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Uli und der unmögliche Sozialismus

Maintainer: Werner Imhof, Version 1, 03.12.2001
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) In den "Notizen zum Schwarzbuch des Kapitalismus" (bei Zitaten im Folgenden abgekürzt als I) und im Anhang ("Etwas Theorie") zu den "Liedern der Arbeit" (II) hat Uli - anknüpfend an Gedanken, die er schon in "Marx und der mögliche Sozialismus" (in der Fassung der "Materialien zur KW 48/99" [III] wie in der überarbeiteten Fassung in "Utopie kreativ" Heft 120 [IV]) formulierte - eine Perspektive entwickelt, die vollkommen quer liegt zu dem, was bisher Konsens schien: daß die mögliche Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise nur Realität werden kann, wenn die Masse der Lohnabhängigen sie selbst will und durchführt. Ob die Geschichte tatsächlich einmal dahin gelangen wird, kann niemand von uns mit Gewißheit sagen. Aber diese Ungewißheit hat uns nicht davon abgehalten, uns im Sinne dieser Möglichkeit, der emanzipatorischen Option der Geschichte, zu engagieren, bisher vornehmlich durch theoretische und historische Reflexion, aber ansatzweise auch durch die Sondierung zukunftsträchtiger Momente und Ideen in den aktuellen sozialen Bewegungen. Doch Uli meint nun, angesichts der "tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung" "die Befähigung der Proletarier als Klasse zur revolutionären Umwälzung in Frage stellen" zu müssen (II, 7).

(2) Als aktuelle Zustandsbeschreibung ist eine solche Feststellung (auf die Art und Weise, wie Uli sie begründet, komme ich später) natürlich ebenso unbestreitbar, wie sie als Skepsis gegenüber der künftigen Entwicklung legitim ist. Es wäre umgekehrt nach dem Fiasko des historischen Kommunismus nur noch lächerlich, wenn wir als zukunftsgewisse Propheten einer "historischen Mission der Arbeiterklasse" auftreten würden. (Mission heißt Sendung, Auftrag, Berufung; und wer "sendet", "beauftragt", "beruft", ist natürlich immer der Prophet selber.) Doch Uli macht aus der gebotenen Zurückhaltung eine negative Prophetie. Auch das wäre ja noch nichts "Verwerfliches". Schließlich beherrscht der Glaube an die "Letztinstanzlichkeit der kapitalistischen Produktion" (Engels) auch die Masse der Lohnabhängigen selbst, und der bisherige Geschichtsverlauf scheint ihm ja auch recht zu geben. Nur ist das ja gerade nicht Ulis Auffassung, versteht er sich doch als Fürsprecher eines (oder des) "möglichen Sozialismus". Und dennoch meint er: "Die Begründung einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft kann gerade auf der ökonomischen Grundlage, auf der sie einzig erfolgreich sein kann, nicht in den Formen des proletarischen Klassenkampfes gedacht werden bzw. praktisch vor sich gehen." (II, 8)

(3) Nun ist die "Begründung" einer solchen Gesellschaft aber undenkbar ohne die Aneignung der gesellschaftlichen Produktionsmittel durch die assoziierten (sich assoziativ organisierenden) Produzenten (als "Prosumenten"), um die gesellschaftliche Arbeit auch gesellschaftlich, also ohne Markt- und Geldbeziehungen, organisieren zu können. In den traditionellen Formen (und Etappen) des proletarischen Klassenkampfes, d.h. als (womöglich blutige) Machteroberung einer organisierten Avantgarde zur Installation staatssozialistischer Produktionsverhältnisse, ist eine solche Aneignungsbewegung allerdings schlecht vorstellbar. Ich kann sie mir nur vorstellen als breiteste Massenbewegung, die die ideelle Hegemonie des Privateigentums und damit auch des Geld- und Kapitalfetischs abgeschüttelt hat, dadurch zur unwiderstehlichen Macht geworden ist und große Teile der nichtarbeitenden Bevölkerung mit sich reißt. Und doch bliebe sie eine Form des Klassenkampfes, die die Vereinigung der bisher zersplitterten Lohnabhängigen (oder doch ihrer großen Mehrheit) als oder zur Klasse voraussetzt, allerdings nicht, um sich als herrschende Klasse zu etablieren, sondern um sich ebenso wie die Bourgeoisie als Klasse aufzuheben und damit auch alle Klasseninteressen. Und kein "höh'res Wesen" könnte ihnen diesen Prozeß abnehmen.

(4) Ulis Urteil über die emanzipatorische Unfähigkeit der "Proletarier als Klasse" führt in ein offensichtlich (sollte man meinen) auswegloses Dilemma. Wenn sein Urteil begründet ist und bleibt (und nicht von der Geschichte falsifiziert wird, denn endgültig verifizierbar ist eine negative Prophetie ja nie), dann muß umgekehrt auch der "mögliche Sozialismus" ein Ding der Unmöglichkeit bleiben - vorstellbar allenfalls als Werk eines Stellvertretersubjekts, das imstande sein müßte, die "zur revolutionären Umwälzung" unfähigen Proletarier zu "kommunistischer" Arbeit (und Verteilung) zu zwingen, zu erziehen oder zu verführen, da sie ja nicht einfach aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden könnten, die Gesellschaft auch als "sozialistisch-kommunistische" vielmehr auf ihre Arbeit angewiesen bliebe. Das ist nun allerdings etwas, was Uli selbst nicht will. Und die Geschichte hat gezeigt, daß eine "Erziehungsdiktatur" alles mögliche zustande bringen kann, nur nicht die Aufhebung von Markt, Geld und entfremdeter Arbeit. Gesellschaftliche Produktion ist nur möglich mit (selbst- )bewußten gesellschaftlichen Produzenten. Gesellschaftliche Produktion gegen den Willen oder auch nur gegen eine gleichgültige, teilnahmslose Mehrheit der Produzenten ist eine contradictio in subiecto.

(5) Wieso kann Uli trotzdem vom "möglichen Sozialismus" sprechen? Die Möglichkeit ergibt sich für ihn aus der technischen Entwicklung, die zur Verwissenschaftlichung oder "Vergeistigung" der Arbeit führt, die "Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit" aufhebt (II, 9) und damit auch die Lohnarbeit, als "Herr-Knechtschaftsverhältnis" (ebd.), aufhebbar macht. Diese Auffassung ist aber empirisch und theoretisch nicht haltbar. Von einer Aufhebung des Gegensatzes zwischen körperlicher und geistiger Arbeit kann derzeit keine Rede sein. Während der Anteil der wissenschaftlichen und hochqualifizierten Arbeit an der Lohnarbeit wächst (die Wissenschaft zunehmend dem Kapital subsumiert wird), bleibt ein großer Teil der Lohnabhängigen weiterhin zu einfacher und oft geistloser Arbeit verurteilt; in Deutschland haben fast 10 Millionen Lohnabhängige keinerlei Berufsausbildung, und der Analphabetismus nimmt zu. Die Trennung von geistiger und körperlicher (oder qualifizierter und einfacher) Arbeit ist zwar eine Form der Entfremdung, aber keineswegs die primäre und schon gar nicht die Grundlage der Lohnarbeit. Uli "vergißt" das Wesentliche: das Privateigentum an den Produktionsmitteln, das den Produkten Wert- und Kapitalform aufzwingt, die den Menschen (auch den Kapitalisten) als selbständige, sachliche Macht gegenübertritt und die Lohnarbeit als ihre scheinbare Naturbedingung reproduziert (die auch längst nicht mehr notwendig die Form einer persönlichen Knechtschaft annehmen muß). Das ist der Kern der "menschlichen Selbstentfremdung", von der Marx schon in der "Heiligen Familie" spricht (aus der Uli meint, seine negative Prophetie herleiten zu können). Und was sie aufhebbar macht, ist nicht die vermeintliche "Vergeistigung", sondern die Vergesellschaftung der Arbeit, die Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der mit ihr verbundenen Verkehrs- und Kommunikationsmittel, die das Privateigentum an Produktionsmitteln überflüssig und hinderlich machen. Die Zunahme der wissenschaftlichen Lohnarbeit kann die Infragestellung des Privateigentums, jedenfalls des geistigen Eigentums, erleichtern (Anzeichen dafür erleben wir schon). Aber die Aufhebung der Lohnarbeit ist nur möglich, wenn die wissenschaftlichen Arbeiter sich mit den weniger und den gar nicht qualifizierten Arbeitern zur Aufhebung des Privateigentums vereinigen.

