspektivische Sicht durch Eingriffe zerstört wird, setzt sich der Einzelegoismus durch.

Frauenfrage

(30) Viele Frauen unterliegen derzeit einer mehrfachen Unterdrückung. In vielen von ihnen kommen alle Unterdrückungsformen (Patriarchat in Form von sexueller und direkter familiärer Unterdrückung, ökonomische Ausbeutung in Lohn- und Hausarbeit, ethnische Unterdrückung, ...) zusammen.

(31) Trotzdem hat inzwischen auch die feministische Theorie gelernt, daß auch diese Menschen Individuen sind, deren Übereinstimmungen nicht erlauben, eine die Individualität unterdrückende Einheitlichkeit ("Frau-Sein") zu konstruieren. Das Konzept einer Selbstentfaltungs-Gesellschaft berücksichtigt die Interessen jedes Individuums, egal welchen biologischen Geschlechts, welcher sozialen Geschlechtsidentität und –orientierung (sex, gender, desire).

(32) Die in den am weitesten entwickelten feministischen Konzepten geforderte individuelle Orientierung ist hier gegeben. (siehe auch der Text: Von der Geschlechterfrage zur Selbstentfaltung für jede/n, Schlemm 2001). Für die Selbstentfaltungs-Gesellschaft wird die Beseitigung der Wert-Vergesellschaftung und auch der damit verbundenen Wert-Abspaltung, die eine spezifische Grundlage für das Patriarchat im Kapitalismus und die "Hausfrauisierung" war, beseitigt. Frauen werden nicht mehr "befreit" - bzw. befreien sich - zur besseren Ausbeutung in normaler Lohnarbeit oder Heimarbeit mittels knebelnden Kreditverträgen oder als "kleine Selbständige", sondern zur selbstbestimmten Entfaltung aller ihrer individuellen Potenzen.

Ethnien/Rassismus

(33) Die Zuschreibung biologischer "Rassen" ist schon fachlich falsch – eine auf "Rassen" bezogene Befreiungsbewegung wäre deshalb unangemessen. Rassismus als Unterdrückungs- und Diskriminierung funktioniert dagegen leider sehr real und muß verhindert werden. Nicht nur ideologisch oder moralisch fordernd – sondern in den gesellschaftlichen Strukturen selbst muß eine Bevorzugung von Vielfalt statt Einheitlichkeit angelegt sein. Dies erfüllt die Oekonux-Selbstentfaltungs-Gesellschaft.

(34) Auch die ethnische Vielfalt ist hier fruchtbar – allerdings macht eine Zuschreibung fester Volkszugehörigkeiten nicht viel Zweck. Letztlich bezieht sich dieses Konzept auf die individuelle Selbstentfaltung und wirkt der Zuschreibung – auch der Selbstzuschreibung – fester ethnischer Identitäten eher entgegen. Es macht aber auch keine Vorschriften und verbietet sie auch nicht.

(34.1) 05.06.2001, 23:02, Michael Below: Was ist eine "fruchtbare ethnische Vielfalt"? Ist damit Multikulturalität gemeint, also das dekorative Nebeneinander von ethnisch/kulturell konstruierten Gruppen? Die Fortsetzung des Absatzes klingt so, als wäre das nicht gemeint... Aber der Auftakt ist ein Stolperstein.

(34.1.1) 06.06.2001, 13:07, Annette Schlemm: „Ethnische Vielfalt“ meint jene, die es traditionell in den Gegenden des sogenannten „Trikonts“ jahrtausendelang gegeben hat. Mit allen ihren Konflikten und Konfliktregelungsmechanismen. Es meint natürlich nicht das, was wir hier in den hochindustrialisierten kapitalistischen Ländern als „Multikulti“ kultivieren.

(34.1.1.1) 23.11.2001, 22:09, Stefan Merten: Ethnische Vielfalt gibt es auch um dich herum. Deutschland - und gerade Deutschland! - ist ein Vielvölkerstaat wie er im Buche steht. Erst die Nazis haben da unglaublich viel an regionaler Identität eingeschmolzen - um die Volksgemeinschaft zu erzeugen, die aber als Nationalstaat auch dem Kapitalismus sehr zupaß kam.

(34.2) "Volk" und "Nation", 06.06.2001, 13:11, Annette Schlemm: Zur Problematik der "Völker" und "Nationen" hatte mir Michael Below noch per Mail geschrieben (danke):
"Vielleicht waren die Kategorien "Volk" und "Nation" bei der französischen Revolution tatsächlich brauchbare Hilfskonstrukte, mit denen das Bürgertum begründen konnte, warum der Adel zum Teufel gejagt werden sollte. Schon bei dem Revolutionsversuch in Deutschland 1848 bekam das ganze dann aber einen anderen Beigeschmack, heraus kam schließlich der deutsche Nationalstaat, reaktionär, antisemitisch etc. In Afrika haben die Kolonialmächte ihre Territorien zu Staaten zusammengefaßt. Diese Territorien hatten erstmal wenig mit der Aufteilung der Bevölkerung in Ethnien o.ä. zu tun, das war eher zusammengewürfelt, häufig wurden verschiedene Bevölkerungsgruppen durch Bevorzugung/Benachteiligung gegeneinander ausgespielt. Nach der Befreiung von der direkten Herrschaft der Kolonialmächte haben sich dann grade aus solchen Bevorzugungen häufig Konflikte entwickelt... Alles in allem hat da kein Befreiungskampf eines "Volks" in diesem Sinne stattgefunden, ein homogenes Staatsvolk gab es wohl nicht.(Dazu ist mir grade folgender Artikel untergekommen: Mwayila Tshiyembe, Vom postkolonialen Staat zum Multinationenstaat, Le Monde diplomatique September 2000.)"

