Home   Was ist ot ?   Regeln   Mitglieder   Maintainer   Impressum   FAQ/Hilfe  

Konflikt, Kooperation und Konkurrenz - Überlegungen zur Selbstzerstörung der Menschheit - Teil 2

Maintainer: Martin Auer, Version 1, 25.02.2002
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Sammler und Jäger

(1)

Kehren wir zurück zu der kooperativen Ausprägung dieses Triebs, zu der schon beim Schimpansen festgestellten und daher vermutlich auch bei unseren gemeinsamen Vorfahren vorhandenen Neigung, Fleischnahrung zu teilen. Dieser schöne Zug war wohl eine der Voraussetzungen dafür, dass unsere Vorfahren sich von einer hauptsächlich auf Pflanzenkost beruhenden Lebensweise umstellen konnten auf eine, in der Fleisch eine wichtigere Rolle spielte. Zunächst werden sie eher Aas aufgespürt haben, von Raubtieren geschlagene Beute, von der man die erfolgreichen Jäger durch Steinwürfe und Geschrei verjagen konnte. Doch auch das erforderteschon die Zusammenarbeit der Gruppe, und diese Zusammenarbeit wäre erschwert gewesen, wenn man nicht mit einer gewissen Großzügigkeit bei den Partnern rechnen konnte. Oft genug war die Beute so klein, dass sie auch einer allein hätte davontragen können. Das hätte jedes Mal einen Wettlauf um die Beute und hinterherZank und Kampf bedeutet.

(1.1) Re: Zunächst werden sie eher Aas aufgespürt haben,, 05.03.2002, 23:24, Birgit Niemann: Wenn überhaupt Aas, dann sehr frisch geschlagene Beute. Wir Menschen haben keinerlei biochemische Anpassungen an verdorbenes Fleisch. Uns wird schon schlecht, wenn wir es nur riechen und wenn wir es essen, dreht sich uns der Magen um. Aasfresserei kann also höchstens am Rande eine Rolle gespielt haben. In Wahrheit waren wir nie mehr Aasfresser als heute. Deshalb brauchen wir auch soviele Konservierungsstoffe in den Lebensmitteln, die länger unterwegs sind. Auch Schimpansen fressen kein Aas. Sie jagen vor allem andere Affen, also Lebewesen, die sich in ihrem Lebensraum befinden und die sich auf die vergleichbare Art und Weise und mit vergleichbaren Geschicklichkeiten fortbewegen, wie sie selbst. Ihre Jagdbeute fressen sie, solange sie frisch ist. Meistens ist sie noch nicht einmal tot, wenn sie sie zerteilen. Das unterscheidet Schimpansen übrigens von echten Räubern, die alle Verhaltensweisen entwickelt haben, ihre Beute möglichst rasch durch töten zu entschärfen. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass unter den afrikanischen Raubtieren der Savanne ebenfalls des öfteren Rudel gebildet werden (Löwen und Hyänen). Einen einzelnen Leoparden konnte eine Australopithecinengruppe sicher verjagen. Ein Löwenrudel oder ein Hyänenrudel vermutlich nicht. Die Aasfresserei hat sicher stattgefunden, ihre Bedeutung kann aber nur begrenzt gewesen sein. Es bleibtdaher die Frage im Raum, was bot sich in der Savanne als Jagdbeute an?

(1.1.1) Hier habe ich noch einige Fragen am Rande., 06.03.2002, 09:45, Ano nym: Warum kommt man immer auf die Schimpansen zu sprechen und nicht auf die Bonobos(Zwergschimpansen),die eine ganz andere Sozialstruktur haben sollen?Was das "Argument" der Nahrungsaufnahme anbelangt,was will man damit aussagen?Tabulos scheinen nur die Chinesen zu sein.Die Inder, aber überhaupt in Asien,ist der Vegetarismus doch sehr weit verbreitet.In der Biologie prägt man doch häufig Begriffe und hat Intepretationsmuster, die durch und durch modisch sind.

