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Kritik der PAQ-Kritik

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 11.03.2002
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Vorbemerkung

(1) Im folgenden sind drei Texte bzw. E-Mails dokumentiert, die die Ablehnung des Aufsatzes Zwischen Selbstverwertung und Selbstentfaltung - Zum neuen Charakter dezentral-vernetzter Produktionsweisen von Annette Schlemm und Stefan Meretz begründen und Vorschläge zum weiteren Vorgehen machen. Ich habe diese Texte unverändert übernommen. Der "noch unversandte Brief" von Christoph Ohm wurde inzwischen natürlich schon "versandt".

Christoph Ohm: Offener, noch unversandter Brief eines betrübten Redakteurs...

(2) ...an Annette Schlemm und Stefan Meretz, die Verfasser des Aufsatzes "Zwischen Selbstverwertung und Selbstentfaltung - Zum neuen Charakter dezentral-vernetzter Produktionsweisen".

Liebe Annette, liebe Stefan,

die Zeit, in der wir leben, ist dürftig.

Klein ist die Zahl derer - und ihr zählt zu dieser schrumpfenden Minderheit -, die immer noch am Ziel radikaler Demokratisierung der Produktion, an umfassender Selbstbestimmung der Produzenten festhalten und die auf dem Weg dahin unabdingbare Theoriearbeit leisten wollen: Analyse technologischer Umbrüche, ob sich mit ihnen Handlungspotentiale der Arbeitenden eröffnen; Prüfung der mit dem Namen Marx verbundenen Denkinnovationen, inwieweit sie nutzbar sind, die Sprengkraft in den neuen Handlungspotentiale herauszufinden..

(2.1) Demokratisierung der Produktion?, 06.04.2002, 12:57, Bertrand Klimmek: Wenn es bloß darum ginge, die Produktion zu demokratisieren, d.h. den Markt zu atomisieren, anstatt ihn aufzuheben, dann würde das wohl kaum eine - nach Kriterien wie denen Marxens - freiere Gesellschaft bedingen. Mir ist es ziemlich egal, ob ich von einem autokratischen Chef oder von konkurrenzfetischistischen Kollegensubjekten zur Arbeit angetrieben werde. Was soll also die holde "Produzentendemokratie"? Der einzige Fortschritt wäre, daß mit der Figur des Vorgesetzten die ebenso dumme wie bequeme Projektionsfläche für konform rebellierende Kleingeister verschwinden würde ...

(3) Inspirierend an eurem Aufsatz ist sein zweiter, Perspektiven umreißender Teil, in dem ihr die freie, nicht- und anti-kapitalistisch orientierte Softwareproduktion darstellt und auf Versuche hinweist, diese Produktionsweise auf andere Produktionssphären zu übertragen und gegen die kapitalistische allgemein durchzusetzen.

(4) Betrüblich, weil den Weg zum Ziel durch Zerstörung von Erkenntnisressourcen verbauend, erscheint mir euer Umgang mit marxistisch orientierter Automationsforschung und deren Kernstück, der Widerspruchsanalyse. Hier kommt bei euch eine Vorgehensweise zustande, die an eine warenästhetische Strategie erinnert, mit der Konzerne Verbraucher dazu bringen, ihnen bisher brauchbar erscheinende Produkte wegzuwerfen: die Rede ist hier von künstlicher Obsoleszenz, zu deutsch: Produktvergreisung, also Innovation des Erscheinungsbilds bei gleichem oder sich verschlechternden Gebrauchswert.

(5) Erkenntnisse, die ihr gewonnen habt oder meint, gewonnen zu haben, verleiht ihr den Anschein eines radikal neuen Gebrauchswerts, indem ihr empirische Ergebnisse, Methoden und den gesellschaftsanalytischen Grundansatz der Projektgruppe Automation und Qualifikation (PAQ) als "veraltet" abtut. Produktvergreisung auf Ebene linker Theorieproduktion ist aber in jenen Fällen katastrophal die Theoriekultur, wo eben - im Gegensatz zur kapitalistsischen Warenproduktion - kein Überfluß herrscht, also an die Stelle des weggeworfenen Erkenntnismittels Leere tritt. -- Ich stelle im folgenden Hauptformen der im Text betriebenen künstlichen Veraltung dar.