(6) Eben das aber schließt Uli aus, wenn er die "Befähigung der Proletarier als Klasse zur revolutionären Umwälzung" verneint. Zur immer noch offenen Frage, wieso er dann trotzdem vom "möglichen Sozialismus" sprechen kann, kommt nun eine weitere hinzu: Wie paßt für ihn die emanzipatorische Unfähigkeit der "Proletarier als Klasse" zusammen mit der behaupteten Verwissenschaftlichung der Arbeit als "der ökonomischen Grundlage, auf der sie (die Begründung einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft) einzig erfolgreich sein kann"? Ulis Antwort: Eine bestimmte Kategorie von Proletariern ist von diesem Prozeß ausgeschlossen, die Kategorie des "unmittelbaren Produzenten", womit er die im "direkten Fertigungsprozeß" Tätigen meint (vgl. I, 18). "Die tayloristisch- fordistische reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital treibt die von Marx beschriebenen Reduktionen der Persönlichkeit des unmittelbaren Produzenten voran. Auf dieser Basis werden auch die Fähigkeiten vernichtet, die zu freier Selbstbetätigung führen könnten." (II, 7)

(7) Uli selbst betreibt hier mehrere Reduktionen, die die Wirklichkeit entstellen. Er reduziert 1. die kapitalistische Produktion auf den Typus der fordistisch- tayloristischen Massenproduktion, die tatsächlich immer nur ein Teilbereich der gesellschaftlichen Gesamtarbeit war; alle anderen Produktionsbereiche sind ausgeblendet. Er reduziert 2. die "Persönlichkeit des unmittelbaren Produzenten" auf die beschränkte Rolle, die ihr in der "direkten Fertigung" zugewiesen ist, obwohl er selbst weiß, daß auch Fabrikarbeiter, die zur stupidesten Arbeit gezwungen sind, in ihrer freien Zeit kompensatorische Fähigkeiten und Neigungen entwickeln. Er übergeht 3., was er ebenfalls weiß, daß die kapitalistische Produktionsweise selbst Tendenzen entwickelt, die der Reduktion des "unmittelbaren Produzenten" auf ein dressiertes Maschinenanhängsel entgegenwirken, etwa die begrenzte Nutzung sozialer und technischer Kompetenzen im Rahmen der Lean Production oder den immer häufigeren Arbeits(platz)wechsel. Vor allem aber reduziert er 4. die "unmittelbaren Produzenten" auf eben ihre Rolle als unmittelbare Produzenten, die dem Einzelkapital und der Maschinerie untergeordnet sind, und schneidet sie von allem ab, was gerade ihre potentielle Stärke ausmacht: daß jeder "unmittelbare Produktionsprozeß" (der bei Marx nicht auf die "direkte Fertigung" reduziert ist, sondern die gesamte Produktion unter Regie eines Einzelkapitals umfaßt) gesellschaftlich "vermittelt", Teil des gesellschaftlichen Produktionsprozesses ist; daß die "unmittelbaren Produzenten" also in Beziehung stehen nicht nur zu den "mittelbaren" Produzenten des "eigenen" Betriebs (in Forschung und Entwicklung, Arbeitsvorbereitung, Instandhaltung, Materialwirtschaft und Logistik, Vertrieb, Ausbildung, verschiedensten Dienstleistungen), sondern auch zu den Produzenten vieler anderer, liefernder und beziehender, Betriebe, nicht zuletzt zu den Endverbrauchern, und daß sie diese Beziehungen ohne trennendes Privateigentum und ohne "Dazwischenkunft" des Geldes gemeinschaftlich selbst organisieren könnten. Aber der Begriff der gesellschaftlichen Arbeit ist Uli fremd (ebenso wie ihre eigentümliche Erscheinungsweise als Wertform der Produkte). Und die Arbeitsteilung (zwischen betrieblicher und gesellschaftlicher unterscheidet er nie) kommt bei ihm nur als knechtendes Verhältnis vor, nicht aber als die ökonomische Grundlage sozialer Befreiung...

(8) Nach dieser mehrfachen Reduktion konfrontiert er dann die "unmittelbaren Produzenten" mit - dem abstrakten Ideal der "freien Selbstbetätigung", um festzustellen, daß ihre Fähigkeiten dazu "vernichtet" werden (nebenbei, ohne zu verraten, welche das denn sein sollen - angeborene oder wann wo erworbene?). Die "freie Selbstbetätigung" aber ist, Entschuldigung, eine idealistische Phrase, die weder berücksichtigt, daß eine neue, gesellschaftliche Produktionsweise von den vorgefundenen, vom Kapitalismus hinterlassenen Bedingungen auszugehen hätte, noch den Umstand, daß auch in der entwickeltsten kommunistischen Gesellschaft die Arbeit ein "Reich der Notwendigkeit" bliebe. Zum einen ist die Arbeit als Stoffwechsel des Menschen mit der Natur immer Naturgesetzen unterworfen, die der Mensch bestenfalls beherrschen, d.h. ausnutzen, nicht aber außer Kraft setzen kann. Zum andern ist die Arbeit immer gesellschaftliche Tätigkeit, in der die Individuen als gesellschaftliche Wesen sich mit ihresgleichen "arrangieren" müssen. Und die dringendste Aufgabe, die sie nach der Inbesitznahme der Produktionsmittel zu lösen hätten, wäre nicht die "freie Selbstbetätigung", sondern die Aufhebung des kapitalistischen Managements (als Praxis wie als sozialer Klasse oder Schicht) und die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit durch die assoziierten Produzenten (oder "Prosumenten") selbst, um überhaupt erst die Bedingungen zu schaffen, unter denen die Unterwerfung des Menschen unter die betriebliche und gesellschaftliche Arbeitsteilung (und nicht etwa die Arbeitsteilung selbst) aufhebbar wird, die Arbeit zum "ersten Lebensbedürfnis" und die "freie Entfaltung eines jeden die Bedingung für die freie Entfaltung aller" werden kann usw.

