Home   Was ist ot ?   Regeln   Mitglieder   Maintainer   Impressum   FAQ/Hilfe  

PDS-Programmentwurf, Teil 2

Maintainer: Hans-Gert Gräbe, Version 1, 03.05.2001
Projekt-Typ:
Status: Archiv

(1)

II. Die gegenwärtige Welt

1. Die Krise der Nachkriegsordnung

(2)

Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hatte eine tief greifende Krise aller Wirtschaftsformen und der gesamten internationalen Nachkriegsordnung eingesetzt. Diese Krise erfasste den Staatssozialismus, die national befreiten Länder und die hochentwickelten kapitalistischen Staaten. Die nach 1945 entstandenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen wurden zu Fesseln. Es begann ein Kampf darum, durch welche Strukturen sie ersetzt werden sollten. In den achtziger und frühen neunziger Jahren setzte sich die Strategie des neoliberalen Umbaus des Kapitalismus weit gehend durch.

(3)

Der Staatssozialismus sowjetischen Typs geriet in Europa in den siebziger Jahren in eine Phase des Niedergangs. Das System der Zentralverwaltungswirtschaft machte den Übergang zu einer intensiven Entwicklung der Volkswirtschaften unmöglich. Der Kampf um die höhere Arbeitsproduktivität ging verloren. Das politische System der kommunistischen Einparteiendiktatur erfuhr wachsenden Widerstand. Emanzipatorische Ansprüche, Pluralisierung der Gesellschaft und Öffnung stießen auf die Grenzen der politisch- wirtschaftlichen Strukturen dieses Systems.

(4)

Die Volksbewegungen in den osteuropäischen Ländern führten am Ende der 80er Jahre zum Zusammenbruch der erstarrten politischen Herrschaftssysteme des Staatssozialismus und setzten für kurze Zeit wesentliche Demokratisierungen des gesellschaftlichen Lebens in Gang. Heute zeigt sich: Die Verbitterung über die Resultate des gescheiterten Sozialismusversuchs, die weltweit herrschende kapitalistische Produktionsweise und die dominierenden politischen Systeme verhinderten, dass die demokratischen und sozialistischen Ideale dieser Bewegungen verwirklicht werden konnten.

(5)

Die antikoloniale Bewegung brachte in den fünfziger und sechziger Jahren mit Unterstützung des staatssozialistischen Systems und breiter demokratischer Kräfte die großen Kolonialreiche des 19. und 20. Jahrhunderts zum Zusammenbruch. Es entstanden neue Staaten. Aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Strukturen der internationalen kapitalistischen Ordnung konnten jedoch die meisten dieser Länder die neue politische Freiheit nicht in eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung umsetzen. Aus Kolonialländern verwandelten sie sich zumeist in die abhängige Peripherie oder den Hinterhof des kapitalistischen Weltmarktes. Schon in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde deutlich, dass viele von ihnen ohne grundlegende internationale Veränderungen keine Perspektive haben.

(6)

Der kapitalistische Wohlfahrtsstaat, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa und den USA entstand, konnte über eine lange Phase der Prosperität eine Annäherung an weit gehende Vollbeschäftigung, steigende Arbeitseinkommen und Sozialleistungen im Alter, bei Krankheit, Berufsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit gewährleisten, ohne jedoch Armut jemals vollständig zu überwinden. Industrielle Massenproduktion materieller Güter und private Massenkonsumtion waren hervorstechende Merkmale dieses Kapitalismus. Damit verbunden war eine Ausweitung partizipatorischer Möglichkeiten -- z. B. der betrieblichen Mitbestimmung. Nicht alle, aber auch nicht wenige Träume der Sozialdemokratie gingen in Erfüllung. Und es war nicht nur, aber doch zuerst den Gewerkschaften, der Sozialdemokratie, sozialistischen Bewegungen und Parteien sowie der Konkurrenz mit dem Staatssozialismus zu verdanken, dass Institutionen entstanden, die den Interessen der Arbeiterschaft Geltung verschaffen konnten und das Prinzip der Kapitalherrschaft partiell durch das Prinzip sozialer Partizipation ergänzten. Der Wohlstand wurde allerdings mit der Unterdrückung und Ausbeutung der so genannten Dritten Welt, mit der zunehmenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und mit dem Festhalten an patriarchalen Verhältnissen bezahlt.

(7)

Wenn die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft in den siebziger Jahren in die Krise kamen, so nicht, weil schnell steigende Löhne, wachsende staatliche Umverteilungen, eine Förderung der Nachfrage durch Steigerung öffentlicher Ausgaben und staatliche Steuerung über Großorganisationen falsch waren. Die Grenzen des alten Modells sind in hohem Maße die Folgen seines Erfolgs. Die Krise war das Ergebnis eines Wachstumstyps, der nur so lange funktionierte, wie immer neue Bereiche des menschlichen Lebens in Erwerbsarbeit umgewandelt, wirtschaftlich durchorganisiert und rationalisiert werden konnten, bis schließlich immer weniger gesellschaftliche Arbeit notwendig war, um Konsum- und Investitionsgüter zu erzeugen.

(8)

Der durch eine solche Entwicklung entstandene Reichtum an Zeit aber konnte in dieser Gesellschaft nur verwendet werden, um noch mehr zu produzieren, und er wurde investiert, um noch mehr lebendige Arbeit einzusparen. Dies konnte nicht schrankenlos fortgesetzt werden. Das Wachstum der Massenproduktion mündete in eine globale Umweltkrise. Tendenzielle Vollbeschäftigung schlug um in anschwellende Massenarbeitslosigkeit. Die Beschränktheit der Binnenmärkte dämpfte den Zuwachs der Profite. Es begann die Suche nach Auswegen aus der Krise des Nachkriegskapitalismus.