"Vergreisung" des PAQ-Theorierahmens

(6) Die schädlichste und zugleich wirksamste Form der Zerstörung von Erkenntnismitteln besteht darin, zentrale Erkenntnisse von Marx zu veralten, indem man sie als veraltete Thesen des PAQ über Bord wirft. Das ist echt cool! Das unterläuft die theoretischen Abwehrmechanismen der MarxistInnen dieses Landes, denen gegenüber die Verf. gerne anschlußfähig bleiben wollen. Die MarxistInnen würden überaus hellhörig, sagten ihnen die Verf.: "Hier irrte Marx, -- und folglich irrte auch das PAQ, weil es eben diese falschen Thesen von Marx zur Grundlage seiner Methoden- und Konzeptentwicklung machte!"

(7) Es ist eine ganze Kette von genuin sich auf Marx stützende Orientierungen und Begriffen, die da im Zuge der PAQ-Kritik vorausschauend entsorgt werden. - Beginnen wir mit der Frage, in welche soziale Bewegung Forschung politisch intervenieren will, indem sie neue Zusammenhänge entdeckt.

>Verankerung im klassischen "Arbeiterbewegungsmarxismus"<</h4>

(8) Diese Frage stellte sich dem PAQ damals und sie stellt sich heute immer noch jedem Projekt der Automationsforschung in seiner Gründungsphase, wenn es sich nicht fremden Denkaufträgen unterwirft. Hier lautet eure Antwort:

>Ein zweiter Denkrahmen des Projekts ... steht heute in Gänze zur Disposition: die Verankerung im klassischen "Arbeiterbewegungsmarxismus"<</ul> Daß -- nicht nur in Deutschland -- Verbindungen zwischen Arbeiterbewegung und Marxismus mittlerweile umfassend desartikuliert sind, steht außer Frage. Aber ist es "veraltet", wenn eine Forschungsgruppe heute ihren Denkrahmen in der Perspektive organisiert, Erkenntnisse zu erarbeiten, die ArbeiterInnen nützen können, die sich "bewegen", sich also betrieblicher Herrschaft widersetzen, kollektive Handlungsfähigkeit entwickeln, Bedingungen verändern, Gegenmacht aufbauen wollen? Ist das Konzept der Arbeiterbewegung "veraltet"?

(8.1) Arbeiter!, 06.04.2002, 12:41, Bertrand Klimmek: "[...] die revolutionären Subjekte organisieren sich nicht als Arbeiter, sondern als Kommunisten, deren unmittelbares Ziel es nur sein kann, das Arbeiter-Dasein für immer abzuschütteln. In der kommunistischen Revolution kommt nicht die "Ontologie der Arbeit" (Lukacs) des "unmittelbaren Produzenten" zum Selbstbewusstsein [...]" "Wo die Arbeiter noch Arbeiter sein und sich positiv als Klasse mit Klassenbewusstsein formieren wollen, sind sie nur noch reaktionär, tendenziell "produktivkraftkritisch" und womöglich maschinenstürmerisch militant, aber völlig unfähig zu einer kommunistischen Perspektive."
(aus Lohoff/Kurz: Der Klassenkampf-Fetisch. Thesen zur Entmythologisierung des Marxismus; Hervorhebungen von mir)

(9) Als "veraltet" über Bord geworfen werden dann alle für kritische Sozialforschung allgemein und Automationsforschung speziell wichtige Grundlagen der Widerspruchsanalyse: das "Theorem vom Widerspruch der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse", der "Widerspruch von Arbeit und Kapital", der "Widerspruch von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung" und schließlich die für jede Analyse fundamentale Differenzierung "von Gebrauchswert- und Verwertungsstandpunkt", - auch die Analyse von "Arbeitsteilung".

