Home   Was ist ot ?   Regeln   Mitglieder   Maintainer   Impressum   FAQ/Hilfe  

Rolf im Kino

Maintainer: Uli Weiss, Version 1, 16.11.2006
Projekt-Typ: geschlossen
Status: Archiv

(1)

(Personen, Namen und Orte der Handlung sind in all diesen Geschichten ziemlich frei erfunden)

"Also", erklärt mir Rolf, "jeden Tag, wenn ich zur Arbeite gehe, sage ich mir ..."

Halt, die Geschichte von vorn. Mein Freund Rolf müsste nämlich gar nicht arbeiten gehen. Für das, was ihm wirklich wichtig ist, würde das Geld reichen, das seine Frau, die Lehrerin, nach Hause bringt. Mein Freund hat einen Garten. Er liest viel, vor allem Biographien, hat Freunde und von ihm vergötterte Enkel, braucht also keine Arbeit, um sich nicht zu langweilen. Doch Rolf ist ein ordentlicher Bürger mit festen Vorstellungen vom Wert eines Menschen. Nicht arbeiten gehen und das freiwillig so wie ich? Er und seine ganze Umgebung würden es nicht ertragen.

Früher war er mal einem Staat sehr nahe und der ihm. Der verschwand und seitdem steht oder sitzt Rolf sich in irgendwelchen Sicherheitsfirmen den ohnehin angeknacksten Rücken krumm. Seit einiger Zeit wacht er in einer ausländischen Firma weltweit über Vorgänge in Softwarefirmen. Verliert ein Mitarbeiter in Indien seine Chipkarte, wird ihm das ebenso auf seinen Bildschirm gemeldet wie ein Einbruch in ein Bukarester Werksgebäude oder eine Demo vor einer Filiale in Paris. Wurde von übelwollender Seite ein Code geknackt ... - kurz alles, was irgendwie das Geschäft in Hightech-Firmen stören könnte, das landet bei ihm und seinen Kollegen. Dann wird irgendetwas getan oder unterlassen, etwas gesperrt oder geöffnet, weiter gemeldet an irgendjemand, dokumentiert. Zwölfstundenschichten. Alles in Englisch. Das beherrscht mein Freund inzwischen so wie russisch.

Rolf hat auch zu DDR-Zeiten gern über idiotische Anweisungen gemeckert und doch war er immer (fast) ganz Funktion, sozusagen ein Held der Arbeit. Damit hatte er nach der Wende ziemliche Probleme. Irgendetwas ohne innere Anteilnahme zu tun, ohne über Verbesserungen nachzudenken ... schwierig, schwierig. Er kann es auch heute, da es nicht mehr um seine Sache geht, nicht lassen, in dem, was er tut, einen größeren Sinn zu sehen. Arbeit muss ihm einfach mehr sein als eine Möglichkeit zu Geld zu kommen.

War ich mal wieder einen Job los und traf Rolf, so war immer die erste Frage: "Was machst du denn jetzt?"

"Was ich will."

Daraufhin regelmäßig mit mitfühlender Miene die Hoffnung, dass ich bald wieder was finde. Er glaubte nicht, dass ich nicht litt, und erst recht nicht, dass ich zweimal auch selbst gekündigt hatte, letztens "nur", weil ich keine Veranstaltungen mehr organisieren wollte, die ich für unsinnig hielt.

Irgendwann gab Rolf seine nervende Tröstermanie auf. Dafür erschien er mir immer schweigsamer und gebückter. Krank? Ich fand es langsam fies, ihm von dem zu erzählen, was ich nun tun konnte, von meinen Freiheiten. Das machte ihn noch krummer. Und wenn er doch wieder mal über die Idiotie seiner Chefs und der Organisation herzog, fragte ich auch nicht mehr, warum er sich das ohne äußere Not antut. Wir redeten nicht mehr viel.

Jetzt auf einmal tauchte ein geradezu fröhlicher Rolf auf.

"Frührentner oder was?"

"Nein, der gleiche Laden."

"Biste Chef geworden?"

"Da würde ich die ganze Bude auflösen."

Und er erzählte wieder von der völligen Undurchschaubarkeit des Unternehmens, vom Unlogischen im Ablauf, in Verantwortlichkeiten. Alle Mitarbeiter sind in die Rolle von Idioten gedrängt. Ständig wechselnde Leute schwingen Peitschen. Die Spitze dieses Theaters: Meist sehr junge aalglatte Typen von demonstrativer Rücksichtslosigkeit, die, von der Sache ahnungslos, einander völlig widersprechende Anweisungen erteilen.

Die schon bekannte Litanei, doch er erzählt das locker, richtig wohlgemut, so als hätte ihm sein ewig "studierender" Sohn den erfolgreichen Abschluss gemeldet.

Noch verrückter: Rolf hat es fertig gebracht, die Partei, der er immer noch angehört und deren Basisorganisation er zusammenhält, nicht zu wählen.

"Weißt du," erzählt er mir gut gelaunt, "den ganzen Kram braucht doch eigentlich kein Mensch."