2. Die neoliberale Offensive

(9)

In den siebziger Jahren formierte sich eine große neoliberale Gegenreform von oben. Der nach den Erfahrungen der Großen Depression der zwanziger Jahre und dem Faschismus sowie unter dem Einfluss der Konkurrenz mit der Sowjetunion und ihrer Verbündeten und durch die Kämpfe der Arbeiterbewegung und anderer sozialer Gruppen zustande gekommene Kompromiss zwischen Kapitalinteressen und organisierter Arbeiterbewegung in den westlichen Hauptmächten wurde aufgekündigt.

(10)

Die neoliberale Offensive beschleunigte den Zusammenbruch der Sowjetunion durch eine neue Runde des hochtechnologischen Wettrüstens. Den Ländern der Dritten Welt wurde eine Politik der Marktöffnung für internationale Konzerne, der Deregulierung und Absenkung sozialer Standards aufgezwungen. Sie verloren weit gehend die Souveränität über die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer Entwicklung.

(11)

Ein hervorstechendes Merkmal dieser neuen Form des Kapitalismus ist die verstärkte Unterordnung von Wirtschaft und Gesellschaft unter das Ziel der Maximierung von Profiten, besonders der Wertsteigerung von Aktien und der Gewinne aus Finanzspekulationen. Die Entwicklung von Unternehmen, Volkswirtschaften und der Weltwirtschaft wird an diesem Ziel ausgerichtet. Rationalisierung, Privatisierung, Deregulierung, Globalisierung und Standortwettbewerb sind die Stichworte dieser Strategie.

(12)

Der neoliberale Kapitalismus verspricht Vermögenszuwächse und private Freiheit durch Aktien- und Immobilienfonds. In der Realität wird die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums polarisiert. Der Abstand zwischen Oben und Unten, zwischen Arm und Reich wird zur Kluft. Eine neue Klassenstruktur ist im Entstehen: Die Macht wird global in den Händen der transnationalen Konzerne und Finanzzentren konzentriert. Am schnellsten vollzieht sich der Machtzuwachs der internationalen Banken und der Investment- und Pensionsfonds. Obwohl damit die Gefahr des Zusammenbruchs der internationalen Finanzen zunimmt, wächst der Anteil der Bevölkerung, der durch Aktienbesitz in diesen Kapitalismus eingebunden ist.

(13)

Kleine und mittlere Unternehmen sind durch Zuliefernetze von den großen Konzernen abhängig, die viele der Risiken auf sie abwälzen. Sie stehen unter so hartem Konkurrenzdruck, dass die Arbeitsbedingungen in diesen Unternehmen nicht selten schlechter als in Großunternehmen sind. Insofern diese Unternehmen in regionalen Wirtschaftskreisläufen tätig sind, unterscheiden sich ihre Interessen erheblich von denen der global agierenden Konzerne. Sie teilen mit den Verbraucherinnen und Verbrauchern Interessen an einer Stärkung der Binnenmärkte, gehören oft selbst zu den Opfern von Rationalisierung und Kostendruck. Anders als die Großkonzerne tragen sie wesentlich zum Steueraufkommen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen bei.

(14)

Die Zahl der Beschäftigten im Hochlohnsektor mit Vermögensanlagen in Fonds und Aktien nimmt zu. Ihre privilegierte Stellung auf dem Arbeitsmarkt verschafft ihnen neue Möglichkeiten privater Absicherung und macht sie zugleich von Krisen auf den Kapitalmärkten abhängig. Auf der anderen Seite stehen Arbeitslose und jene, die in den Niedriglohnsektor absinken und um das tägliche Überleben kämpfen. Große Gruppen werden zu Dienstboten der neuen Mittelschichten. Die Gesellschaft wird auf neue Weise gespalten. Vor dem Hintergrund dieser Bedrohungen werden viele durch Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und Rassismus verführt.

(15)

Der neoliberale Kapitalismus verspricht neue Chancen für die Integration sozial Benachteiligter. Er macht diese Integration jedoch weit gehend von der Verwertbarkeit auf den Märkten abhängig. Vom Standpunkt dieser Märkte erscheinen viele Bevölkerungsgruppen und sogar große Regionen jedoch als "überflüssig". Es kommt zum Ausschluss derer, die für das Funktionieren einer kapitalistischen Hochleistungsgesellschaft nicht gebraucht werden. Es entstehen städtische Ghettos und ländliche Räume ohne jede Perspektive. Der moderne Pauperismus ist die zwangsläufige Folge einer Politik der weltmarktorientierten Standortsicherung.

(16)

Der neoliberale Kapitalismus verspricht eine Epoche neuer wirtschaftlicher Dynamik und globalen Wohlstands durch Deregulierung, unkontrollierte Öffnung der nationalen Märkte und Schwächung solcher gesellschaftlichen Gegenmächte wie der Gewerkschaften. In der Realität wird die Kluft zwischen Zentrum und Peripherie der kapitalistischen Weltwirtschaft größer. Während sich die internationale Vernetzung zwischen den Ländern der drei Zentren, Nordamerika, Japan und Westeuropa, und besonders in der Europäischen Union verstärkt, fallen ganze Regionen faktisch aus dem Welthandel heraus. Der Aufstieg einer Reihe von Schwellenländern wird vom Abstieg vieler anderer Länder begleitet. Ungefähr eine Milliarde Menschen lebt in vollständigem Elend. Die Globalisierung hat zu einer beispiellosen sozialen Polarisierung geführt.