(10) -- Was bleibt? Es ist der (jeden Ideologen des Kapitals erfreuende) Satz, daß >Arbeit und Kapital nicht Antipoden, sondern ergänzende Handlungszentren in der übergreifenden Gesamtdynamik der Wertselbstverwertung< sind, ein schönes kleines Sprachdenkmal eines antimarxistisch mißratenen Antikapitalismus.

(10.1) So'n Quatsch!, 06.04.2002, 12:43, Bertrand Klimmek: Jeder Ideologe des Kapitals freut sich über Arbeiter, die Arbeiter (und nicht Menschen) sein wollen.

(11) -- Was bleibt noch? Es ist die widerspruchsgeladene Realität des kapitalistischen Alltags, die der Widerspruchsanalyse heuristische Verführungskraft verleiht, die unwiderstehlich ist. Daher finden wir bei den Verf. bald ein Dutzend Sätze wie die folgenden:
>Das PAQ beschreibt die Widersprüche ohne die Austragungsformen derselben bereits erkennen zu können<<br> >der/die prekär (Schein-) Selbständige, der/die alle Widersprüche in einer Person vereint<<br> >drängt die jetzt entstehende neuartige vergesellschaftete Arbeitsform auf die Entfaltung der Individualität als Grundlage der neuen Produktion - unter kapitalistischen Bedingungen ein hoch widersprüchlicher Prozess<</p>

(12) -- Welche politsiche Strategie resultiert politisch aus der wegwerfenden Vergreisung des PAQ-Theorierahmens, die sich dann aber doch ungeniert aus dem Abfallkorb bedient? Es ist die Flucht aus den konkreten und gerade durch Automation, Computervernetzung und Internet sich zuspitzenden Widersprüche des kapitalistischen Alltags in einen abstrakten Revolutionarismus, der es sich versagt, da konkret zu intervenieren, wo der Lebensnerv kapitalistischer Herrschaft treffbar wäre, im Bereich der alltäglichen Mehrwertproduktion:
>Konnte das PAQ noch auf die Negation der "sozialismusförmige(n) Produktion für die Barbarei" (34) setzen, wonach die Form zwar angemessen ist, die Ziele aber neu definiert werden müßten, so geht heute nichts mehr unterhalb der Revolutionierung des umgreifenden Formzusammenhangs der totalen Wertverwertung. Es geht um die Aufhebung einer barbarischen Produktion für die Barbarei"<</p>

Künstliche Veraltung der Erkenntnisse über sozialökonomische Grundlagen der Automationsarbeit durch künstliche Beschleunigung historischer Zeit - das Konstrukt des Toyotismus als eines neuen Totalitarismus des Kapitals

(13) Im zuletzt zitierten Satz der Verf. deutet sich eine Strategie der umarmenden Entkräftung an, die dem PAQ attestiert, es hätte zwar allerlei -- zu seiner Zeit -- durchaus richtige Erkenntnisse gewonnen, aber die stürmische Entwicklung der vergangenen Jahre (seit 1987) hätte sie entwertet, denn sie gebiert den Toyotismus, der das Ganz Andere gegenüber der kapitalistischen Automatisierung darstellt, wie sie vom PAQ erforscht wurde:
>Bei den vom PAQ beobachteten Prozessen der Etablierung von Automationsarbeit handelt es sich um die ersten zarten Pflänzchen im Übergang zu den Zielen des Toyotismus, die sich zu großen Teilen noch in alten Formen entwickelten.<<br> >Der klassische PAQ-Automationsarbeiter ist bereits wieder im Schwinden begriffen und wird ersetzt durch den neuen "Symbolarbeiter".<<br> >Die Anfänge dieser Umwälzung konnte das PAQ beobachten, wenn auch nicht begreifen.<<br> >Es war - aus heutiger Sicht gesehen - undenkbar, in welcher Weise sich die Widersprüche, die dem vermeintlichen Antagonismus von Kapital und Arbeit zugeschrieben wurden, transformieren würden.<

(14) Es hat -- so sagen uns die Autoren -- in den vergangenen 15 Jahren ein Entwicklungssprung in den Betrieben des Kapitalismus stattgefunden, der die alten Konzepte des PAQ bersten ließ, eine Automation jenseits der Automation: der Toyotismus.