(9) Uli neigt dazu, die Zukunft aus dem Begriff (bzw. der Marxschen Prophetie) zu entwerfen und die Gegenwart in vorgefaßte Urteile zu pressen, statt umgekehrt den Begriff aus der gesellschaftlichen Gegenwart (und ihrer Geschichte) zu entwickeln und die mögliche Zukunft aus der dieser Gegenwart eigenen Widersprüchlichkeit. Exemplarisch dafür sind seine Begriffsbestimmungen zur Auseinandersetzung mit dem "Schwarzbuch des Kapitalismus", in der er die "(allgemein-)menschliche Emanzipation" als "Aufhebung aller äußeren Zwänge und Notwendigkeiten" und "Sozialismus/Kommunismus" als "Reich der Freiheit" definiert. Das sind Gedankenkonstrukte, die der gesellschaftlichen Praxis entrückt sind und von einem abstrakten Gegensatz zwischen Freiheit und Notwendigkeit ausgehen, gegen den schon Hegel polemisiert hat. Wenn die Gesellschaft tatsächlich einmal die Produktion beherrscht, statt von ihr (bzw. den Produkten) beherrscht zu werden, dann nicht, weil sie sich aller "äußeren Zwänge und Notwendigkeiten" entledigt hätte, sondern weil sie sich von den Zwängen befreit hat, die ihr das Privateigentum an Produktionsmitteln auferlegt. Es ist auch ein Irrtum, Arbeitsteilung, Entfremdung und Privateigentum als "identische Begriffe/Prozesse" zu bezeichnen. Das sind sie - auch für Marx - nur in bestimmten historischen Verhältnissen. Es hat Verhältnisse gegeben, in denen Arbeitsteilung ohne Privateigentum und Entfremdung existierte. Und wenn das Privateigentum (an Produktionsmitteln) einmal aufgehoben werden sollte, wird die Arbeitsteilung wahrscheinlich von ihren menschlich und ökologisch unverträglichen Übertreibungen befreit, aber mit Sicherheit nicht aufgehoben werden (können).

(10) Zurück zu den offenen Fragen. Wie kann Uli vom "möglichen Sozialismus" sprechen, wenn die "unmittelbaren Produzenten" (jedenfalls die in der tayloristisch- fordistischen Industrie) unfähig sind, an der "revolutionären Umwälzung" teilzunehmen? Und welches Schicksal oder welche Rolle erwartet sie dann im dennoch "möglichen Sozialismus"? Sie werden - um es mal sarkastisch zu formulieren - zur entbehrlichen und aussterbenden Randgruppe: "Die Industriearbeiterschaft - diese hatte Marx vor allem im Auge und die Geschichte der proletarischen Revolutionen bestätigte dies, als er von den revolutionären Potenzen der Arbeiterklasse sprach - stellt nicht mehr die zahlenmäßig stärkste Klasse. Sie reduziert sich quantitativ mit großer Geschwindigkeit." (II, 7) Marx hat in der Tat seine Hoffnungen vor allem auf die in der aufkommenden "großen Industrie" organisierten Proletariermassen gesetzt (wobei noch Anfang des 20. Jahrhunderts Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten als Großbetriebe galten). Aber er hat im Leben nicht daran gedacht, das Industrieproletariat auf die Lohnabhängigen der Bereiche zu reduzieren, die die bürgerliche Ökonomie "Industrie" zu nennen beliebt. Zum industriellen oder Industrieproletariat gehörten für ihn die Lohnabhängigen, die ihre Arbeitskraft gegen industrielles Kapital (im Unterschied zum Handels- und zum Bankkapital) tauschen, also in einem kapitalistisch betriebenen Produktionsbetrieb arbeiten, sei er heute landwirtschaftlicher Großbetrieb, "mittelständischer" Handwerks- oder "Gewerbe"betrieb, produktiver Dienstleistungsbetrieb, wie McDonalds, RTL, LTU oder die Telekom, oder eben traditioneller Industriebetrieb. Das angeblich zur Minderheit geschrumpfte Industrieproletariat ist ein Produkt der bürgerlichen Terminologie und Statistik.

(10.1) free tv, 11.02.2002, 12:45, Werner Imhof: RTL ist in dieser Aufzählung fehl am Platz. RTL verkauft dem Publikum keine Ware. Wie alle free-tv-Sender "verkauft" RTL Sendezeit für die Werbung. D.h. der Sender lebt von der Zirkulationsarbeit der Werbeindustrie, indem er ihr ein publikumswirksames Medium schafft und dafür einen Teil der Werbungskosten kassiert. Die Zirkulationsarbeit selbst bildet keinen Wert, sondern realisiert nur schon vorhandenen Wert.

(11) Uli reicht es nicht, mit den "unmittelbaren Produzenten" gleich auch die ganze "Industriearbeiterschaft" abzuschreiben. "Das Proletariat", "die Arbeiterklasse" insgesamt gilt ihm als endgültig unfähig zur "revolutionären Umwälzung": "Das steigende Produktivitätsniveau und der proletarische Klassenkampf führt noch innerhalb des Kapitalismus zur Hebung des materiellen Lebensniveaus der Proletarier und damit zumindest in den Metropolen zur Aufhebung der gebieterischen Not, die zur Empörung treibt." (II, 7) Uli macht es sich auch hier sehr einfach. Er reduziert das den Lohnabhängigen zugängliche Bewußtsein auf das von Konsumenten und das mögliche Motiv ihrer Empörung auf die materielle Not, den Mangel an Gegenständen des Konsums. Das ist eine Logik, die voraussetzt, was sie zu begründen meint. Gestimmt hat sie noch nie, selbst nicht in gewerkschaftlichen Kämpfen, in denen es scheinbar nur um mehr Lohn oder die "Hebung des materiellen Lebensniveaus" geht. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein und auch nicht allein von Brot und Spielen.

(12) Das Grundbedürfnis jedes Menschen ist das nach menschlicher Gesellschaft, nach gesellschaftlicher Betätigung und nach gesellschaftlicher Anerkennung der eigenen Person, der eigenen Leistungen, Fähigkeiten und Neigungen. Jedes Individuum kann seine Identität, seine Selbstachtung und Würde nur aus den gesellschaftlichen Beziehungen gewinnen, in denen und für die es tätig ist, in der Arbeit wie im Konsum, im öffentlichen Leben wie im privaten Bereich. Und es leidet an Beziehungen, in denen es mißachtet, erniedrigt, entwürdigt wird oder von denen es ausgeschlossen ist. Damit aber das Leiden zur Empörung und die Empörung zur sozialen Bewegung werden kann, bedarf der Mensch des Bewußtseins oder zumindest einer Ahnung davon, daß und wie die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihn bedrücken, veränderbar sind und wer bzw. was dieser möglichen Veränderung entgegensteht. Materielle Not allein hat noch nie "gebieterisch" zur Empörung getrieben, schon gar nicht zu revolutionärer Empörung. Es gibt Menschen, die in unbeschreiblichem Elend vegetieren, weil sie ihr Schicksal für natur- oder gottgegeben halten; andere, die in ihrer Not nur barbarischen Rassen- oder Fremdenhaß entwickeln; wieder andere, die dem nächstbesten Volksverführer nachlaufen. Umgekehrt gab und gibt es revolutionäre Bewegungen, die durchaus nicht von materieller Not getrieben waren. Der Mangel an Konsumtionsmitteln hat noch nie revolutionäres Bewußtsein hervorgebracht. Das kann nur entstehen, wenn das Privateigentum an den Produktionsmitteln als Mangel begriffen wird.