(17)

Der Neoliberalismus verspricht eine Gleichstellung von Männern und Frauen. Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen ist tatsächlich eine Chance für Emanzipation. Den Aufstieg von Männern und Frauen in den Hochlohnsektoren sichert eine Klasse von zumeist weiblichen Dienstboten ab. Ihre Arbeitsverhältnisse sind durch eine entwürdigende Abhängigkeit gekennzeichnet. Armut trifft vor allem Frauen und Kinder. Sexismus und die Vermarktung von Frauen und Kindern sind zu einem globalen Übel geworden.

(18)

Die Mitbestimmung der Arbeiterinnen und Arbeiter und Angestellten wird zurückgedrängt. In der Bundesrepublik existiert diese gesetzlich geregelte Gegenmacht der Lohnabhängigen nur noch in zehn Prozent aller betriebsratsfähigen privaten Unternehmen. Der Flächentarifvertrag ist in Ostdeutschland bereits weit gehend beseitigt und wird im Westen weiter ausgehöhlt und auf die Stammbelegschaften eingeschränkt. Das Realeinkommen aus Erwerbstätigkeit stagniert. Die Mehrheit der neuen Arbeitsverhältnisse sind keine Dauerarbeitsverhältnisse. Bildung, Gesundheit, Wissenschaft, Information und selbst die genetische Vielfalt der Natur werden privatisiert.

(19)

Der neoliberale Kapitalismus stellt eine Bedrohung der Menschheit dar. Prozesse eines ungezügelten Kapitalismus und der Versuch der herrschenden Eliten, ihre Macht durch die Mittel der politischen Diktatur zu sichern, hatten in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zur Großen Depression und zum Faschismus und Nationalsozialismus geführt. Heute wird versucht, einen ungezügelten Kapitalismus mit den Mitteln der ökonomischen Diktatur, der neoliberalen Sachzwanglogik, der Verwandlung des Sozialstaats in einen Wettbewerbsstaat, mit dem Diktat der internationalen Finanzinstitutionen und einem militärischen Interventionismus durchzusetzen.

(20)

Der gewandelte Kapitalismus stellt eine Fessel für jene Potenziale dar, die er selbst hervorbringt: Gestaltungsspielräume durch ökologisch verantwortbare Reichtumssteigerung, freie Zeit für selbstbestimmte Lebensweisen durch Produktivitätswachstum, Bedingungen bewusster Gesellschaftsgestaltung durch Zuwachs an Wissen und Information , Zugang zu anderen Kulturen durch Internationalisierung, libertäres Denken und gewachsene emanzipatorische Ansprüche durch Individualisierung, Chancen für Demokratisierung von unten durch Regionalisierung, erdumspannende Vernetzung alternativer Akteure durch das Internet und globale Aktionen. Diese Potenziale werden für sozialistische Politik und die Veränderung der Kräfteverhältnisse gebraucht.

(21)

Weit mehr noch als zu Marx' Zeiten gilt heute seine Feststellung, dass in der bürgerlichen Gesellschaft jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger geht: Je produktiver die Arbeit und je reicher dadurch die Gesellschaft wird, desto weniger scheint diese sich leisten zu können. Je tiefer die wissenschaftlichen Einsichten in die gefährdeten Stabilitätsbedingungen der Natur werden, desto rücksichtsloser werden zugleich neue Technologien in einen umweltgefährdenden Wachstumsmotor verwandelt. Je dringlicher die Umbrüche eine gestaltende Politik zur Abwehr großer sozialer und ökologischer Gefahren erfordern, desto mehr unterwirft sich die Politik den unkontrollierbar gemachten Weltmarktmechanismen. Je stärker durch die Umwälzungen der Gegenwart das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit ausgeprägt wird, desto mehr demontiert die Politik die sozialen Sicherungssysteme. Je größer die technischen Mittel der Medienwelt für Aufklärung und Kultur werden, desto erschreckender wird der kulturelle Niedergang, den sie verbreiten.

(22)

Der Widerspruch zwischen der Entfaltung neuer Produktivkräfte und ihrer Unterwerfung unter die bornierten Verhältnisse der Kapitalverwertung ist allgegenwärtig. Die Nutzung der neuen Möglichkeiten der menschlichen Zivilisation für einen sozialen und ökologischen Umbau aller gesellschaftlichen Verhältnisse anstatt fortschreitender Zerstörung menschlicher Lebensbedingungen rückt in das Zentrum emanzipatorischen Handelns.

3. Der Kapitalismus im Zeitalter von Informations- und Kommunikationstechnologien

(23)

Die Krise der Nachkriegsordnung, die radikale Offensive des Neoliberalismus sowie die tief greifenden Wandlungen der Bedürfnisse, Werte und Lebensweise haben eine Revolution der technologischen Produktionsweise der hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaften vorangetrieben. Informations- und Kommunikationstechnologien lösten die industrielle Maschinerie als Grundlage moderner Produktion ab. Neue, bisher ungekannte Produktivkräfte wurden freigesetzt und gleichzeitig in die Strukturen der Kapitalverwertung eingebunden. Auf die Ökonomie der physischen Produktion folgt die Ökonomie von Information und Kommunikation. Die Subjektivität der Einzelnen und die Kooperation von Gruppen werden zu den eigentlichen Quellen des gesellschaftlichen Reichtums und zu Ansätzen von Alternativen. Der Industriekapitalismus wird durch den "Informationskapitalismus" abgelöst.

