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Kultur und Erfahrung, eine Neuinterpretation des Kulturbegriffes aus emanzipatorischer Perspektive

Maintainer: Jonathan Stoop, Version 2, 08.10.2008
Projekt-Typ:
Status: Archiv

Zum Kulturbegriff

(1) Kultur ist ein Begriff der sich momentan einer wachsenden Beliebtheit erfreut und im Zusammenhang steht mit aktuellen Fragen wie der der Integration, der Migration, der Weltpolitik, Innenpolitik und Bildungspolitik. So viel auch im öffentlichen Diskurs über Kultur diskutiert wird, so wenig wird darüber diskutiert was Kultur eigentlich ist. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass von Kultur meist in einem Zusammenhang gesprochen wird der mit Kultur recht wenig gemein hat. In Diskursen wie die über „Kulturkreise“, „Leitkultur“ oder gar „Kampf der Kulturen“ wird Kultur fast nie definiert. Ganz selten reicht es dann noch zu puritanischen Definitionen wie Sprachkenntnissen und Verfassungstreue, die sogar im Gegensatz dazu stehen, wie der Begriff im Diskurs verwendet wird, bis hin zu diffusen Aufzählungen, die von Schweinebraten über Goethe bis hin zu den Menschenrechten reichen. Was hinter dieser unwissenschaftlichen Oberflächlichkeit liegt ist offensichtlich. Kultur soll als Ideologie dienen, als Mittel der Abgrenzung, der Ausgrenzung, sowie der Machtausübung nach innen. Abweichungen, Subkulturen und selbst das friedliche Verschmelzen von Kulturen kommen in dieser Definition nicht vor. Kultur ist totes, starres Konstrukt, letztlich Mittel zum Zweck, zur Herrschaft.

(2) Aus der Ablehnung dieses Kulturverständnisses hat sich vor allem in linken Kreisen (vornehmlich aus der Richtung der Wertkritik) eine Gegendefinition entwickelt, nach der Kultur nichts anderes sei als das, wozu sie im öffentlichen Diskurs gemeinhin gebraucht wird, ein Mittel zur Herrschaft. Kultur, so wird gesagt, sei nichts weiter als ein Geflecht aus Normen, Werten und Strukturen, die vom Subjekt selbst, das durch sie unterdrückt wird, noch bereitwillig aufgenommen werden. Auch wenn diese Definition eine gewisse Berechtigung hat, so ergeben sich doch durch sie einige Probleme, denn Kultur, so wie sie im normalen Sprachgebrauch gebraucht wird, hat immer mehr als nur einen Doppelcharakter. Kultur ist Anpassung an, aber auch Autonomie gegenüber der Gesellschaft, sie wirkt identitätsbildend und ausgrenzend, sie ist Geisteskultur und reale Lebensgestaltung, sie ist schließlich das, was uns befreit und gleichzeitig das Produkt der Macht die uns unterdrückt.

(3) Mein Ziel ist es eine Definition zu finden, die diese Doppelcharaktäre auflöst und den Begriff Kultur so wendet, dass er sich im Diskurs emanzipativ gebrauchen lässt. Dies gelingt dieser Definition jedoch nicht. Statt Kultur auf ihren emanzipativen Gehalt zurückzuführen, wird der herrschaftliche Aspekt absolut gesetzt. In gewisser Weise lässt sich diese Definition durchaus emanzipativ gebrauchen, nämlich immer wenn es darum geht Unterdrückung zurückzuweisen, die im Nahmen der Kultur begangen wird (wie es bei der „Leitkultur“ der Fall ist). Leider nur lässt sich diese Definition auch zur Ausübung und Legitimation von Herrschaft gebrauchen (was auch oft genug getan wird). Was zur Abwehr kultureller Diktatur (die letztlich nichts anderes als diktierte Kulturlosigkeit sein kann) völlig legitim ist, lässt sich allzu leicht als Verdammung jeglicher Erfahrung und Geschichte wenden und herrschaftliche Eingriffe in die persönliche Kultursphäre anderer werden als Befreiung legitimiert. Aus der Ablehnung leitkultureller Zugriffe wird eine Leitkultur der Kulturlosigkeit, schließlich der Kulturindustrie, die in letzter Konsequenz als Aufklärung verklärt wird.