(13) Uli bezieht sich auf ein Zitat aus der "Heiligen Familie", aber in einer Weise, die den Marxschen Gedankengang entstellt. Marx hat die Triebkraft des Proletariats selbst 1844 nicht auf die schiere materielle Not beschränkt. Er hat "das theoretische Bewußtsein" vorausgesetzt, daß "der Mensch in ihm (dem Proletariat) sich selbst verloren" hat und zusätzlich durch die "absolut gebieterische Not - den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit - zur Empörung (nein, nicht nur gegen diese Not, sondern) gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist" (Hervorhebungen von mir). Und diese Unmenschlichkeit bestand eben nicht nur im materiellen Elend der Proletarier, sondern im Gegensatz dieses Elends zum Reichtum, den sie gleichzeitig produzierten, zum Privateigentum, das sie vermehrten (und in der Fabrikdespotie, der politischen Rechtlosigkeit, der gesellschaftlichen Geringschätzung, im Ausschluß von höherer Bildung usw.). Uli zitiert Marx und übergeht gleichzeitig den entscheidenden Gedanken des scheinbar selbstverständlichen (und von Marx in Paris erlebten) Bewußtseins der "menschlichen Selbstentfremdung".

(14) Nun hat Marx sich bekanntlich geirrt. Das Bewußtsein, das die Arbeiterbewegung in Gestalt erst der sozialdemokratischen, dann der kommunistischen Parteien hervorbrachte, versagte gerade in der wesentlichsten Frage - wie der Mensch im Proletariat sich als Mensch, d.h. als gesellschaftliches Wesen, wiedergewinnt (um in der Marxschen Ausdrucksweise zu bleiben) oder was die Aufhebung des Privateigentums praktisch erfordert, nicht von Seiten einer Arbeiterpartei oder -regierung, sondern von den arbeitenden Massen selbst. Der Sozialismus blieb ein Zukunftsgemälde, ein Zukunftsversprechen (der Lassallesche und Bebelsche "Zukunftsstaat"!), dessen Realisierung gebunden war an die Intelligenz, die Glaubwürdigkeit, die Initiative des Stellvertretersubjekts Partei und an deren Regierungsgewalt, die Macht über die "Staatsmaschinerie". Er war ein Projekt, das von etatistischen und autoritären Hoffnungen lebte und nach den ersten großen Ernüchterungen im Gefolge der Novemberrevolution den revolutionären Elan eher lähmte als beflügelte. Die größte Massenaktion in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung war bezeichnenderweise der Generalstreik (mit bis zu 12 Millionen Teilnehmern) gegen den Kapp-Putsch zur Verteidigung der parlamentarischen Republik, in der die Sozialdemokratie "ihres Amtes walten" sollte. Die kommunistische Bewegung hat (von Ausnahmen, wie Turin, abgesehen) das staatssozialistische Grundkonzept nur "revolutionär" zu wenden gesucht und behielt damit selbst als Massenbewegung immer einen sektiererischen Charakter. Keine Klasse läßt sich als ganze auf das Abenteuer einer Revolution ein, wenn sie nicht weiß, welche praktischen Aufgaben ihr bevorstehen und wie sie zu lösen sind. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts läßt sich denn auch lesen als Geschichte einer langen Ernüchterung, der unaufhaltsamen Erosion einer einst so mächtig scheinenden Idee von sozialer Erlösung, die sich einerseits als Illusion herausstellte, deren Reste sich erst in der Erfahrung sozialdemokratischer Regierungspraxis auflösen, und die andererseits zum Alptraum mutierte, der erst mit der Implosion des "Realsozialismus" endete. Die Idee des Staatssozialismus hat sich verbraucht und mit ihr die entscheidende Triebkraft des proletarischen Klassenkampfes "alten Typs", dessen Hoffnungsträger die bürokratischen Großorganisationen Partei und Gewerkschaft waren und der immer vom Ziel einer "sozialistischen Regierung" lebte. Heute kann der Regierungsantritt einer sog. Linkspartei oder -koalition, anders als noch in den 70er und 80er Jahren, keine Massenbegeisterung mehr auslösen.

(15) Übrigens geht es deshalb auch an den tatsächlichen Klassenbeziehungen vorbei, die Praxis der heutigen Arbeiterbewegung pauschal zum "proletarischen Klassenkampf" hochzustilisieren. Tarifrunden und die Teilnahme an der Wahl bürgerlicher Parlamente und Parteien ergeben noch keinen Klassenkampf. Von dem sollte man (mit Marx) sinnvollerweise nur sprechen, wenn eine proletarische Massenbewegung vorhanden ist, die die Autorität oder gar die Macht des Gesamtkapitals bzw. der Regierung als seinem "geschäftsführenden Ausschuß" in Frage stellt. Daran gemessen, sind proletarische Klassenkämpfe in den Metropolen trotz Massenarbeitslosigkeit, wieder zunehmender Armut und "neoliberaler Gegenreform" seit Jahrzehnten eine rückläufige Erscheinung. In einigen Ländern, wie den USA und Japan, sind sie so gut wie unbekannt, in anderen, wie Deutschland, nur in Ansätzen und symbolischen Ersatzaktionen sichtbar; und ob die Entwicklungen in Frankreich schon die Wende zu einem Aufschwung von Klassenkämpfen "neuen Typs" darstellen oder erst Vorboten einer möglichen Wende, ist auch noch nicht ausgemacht.

(16) Ein Mythos ist es auch, daß die "Hebung des materiellen Lebensniveaus der Proletarier" ihrem "Klassenkampf" oder auch nur allein ihrem gewerkschaftlichen Kampf zuzuschreiben sei. Das gehobene "materielle Lebensniveau" beruht auf zweierlei: dem Lohnniveau und dem Sozialversicherungssystem. Letzteres ist in Deutschland vor über 100 Jahren entstanden als staatliche Zwangsfürsorge zur Abwehr des Sozialismus und als "Sozialstaat" inzwischen für die Linke selbst zum Sozialismus-Ersatz geworden. Das gestiegene Lohnniveau wiederum ist in erster Linie Resultat der anhaltenden Kapitalakkumulation dank wachsender innerer und äußerer Märkte, die ebenso anhaltende Nachfrage nach Arbeitskraft nach sich zog. Bekanntlich hinkten in der BRD die Tariflöhne jahrzehntelang den Effektivlöhnen hinterher und tun es in einigen Branchen immer noch. Dabei hat die steigende Kaufkraft der Löhne nicht verhindert, daß der Wert der Arbeitskraft, also die zu ihrer Reproduktion notwendige Arbeitszeit, kontinuierlich gesunken ist, abgesehen von wenigen Ausnahmejahren um 1970 herum. Nur sank er halt langsamer als der Wert aller übrigen Waren - eine Entwicklung, die durch die permanente Inflation der Geldmenge verdeckt wurde und wird und als ihr Gegenteil erscheint, als Preissteigerung aller (oder doch der meisten) Waren.