(24)

Wichtigste produktive Kraft des früheren Kapitalismus war die Industriearbeiterschaft: unmittelbare qualifizierte Arbeit an Maschinen leistend, dem Kommando des vorgegebenen Produktionsablaufs unterstellt, standardisierte Güter für standardisierte Bedürfnisse herstellend. Wichtigste produktive Kraft des neuen Kapitalismus sind die Wissens- und Informationsarbeiterinnen und -arbeiter. Der Kapitalverwertung untergeordnet, entfaltet sich ihr produktives Vermögen in flexiblen Netzwerken. Kreativität, Eigenmotivation und Selbstkontrolle einerseits und Kooperation, schöpferische Gemeinschaftsarbeit und Wettbewerb andererseits prägen ihren Arbeitsalltag. Die hohe Abhängigkeit von kurzfristigen Verwertungsinteressen untergräbt diese Potenziale und verwandelt sie in härteste zwischenmenschliche Konkurrenz, Selbstausbeutung und Überarbeitung.

(25)

Wichtigste Form sozialer Kooperation des früheren Kapitalismus war die Unterstellung unter ein Kommando. Wichtigste Form der Kooperation des neuen Kapitalismus sind die Netzwerke der Informationsarbeiterinnen und -arbeiter. Die direkte Arbeitsorganisation wird verstärkt in die Verfügung der Beschäftigten gestellt und zugleich unmittelbar an der Kapitalrentabilität gemessen. Selbstverwaltung und Mitbestimmung werden zu technologischen Erfordernissen. Die Leitung und Kontrolle müssen zumindest teilweise an die Beschäftigten delegiert werden. Die wichtigsten Entscheidungen aber sind ihrer Kontrolle entzogen. Zugleich nimmt für jenen großen Teil der Beschäftigten, der nicht zur Informationsarbeiterschaft gehört, die fremdbestimmte, monotone Arbeit zu.

(26)

Wichtigstes Austauschverhältnis des früheren Kapitalismus war das Lohnarbeitsverhältnis der Industriearbeiterschaft. Es stellt ein Verhältnis des ungleichen Tauschs von Lohn gegen Arbeitszeit dar, in der sich die Arbeiterinnen und Arbeiter fremdem Kommando unterordnen. Im neuen Kapitalismus werden weit mehr als zuvor kreative, kommunikative, soziale Leistungen der Informationsarbeiterinnen und -arbeiter ungleich gegen Geld getauscht. Das Lohnverhältnis wird verstärkt mit Verhältnissen von selbständiger oder quasi-selbständiger Tätigkeit kombiniert. Leistungen werden durch Geld, Aktien oder Aufstiegsperspektiven honoriert. Diese Anerkennung ist jedoch von kurzfristigen Konjunkturen abhängig.

(27)

Wichtige Bedürfnisse der Industriearbeiterschaft konnten durch die Massenproduktion der Nachkriegsjahrzehnte zum ersten Mal erfüllt werden. Patriarchale Familienverhältnisse, stabile Beschäftigungsverhältnisse und soziale Absicherung im Alter, bei Krankheit, Berufsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit zeichneten unter den günstigen Bedingungen einer Reihe kapitalistischer Industriegesellschaften die Lebensweise der meisten Erwerbsabhängigen aus. Die neue Informationsarbeiterschaft dagegen ist durch Individualisierung, Streben nach selbstbestimmten persönlichen und beruflichen Beziehungen und offene Lebensplanung geprägt. Das oft hohe Einkommen ist völlig von der aktuellen Marktlage abhängig. Familiäre und partnerschaftliche Bindungen werden zu Hemmnissen auf dem Arbeitsmarkt. Gesundheitliche Einschränkungen und Alter werden zu existenziellen Bedrohungen.

(28)

Die großen Konzerne des neuen Kapitalismus planen die Entstehung neuer Märkte und versuchen in Kooperation mit staatlichen Akteuren, diesen Prozess abzusichern. Sie konzentrieren sich auf die strategischen Kernbereiche der Herausbildung und Verteidigung dieser Märkte. Dies ist mit der Auslagerung jener Bereiche in abhängige kleinere und mittlere Unternehmen verbunden, die keine unmittelbare strategische Bedeutung haben.

(29)

Drohte schon der Industriekapitalismus die Ressourcen der Natur aufzuzehren, so beutet der Informationskapitalismus auch die kulturellen Ressourcen der Menschen aus. Deren Grundlage ist allgemeine Arbeit, Arbeit, die immaterielle Güter bereitstellt. Im Unterschied zu materiellen Gütern verschleißen immaterielle Güter durch ihren Gebrauch nicht. Je häufiger sie genutzt werden, desto größer ihre Produktivität und ihr Beitrag zur Wohlfahrt der Gesellschaft. Die private Monopolisierung dieser Reichtümer widerspricht deren Wesen als öffentliche Güter. Nur dann, wenn kultureller Reichtum allgemein zugänglich ist, kann er auch umfassend produktiv entwickelt und genutzt werden. Indem das Leben durch eine profitorientierte Kultur-, Medien- und Freizeitindustrie fast vollständig dominiert wird, wird die Fähigkeit von Menschen und Gemeinschaften, eigenständig kulturelle Zusammenhänge zu erzeugen und selbstbewusst den Sinn von Leben zu bestimmen, untergraben.