(15) Man suche im Text Antwort auf die Frage: worin eigentlich unterscheidet sich die Arbeit im Toyotismus grundlegend von der durchs PAQ analyisierten Automationsarbeit, in der die Arbeitenden in strategische Subjektpositionen einrücken, selber Entscheidungen über die "ökonomische Fahrweise" von Großanlagen treffen müssen, die früher vom Management getroffen wurden?

(16) Gibt es einen Entwicklungsprung von der Automationarbeit zu toyotistischen Arbeit, der in seiner Reichweite vergleichbar wäre mit dem vom PAQ rekonstruierten Entwicklungssprung von industrieller Arbeit zur Automationsarbeit?
-- Man wird nicht fündig! Das Wort Toyotismus ist - zumindest im Text der Verf. - nur der verfremdete Name für automatisierte Produktion und Verwaltung.

"Veraltung" des Automationsbegriffs durch Inszenierung des "Algorithmus" als Zentralbegriff

(17) Fürs Verständnis der gegenwärtigen Produktionsweise rücken die Verf. den Algorithmus ins Zentrum:
>Der Zugriff auf das vorgefundene Material hätte ungleich mehr an Kraft gewonnen, hätte das PAQ über einen angemessenen Algorithmusbegriff verfügt.<<br> >Wenn jedoch die "automatische Anlage" in ihrer Historizität und Eigenlogik nicht verstanden wird, dann bleibt doch wieder nur der Zugriff über die beobachtbaren betrieblichen Funktionen und damit letztlich über das Arbeitshandeln der Menschen.<</p>

(18) Gelingt den Verf. mit ihrem Algorithmusbegriff der versprochene kraftvolle Zugriff aufs Material? -- Die Quintessenz der Theorie der Produktivkraftentwicklung, wie sie von den Verf. konzipiert wird, ergibt sich aus dem Satz:
>Der algorithmische Produktionsaspekt ist in der Folge derjenige, dessen Revolutionierung für qualitativ abgrenzbare Etappen der Produktivkraftentwicklung innerhalb des entwickelten Kapitalismus steht.<</p>

(19) Hier wird leider die zentrale Dialektik zwischen der Algorithmisierung von Produktionsabläufen und den Eingriffen der arbeitenden Subjekte verfehlt: je raffinierter die Algorithmen -- sie sind im Zeitalter der Automation in elektronischen Programmen materialisiert -- desto größer, strategisch wichtiger und oft auch gefährlicher ist der nicht-algorithmisierbare "Rest" maschineller Operationen, der des Eingreifens der Arbeitenden bedarf. Insofern verfehlen die Verf. mit ihrer Kritik an der Fokussierung von Störungsregulation der Zusammenhang mit der Algorithmisierung von Produktionsprozessen:

So stehen die "notwendige(n) Eingriffe" (26), die "Störungsregulation" (28), das "Von-Hand-Fahren" (37) - kurz: die Ausnahme in der Produktion - im Fokus der Untersuchungen. Das mag im alltäglichen Handeln der ArbeiterInnen eine wichtige Rolle gespielt haben, entspricht aber gerade nicht dem eigenen Anspruch der "Widerständigkeit von Theorie" (191) gegenüber dem empirischen Material.

(20) Man ist als Informatiker -- übrigens auch als subjektwissenschaftlich orientierter Forscher -- gut beraten, wenn man sich Produktion im hochtechnologischen Kapitalismus als permanenten Ausnahmezustand vorstellt und dann zu der Analyse weiterschreitet,

(21) Die Blindheit für die Notwendigkeit menschlicher Arbeit als unverzichtbarer Eingriff auch in hochautomatisierte Produktionsabläufe bereitet das Feld für die Plausibilität der Endzeitvisionen von der Übernahme der Welt durch Cyborgs von Bolz, Kurzweil, Moravic, Minski, Joy und anderen. Sie lassen sich charakerisieren als die zugespitzte technokratische Ideologie des vollendeten Algorithmus, der menschlichen Eingreifens nicht mehr bedarf.