"Sag ich doch. Deshalb bin ich raus."

"Nein, ich meine jetzt nicht die Partei. Es geht um diesen Softwarekram. In den Firmen, die wir bewachen, wird Gedudel auf Handys, Werbung, Werbung, Werbung hergestellt, absurdes Zeug."

"Machst du Schluss?"

"Hör mal," Rolf grinst, "du siehst hier einen absolut zuverlässigen Mitarbeiter und das für 6,50 Euro."

"Wie du das aushältst, so ohne Not."

"Ich hab jetzt den Dreh gefunden. Jeden Tag, wirklich jeden, ehe ich aus dem Auto steige, sage ich mir zwei Dinge: Erstens: 'Rolf, nimm das alles nicht ernst.' Und: 'Rolf, die zwölf Stunden hier, das bist nicht du. Du hast damit nichts zu tun.' Geht einwandfrei. Ich darf nur nicht vergessen: Das ist alles Kino."

"Mann, andere müssen dafür noch bezahlen."

"Eben. Und dann ist es ja noch verrückter, da kommt kein Hollywood ran. Ich bin dort der heimliche Papa. Die Leute könnten alle meine Kinder sein. Kaum eine Nachtschicht, in der nicht einer auf meinem Schoß sitzt. Nur wenn die Lackaffen in der Nähe sind, dann sind wir alle per Sie. Fachlich sind die Jungs wirklich Spitze. Steigt bei mir ein Programm aus, kurzer Zuruf und zack läuft das wieder. Aber menschlich sind die so was von unbeholfen! Ist 'ne Freundin auf und davon oder schwanger, geht's die halbe Nacht durch. Die brauchen das Reden wirklich. Man kann über den Osten sagen, was man will. Die dämlichste FDJ-Gruppe war geradezu eine Akademie für soziale Kompetenzen oder wie das heute heißt. Früher haben wir uns in jeden Mist eingemischt. Aussprache, Aussprache ... Jetzt aber - mein Gott, diese ganze Abgrenzungsgeneration - null Lebenserfahrung. Weißt du, wozu die mich gewählt haben?"

"Gewählt?"

"Zum Betriebsrat. Ich konnt's den Jungs gar nicht abschlagen. Und neulich fragt mich auch noch einer, was ich meine, ob er denn auf das Angebot eines gewissen Dienstes eingehen soll. Gerade mich, ich könnte mich zerfetzen."

"Und?"

"Geld, sichere Stellung, jedenfalls solange der Laden noch existiert - dagegen stehen Auflagen, Einschränkungen und so."

"Der Sinn des Ganzen?"

"So eine Frage begreift dort keiner. Das lasse ich sein. Über den Sinn unserer Arbeit reden wir doch auch nicht. Aber sonst, du glaubst ja nicht, wie dankbar mir manche sind, selbst wenn ich ihnen manchmal sage, was sie für'n Mist machen. Wenigstens einer, der zuhört und auch ne' begründete Meinung hat."

"Dir macht das Spaß? Meine Tochter sagte neulich schon: Der Rolf, der sieht aber auf einmal gut aus."

"Wie man's nimmt. Doch wirklich lustig ist das alles nicht. Aber so werde ich wenigstens nicht verrückt."

"Das stimmt, lässt man das an sich ran, wird's oft schnell ernst. Hier diese Frau, eine Jugoslawin, die hat sich das zugemutet."

Rolf nimmt das Buch.

"Brankica Becejac? Eine Schönheit."

"Ja. Seit fünf Jahren tot. Erschlagen von ihrem Mann, der sich dann selbst den Strick nahm. Das Verrückte, diese junge Frau hatte in Geschichten zwingend beschrieben, wie die Verhältnisse das Menschliche töten. Es muss ja nicht gleich so enden, aber man braucht schon Mut, vor dem alltäglichen Wahnsinn nicht die Augen zu schließen."

"Ja. Vor gut 10 Jahren war ich im Theater, Gerhard Hauptmann, Schluck und Jau. Zwei stockbesoffene Penner werden von ein paar Gecken, Aristokraten, ausstaffiert und als Herren behandelt. Wieder nüchtern wissen sie erst nicht wie ihnen geschieht. Sie nehmen aber die Rolle an und ganz schnell sind sie auch genau solche Typen. Das ganze Theater brüllte vor Lachen. Nur ich nicht. Alles wahr. Weißt du wie gruselig das ist, wenn einem das auffällt? Es kann ganz schnell gehen, da drehen ganz normale Leute plötzlich selbst Dinge, die sie heute noch als Verbrechen der anderen anklagen."

"Wir sind Teil dieses Theaters."

"Ja, ich immer zwölf Stunden. Nichts als Kino. ... Ich muss los."

Ein paar Gedanken zu  dieser Geschichte...

(2) ...findest du hier. Dort sind auch Kommentare möglich, hier nicht. Oder erzähle deine Geschichte.


Valid HTML 4.01 Transitional