(30)

Der neue Kapitalismus ist zutiefst widersprüchlich. In rigoroser Weise verlangt er die Unterordnung unter das Ziel der Profitmaximierung und bedarf zugleich der Individualität, Kreativität, Kollektivität und Selbstverantwortung größerer Teile der Bevölkerung. Der Konzentration aller strategischen Kompetenzen bei den Konzernzentralen stehen Planungs- und Koordinationsaufgaben auf der Ebene der Arbeitsgruppen gegenüber. Die Monetarisierung aller Beziehungen widerspricht der Bedeutung von schöpferischem Eigeninteresse am Inhalt der Arbeit und von freier Kooperation. Dem Zwang, das gesamte Leben an schnell verwertbarer Leistung zu orientieren, steht die Bedeutung von Persönlichkeiten gegenüber, die reich an Bedürfnissen, Genüssen, Ideen und menschlichen Beziehungen sind. Das Ziel der Erhöhung der kurzfristigen Kapitalrendite und des Aktienwerts (des Shareholder value) widerspricht der Notwendigkeit langfristiger Marktentwicklung und perspektivreicher Unternehmensstrategien. Die Reduktion der Gesellschaft auf Märkte gefährdet die natürlichen, sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen gesellschaftlicher Produktivität und Innovation. An diesen Widersprüchen des modernen Kapitalismus setzt sozialistische Politik mit dem Ziel an, die neuen Potenziale der Gesellschaft emanzipativ und solidarisch zu nutzen.

4. Die globalen sozialen Probleme

(31)

Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Lebenschancen in der Weltgesellschaft zunehmend ungleich verteilt. Das betrifft alle Freiheitsgüter moderner Gesellschaften. Die globalen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen sichern das weit gehende Monopol der Oberschichten der Weltgesellschaft auf Bildung, Wissen, Kultur, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit und schließen große Teile der Weltbevölkerung ganz oder teilweise davon aus. In vielen Ländern herrschen Diktaturen. Extrem ungleich ist der Verbrauch der Naturressourcen zwischen "Nord" und "Süd" verteilt. Zehn Prozent der Weltbevölkerung im Norden produziert und konsumiert mehr als 70 Prozent der Güter und Dienstleistungen weltweit. Die imperiale militärische und sicherheitspolitische Hegemonie der USA und der NATO sollen den Erhalt der ausbeuterischen Strukturen garantieren.

(32)

Die Regierungen weniger Staaten und die Führungen von einigen Weltkonzernen und internationalen Großbanken haben die weit gehende Kontrolle über die wichtigsten internationalen Institutionen erlangt. Die transnationalen Konzerne haben fast ausschließlich ihren Sitz in den USA, der EU und Japan. Die innerstaatliche Demokratie der kapitalistischen Hauptländer wird der Sicherung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit untergeordnet. In den Ländern der kapitalistischen Peripherie, in denen die übergroße Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, werden die Regierungen zunehmend zu Ausführungsinstanzen der Beschlüsse der Institutionen des internationalen Kapitals, wie des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der Welthandelsorganisation (WTO). Es entsteht ein neuer Autoritarismus globaler kapitalistischer Institutionen. Eine demokratische Partizipation an der Entscheidung über die Grundprozesse der Globalisierung und der eigenen Wirtschafts- und Sozialpolitik wird fast unmöglich gemacht. Werden diese Entwicklungen nicht gestoppt und umgekehrt, so entsteht ein neuer Totalitarismus der Herrschaft transnationaler wirtschaftlicher und politischer Gruppen mit Hilfe monetärer und handelspolitischer Instrumente, wirtschaftlicher und politischer Erpressung und imperialer militärischer Übermacht.

(33)

Die Kluft zwischen den Reichen und Armen hat sich in den letzten Jahrzehnten weltweit verdoppelt. Das obere Fünftel der Weltbevölkerung bezieht fünf Sechstel aller Einkommen. Große Teile der Weltbevölkerung sind ohne reguläre Erwerbsarbeit, haben keinen Zugang zu elementarer Gesundheitsversorgung und Bildung. Sie werden immer stärker durch die Belastung der natürlichen Umwelt bedroht. Ganze Weltregionen sind von einem Prozess des Zerfalls elementarer staatlicher Strukturen erfasst. Bürgerkriege machen in vielen Ländern jede Hoffnung auf Besserung zunichte. Afrikas Anteil am Welthandel ist auf ein Prozent gesunken.

(34)

Die herrschende wirtschaftliche Entwicklungsweise hat schon jetzt die Lebensgrundlagen einer Reihe von Völkern zerstört. Menschlich verursachte Naturkatastrophen vernichten zunehmend Leben, Umwelt, Gesundheit und Infrastruktur. Eine globale Klimakatastrophe wird immer wahrscheinlicher. Ein kleiner Teil der Weltbevölkerung eignet sich die große Masse der Rohstoffe und Umweltgüter an und vernichtet so rücksichtslos die Lebensgrundlagen der zukünftigen Generationen.

5. Die Bundesrepublik Deutschland

(35)

In Deutschland erfolgte der massive Übergang der herrschenden Politik auf die Positionen des globalen Neoliberalismus mit zeitlicher Verzögerung. War es zunächst vor allem die Existenz der DDR, die politische Kräfte und Unternehmerverbände zu einer gewissen Zurückhaltung zwang, so zog 1990 die deutsch-deutsche Vereinigung die weit gehende Zerstörung der ostdeutschen Wirtschaft nach sich und bedeutete eine Sonderkonjunktur für die westdeutsche Wirtschaft. Ungeachtet dessen wurde eine Politik der Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Leistungen sowie einer wirtschaftlichen und sozialen Deregulierung sowohl in der Bundesrepublik selbst als auch in der Europäischen Union vorangetrieben. Mit dem Regierungswechsel 1998 wurde eine sozialdemokratisch modifizierte Form des neoliberalen Herrschaftsprojekts in Angriff genommen.