(4) Die Kulturdefinitionen, die in der Wissenschaft weit verbreitet sind, kommen auch dem allgemeinen Sprachgebrauch, in dem wir Kultur verwenden am nächsten. Kultur wird hier als die tätige Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt, als Summe an Normen, Werten und Verhalten, oder allgemein als die Weitergabe von Wissen betrachtet. Was diese Definitionen gemein haben ist, das sie sehr weit gefasst sind, fast alles ist Kultur. Besonders problematisch ist hierbei, dass diese Definitionen Kulturindustrie, ebenso wie überlieferte Herrschaftsstrukturen klar zur Kultur zählen. Auch ist der Begriff so weit gefasst, dass sich damit alles und zugleich nichts legitimieren lässt. In einem Sozialwissenschaftlichen Diskurs lässt sich der Begriff so nicht präzise verwenden, er ist so weit, dass er von der Erfahrung abgeschnitten ist und durch seine Allgemeinheit inhaltsleer wird. Dagegen setze ich die Definition, dass Kultur nichtsweiter sei, als die Summe an Erfahrungen, die ein Mensch oder ein Kollektiv innehat. Für diese Definition maßgeblich ist der Begriff der Erfahrung.

Zum Erfahrungsbegriff

(5) Erfahrung betrachte ich, anders als im allgemeinen Sprachgebrauch, nicht als alles was uns widerfährt. Erfahrung ist die tätige Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt. Für sie erforderlich ist zweierlei, Situation und Reflexion. Zunächst muss ich in eine Situation gelangen, aus der ich eine Erfahrung ziehen kann. Diese Situation muss nicht reell sein, es kann sich auch um fiktive Situationen handeln (wie das Nachdenken über ein Problem oder der fiktive Dialog mit einem Buch) ja in gewisser Weise muss die Situation nicht einmal besonders oder einmalig sein (auch wenn dies die Wahrscheinlichkeit einer Erfahrung deutlich erhöht). Wie aus eigentlich jeder Situation Erfahrungen gezogen werden können, so gibt es auch keine Situation, aus der zwangsläufig Erfahrungen gezogen werden müssten. Der maßgebliche Faktor der Erfahrung ist also die Reflexion, die Situation sagt jedoch viel darüber aus, wie leicht es ist daraus eine Erfahrung zu ziehen, die entscheidenden Faktoren dabei sind die Mannigfaltigkeit an Situationen, sowie deren Unmittelbarkeit.

(6) Es ist völlig unklar, was einen Menschen zur Reflexion bringt. Es scheint ein relativ spontaner und autonomer Prozess zu sein, der immer vom Individuum ausgeht. Es ist nicht möglich jemanden zur Reflexion zu zwingen, aber man kann es ihm leichter oder auch schwerer machen. Reflexion läuft grob in drei Schritten ab. Der erste Schritt ist die Erkenntnis (wenn ich auf eine heiße Herdplatte fasse, erkenne ich ziemlich plötzlich, dass es Schmerzen bereitet). Der zweite Punkt ist die Reflexion im engeren Sinne (Die Herdplatte ist heiß und das Hitzeempfinden wird als Schmerz ausgedrückt). Der dritte Punkt ist die Inbezugsetzung zum eigenen Subjekt (Ich möchte keine Schmerzen erleiden, also fasse ich in Zukunft nicht auf heiße Herdplatten). Was in diesem Beispiel sehr banal anmutet, ist der Grundsatz jedes Lernprozesses. Durch Erfahrungen bilden wir unsere Persönlichkeit zu einem ganzen und werden somit erst wirklich zum Handeln (auch in neuen und komplexen Situationen) im eigentlichen Sinne fähig. Jedes Lernen, was nicht über die Schritte Situation und Reflexion abläuft ist reine Indoktrination (Programmierung), das Gegenteil von Bildung und der Feind jedes emanzipativen Geistes. Dieser Prozess muss nicht immer bewusst ablaufen. Gerade unsere Erfahrungen im Sozialverhalten und Spracherwerb sind ein gute Beispiele dafür, dass wir Erfahrungen auch häufig intuitiv machen.