(35) Allerdings legt es Wert darauf, daß es letztlich die Individuen selbst entscheiden, wie sie leben. Auch hier hilft wieder die Sicherung: "Jede/r muß können". Es dürfen sich selbstverständlich Frauen dazu entscheiden, im muslimischen Heim zufrieden zu sein. Wenn eine einzelne dies aber für sich nicht möchte, darf sie nicht dazu gezwungen werden können, sondern sie muß gehen können. Wo traditionell die ethnisch oder religiös gebundene Lebensweise auch individuell gewollt wird, wird sie weiter möglich sein – aber geöffnet gegenüber individuellen Wünschen, diese Strukturen zu verlassen. Mehr wollen und können wir dazu gar nicht festlegen...

... und die individuelle Freiheit?

(36) In den ehemaligen Ländern der "3. Welt" wurde oft der vorher koloniale Staatsapparat durch antikoloniale Bewegungen lediglich übernommen. Er wird hier zur Quelle von Korruption, und erfüllt nicht mal die Aufgaben die der bürgerliche Staat in den traditionellen kapitalistischen Industriestaaten wenigstens ansatzweise erfüllt hat (Sozialstaat, Mindestmaß an Demokratie). Nicht nur wegen der Korruption, auch wegen der Funktionslosigkeit verlieren diese seit den Kolonialzeiten aus kapitalistischen Bereichen künstlich eingeführten Nationalstaaten an Bedeutung.

(37) Die vorkolonialen Strukturen setzen sich wieder durch. In Äthiopien zerfiel beispielsweise Mengistus Einheitspartei in 32 Parteien, die sämtlich eine Stammesbasis haben (Breytenbach, Kapuscinski 1994, S. 26).

(38) Leider unterliegt die neue entstehende Vielfalt unter den jetzigen weltwirtschaftlichen Bedingungen extrem harten Konkurrenzbedingungen. Die Rückbesinnung auf das Alte unter diesen Bedingungen erzeugt zum großen Teil kriegerische Auseinandersetzungen, die kein "Rückfall" in vorkoloniale Zeiten sind, sondern eine neue Barbareiform erzeugen.

(38.1) 23.11.2001, 22:18, Stefan Merten: In der Tat scheinen traditionelle Strukturen heute nicht selten zur Stütze irgendwelcher Warlords (Somalia, Afghanistan, andere Modernisierungsruinen, in denen Staatlichkeit de facto nicht mehr existiert und auch nicht mehr zu erwarten ist) zu werden und auf einem nationalen Niveau könnte sich dies in einigen Strukturen krimineller Organisationen widerspiegeln. Kann das ein Hinweis darauf sein, daß ein "Zurück" heute nur noch als noch größere Barbarei stattfinden kann?

(39) Die Konkurrenz darum, wer sich noch von den kapitalistischen multinationalen Konzernen ausbeuten lassen darf, wer seine Ressourcen noch gewinnbringend – oder wenigstens zu einem Preis – verschleudern darf, lässt gemeinschaftliche Traditionen und traditionelle Streitschlichtungsmethoden leider meist in Vergessenheit geraten.

(40) Aus der Sicht von Gemeinschaften ist es schon ein Fortschritt, wenn in einigen Gebieten, wie von den Schwarzen Gemeinden in Kolumbien, festgestellt wird: "Wir können nur frei sein, wenn auch die anderen frei sind".

(41) Gleichzeitig ist das reine Überleben nur in festgefügten Gemeinschaften möglich. Dies wird begleitet von nationalistischen bzw. ethnischen und religiösen Ideologien.

(42) All dies bietet wenig Raum für die von uns in den Mittelpunkt gestellte Individualität. Individualität begegnet den betroffenen Menschen höchstens als Aufforderung zur ökonomischen Selbstverantwortung:""Jeder einzelne in der Gesellschaft muß die Verantwortung für sein eigenes Wohlergehen übernehmen" (Llosa 1997, S. 48). Aus in Gemeinschaft eingebundenen Menschen sollen kapitalistische Marktmonaden werden...

(43) Es sieht nicht gut aus für die von uns gemeinte individuelle Selbstentfaltung. Die "Fixierung auf Gemeinschaft und Negierung des Individuums als Überlebensstrategie" (Winter 1997, S. 219) und die "Selbstbestimmung der Völker" - statt der Individuen - kann für Individuen sehr unterdrückerisch wirken. Allein das Stellen dieser Frage wirft eine Menge Probleme auf...