(36)

Das solidarische Sozialversicherungssystem wird einer kapitalistischen Modernisierung geopfert, die zur dauerhaften sozialen Ausgrenzung von Millionen und zu einer tiefen sozialen Spaltung in Modernisierungs"gewinner" und -"verlierer" zu führen droht, obwohl die materiellen Möglichkeiten zur Besserstellung der Benachteiligten in der Gesellschaft erheblich gewachsen sind. Die zunehmende Unterordnung von Politik unter die wirtschaftlichen Verwertungsinteressen ist zum wesentlichen Kennzeichen der herrschenden politischen Konzepte geworden. Sie ist offenkundig aktuell geeignet, die Anpassung der wirtschaftlichen Reproduktionsbedingungen an den neoliberalen weltweiten Standortwettbewerb weiter zu befördern. Die sozialen, kulturellen und ökologischen Lebensbedingungen werden dadurch jedoch gefährdet.

(37)

Der politische Strategiewechsel ging mit der offenen Aufgabe jener machtpolitischen Zurückhaltung einher, die in der Vergangenheit zur Überwindung des Misstrauens der europäischen Völker gegenüber Deutschland, zur festen Einbindung der Bundesrepublik in die westlichen Integrationszusammenhänge und zu einer bestimmten Zivilisierung deutscher Politik beigetragen hatte. Die Zurückgewinnung voller Souveränität durch den Zwei-Plus- Vier-Vertrag 1990 wurde als Argument für die "Normalisierung" deutscher Außen- und Militärpolitik, für den Anspruch auf eine dominante Rolle in der EU und für die aktive Beteiligung am Krieg gegen Jugoslawien genutzt.

(38)

Das politische System ist offenbar weniger als in den Nachkriegsjahrzehnten in der Lage, die Probleme human und sozial gerecht zu lösen. Der herrschenden Politik fehlen Visionen und der Wille zu sozialer Gestaltung. Sie ist von Machterhalt und kurzfristigen Sonderinteressen bestimmt. Soziale Deklassierung, Verunsicherung, Resignation, Entsolidarisierung und Zukunftsangst bereiten rechtsextremen und rassistischen Stimmungen und Organisationen mit den Boden. Die Sackgasse, in die das System geraten ist, wird am deutlichsten in Ostdeutschland sichtbar.

(39)

Die herrschenden Eliten des vereinigten Deutschlands haben das besondere historische Erbe der Geschichte der DDR und ihrer friedlichen Volksbewegung von 1989/90 ausgeschlagen. Die spezifischen Erfahrungen von Menschen im zweiten deutschen Staat nach 1945 wurden ignoriert. Dies gilt unter anderem für die Erfahrungen von Frauen in einer Gesellschaft der Vollbeschäftigung von erwerbsfähigen Männern und Frauen, für die Integration von Produktion und sozialen Leistungen in Betrieben, für die genossenschaftliche Landbewirtschaftung, die integrierten Gesundheitsdienste, die Eigenständigkeit des akademischen Mittelbaus an den Hochschulen, die Multidisziplinarität an Universitäten, die breite Förderung kultureller und sportlicher Einrichtungen, von Kinderbetreuungseinrichtungen und Einrichtungen zur Freizeitbeschäftigung Jugendlicher. Es wurde eine einseitige Anpassung an Westdeutschland gefordert und weit gehend erzwungen.

(40)

Das politische Konzept, durch die bloße Übernahme westdeutscher Institutionen einen selbsttragenden Aufschwung erreichen zu wollen, ist gescheitert. Gescheitert ist die Hoffnung, dass der Markt die Dinge richten wird. Gescheitert ist die Illusion, bei Missachtung ostdeutscher Erfahrungen und Biographien, nach weit gehender Abwicklung der DDR- Intelligenz, bei Verringerung des ostdeutschen Industrieforschungspotenzials auf unter 20 Prozent gegenüber 1989 und bei andauernder Diskriminierung Ostdeutscher einfach zur Tagesordnung überzugehen. In dem Jahrzehnt nach 1990 haben 1,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter mit ihren Kindern Ostdeutschland verlassen. Viele Gebiete Ostdeutschlands sind von Unterentwicklung erfasst worden.

(41)

Das in Ostdeutschland stark ausgeprägte Verlangen nach sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit, die kapitalismuskritischen Haltungen und das verbreitete Misstrauen gegenüber der Funktionsweise der bundesdeutschen Demokratie sowie die Forderung nach mehr direkter Demokratie sind kein ostdeutscher Rückstand, sondern ein wichtiger Ausgangspunkt für soziale, ökologische und demokratische Politik. Die Bedeutung regionaler Verflechtung kleiner und mittlerer Unternehmen, die zentrale Stellung regionaler Binnenmärkte, die entstandenen Ansätze öffentlich geförderter Beschäftigung wollen wir für den Übergang zu sozial und ökologisch nachhaltiger Entwicklung nutzen.

(42)

Der von vielen Menschen gewünschte und geforderte grundlegende Politikwechsel ist von den Regierenden in Deutschland und in der EU blockiert worden. Der Neoliberalismus ist in Deutschland geistig und kulturell dominant. Die politischen und sozialen Gegenkräfte sind bisher schwach und kaum miteinander verknüpft. Wir stellen jedoch fest, dass sich das intellektuelle Klima zu wandeln beginnt. Wir wollen aktiv dazu beitragen, die konservativ- neoliberale Hegemonie zu überwinden und gemeinsam mit Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und anderen politischen Kräften für ein neues politisches Projekt der sozialen, ökologischen und demokratischen Erneuerung der Gesellschaft wirken.