(1.1.1.1) Re: Hier habe ich noch einige Fragen am Rande., 06.03.2002, 18:37, Birgit Niemann: Das hat mehrere Gründe. Es gibt wesentlich weniger Bonobopopulationen als Schimpansenpopulationen. Auch leben die Bonobos in unzugänglicherem Gelände und sind deshalb noch schwerer zu beobachten. Schimpansen werden auch schon viel länger beobachtet. Außerdem haben bereits viel mehr Verhaltensbiologen, die Schimpansen beobachten, die Ergebnisse ihrer Arbeit in Buchform publiziert. Arbeiten über Bonobos muss man sich größtenteils aus der Fachliteratur herausholen. Das ist sehr viel aufweniger, als zusammenfassende und auch meist gut geschriebene Bücher zu lesen. Selbstverständlich sind Bonobos hochinteressant, weil sie aus mehreren Gründen als diejenige Schimpansenart gelten, die unseren gemeinsamen Vorfahren noch am ähnlichsten ist. Erstens leben sie noch im ursprünglichsten Lebensraum und zweitens ist das Australopithecinen-Skelett Lucy dem Bonoboskelett am ähnlichsten. Die Sozialstruktur der Bonobos unterscheidet sich von dem der Schimpansen durch ausgeprägte Bündnisse zwischen nicht verwandten Weibchen, die die Struktur der Gemeinschaft bestimmen. Die Söhne behalten eine lebenslange Bindung an die Mütter, von deren Rang auch ihr eigener Rang abhängt. Dies finde ich persönlich sehr interessant, weil ich denke, dass solch eine lebenslange Bindung an die Mutter ein evolutionärer Vorläufer des Trendes zur lebenslangen Bindung zwischen Mann und Frau, der ja in allen Menschengemeinschaften anzutreffen ist, sein könnte. Darüber kann man aber nur spekulieren, denn Bindungen hinterlassen keine Fossilien. Was die Nahrung betrifft, ernähren sich Bonobos zu etwa 0,4 % von tierischem Futter, gewöhnliche Schimpansen zu etwa 4 % und die ursprünglichen Menschengemeinschaften zu etwa 35%. Für die Menschen ist das aber abhängig von der Zone, in der sie leben. Allgemein ist ein Trend gefunden wurden, dass der Anteil der Fleischnahrung mit dem Abstand vom Äquator steigt. Das gilt allerdings für Jäger und Sammlerkulturen vor Erfindung der Landwirtschaft. Warum auf die Nahrung eingegangen wird, hat mehrere Gründe. Erstens ist mit dem Umstieg unserer Vorfahren auf Fleischnahrung eine Reduktion des Darmsystemes verbunden. Diese Kapazität konnte in's Gehirn gesteckt werden. Zweitens gleichen sich der Umgang mit Jagdbeute und der Umgang mit Feinden sehr. Während Dominanzfragen innerhalb von Gruppen in der Regel durch ritualisierte Scheinkämpfe geregelt werden, werden gleichartige Feinde eher genauso behandelt, wie Jagdbeute. Das könnte ein Indiz dafür sein, das sich beide Verhaltenstechniken gegenseitig beeinflussen. Was sonst noch interessant ist, ist die Tatsache, das die gruppeninterne Bonobo-Politik von der Devise "make love not war" bestimmt ist. Sexualität wird von allen mit beiden Geschlechtern betrieben und hat eine soziale Entspannungs- und Harmonisierungsfunktion. Das bedeutet nicht, dass es gar keine gegenseitige Gewalt gibt, denn es wurden zahlreiche Männchen mit Verletzungen beobachtet. Allerdings existiert meines Wissens bis heute kein Bericht, der über eine ähnlich Art gegenseitiger Überfall-Techniken im Dienste des Territorialverhaltens berichtet, wie von den anderen Schimpansen. Das kann aber eine Frage der Beobachtung oder meiner Unkenntnis sein.