(22) Nur eine arbeitswissenschaftlich informierte Algorithmenforschung, die sich auf die Phänomenologie der Ausnahmezustände und der menschlichen Interventionen empirisch einläßt, wird dem Zusammenhang von Produktivkraftentwicklung und algorithmischem Produktionsaspekt auf die Spur kommen, -- und der Faszination durch schwarzen Utopien der Cyborgherrschaft wirksam entgegenarbeiten.

(23) Insofern bedürfen die algorithmischen Überlegungen der Verf. einer neuen Grundlage, die PAQ-Theoreme weiterdenkt, statt sie als "veraltet" oder undifferenziert zu verwerfen. Den Beweis überlegener Erklärungskraft ihrer algorithmischen Überlegungen haben die Verf. nicht erbracht.

Die offenen strategischen Fragen, derentwegen wir uns zusammenraufen müssen

(24) Die vom PAQ nicht mehr bearbeitete Frage, welche Umbrüche durch Computervernetzung und durch ihre entwickeltste Gestalt, das Internet, im Bereich der kapitalistisch betriebenen bzw. dominierten Produktion und Verwaltung zustande kommen, wird von den Verf. allenfalls gestreift. Neue Phänomene packen die Autoren mit dem Thema >freie Softwarebewegung< an. Hier werden viele interessante Informationen geliefert.

(25) Aber leider unbearbeitet bleiben strategische Hauptfragen:

(26) Was können wir beitragen zur einer systemtranszendierenden Wechselwirkung zwischen beiden Produktionssphären? Eine negative Antwort läßt sich jetzt schon geben: Wer die Welt der profitregulierten Produktion als monolithisch negativ denkt, wer zu erkennen meint, daß >Arbeit und Kapital nicht Antipoden, sondern ergänzende Handlungszentren< sind, bahnt Kommunikations- und Dialogabbruch an, bereitet den Rückzug der >freien Softwarebewegung< in ein elitäres Ghetto vor.


Anneliese Braun: Eine E-Mail

(27) Liebe Christina, besten Dank für Deine Informationen. Das Manuskript von Schlemm/Meretz habe ich gelesen und stimme Deinem Vorschlag zu, das Manuskript in dieser Form nicht zu veroeffentlichen. Ich denke, dass der - evtl. ergaenzte und um eine gegenseitige Verstaendigung werbende - "offene Brief" den Autoren zugaenglich gemacht werden sollte. Anliegen kann es m.E. sein, dass sie ihren Beitrag zu gegebener Zeit ueberarbeiten, denn er traegt derzeit einen unfertigen, Selbstverstaendigungscharakter, ist auf weite Strecken so nicht nachvollziehbar bzw. laesst zu, dass ganz unterschiedliche Dinge hineininterpretiert werden.

(28) Ich stimme den im "offenen Brief" geaueßerten Kritiken im großen und ganzen zu. Ein Schwierigkeit des Manuskripts sehe ich darin, dass die Polemik gegen PAQ ueber weite Strecken das Grundgeruest darstellt, die Autoren aber ihr eigenes Konzept - so sie es haben - hinter der Polemik verschwinden lassen. Hier muesste eine Umkehrung erfolgen, indem das eigene Konzept begruendet und entwickelt wird und sich dann daran eine Polemik anschließen koennte.

(29) Des weiteren ist die angekuendigte "neue kategoriale Fassung des Problemzusammenhangs" nicht klar erkennbar. Sie ist offenbar aus technischer Sicht und aus der Dominanz der Produktionweise heraus geschrieben (z.B. "Algorithmus", "Fordismus", "Toyotismus", "algorithm. Revolution"), voellig fehlen solche wichtigen Kategorien, die für das Verstaendnis aktueller Entwicklungen notwendig sind, wie die "allgemeine Arbeit" (Marx).