(7) Erfahrungen machen ist also ein autonomer, spontaner, manchmal fiktiver, manchmal unbewusster Prozess, den man zwar fördern aber nie erzwingen, behindern aber nie verhindern kann. Es ist aber auch ein selektiver Prozess. Keine Erfahrung erzwingt eine andere. Kant war dafür wohl eines der besten Beispiele. Einerseits hat er durch seine vehemente Verteidigung der Vernunft gegen allen Aberglauben und Vorurteile einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung geleistet, andererseits war er jedoch blind gegenüber der kolonialistischen Ideologie (die seinerzeit sehr weit verbreitet war).

(8) Erfahrung ist Vorraussetzung für Vernunft, nicht für Intelligenz. Gerade die Inbezugsetzung zum eigenen Subjekt, also die Frage: Was bedeutet das jetzt? Welche Konsequenz leite ich daraus ab? Ist für die Vernunft kennzeichnend. Der Unterschied zwischen Vernunft und Intelligenz liegt darin, dass ein intelligenter Mensch dazu in der Lage ist, innerhalb eines Systems logisch zu denken, ein Vernünftiger Mensch ist darüber hinaus noch dazu in der Lage die Grundregeln eines Systems zu überdenken und notfalls zu verändern. Dass wir in einer Intelligenten, nicht aber Vernünftigen Gesellschaft leben, findet seinen Ausdruck in der von Adorno beschriebenen den Mitteln, nicht aber den Zwecken nach rationalen Gesellschaft. Intelligenz braucht man um erfolgreich zu sein, Vernunft jedoch ist dabei nur hinderlich, denn sie bringt uns zwangsläufig irgendwann in Konflikt mit dem System, in dem wir erfolgreich sein wollen.

(9) Es stellt sich die Frage, ob die Menschen in unserer Gesellschaft zunehmend weniger Erfahrungen machen und woran dies liegen könnte. Eine Einschätzung über die Häufigkeit von Erfahrungen in der Gesellschaft muss immer in gewisser weise subjektiv sein, denn Erfahrung selbst ist nicht testbar, nicht quantifizierbar. Es gibt jedoch Anzeichen, die für eine solche Entwicklung sprechen. Dazu gehören die Zunahme autoritärer Weltbilder, vor allem aber die zunehmende Unfähigkeit zum Handeln im eigentlichen Sinne. Selbst Probleme, die einen direkt betreffen werden nicht angegangen, wenn dafür die bestehenden Strukturen infragegestellt, oder sich außerhalb ihrer Grenzen organisiert werden müsste. Ein Beispiel dafür wäre, dass sich die von der Mehrheit der Studierenden geteilte radikale Ablehnung des Bolognaprozesses kaum in organisierten Widerstandsformen niederschlägt, weil es innerhalb des Systems keine Möglichkeit zur Gegenwehr gibt. Ich halte die mangelnde Bildung(also subjektiv angeeignete Kultur) der Studenten dafür verantwortlich.

(10) Wenn wir aber davon ausgehen, dass immer weniger Erfahrungen gemacht werden, stellt sich die Frage nach den Ursachen für diese Entwicklung. Logisch gesehen kann dies nur bei den Elementen Situation und Reflexion einsetzen. Eine Verarmung der Umwelt im Sinne einer zunehmenden Gleichheit und Mittelbarkeit der Situationen ist zu beobachten. Seinen Ausdruck findet dies in einer Beschleunigung der Lebensläufe, einem Abnehmen in ihrer Widersprüchlichkeit (vor allem in Studienberufen finden sich zunehmend weniger Elemente, die nicht im direkten Zusammenhang zum späteren Berufsziel stehen), vor allem aber in einem Abschmelzen kultureller Freiräume.

(11) Mit einer Verarmung der Umwelt ist das Phänomen aber noch nicht hinreichend erklärt, zumal das Individuum noch immer erheblichen Einfluss auf die Wahl seiner Umwelt hat. Der entscheidende Punkt muss also die Reflexion sein. Ein wichtiger Faktor dabei ist die abnehmende Akzeptanz der Reflexion in der Gesellschaft, was sich auch im bewussten Herunterwirtschaften der reflexionsorientierten Wissenschaften ausdrückt (Geschichte, Soziologie, Philosophie, …). Viel maßgebender ist jedoch die Indoktrination, deren Elemente Politik, Medien und Erziehung sind.