(17) Aus traditioneller linker Sicht mag die Geschichte der letzten Jahrzehnte nur als Niedergang erscheinen, als Prozeß der Anpassung, der Verbürgerlichung, der Saturierung oder gar der "Verhausschweinung" (Kurz). Dialektisch betrachtet, läßt sie sich dagegen als langwieriger, aber notwendiger, "vernünftiger" (im Hegelschen Sinne) und befreiender Abschied von einem "Jahrhundertmythos" (Michael Schneider) begreifen. Natürlich bedeutet er auch, daß sich die Lohnabhängigen mit dem Kapitalismus und in ihm - wie wir alle notgedrungen - arrangiert haben, soweit es ihnen gestattet ist. Die Vorkriegsgeneration demoralisiert durch die Ohnmacht der Arbeiterbewegung gegenüber dem NS-Regime; die Kriegsgeneration erleichtert, dem Schlimmsten entronnen zu sein; die 68er eher resigniert; und die Jüngeren, weil ihnen die Illusionen der Älteren fremd sind. Und natürlich hat dazu (neben der vergleichsweise liberalen Verfassung, dem Parlamentarismus u.a.m.) auch die "Hebung des materiellen Lebensniveaus" beigetragen, zumal sie erfahrungsgemäß auch ohne gewerkschaftlichen Kampf möglich ist. Wie sollten sich die Lohnabhängigen auch nicht mit einer kapitalistischen "Normalität" arrangieren, die im globalen und historischen Vergleich den fortgeschrittensten gesellschaftlichen Entwicklungsstand darstellt, wenn sie ihr keine Perspektive entgegenzusetzen haben, die tatsächlich eine "höhere", rationalere, einfachere und humanere Form gesellschaftlicher Produktion beinhaltet? Ein "abstrakter Antikapitalismus" (ein Ausdruck von Uli, vgl. I, 1), wie ihn die meisten Linken pflegen, ist dafür kein Ersatz.

(18) Das proletarische Klassenbewußtsein "alten Typs" hat sich erschöpft, weil es untauglich war, die Welt zu erfassen und zu verändern. Und alle Versuche, es wiederzubeleben, können nur noch lächerlich wirken. Die Frage, die sich stellt und mit der wir uns ja schon einige Zeit auseinandersetzen, ist vielmehr, ob nicht die Bedingungen reifen für die Entwicklung eines neuen Bewußtseins, das gegen das Privateigentum an Produktionsmitteln rebelliert, nicht im Namen der Lohnarbeit und eines fürsorgenden Staates, sondern im Namen der gesellschaftlichen Arbeit, ihres gesellschaftlichen Nutzens und damit auch im Namen der Würde des Menschen als gesellschaftlichem Wesen.

(19) Vordergründig können sich die meisten Lohnabhängigen heute, anders als die Proletarier vor 150 Jahren, als formal gleichberechtigte, mehr oder weniger (je nach Qualifizierung) respektierte, als Wähler, als Kunden und auch als Arbeitskräfte umworbene Gesellschaftsmitglieder begreifen. Doch tatsächlich gründet sich diese Gesellschaft immer noch auf das Privateigentum an Produktionsmitteln, das ihnen die wirkliche Anerkennung und Betätigung als gesellschaftliche Produzenten versagt und sie einem bornierten Selbstzweck unterwirft, der Anhäufung privater Macht über fremde, d.h. gesellschaftliche, Arbeitszeit in der unkenntlichen Form des Geldes; das ihre Arbeit teilt in notwendige Arbeit zur eigenen Reproduktion wie zur Reproduktion ihres unproduktiven Anhangs und in Gratisarbeit zur Vermehrung des Privateigentums; das die Ausdehnung letzterer auf Kosten ersterer als unerbittlichen "Sachzwang" reproduziert und so einen Teil der gesellschaftlichen Arbeitskraft zur Untätigkeit verdammt, während es den anderen zur Überarbeitung und zu krankmachender Konkurrenz zwingt; das den ausrangierten, ausgedienten und kranken Teil der Arbeitskraft zum gesellschaftlichen Ballast mit eingeschränkten Lebensansprüchen degradiert; das Jugendlichen die Perspektive eines gesellschaftlich erwünschten und sinnvollen Lebens verwehrt; das die Fiktion des sich selbst vermehrenden ("arbeitenden") Geldes produziert und den arbeitslosen Reichtum zum ehrenwerten Ideal erhebt, obwohl doch alles Geld nur Anweisung auf fremde Arbeitszeit ist; das die ganze Gesellschaft dem egoistischen "Kosten/Nutzen"-Kalkül unterwirft, obwohl doch alle "Kosten" nur der Geldausdruck dafür sind, daß jede/r permanent von Produkten gesellschaftlicher Arbeit abhängt, die der Notwendigkeit des Privateigentums an Produktionsmitteln längst entwachsen ist; usw. usf.

(20) Gründe zur Empörung gibt es reichlich, und ein unbestimmtes Gespür dafür ist auch bei vielen Lohnabhängigen vorhanden. Was fehlt, ist das Bewußtsein dieser Gründe, ihrer Absurdität, ihrer "Unmenschlichkeit" (im Marxschen Sinne), weil ihrer praktischen Aufhebbarkeit. Für Uli ist ein solches Bewußtsein kein Thema, schon gar keine Herausforderung - weil es ihm selbst fremd ist. Tatsächlich ist für ihn die kapitalistische Produktionsweise selbst kein Gegenstand möglicher Empörung! An Kurz kritisiert er gerade das, was dessen Stärke und Anziehungskraft ausmacht: die Denunziation der "warenproduzierenden Moderne" als einer absurden, weil besinnungslosen, selbstzweckhaften gesellschaftlichen Veranstaltung. Natürlich hat Kurz sich verrannt, wenn er den Kapitalismus als "historischen Irrtum" bezeichnet, der einer vermeintlich ahistorischen "Natur" des Menschen widerspreche; natürlich übertreibt er maßlos, wenn er vor lauter Schwarzmalerei die progressive Rolle des Kapitalismus und seine erträglichen bis annehmlichen Seiten negiert; und allerdings gerät ihm die Denunziation des Kapitalismus zur allgemeinen Publikumsbeschimpfung, weil er ihm keine praktische Aufhebungsperspektive abgewinnen kann. Und doch trifft seine Kritik einen zentralen Nerv des gesellschaftlichen Bewußtseins (soweit er es mit seiner Sprache erreicht), das sich der Rationalität der kapitalistischen Produktionsweise längst nicht mehr sicher ist. Uli meint, der Vorwurf der Absurdität unterstelle dem Kapitalismus "unter Berufung auf irgendeine Natürlichkeit ... und ewige Gerechtigkeit" (I, 4) die böswillige Herrschaft von "Priesterbetrug" (I, 6) über die Dummheit. Mitnichten. Im Gegenteil, er denunziert eine gesellschaftliche Praxis, die ihren Akteuren als einzig sinnvolle und mögliche erscheint, die aber längst widersinnig geworden ist, weil sie die Bedingungen hervorgebracht hat, die es erlauben, ihr ein Ende zu setzen und die gesellschaftliche Arbeit auch gesellschaftlich und mit vollem Bewußtsein zu organisieren. Eben deswegen gehört der Begriff des Absurden (ähnlich wie der des Grotesken), anders als Uli meint (I, 5), auch bei Marx zum gängigen Repertoire seiner Kapitalkritik. Und ohne massenhafte Empörung über die Absurdität der kapitalistischen Produktionsweise wird es keine Befreiung aus ihr geben (das ist die einzige Prophezeiung, der ich mir sicher bin).