(30) Konnte die PAQ-Studie von 1987 noch danach fragen, "was in der Arbeit moeglich waere, wenn sie menschlich gestaltet wuerde ....", so ist beim derzeitigen Stand und den Tendenzen globaler und totaler Vermarktung von Lebenstätigkeiten die Aufhebung der Erwerbsarbeit angesagt, wenn Lebensgrundlagen doch noch erhalten werden sollen. Damit waere aber ein anderes Herangehen an "Produktionsweise" und "Produktivkraefte" verbunden, das deren Einbindung in die Erfordernisse der Reproduktion des Lebens in seiner Ganzheit anstrebt. Die Autoren beharren aber auf einem einseitigen Ansatz und wollen ihn lediglich auf aktuelle Trends anwenden. Ihr Anliegen waere also zu ueberdenken. Sie fuehren technische und wissenschaftliche Entwicklungstrends kaum auf deren gesellschaftliche Formen, Strukturen und Kraefte zurueck und wenn sie es versuchen, dann de facto mit Worthuelsen. Damit bleibt unklar, wo sich Widerstandspotenzen entwickeln koennen.

(31) Faktisch erscheint die Produktivkraftentwicklung als Selbstzweck, die "Selbstentfaltung" erscheint als Ziel. Das ist eine Darstellung "im luftleeren Raum". Wo ist der Rahmen für die "Selbstentfaltung"? Wie verhaelt sie sich zu den unmittelbaren Lebenskraeften und wie zu der Gefahr, dass (u.a. im Gefolge oekologischer Katastrophen) schon das bloße Ueberleben zum Problem wird? Wie soll dagegen Raum für Freiheit geschaffen werden? Offen bleibt, ob die "Selbstentfaltung" sich auf die oberen Hierarchieebenen einer sich vollziehenden gesellschaftlichen Polarisierung bezieht.

(32) Eine "dezentral-vernetzte Produktionsweise" kann m.E. doch nicht ohne Beruecksichtigung aller Lebenskraefte und ihrer ganzheitlichen Entwicklung orientiert und entwickelt werden. Die Produktionsweise muss sich daran ausrichten lassen. Der Mensch ist nicht nur Hauptproduktivkraft, sondern Verschraenkung aller Lebenskraefte. Wenn diese derzeit drohen, nicht nur deformiert, sondern unwiederbringlich zerstoert zu werden, muessen sie auch von dieser Seite mit einbezogen werden, nicht nur blauauegig und einseitig als technische Moeglichkeiten.

(33) Die fehlende gesellschaftliche Einbindung der behandelten Probleme laesst viel Raum für Vieldeutigkeiten und die Autoren druecken sich mehrfach um eine eigene Meinung (Beispiel: Arbeit und Kapital als "ergaenzende Handlungszentren" - dazu geben sie keine eigene Stellungnahme, kritisieren es nicht, sodass der Eindruck entsteht, dass sie das so akzeptieren).

(34) Es ist schade, dass die "freie Softwarebewegung" letztlich realitaetsfremd unter dem Stichwort der "Selbstentfaltung" abgehandelt wird. "Selbstentfaltung" und "Selbstorganisation" im Internet waeren kritisch zu hinterfragen, sodass deutlich werden koennte, welche Alternativen moeglich sind und wo. Die Autoren verbauen sich aber dazu selbst den Weg, indem sie die neuen Ansprueche des Kapitals auf die Verantwortung der Arbeiter für den Realisierungsprozess reduzieren.

(35) Die Autoren erschweren ein Verstaendnis ihrer Positionen auch dadurch, dass sie Auffassungen der Krisis-Gruppe (Kurz u.a.) kritiklos und als nicht weiter begruendete Kurzlosungen zusammenhanglos uebernehmen. So konstruiert der "Wertfetisch" nun wirklich keine Handlungsebenen (er betrifft eher die Art und Weise, in der die Handlungen ideologisiert und reflektiert werden). Von der patriarchal organisierten Kapitalverwertung und deren aktuellen Organisationsformen, die tatsaechlich dominierende Handlungslogiken bestimmen, ist aber keine Rede.