6. Die Europäische Union

(43)

Im Bruch mit grundlegenden politischen Vorstellungen der Vergangenheit sprach sich die PDS bereits Anfang 1990 für die Beteiligung an der Europäischen Gemeinschaft aus. In ihrem Europawahlprogramm stellte sie eindeutig fest: "Die PDS ist eine europäische sozialistische Partei. Sie sagt Ja zur europäischen Integration." Dabei bestehen keine Illusionen. Die Europäische Union ist in den 90er Jahren mit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam noch stärker zu einer von Banken- und Konzerninteressen geprägten Integrationszone ausgebaut worden. Die nationalen Regierungen und die Europäische Kommission nutzen die EU als eines ihrer machtvollsten Instrumente zur Durchsetzung neoliberaler Deregulierung und Privatisierung in Europa. Die Einführung der gemeinsamen Währung erfolgte als Bestandteil des Angriffs auf europäische sozialstaatliche Traditionen und unter Missachtung aller Erfordernisse wirtschafts-, sozial- und beschäftigungspolitischer Koordinierung.

(44)

Am Anfang des 21. Jahrhunderts steht die Europäische Union ihren Bürgerinnen und Bürgern als eine machtvolle, aber unsoziale und undemokratische Realität gegenüber. Weit reichende Souveränitätsrechte der Staaten sind an die EU abgegeben und der nationalen demokratischen Kontrolle entzogen worden, ohne der demokratischen Entscheidung des Europäischen Parlaments unterworfen worden zu sein. Mit dem Schengener Abkommen und mit ihrer Handels- und Landwirtschaftspolitik erweist sich die EU als eine Festung gegen die Nöte des Südens und Ostens. Begonnen hat die Umwandlung der EU in eine Militärunion. Sie beansprucht, zusätzlich zur NATO, mit einer hochtechnologischen Interventionsmacht international und gegebenenfalls unter Bruch des Völkerrechts militärisch operieren zu können. Der Beitritt mittel- und osteuropäischer Staaten, der zur Überwindung europäischer Spaltungen, zu einer sozialen, demokratischen, ökologischen und nicht zuletzt zivilen Erneuerung der europäischen Integration beitragen könnte, wird dem neoliberalen und militärischen Machtanspruch der EU untergeordnet.

(45)

Diese -- in der deutschen Öffentlichkeit weit gehend verschwiegenen -- Entwicklungen und ihre Gefahren benennen wir klar. Ihnen leisten wir gemeinsam mit europäischen und anderen sozialen Bewegungen Widerstand. Zu ihnen formulieren wir unsere Alternativen eines neuen Integrationsprojektes, das erstens die Demokratiedefizite der EU überwindet, zweitens die europäische Integration sozial und ökologisch orientiert, drittens die Osterweiterung und die Neugestaltung des Verhältnisses von Westeuropa zu Russland, der Ukraine und den anderen Staaten der Osteuropas nutzt, um in Europa eine von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit bestimmte kooperative und dauerhafte Friedenssicherung zu gewährleisten.

(46)

Die Nationalstaaten sind auch in Europa noch die entscheidenden politischen Räume. Für die Verteidigung und die Erneuerung der demokratischen, sozialen und anderen Errungenschaften, die dem Manchesterkapitalismus abgerungen wurden und ihn überwanden, sind die Kämpfe in den Nationalstaaten nach wie vor bedeutsam, doch sie reichen nicht aus. Die Europäische Union ist die notwendige politische und wirtschaftliche Ergänzung, um einen über die neoliberale Globalisierung vermittelten Abbau von Sozialstaatlichkeit abzuwehren und hohe soziale und ökologische Standards, die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, kontinentale Solidarität, kulturellen Reichtum und demokratische Teilhabe aller an ihren kommunalen ebenso wie ihren europäischen Angelegenheiten zu sichern.

(47)

Wir stellen fest, dass manche Ansätze in der Beschäftigungs-, Umwelt-, Sozial- und Regionalpolitik der Europäischen Kommission und der politischen Zusammenarbeit in der EU auch heute schon Chancen bieten, nationale Borniertheit zurückzudrängen, die politische Kultur anderer Völker nutzbar zu machen, politische Kräfteverhältnisse zugunsten eines modernen zivilgesellschaftlichen Widerstandes gegen den globalen Neoliberalismus zu verändern. So, wie das 20. Jahrhundert mit dem ersten Krieg zu Ende ging, an dem die EU auch formal beteiligt war, dem Krieg gegen Jugoslawien, so muss das 21. Jahrhundert jenes werden, in dem der Krieg endgültig vom europäischen Kontinent verbannt ist. Es gibt für uns kein wichtigeres Ziel europäischer Politik.