(21) Nun mag es ja sein, daß die Hoffnung darauf auch wieder nur Wunschdenken bleibt. Aber wir sind Zeugen objektiver Entwicklungstendenzen, die einem solchen neuem Bewußtsein entgegenkommen (könnten), weil sie die Vergesellschaftung der Arbeit vorantreiben und immer sinnfälliger machen und eine mögliche gesellschaftliche Produktionsweise erleichtern. Und wir sind Zeugen - und nicht nur Zeugen, sondern selbst Teil - subjektiver, geistiger Prozesse in der Gesellschaft, die ein wachsendes Bedürfnis nach neuer, radikaler Kritik der ökonomischen Zusammenhänge und Entwicklungen ausdrücken. In Frankreich hat diese Gärung Teile der Arbeiterbewegung erfaßt und organisierten Ausdruck gefunden in den Sud- Gewerkschaften, die sich auch als Vereinigung gesellschaftlicher Produzenten verstehen und eine "soziale Transformation" anstreben. Die Stimmengewinne der (übrigens gar nicht so) radikalen Linken, die Bucherfolge Viviane Forresters, die Popularität José Bovés sind weitere Symptome für eine Renaissance radikaler Gesellschaftskritik.

(22) In Deutschland scheint eine vergleichbare Bewegung derzeit schwer vorstellbar und das Kritikbedürfnis beschränkt auf eine kleine linksintellektuelle Szene. Doch man soll sich nicht täuschen. Unterschwellig gibt es auch bei uns ein verbreitetes Unbehagen an der kapitalistischen Produktionsweise, nicht nur im Osten. Exemplarisch dafür ist die derzeitige BSE-Krise, die sogar die FAZ veranlaßte, das "Gemeinwohl" gegen ein "ungebremstes Profitstreben" in Schutz zu nehmen und für mehr staatliche Kontrolle nach dem Vorbild der amerikanischen Food and Drug Administration zu plädieren (FAZ 23.12.00). Und erst kürzlich veröffentlichte sie ein Umfrageergebnis, wonach eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung (61 %) die Hauptursache der Krise nicht in der Industrialisierung der Landwirtschaft oder den kriminellen Machenschaften einiger Futtermittelhersteller sieht, sondern im "Gewinnstreben" als der "alles überragenden Maxime", einer Art "Zeitgeist", der die ganze Gesellschaft beherrscht (FAZ 14.02.01). Zwar bleiben dabei die gesellschaftlichen Grundlagen dieses "Zeitgeistes" im dunkeln und damit unangetastet, und doch kommt dieser Befund dem Wesen der kapitalistischen Produktionsweise als einer Art "gesellschaftlicher Zwangsneurose" (Kurz) näher als eine linke Kapitalismuskritik, die sich nur gegen die Profit-Maximierung richtet. Mir drängte sich in diesem Zusammenhang die Vorstellung auf, in Schlachthöfen, Futter- und Nahrungsmittelfabriken würden sich Arbeiter organisieren, die gemeingefährliche Produktionsverfahren öffentlich anprangern, eigene Kontroll- und Arbeitsverweigerungsrechte fordern und die Zusammenarbeit mit Verbrauchern und Wissenschaftlern suchen. Das wäre ein Signal, das die Autorität des Privateigentums ebenso blamierte wie die traditionelle "Arbeitnehmer"mentalität, und eine breite öffentliche Sympathie wäre ihnen sicher. Eine Utopie?

(23) Zu Ulis weiteren Argumenten nur noch einige kurze Bemerkungen. Daß "die Arbeiterklasse ... durch die kapitalistische Entwicklung selbst dezentralisiert" wird (II, 7), spielt wohl auf die Aufspaltung bisheriger Groß- und Riesenbetriebe in kleinere Geschäftseinheiten an (wobei es sich eher um eine Dekonzentrierung zwecks Effektivierung zentraler Kontrolle handelt). Daß sie dadurch "in ihrer Organisationsfähigkeit beeinträchtigt" wird (ebd.), stimmt sicher im Hinblick auf die bürokratischen Betriebsrats- und Gewerkschaftsstrukturen, die die Lohnabhängigen als Lohnabhängige organisieren, und mag vom Standpunkt des Status quo und des gewerkschaftlichen Kampfes bedauerlich sein. Aber als Organisationsform gesellschaftlicher Produzenten sind diese Strukturen sowieso nicht geeignet, weil sie sich an der Organisation des Privateigentums orientieren und seine Aufrechterhaltung voraussetzen. Ihr Bedeutungs- und Autoritätsverlust ist deshalb wahrscheinlich sogar eine Bedingung für einen Umdenkungsprozeß unter den Lohnabhängigen, wie das französische Beispiel nahelegt, wo der niedrige Organisationsgrad selbständige Streikbewegungen nicht verhindert, sondern erleichtert.

(24) "Die harte, stählende Schule der Arbeit, die zum einheitlichen Handeln unter einem Befehl befähigte, weicht zunehmender Individualisierung, die ein Klassenhandeln immer schwieriger macht." (II, 7) Ein "Klassenhandeln", das seine Einheit der Unterordnung "unter einen Befehl" verdankt, ist für mich eine Horrorvorstellung. Glücklicherweise muß diese Art von "Einheit", die der Tod jeder lebendigen Bewegung wäre, nicht erst erodieren, weil es sie noch nie gegeben hat (außer vielleicht in Ländern des "Realsozialismus"). Es ist schon paradox, daß gerade Uli, der eben noch den "unmittelbaren Produzenten" die "Fähigkeit ... zu freier Selbstbetätigung" absprach, nun einem Kollektivismus das Wort redet, der auf Befehl und Gehorsam beruht, und sich dabei auch noch auf Marx beruft. Der meinte mit der "harte(n), (aber) stählende(n) Schule der Arbeit" die Zwangsdisziplin der kapitalistischen Fabrik, die die Arbeiter zur Selbstdisziplin in eigener Sache befähigte. Und Uli macht aus Selbstdisziplin - Gehorsam... Was aber hat es nun wirklich auf sich mit dem, was Uli "zunehmende Individualisierung" nennt? Vermutlich meint er damit, daß bestimmte traditionelle Zwangsmechanismen der kapitalistischen Fabrikarbeit (streng hierarchische Organisation, Antreiber- und Kontrollpersonal, Taktzeiten u.a.m.) zunehmend durch neue Zwänge in Form von Telearbeit, Gruppenarbeit, Jobrotation, KVP, Zielvereinbarungen usw. ersetzt bzw. ergänzt werden, die das Eigeninteresse und die Konkurrenz der Lohnabhängigen untereinander ausnutzen. Was dadurch beeinträchtigt werden kann, ist ihre Solidarität als lohnabhängige Belegschaft und damit auch ihre gewerkschaftliche Kampfbereitschaft. Mit ihrer Befähigung zum "Klassenhandeln" aber hat das zunächst einmal gar nichts zu tun. Denn dazu ist etwas anderes nötig als betriebliche Solidarität gegenüber dem Einzel- oder Branchenkapital, nämlich eine branchenübergreifende Solidarität, eine Perspektive, die alle Lohnabhängigen gegen das Gesamtkapital oder die Regierung vereinigt oder vereinigen kann (und eine Organisationsform, in der sich diese Solidarität materialisiert). Weil und solange es daran fehlt, fehlt auch die Motivation und Befähigung zum "Klassenhandeln". Ist aber eine solche vereinigende Perspektive vorhanden, dann - das zeigen alle historischen Erfahrungen - relativieren sich sehr schnell die kleinlichen innerbetrieblichen Konkurrenzkämpfe. Zumal sich die meisten Lohnabhängigen dabei sowieso nicht wohlfühlen und die sog. Individualisierung - das ist meine eigene Erfahrung - das Bedürfnis nach Kollegialität und Solidarität stärkt, gerade weil es nicht erfüllt werden kann.