(43.1) "Selbstbestimmung der Völker"?, 06.06.2001, 13:13, Annette Schlemm: Zu diesem Thema hatte mir Michael Below noch geschrieben:
bloß eine Anmerkung: Das mit der Selbstbestimmung der Völker ist nicht grundsätzlich eine linke Forderung, das will die NPD auch. Zitat aus "Das Ende der europäischen Nachkriegszeit" von Hannes Hofbauer in der alaska zum Kosovo-Krieg, Mai '99: "Ideologisches Kernstück der jugoslawischen Desintegration bildete die These vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, die ohne jedes kritische Hinterfragen als Recht zur Errichtung eines eigenen, ethnisch möglichst homogenen Nationalstaates postuliert wurde. Im gesellschaftlichen Milieu des Balkans, das wußte jeder, der es wissen wollte, konnte diese Zielvorstellung nur in den Krieg führen."

(43.1.1) Re: "Selbstbestimmung der Völker"?, 11.06.2001, 21:34, Annette Schlemm: weiterer Kommentar von Jörg:
Diese Debatte gibt es schon - und sie ist wichtig. Sie wird bereits gefuehrt im Rahmen der Fragen
- Antinationale Politik versus nationaler Befreiungskampf (z.B. in der Frage der Solidaritaet mit PKK, ETA, PLO und anderen - hier gilt bei allen die Solidaritaet gegenueber Unterdrueckungssituation, die Meinungen gehen aber weit auseinander, ob PKK, ETA, PLU usw. wirklich Befreiungsmomente darstellen wuerden. Ich gehoere zu denen, die das bezweifeln, weil eben eine emanzipatorische Entwicklung durch diese nicht befuerwortet wird - siehe auch Regime der PLO).
- Debatte im Rahmen der antineoliberalen Aktivitaeten, vor allem auf Grundlage der Befreiungsbewegung der Zapatistas, die ein ganz anderes Grundanliegen haben, naemlich zumindest auch das Recht auf individuelle Selbstbestimmung.

(44) Literatur:
Breytenbach, Breyten; Kapuscinski, Ryszard (1994): Ist Afrika zu retten? In Wochenpost Nr. 19, 5.Mai 1994, S. 26-27
Fuchs, Christian (2001): Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus, 2001
Gremliza, Hermann, L., (1996): Schöne neue Weltordnung. In: KONKRET 9/96, S. 9
Gruppe Gegenbilder (2000): Freie Menschen in Freien Vereinbarungen – Gegenbilder zur EXPO 2000. Saasen 2000
Ling, Martin (2001): Prima Klima für Katastrophen. 800 Millionen hungern, doch immer mehr Gelder fließen in kurzfristige Hilfen. In: Neues Deutschland 31. Mai 2001
Llosa, Mario Vargas (1997): "Angst vor der Freiheit”. Der Literat und ehemalige peruanische Präsidentschaftskandidat Mario Vargas Llosa über die Globalisierung und ihre Chancen für die Dritte Welt. In: Wirtschaftswoche Nr. 47, 13.11.1997, S. 48-51
Meyer-Stahmer, Jörg (1985): Mikroelektronik, Internationale Arbeitsteilung und Differenzierung der 3. Welt. In blätter des iz3w, Nr. 130, Dezember 1985, S. 18-25
Reinhardt, Dieter (1997): Apokalypse und Weltmanagement. Die enge Verwandtschaft negativer und positiver Utopien. In: blätter des iz3w Heft 221, Mai 97, S. 25-27
Schlemm, Annette (2001): Von der Geschlechterfrage zur Selbstentfaltung für jede/n, in: Internet: http://www.thur.de/philo/feminismen.htm bzw. http://www.opentheory.org/feminismen (2001)
Spehr, Christoph (2000): Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der Freien Kooperation. zugleich Beantwortung der von der Bundesstiftung Rosa Luxemburg gestellten Frage: "Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit vereinbar?", Bremen 2000
Trenkle, Norbert (1994): : Das Ende der zentralen Marktwirtschaft - Vom warenförmigen Gesellschaftsmoloch zur dezentral vernetzten Welt. In: Informatik Forum, Band 8, Nr.2, Wien 1994, Themenschwerpunkt "Telematik und Lebensräume"
Weinrich, Richard (1999): Mail an mich vom 15. Juni 1999
Winter, Jens (1997): Eselsbrücken sind Holzwege. Mexiko, der EZLN und die Chiapas-Solidarität drei Jahre danach. In blätter des iz3w, Februar 1997, S. 10-13

(44.1) 06.06.2001, 13:14, Annette Schlemm: Eine Ergänzung von Michael Below:
Zum Thema Befreiungsbewegungen etc. fällt mir außerdem noch das Buch "Postfordistische Guerilla" von der gruppe demontage ein.

(44.1.1) 13.05.2003, 22:37, Ano Nym: lest heinsohn und steiger: die eigentumstheorie des sogenannten kappitalismus bzw. der sog. marktwirtschsft


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