Indoktrination, die Rolle von Medien, Politik und Erziehung

(12) Erstes Element von Bildungsprozessen ist die Verstörung. An einer Situation muss uns etwas merkwürdig, widersprüchlich, besonders oder interessant vorkommen, damit überhaupt erst eine Erkenntnis einsetzen kann. Routine und Vorurteile verhindern jedoch eine Verstörung. Solange am Vorurteil festgehalten wird, ist eine Erkenntnis (und somit folglich auch eine Erfahrung) unmöglich. Politik, Medien und Erziehungssystem fördern, ja verlangen sogar nach Vorurteilen und Stereotypen. Die Medien (das Internet sei hier mal als „demokratischstes“ Medium ausgenommen) tun im Prinzip nichts anderes. Dass Werbung nichts weiter ist als die Propaganda für eine schöne heile Konsumwelt ist, ist seit Adorno allgemein bekannt, denn eine Audiwerbung ist ebenso eine Werbung für alle Autos, wie auch eine Werbung für unsere kapitalistische Gesellschaft in der Autos auf diese Weise beworben, produziert und gefahren werden. Auch Filme und vor allem Serien sind nicht viel mehr als Werbung für eine bestimmte, passive, plakative Art zu leben und zu denken. Was gefördert wird ist die Individualität der Stereotype, ein positivistisches Weltbild.

(13) Jedem Menschen wird eine, mit seiner Position in der Gesellschaft verbundene, stereotype Rolle zugeordnet, die einem dann sogleich als neuster Schrei der Individualität verkauft wird (was von einigen auch als „der Supermarkt der Lebensstile“ bezeichnet wird). Ob nun Bildzeitung, Spiegel oder FAZ gelesen wird, die angesprochene Klientel ist eine andere, aber die vermittelte Botschaft bleibt gleich. Dieses moderne Propagandafeuerwerk findet seinen Höhepunkt in den selbstgefälligen Schauprozessen der Normierungsmacht. Obgleich die Auswahl für ein Beispiel dieser Darbietungen von den Daylisoaps über „zwei bei Kallwas“, „Richterin Barbara Salesch“, „made“ und diversen Kastingshows sehr groß ist, fällt die Endscheidung eindeutig auf „das Model und der Freak“, wo Angehörige von Subkulturen durch gezielte Bearbeitung äußerlich und innerlich auf die Figuren von Seifenopern reduziert werden, wobei keine Möglichkeit ausgelassen wird, jegliche Abweichung von der Norm als Abnormalität zu diffamieren. Nirgendwo sonst tritt das totalitäre und antikulturelle Wesen der Medien und die von ihr (re)produzierte Normierungsmacht stärker hervor.

Politik

(14) Auch die Politik verläuft zunehmend im Klischee. Die Trennung der Politik in die konkreten Lebensverhältnisse und Strukturen der Gesellschaft und den Bereich der „offiziellen Politik“ (also Parteien und Institutionspolitik) ist sehr alt, in letzter Zeit ist jedoch eine zusätzliche Spaltung zu beobachten. Wehrend früher die konkrete Politik frei war vom direkten Einfluss breiter Bevölkerungsschichten, wurde diese wenigstens noch im Wesentlichen allgemein präsentiert und diskutiert (wodurch zumindest manchmal ein indirekter Einfluss über Meinungsbilder möglich wurde). Die Aufgabe der Parteien war es dabei Vorschläge über bestimmte politische Programme zu machen (die sich natürlich alle auch immer in einem bestimmten Rahmen befanden) und aufgrund dieser Programme (und den mit diesen verbundenen Wertvorstellungen) wurden die Parteien gewählt. Spätestens seit der Regierung Schröder hat sich dieses Verhältnis jedoch geändert. Ähnlich wie die große Industrie, die teilweise keine Produkte, sondern lediglich noch Marken (oder „ein Lebensgefühl“) verkaufen, verschwindet das konkrete Programm zunehmend aus der öffentlichen Diskussion. Statt dessen schmücken sich die großen Parteien mit Persönlichkeiten (die auch zunehmend flach oder plakativ werden) und mit „gefühlten Positionen“, also Klischees. Wenn eine eindeutig sozialdemokratische Partei wie „die Linke“ als kommunistisch bezeichnet, oder eine Senkung der Realrente von etwa 1.1 (statt geplanten 2.2) als gefährlicher Linksruck und Gefahr für die wirtschaftliche Funktionsfähigkeit Deutschlands angesehen wird, erinnert das doch sehr stark an orwellschen „Neusprech“. Die Sprache der Politik trennt sich von der Erfahrungswelt und wird selbst zur zynischen Karikatur der bezeichneten Politik.