(25) Ulis letztes Argument ist, daß der "Klassenkampf des Proletariats zur Erreichung eines höheren materiellen Lebensniveaus bereits innerhalb des Kapitalismus ... heute in den Metropolen ... zunehmend einen zivilisationsfeindlichen Charakter gewinnt" (II, 7). Ich weiß nicht, welche "Klassenkämpfe" er konkret im Sinn hat. Diejenigen, die in den vergangenen Jahren wirklich stattgefunden haben, in Frankreich z.B., kann er schlecht gemeint haben. Es kommt aber auch gar nicht drauf an, weil es Uli offensichtlich nicht um die konkrete Analyse realer Bewegungen geht, sondern um die Bekräftigung seiner negativen Prophetie.

(26) Bleibt zum Schluß noch die Frage, wie denn der "mögliche Sozialismus" Realität werden können soll, wenn nicht durch die "Proletarier als Klasse". Ulis Antwort: Der "mögliche Sozialismus" kann dadurch realisiert werden, daß "Assoziationen freier Individuen ihre eigene Gesellschaft begründen" (I, 36; Hervorhebung von mir). Schon in "Marx und der mögliche Sozialismus" hatte Uli nach "Bewegungen von frei assoziierten Individuen" gefragt und dabei die "antiautoritären Bewegungen von 1967/68", die "klassenungebundenen sogenannten neuen sozialen Bewegungen" und die "Bürgerbewegungen der DDR mit ihren Runden Tischen" als mögliche Vorboten und Vorbilder genannt (III, 21), Bewegungen also, die sich abseits des gesellschaftlichen Produktionsprozesses abspielten. "Sie schufen", meinte er, "neue emanzipatorische Bewegungsformen, durch die nach den östlichen auch die jetzigen westlichen Machtstrukturen auflösbar sind, und die, gestützt auf die neuen materiellen Möglichkeiten des Sozialismus, tatsächlich eine neue Gesellschaftlichkeit konstituieren können"; "... in solchen Bewegungsformen engagiert, befähigen sich die Akteure zur Begründung neuer Lebens- und Arbeitsformen, zum Verlassen des Standpunkts der bürgerlichen Gesellschaft"; und indem sie "praktisch um neue nichtkapitalistische Lebens- und Arbeitsweisen ringen, können die beteiligten Akteure eine Theorie der Befreiung entwickeln" (IV, 971). Gemeint war "eine Theorie, die sich als Selbstbewußtsein sozialer Bewegungen freier Individuen versteht, die neue Lebens- und Arbeitsweisen schaffen" (III, 22).

(27) Was Uli hier allen Ernstes skizzierte, war das Wunschbild einer Art Gegengesellschaft, die auf wundersame, jedenfalls nicht weiter reflektierte Weise auch die "westlichen Machtstrukturen" "auflösen" können soll. Diese Vorstellung schien mir so grotesk, daß ich dachte, Uli würde sie früher oder später selbst korrigieren (müssen). Doch in den "Notizen zum Schwarzbuch des Kapitalismus" hat er sie nun, aufbauend auf einen Artikel von Kurz aus dem Jahr 1997 (den dieser, was Uli ihm heute zum Vorwurf macht, aus guten Gründen längst wieder "vergessen" hat: "Antiökonomie und Antipolitik", Krisis 19), zu einer regelrechten "Strategie" ausgebaut: zur "Entkoppelung der Reproduktion von der Warenproduktion" (I, 25) in "sozialen Räumen der Emanzipation" (I, 23), um von hier aus "die gesamte Reproduktion aufzurollen und emanzipatorisch umzuformen" (I, 26). Oder anders: "In den Poren und auf den Trümmern der archaisch werdenden kapitalistischen Vergesellschaftung können die Keimformen einer nicht mehr warenförmigen Reproduktion blühen, die in Austausch (!) und Auseinandersetzung mit dem Kapital treten, ihr Existenzrecht behaupten und die kapitalistische Reproduktion schließlich ganz überwinden." (Kurz a.a.O., zit. I, 24)

(28) Das einzige, was hier blüht, ist eine "antikapitalistische" Phantasie, die sich über die ganz banalen Zwänge hinwegsetzt, denen eine solche Aussteiger-Ökonomie unterworfen wäre. Um das zu begreifen, muß man sich nicht in die Einzelheiten der Gedankenführung verlieren; es reicht, sich auf den Grundgedanken einzulassen und ihn zu durchdenken. Gegeben sei also eine Anzahl dezentral vernetzter "Assoziationen freier Individuen" (bei Kurz hießen sie "soziale Initiativen"), die sich an den "Endpunkten der Reproduktion" ansiedeln, "dort, wo die Produktion in die Konsumtion übergeht" (I, 26), die also nur Konsumtionsmittel füreinander herstellen, und dies ganz "ohne Warenaustausch, Geldbeziehungen und abstrakte Leistungsverrechnung" (I, 25).

(29) Auch wenn die "freien Individuen" sich nicht in die "kapitalistische Arbeitsteilung" (I, 26) integrieren wollen, sind sie nun aber doch auf sie angewiesen. Schließlich brauchen sie Produktionsmittel, und zwar erstens eine gewisse Startausrüstung an Boden, Gebäuden und Maschinen (mit "Mikroelektronik und Solartechnik" [I, 24] allein läßt sich nichts produzieren) und zweitens laufenden Nachschub an Rohstoffen, Vorprodukten, Ersatzteilen usw. Diese Produktionsmittel müssen sie, da sie sie nicht selbst herstellen wollen (und können), von ihrer kapitalistischen Umgebung kaufen. Dazu brauchen sie Geld. Allein für die Startausrüstung sind, wenn sie auf dem technischen Stand der kapitalistischen Industrie produzieren wollen, zwischen 100.000 und 300.000 DM pro Arbeitskraft nötig. Der geplante Ausstieg aus der Warenproduktion braucht also erst einmal einen Vorlauf von vielen Jahren, in dem die Aussteiger kräftig fürs Kapital schuften müssen, um diese Summen ansparen zu können.