(36) Insgesamt habe ich Schwierigkeiten mit dem Manuskript, weil neue Entwicklungstrends von Technik, Wissenschaft, Organisation, Vermarktung usw. (die z.T. durcheinander gehen) als Grundlage für eine Analyse genommen werden (sollen), für die eine (durchdachte) Methodologie überhaupt (und nicht nur aus marxistischer Sicht) fehlt, auf Begruendungen wird in der Regel verzichtet, ihre Forderungen sind zu wenig transparent und nicht begruendet.


Hanna Behrend: Eine E-Mail

(37) Lieber Christof, die Kontroverse, die Gegenstand Deines Briefes ist, scheint mir so wesentlich, dass ich sogar dafür wäre, ihr ein ganzes Heft zu widmen. Wenn es gelänge, sie wirklich zu präzisieren, d.h. erkennbar werden zu lassen,ob es sich und wenn ja, wo genau, um wirkliche philosophische Inkompatibilitäten handelt und wo es Terminologiedifferenzen sind, wäre der denkenden Linken ein großer Dienst erwiesen. Leider komme ich nicht sofort dazu, die bisherige Korrespondenz dazu mit der notwendigen Ruhe und Genauigkeit zu lesen, um mir ein eigenes Urteil zu bilden. Einiges, was Du schreibst, wirft für mich Fragen auf. Klassischer Arbeiterbewegungsmarxismus: Was ich darunter verstehe, halte auch ich für veraltet. Dagegen bin ich mit Dir in vielem, was Du als Marxismus definierst einig. Aber wie gesagt, ich müsste noch das, was die andere Seite geschrieben hat, ordentlich lesen. Was tun: Mein Vorschlag: Schlemm und Meretz den Brief schicken; ein Heft zu dieser Frage machen und dabei die ganze Problematik diskutieren und dabei versuchen festzustellen, ob es Konsens(teile) und welche gibt, anstatt stets und ständig auf dem Inkompatiblen sitzen zu bleiben. (Das heißt nicht, dass ich Inkompatibles wegharmonisieren will). Ich habe leider zur Zeit einfach nicht die Möglichkeit, mich mit der Sache ernsthaft auseinanderzusetzen, würde es aber nächsten Monat gerne tun.

(37.1) Begriffliches, 29.03.2002, 06:50, Walter Rösler: Hallo Stefan, Deine Ausarbeitung halte ich im wesentlichen und auch im groben und ganzen für richtig. Sie regte mich zum Weiterdenken an. Was ich Dir für eine weitere Arbeit an dieser Thematik vorschlagen möchte: Deine Hauptaussagen könnten vielleicht nicht unerheblich gewinnen, wenn Du Begriffe finden würdest, mit denen sie erweitert und systematisiert werden könnten. Natürlich müßten solche Kategorien gegebenenfalls überarbeitet, aktualisiert, konkretisiert und oder sogar neu definiert werden. Oder es wären vielleicht auch andere, eigene Kategorien entwerfen. Wie auch immer: Meiner Ansicht nach könnten in Deinen Entwurf eventuell folgende Begriffe per definitionem theoretisch fruchtbar werden: Individualität und Persönlichkeit Im Thema schon angekündigt, geht es in den Abschnitten „Kopf vs. Hand“ (S. 6-7), „Unmittelbare Produktivkraftentwicklung (S. 8-9) und besonders im Abschnitt „Selbstentfaltung als neue Dimension der Produktivkraftentwicklung“ um die Entwicklung der Menschen unter dem Einfluß neuester Veränderungen und Wandlungen in den Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Auf Seite 7 oben heißt es: „Und diese Dynamik geht durch jede Person hindurch. Die Regel Tut was ihr wollt, aber ihr müßt profitabel sein


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