(15) In diesen Zusammenhang sind auch die von Politik und Medien geschürte „gefühlte Terrorgefahr“ einzuordnen, die in keinem Verhältnis zur realen Bedrohung steht, sowie die unglaubliche Unverschämtheit Besatzungskriege damit zu rechtfertigen, dass man den Menschen die Aufklärung bringe(diese gewaltsame Kantianisierung wird ironischerweise gerne von radikalen Religionskritikern gefordert). Mit realen Diskussionen über Politik hat das jedenfalls recht wenig zu tun. Das eigentliche politische Programm flüchtet sich in die „Sachzwänge“, die von eben jener Politik selbst erzeugt wurden. Wenn jetzt noch bedacht wird, dass ein politisches Jahrhundertwerk wie die europäische Verfassung vollkommen undiskutiert durch das politische System wandert wird klar, dass Politik keine Gestaltung der realen Lebensbedingungen mehr ist, sondern als intellektuelle Seifenoper nur noch zur Bildung von Pseudoindividualität dienen und die Tatsache verdecken soll, dass Freiheit nur noch die Freiheit zur Unterwerfung unter die Gesellschaftsmaschiene ist .

Pädagogik

(16) Die Pädagogik hingegen war schon immer die Kunst der gesellschaftlichen Zurichtung. Stets war sie das erste Element der Vergesellschaftung gewesen, die Esse in der der zukünftige Gesellschaftskörper geschmiedet wird, ein Rädchen im Getriebe der großen Maschine. Die moderne Pädagogik entstand zu Begin der Industrialisierung deren Grundlage sie bildete. Aus Bauernkindern und Landstreichern, Schöpfungen einer Subsistenzwirtschaft, sollten Industriearbeiter und Soldaten werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die preußische Schulreform zu Beginn des aufgeklärten Absolutismus. Das zentrale Element dieser Reform war die Disziplin, die gebietende Macht. Jeder Gedanke, jede Bewegung sollte festgeschrieben werden, die Nähe zu dieser praktischen Norm war der Lernerfolg. Jeder Körper wurde geschliffen, bis er perfekt hinein passte in das große Getriebe der Macht. Die Macht selbst war produktiv, sie erbrachte Leistung, sie vermehrte ihre eigenen Kräfte und die Kräfte ihrer Körper.

(17) Diese Produktivität ist jedoch immer schon zweckgebunden gewesen. Mag der präzise Drill einer SoldatIn ihre Fähigkeiten zum Töten auch noch so steigern, auf fast alle anderen Bereiche wirkt er sich negativ aus. Die Zeit und Energie, die sie zu einem Tötungswerkzeug macht, hätte sie für etwas anderes aufbringen können, die emotionalen Zurichtungen, die zum Soldatenleben gehören verhindern viele andere Formen zu leben. Deshalb braucht die gebietende Macht (Disziplinarmacht) auch immer die verbietende Macht (Souveränität), die alle Alternativen verhindert. Erst wenn dem Menschen zum Leben keine Alternativen mehr bleiben, als sich mit der Macht die ihn zurichtet zu identifizieren, wird die Produktivität der Macht auch für ihn rational und er selbst wird zum Profiteur der Gesellschaftsmaschiene, von der sein Leben abhängt.