(30) Aber angenommen, sie haben diese Hürde genommen. Nun brauchen sie Geld, um Produktionsmittel für den laufenden Betrieb kaufen zu können. Das setzt voraus, daß sie selbst Waren produzieren, also Konsumtionsmittel, die sie auf dem Markt losschlagen und in Geld verwandeln. Sie treten damit in Konkurrenz zur kapitalistischen Industrie, und schon sind sie allen "kapitalistischen Zumutungen" (I, 24) ausgesetzt, denen sie sich eigentlich entziehen wollten. Erst mal müssen sie Marktbereiche finden, für die sie überhaupt konkurrenzfähige Produkte herstellen können. Viele werden das nicht sein, denn die "freien Individuen" mögen zwar hervorragende "geistige Fähigkeiten" (I, 27) besitzen, aber mit dem technischen und handwerklichen Know-how von Millionen Lohnabhängigen und dem Wissen zigtausender Manager werden sie sich nicht messen können. Also werden sie sich auf einige wenige Produkte spezialisieren müssen. Und schon hat sie auch die "knechtende Arbeitsteilung", der sie eigentlich entfliehen wollten, wieder eingeholt. Nicht nur das. Der Zwang zur Spezialisierung steht auch im Widerspruch zum ursprünglichen Ziel, die eigene Reproduktion von der Warenproduktion zu entkoppeln, also möglichst viel Konsumtionsmittel selbst zu produzieren. Was also tun? Sie können ihr Ziel fallenlassen oder allenfalls ihre Produktionskapazitäten und Arbeitskräfte aufteilen: Ein Teil arbeitet nur für den Markt, der andere für den Eigenbedarf der vernetzten Assoziationen. Trotzdem muß damit der eh schon begrenzte Kreis von Konsumtionsmitteln, die sie selbst herstellen können, noch weiter schrumpfen. Von den Tausenden von Konsumgütern und -dienstleistungen, die zum normalen Leben nötig sind, werden sie nur einen Bruchteil selbst produzieren können. Selbst wenn sie ihren Konsum einschränken, werden sie, wenn sie sich nicht wie die Amish people von der Gesellschaft absondern wollen, darauf angewiesen sein, den überwiegenden Teil ihrer Konsumtionsmittel zu kaufen. Auch dafür müssen sie erst mal das nötige Geld verdienen, also die Zeit ihrer Produktion für den Markt noch weiter ausdehnen. Und schon taucht ein neues Problem auf. Wenn sie, wie geplant, intern auf Waren- und Geldbeziehungen verzichten wollen, müssen sie die zusätzlichen Konsumtionsmittel kollektiv einkaufen und deren Verteilung wie die der wenigen selbst hergestellten Produkte kollektiv reglementieren. Die "freien Individuen", die schon in der Produktion ihre Freiheit weitgehend eingebüßt haben, sind nun auch in der Konsumtion nicht mehr besonders souverän. Wollen sie sich aber den Luxus individueller Konsumentscheidungen gönnen, müssen sie einen Teil des kollektiv erlösten Geldes untereinander aufteilen, also eine Art von Entlohnung einführen und zu den verhaßten Geldbeziehungen zurückkehren.

(31) Aber zurück zur eigenen Produktion für den Markt. Die Produkte, die die Assoziationen losschlagen wollen, müssen auch vernünftig kalkulierte Preise haben. Das heißt, sie müssen einerseits konkurrenzfähig sein, sollen andererseits aber auch den Wert der verbrauchten Produktionsmittel ersetzen und die eigene Arbeitszeit in Geld ausdrücken. Dabei werden die "freien Individuen" feststellen, daß sie unter- oder unbezahlte Arbeit leisten müssen, um im Preis mit den kapitalistischen Herstellern konkurrieren zu können, die aufgrund ihrer etablierten Massenproduktion niedrigere Fixkosten haben. Außerdem werden sie sich der in der kapitalistischen Industrie üblichen Arbeitsintensität anpassen müssen, es sei denn, sie leisten sich weitere Arbeitszeit, die nicht über den Preis honoriert wird.

(32) Aber es kommt noch schöner. Die "freien Individuen" werden bald merken, wenn sie's denn noch nicht wußten, daß sie für jeden Tag, den sie Konsumtionsmittel für sich selbst produzieren, mehrere Tage Konsumtionsmittel für den Markt produzieren müssen, nur um die Produktionsmittel für diesen einen Tag der Subsistenzproduktion kaufen zu können. Angenommen sie verbrauchen jeden Tag Produktionsmittel zum Preis von 75 Geldeinheiten und erzielen mit den daraus hergestellten Produkten auf dem Markt einen Preis von 100 Geldeinheiten (wobei 25 Einheiten dann das Geld"äquivalent" ihrer Tagesarbeit sind), dann müssen sie drei Tage für die kapitalistische Gesellschaft ackern, um nur einen Tag für den Eigenbedarf arbeiten zu können. Der hohe Anteil der Produktionsmittel an den Produktionskosten ist durchaus realistisch. 60 Prozent der gesellschaftlichen Gesamtarbeit gehen heute in die Produktion von Produktionsmitteln, die als Träger von zirkulierendem konstanten Kapital fungieren, weitere 10 bis 15 Prozent in die von Produktionsmitteln, die den Verschleiß von Trägern des fixen Kapitals ersetzen.

(33) Die vernetzten Assoziationen müssen schließlich auch lernen, die Produktion für den Markt (um mit dem Erlös Produktions- wie Konsumtionsmittel kaufen zu können) und die für den Eigenbedarf in die richtigen Proportionen zu bringen. Sie werden feststellen, daß sie von den wenigen, vielleicht einigen Dutzend Produkten, die sie in "polytechnischer Funktionsteilung" (I, 26) für die Eigenversorgung herstellen können, nur begrenzte Mengen tatsächlich konsumieren können. Die Sache wird darauf hinauslaufen, daß sie wahrscheinlich nur zwei, drei Tage im Monat für sich selbst arbeiten können, den Rest für den Markt arbeiten müssen.

(34) Man könnte die Geschichte noch weiter verfolgen und z.B. zeigen, wie die Arbeitsteilung der Assoziationen untereinander sie aufgrund ihrer Marktabhängigkeit zu bestimmten Austauschrelationen, "abstrakten Leistungsverrechnungen" zwingt; oder wie die Konkurrenz mit der kapitalistischen Industrie sie zur Ausdehnung und/oder Rationalisierung der Produktion zwingt, damit zur Teilung des Arbeitstages in einen Teil, der direkt oder indirekt der Reproduktion der "freien Individuen" dient, und einen Teil, dessen Wertprodukt der erweiterten oder modernisierten Reproduktion der Produktionsanlagen dient, womit sie sich kapitalähnliche Verhältnisse und Interessenkonflikte aufhalsen. Die "Entkoppelung der Reproduktion von der Warenproduktion" ist ein Wunschprojekt, das nur mit der Unterwerfung unter die Warenproduktion enden kann.

(35) Ulis Verdikt über die zur revolutionären Umwälzung unfähigen "Proletarier als Klasse" fällt auf ihn selbst zurück. Es ist die Projektion seiner eigenen Schwierigkeit, die im Kapitalismus angelegte Zukunft zu erkennen, auf das einzig mögliche Subjekt dieser Zukunft. Auf der Suche nach ersatzweisen "Wegen aus dem Kapitalismus" ist er nun bei einem neuartigen Ersatzsubjekt gelandet. Einem Subjekt, das nicht mehr stellvertretend im Namen der Klasse, sondern abseits von ihr im eigenen Namen agieren soll, um dann die "gesamte Reproduktion" und damit auch die Klasse, die sie trägt, "aufzurollen und emanzipatorisch umzuformen". Das Befremdliche an diesem schlecht utopischen Projekt ist für mich nicht nur das Unverständnis für die kapitalistische Warenproduktion, das es verrät, sondern auch, daß es auf den von Uli sonst so verpönten "Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft" hinausläuft, wenn auch wahrscheinlich nur aus Gedankenlosigkeit.

(36) Ich habe mir lange überlegt, ob und wie ich diese Kritik schreiben soll. Mein Motiv ist nicht, Uli zu verletzen. Aber ich sehe auch nicht, wie das zu vermeiden wäre. Wenn der Grundkonsens, von dem ich eingangs sprach und der für mich für eine solidarische Auseinandersetzung unverzichtbar ist (was aus allen Texten und Diskussionen der letzten Jahre deutlich geworden sein sollte), so massiv verneint wird, wie es bei Uli jetzt der Fall ist, dann muß die Rücksicht auf persönliche Empfindlichkeiten zurückstehen hinter der unumgänglichen Kritik und Abgrenzung. Zumal Uli den bisherigen Diskussionsprozeß mitsamt allen Positionen, die seinen jüngsten Texten widersprechen, wie Luft behandelt. Und auch das ist eine Form der Verletzung.


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