7. Das politische Projekt der "Neuen Mitte"

(48)

Die Kluft zwischen den Versprechungen des neoliberalen Kapitalismus einerseits und wachsender sozialer Spaltung, Unsicherheit und Bedrohung andererseits hatte den Druck der Bevölkerung auf die herrschenden Eliten erhöht, Alternativen anzubieten. In den USA wie in Europa kam es zum Aufstieg einer Politik der "Neuen Mitte" oder der "Dritten Wege". Die Hoffnungen auf eine Wende hin zu einer sozialen und ökologischen Politik wurden jedoch überwiegend enttäuscht. An die Stelle eines versprochenen sozialen und emanzipatorischen Projekts trat eine politische Strategie, die die Grundtendenzen des neoliberalen Kapitalismus mit sozialer Reintegration zu verbinden sucht. Ziel ist ein neuer Gesellschaftsvertrag, bei dem die Peitsche der "Sachzwänge" der Kapitalverwertung mit Zugeständnissen an verschiedene Gruppen der Bevölkerung verbunden wird. Es ist ein modifizierter Herrschaftsvertrag.

(49)

Die Konkurrenz der weltwirtschaftlichen Blöcke, Staaten, Gesellschaften, Regionen und Individuen um ihre Behauptung auf globalisierten Märkten wird durchgesetzt. Gleichzeitig soll ein "aktivierender Staat" durch Investitionen in Bildung und Infrastruktur die Wettbewerbsfähigkeit der Gesellschaften und der Einzelnen auf dem Arbeitsmarkt steigern. Die Privatisierung sozialer Risikovorsorge wird weiter ausgebaut, aber sie erhält staatliche Förderung. Die Durchsetzung eines breiten Niedriglohnsektors wird betrieben, aber staatliche Lohnzuschüsse oder Steuernachlässe sollen diesen akzeptabler machen. Mit den Kerngruppen der Lohnabhängigen und ihren Gewerkschaften wird ein Konsens gesucht, um diese Strategie konfliktfreier durchzusetzen. Dabei werden ihnen Zugeständnisse gemacht, während andere Teile der Beschäftigten und Arbeitslose ohne ausreichende solidarische Unterstützung bleiben.

(50)

Der angestrebte neue Gesellschaftsvertrag unter Wahrung der Dominanz globalisierter Kapitalverwertungsinteressen kann sich zur Zeit auf eine Mehrheit in der Gesellschaft stützen, da er gegenüber dem harten Neoliberalismus das kleinere Übel ist. Er vermag es unter bestimmten Umständen mittelfristig, zugleich Höchstprofite zu sichern, große Teile der Mittelschichten in dieses Projekt zu integrieren und die unteren Klassen teilweise abzufinden. Die soziale Regulation der Anpassung und Unterordnung unter den neuen Typ von Kapitalverwertung kann zur zeitweiligen Stabilisierung führen und sich als Gewinn für die einen, partielle Hilfe für andere und alternativloser Abstieg für viele erweisen.

(51)

Das politische Projekt der "Neuen Mitte" ist ambivalent. Es ist unvereinbar mit der Durchsetzung der sozialen, politischen und kulturellen Rechte für alle Menschen und unfähig, die entscheidenden Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen. Dieses Projekt führt nicht zu einer stabilen neuen Mitte, sondern unterwirft diese der Unsicherheit und Differenzierung und erzeugt eine tiefe soziale Spaltung zwischen Oben und Unten, Reich und Arm, hochqualifizierten Besitzern von lukrativen Arbeitsplätzen mit Vermögen einerseits und jeder Zeit ersetzbaren Dienstboten ohne jedes Vermögen andererseits.

(52)

Die sozialen Sicherungssysteme werden teilweise individualisiert und sind in Gefahr, an die extrem unsicheren internationalen Finanzmärkte angekoppelt zu werden. Die ökologischen Probleme werden trotz Teilverbesserungen global verschärft. Die Überwindung von Armut, Hunger und Beschäftigungslosigkeit im Süden wird weit gehend den dafür untauglichen Mitteln internationaler Märkte überlassen. Durch die Errichtung einer unilateralen Sicherheitsordnung der USA und ihrer Verbündeten und deren Selbstermächtigung zu militärischen Interventionen soll dieses System stabilisiert werden.

(53)

Das politische Projekt der "Neuen Mitte" bietet aber auch neue Formen sozialer Integration an. Im Unterschied zum klassischen Neoliberalismus erkennt es die Legitimität der Vertretung sozialer Interessen gegenüber dem Kapital an. Durch Bildung kann die "Verkaufsmacht" der Ware Arbeitskraft gegenüber dem Kapital erhöht werden. Die partielle Stabilisierung sozialer Sicherung kann der Tendenz zur völligen Unterordnung unter Kapitalverwertungsinteressen entgegenwirken. Die Einbindung von Gewerkschaften und Umweltorganisationen kann zur Vertretung von wichtigen sozialen und ökologischen Interessen führen. Die Förderung von zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation kann die Gesellschaft gegenüber Kapitalverwertung, patriarchalen Herrschaftsverhältnissen und Rassismus stärken. Die Fähigkeit zum Widerstand und die Bereitschaft zur Solidarität können wachsen. Dies böte die Chance, wenigstens das sozialstaatliche Modell des west- und nordeuropäischen Kapitalismus erfolgreich zu verteidigen.

(54)

Die Zwiespältigkeit des politischen Projekts der "Neuen Mitte" ist ein Ausgangspunkt unserer Politik. Wir wenden uns entschieden gegen jene Tendenzen, die eine neue Welle von Ausbeutung, Herrschaft und Diskriminierung durchsetzen. Wir unterstützen alles, was zivile Gegenmächte, Demokratie und gleichen Zugang zu den Freiheitsgütern unserer Gesellschaften stärkt. Wir arbeiten an dem Aufbau eines Reformbündnisses der tatsächlichen sozialen, ökologischen und demokratischen Erneuerung und wollen uns als Partner in dieses Bündnis einbringen.


Valid HTML 4.01 Transitional