(18) Die meisten Bestrebungen der modernen Pädagogik, sich von der Disziplinarmacht zu entfernen, lassen sich den gouvernmentalen Praktiken zuordnen. Mit den Mitteln der Souveränität wird ein Raum erstellt, in dem sich die durch die Disziplin vorgefertigten Individuen, frei aber gemäß den vorgefertigten Regeln und Voraussetzungen entwickeln. Auch wenn es auf den ersten Blick nach einer humaneren, sparsameren Machteinwirkung aussieht, als die der Disziplinarmacht, wird durch die Gouvernmentalität die Eindringtiefe der Macht erhöht. Die Disziplinarmacht ist immer gegen das (autonome) Handeln des Individuums gerichtet. Die Disziplinarmacht ist unidentisch mit dem Individuum, das sie erleidet. Die Gouvernmentalität hingegen ermöglicht das Handeln nicht nur, sondern fordert es geradezu, nimmt es für sich in Beschlag. Das Handeln kann jedoch nur auf der Basis der von der Disziplin vorgefertigten Individuen geschehen und muss sich immer im Rahmen der von der Souveränität erstellten Regeln abspielen. Aus diesen zwei Grundsätzen ergibt sich eine Logik des eindimensionalen Handelns und jede Handlung, die diese Logik akzeptiert oder voraussetzt reproduziert die Machtverhältnisse.

(19) Kultur jedoch braucht immer die Tendenz des qualitativ anderen. Nur Handeln, das sich gegen die Gesellschaft richtet, sie negiert oder über sie hinaus reicht, ist Kultur. Kultur ohne Widerstand ist demnach ebenso unmöglich, wie Widerstand ohne Kultur.

(20) Wir sind mit Stereotypen und Routinen so überfrachtet, das sich damit tatsächlich fast jedes Problem lösen (oder gekonnt ignorieren) lässt. Es kommt kaum noch zur Verstörung. Auch soziale und politische Probleme lassen sich wunderbar in der Routine der Stereotype lösen. Wir haben mittlerweile ein Ausmaß an selbstverschuldeter Unmündigkeit erreicht, das weit über das von Kant festgestellte Maß hinaus geht. Das Leben selbst wird zur Farce, gleicht sich den Seifenopern aus Medien und Politik immer mehr an. Jeder Mensch wird zum Rädchen im Getriebe der schönen Maschine der Macht.

Kultur, Erfahrung und Kollektivität (entfällt aus Zeitgründen)

(21) Um das wirklich auszugestalten fehlt mir momentan leider die Zeit. Ich freue mich aber über jede Anregung zu dem Thema und werde den Teil irgendwan nachreichen, wenn ich mehr Zeit habe.

Barbarei und Kultur

(22) Betrachtet man Barbarei als das Gegenteil von Kultur, muss ihr Wesen aus der völligen Abwesenheit von Erfahrung bestehen und zudem das Entstehen von Erfahrungen verhindern. Wo Barbarei ist, da ist keine Erfahrung, keine Bildung und keine Kultur. Barbarei gibt es in zwei verschiedenen Varianten. Als Ausdruck reiner Natur, also tierischer Instinkte, sowie als Ausdruck kalter rationaler Machtstrukturen. Sinnbild für den Sieg tierischer Instinkte über den Menschen ist jede Form von Sexualverbrechen. Der Mensch verleugnet seine Kultur und reduziert sich somit selbst auf ein viehisches Wesen. Die weitaus grausamere, unmenschlichere und gefährlichere Form entspringt jedoch den blanken Machtstrukturen. Dieses Prinzip fand seinen Höhepunkt in der bisher schlimmsten Ausprägung der Barbarei, dem organisierten, technisierten und aufs äußerste rationalisierten Völkermord. Gerade diese Form der Barbarei ist jedoch zur Zeit in unserer Gesellschaft wieder im Aufstieg.

(23) Das offensichtlichste Zeichen dafür findet sich in der Barbarisierung der Sprache. Dass es in deutschen Firmen den Posten eines „human resources manager“ gibt spricht in meinen Augen weniger für eine (schadhafte) Anglisierung der deutschen Sprache, als für ihre Barbarisierung. Begriffe wie Skateboard, Mail oder Hacking sind fest in die Sprache integriert und mit vielfältigen Erfahrungen verbunden. Gerade die kulturell hoch aktiven Subkulturen bedienen sich vieler Begriffe aus der englischen Sprache. Begriffe wie „Humankapital“ oder „Bestandsausländer“ (Asylrecht) sind gute Beispiele für barbarische Begriffe aus der deutschen Sprache. Kennzeichnend für diese barbarischen Begriffe sind neben der Abwesenheit von Erfahrung, dass sie hochlebendige, kulturell sehr aktive Aspekte, wie Bildung oder ausländische Mitbürger verdinglichen und auf ökonomische/rationale Funktionen reduzieren. Die Sprache ist jedoch nicht nur Kennzeichen einer Barbarisierung, sondern auch ein Element in dem sie vollzogen wird. Das Humankapital ist etwas anderes als Bildung. Der Bestandsausländer ist nicht mehr der ausländische Mitbürger. An jeden dieser Begriffe ist ein Diskurs angeschlossen, der das bezeichnete Subjekt erst erschafft und gleichzeitig einen anderen Diskurs verdrängt (Bildung, Menschenrechte).

(24) Seinen schlimmsten Ausdruck findet die Barbarei allerdings in der radikalen Einteilung von Menschen nach machtökonomischen Kriterien in nützlich oder unnütz. Das geht so weit, das einer bestimmten Gruppe von AusländerInnen in Europa jegliche Menschenrechte abgesprochen werden. AsylbewerberInnen werden in kleinen Landkreisen festgehalten, das Recht auf Arbeit wird ihnen verweigert, ebenso wie das Recht auf Öffentlichkeit und Partizipation. Eine wachsende Gruppe von illegalisierten ArbeiterInnen sind, von ständiger Abschiebung bedroht, sämtliche Rechte entzogen. Der an afrikanische Staaten abgetretene Grenzschutz agiert grausam und willkürlich.

(25) Wie im Faschismus wird in eine rechtlich geschützte innere und eine weitgehend rechtlose äußere Gruppe eingeteilt. In weit stärkerem Maße, als es im Faschismus ausgeprägt war, gibt es in unserer Gesellschaft in der inneren wie äußeren Gruppe eine Hierarchie der Rechte. Menschen mit „geringer Qualifikation“ haben kein Recht auf Arbeit (was als Menschenrecht zugegebenermaßen von Deutschland auch immer konsequent ignoriert wurde). Mit dem recht auf Arbeit sind aber auch eine Reihe anderer Rechte verknüpft. Das Recht auf kulturelle Partizipation wird verwehrt (in jedem Hartz 4 Wahrenkorb befindet sich zwar ein Fernseher aber in keinem eine Opernkarte), das Selbe gilt für das Recht auf faktische Freizügigkeit. Theoretische Freizügigkeit ist ohne jede Bedeutung, solange die faktischen Mittel nur einer Minderheit die Möglichkeit geben diese auch zu nutzen. Die Begrenzung an Ressourcen sorgt dafür, dass theoretische Rechte faktisch nicht wahrgenommen werden können.

(26) Menschenrechte dienen als politische Ideologie. Obwohl sie eigentlich der Definition nach universell gültig sein sollten, kommen sie tatsächlich nur einer Minderheit zugute. Was diese Ideologie der Rechte, oder Ideologie der Freiheit verdecken soll ist das grundsätzliche machtökonomische Funktionsprinzip der Gesellschaft. Das ist die wahre Barbarei, die völlige Abwesenheit von Freiheit im Funktionskörper einer ökonomisch rationalisierten Maschinerie.

Kampf den Kulturen

(27) Betrachtet man distopische Literatur aus der Perspektive der Kultur, lassen sich einige Gemeinsamkeiten finden. Jede der zukünftigen Gesellschaften hat es geschafft Kultur fast vollständig auszuschalten und dadurch eine sehr stabile Form anzunehmen. In „The Time Machine“ verrotten die Bücher ungelesen und vergessen vor sich hin, in „Fahrenheit 451“ werden sie sogar verbrannt (was aber eigentlich verbannt werden soll ist die Kultur), in Huxleys „brave new world“ wird die Kultur verdrängt durch das verabsolutierte Streben nach dem (staatlich verordnetem) Glück und in Orwells „1984“ macht ein totaler Überwachungsstaat jede Entstehung von Kultur unmöglich. „Brave New World“ und „1984“ stehen dabei für eine planwirtschaftliche Variante(und eine Disziplinartechnologie), wehrend „the time maschine“ und „Fahrenheit 451“ die Entwicklung aus einer marktwirtschaftlichen Perspektive (unter gouvernmentalen Bedingungen) beschreiben. In all diesen Beispielen geht die Ausschaltung von Kultur mit der Unmöglichkeit einher das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Handeln im eigentlichen Sinne wird selbst für die Protagonisten extrem schwierig.

(28) Auch bei allen historischen totalitären Staaten ist ein Bestreben zu erkennen, Kultur unter Kontrolle zu bringen (und dadurch zu vernichten). Die Bestrebung Kultur manipulieren, kontrollieren und letztlich aus zu schalten, kann als einziges wirkliches, notwendiges und hinreichendes Erkennungsmerkmal für Totalitarismus angesehen werden. Wie Herbert Marcuse in „der eindimensionale Mensch“ aufzeigt, hat die „offene Gesellschaft“ jedoch längst ihre eigene Form des Totalitarismus entwickelt und jegliche Kultur zum Feind erklärt.

(29) Die Indoktrination vermittelt dazu eine auf allen Kanälen abgestrahlte eindeutige Botschaft „There is no altenative“ (TINA). Dies ist jedoch nichts anderes als ein kollektives Denkverbot sowohl über die Folgen und Ziele unseres Sozioökonomischen Systems als auch über jede mögliche Alternative. Jede Praxis und jedes (auch sprachliches ) Handeln wird sofort mit der Aufforderung zur Konstruktivität geschlagen. Ein Nein zum System (also auch die Grundvoraussetzung für ein ja zu einem anderen System) ist undenkbar geworden, was der Erfolg einer absoluten Propagandamaschine ist.

(30) Es gibt schlichtweg keine Alternative zum negativen Denken. Alle, die überhaupt etwas anderes wollen als dieser Gesellschaft beim Funktionieren zuzusehen, haben das selbe Ziel, die materiellen Verhältnisse dahingehend wandeln, dass gesellschaftliche Alternativen wieder denkbar, wieder möglich werden. Dies schließt jedoch die Entwicklung von Praxen und Zusammenhängen in denen wirkliche Alternativen entwickelt werden können ebenso ein wie die schlichten materiellen Voraussetzungen. Es sollte eigentlich jedem Demokraten klar sein, dass Grundvoraussetzung für Demokratie wirkliche Alternativen sind zwischen denen gewählt werden kann. Gibt es diese Alternativen nicht verewigt sich Demokratie zu einem demokratisch legitimierten Totalitarismus.

(31) Freiheit und Mannigfaltigkeit an Situationen, die Voraussetzung für Erfahrung (und somit auch für jeden Bildungsprozess) sind, setzen nicht nur die Abwesenheit von direktem Zwang, sondern auch Möglichkeiten voraus. Dies schließt zwar materielle Voraussetzungen ein, bedeutet aber vor allem die Notwendigkeit kollektiver Formen. Es mag ein wenig merkwürdig klingen in einem Essay über einen individualisierten Kulturbegriff ein Plädoyer für Kollektivität zu finden. Tatsächlich geht es aber kaum ohne. Auf uns allein gestellt ist unsere Möglichkeit Erfahrungen zu machen extrem eingeschränkt. Wir bleiben auf unsere eigenen Lebensumstände beschränkt und zugleich fehlt uns auch einfach die Macht einige Dinge mal auszuprobieren. Kultur entsteht immer aus der Subjektiven Perspektive entfalten aber kann sie sich nur in kollektiven Zusammenhängen. Wichtig für diese kulturellen Freiräume ist in jedem Fall, das sie auf der Basis von Freiheit und Gleichheit der Individuen aufgebaut sind, ein freier Handlungs und Kommunikationsraum für Menschen und nicht für Strukturen.

(32) Durch Kulturindustrie und repressive Toleranz (jede Meinung ist erlaubt, aber nur Meinungen, die im Einklang mit dem System stehen haben auch die Machtmittel sich Gehör zu verschaffen) wird jede Kultur und jede mögliche Alternative sofort unterdrückt. Wir befinden uns längst in einer Gesellschaft demokratisch vermittelter Totalität, die recht wenig mit der freien, gleichen und brüderlichen Gesellschaft zu tun hat, die seit der französischen Revolution das Ziel jeder sozialen Bewegung war. Wenn wir uns aus dieser Situation befreien wollen, brauchen wir (widerständige) Kultur, die zumindest implizit immer eine Kultur des Widerstands sein muss denn:

(33) „Die Konkretisierung der Mündigkeit besteht darin, dass die paar Menschen, die dazu gesonnen sind, mit aller Energie darauf hinwirken, dass die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist.“ (Adorno, Theodor W. „Erziehung zur Mündigkeit“)


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