(2)

Die heute noch existierenden Sammler- und Jägergesellschaften werden von den Anthropologen als egalitär und demokratisch beschrieben. Es gibt kaum Eigentumsunterschiede, da es überhaupt kaum Eigentum gibt. Das persönliche Eigentum eines durchschnittlichen Buschmanns wiegt gerade einmal 12 kg. Schließlich muss man mobil sein.[28] Typisch für den demokratischen Geist die Geschichte, die Turnbull von den BaMbuti (Pygmäen) erzählt: Als Sefu, ein ewiger Unruhestifter und Quertreiber sich als Häuptling bezeichnet, sagen die anderen sinngemäß: Ja so, dann musst du also ein Bantu sein, denn bei uns BaMbuti gibt es keine Häuptlinge.[29] Entscheidungen werden nicht nach formalen Regeln – wie etwa Abstimmung und Mehrheitsentscheidung – sondern es wird solange palavert, bis sich ein Vorgehen herauskristallisiert, mit dem alle leben können. Gejagt wird gemeinschaftlich und auch individuell (bei den BaMbuti nehmen an der Treibjagd auch Frauen und Kinder teil), die große Jagdbeute wird aufgeteilt. Wie in allen bekannten Kulturen ist die Paarbindung zwischen Mann und Frau vorherrschend, für die Kinder fühlt sich aber auch die gesamte Gruppe verantwortlich. Kinder werden sehr lange gestillt, werden sehr liebevoll und frei erzogen und lernen spielerisch, was sie können müssen. Die Gruppen bestehen aus mehreren Familien, ihre Größe ist meist unter 100. Familien wechseln frei von einer Gruppe zur anderen. Gruppen haben ihre angestammten Jagdgründe, die sich an den Rändern mit denen anderer Gruppen überschneiden. Krieg gehört nicht zu den ständigen Institutionen einer Sammler- und Jägergesellschaft. Sammler- und Jägergesellschaften haben nur ein sehr langsames Bevölkerungswachstum. Die Frauen stillen die Kinder sehr lange und oft, was dazu führt, dass sie erst Jahre nach einer Geburt wieder empfängnisbereit werden. Für Sammler- und Jägergruppen gibt es eine optimale Größe, die nicht über- oder unterschritten werden sollte. Im Verhältnis dazu gibt es auch eine optimale Größe für das Jagdgebiet, und es gibt keine Veranlassung, es vergrößern zu wollen. Man dringt höchstens einmal in ein fremdes Jagdgebiet ein, um dort eine besondere Delikatesse zu stehlen. Da andere Gruppen keine Nahrungsvorräte oder sonst großartige Besitztümer haben, gibt es auch keinen Grund, sie auszurauben. Probleme kann es geben, wenn eine Gruppe zu groß wird und sich teilen muss. In einer solchen Situation kann es theoretisch zu Verdrängungskämpfen kommen. Über Jahrmillionen gab es auf der Erde aber genug Platz, um auszuweichen. Turnbull schildert eine Konfrontation, bei der eine fremde Gruppe in das Jagdgebiet der von ihm untersuchten Gruppe eindrang, um Honig wilder Bienen zu stehlen. Die „Schlacht“ bestand im Wesentlichen aus wütendem Geschrei, Drohgebärden und ein paar Faustschlägen.[30]

(2.1) 01.03.2002, 09:20, Ano Nym: Dieser text zeugt wieder vom Gleichgewicht der Natur und davon ,dass die Menschen früher auch den Gesetzen der Natur unterlagen ,aber inzwischen diese Fesseln gesprengt haben und jetzt das Gleichgewicht der natur Stören.

(2.1.1) 02.03.2002, 09:52, Martin Auer: Das Gleichgewicht der Natur zu stören ist freilich ein natürlicher Vorgang. Jede neue Art, die auftaucht, stört das Gleichgewicht der Natur, zwingt andere Arten, sich anzupassen, verdrängt andere Arten usw. Genau darin besteht die Entwicklung, dass das Gleichgewicht ständig gestört wird und das System ein neues Gleichgewicht sucht. Das Ausmaß, in dem wir das Gleichgewicht stören, ist allerdings enorm. Wir können es soweit stören, dass auch unsere eigene Lebensgrundlage dadurch vernichtet wird. Auch das wäre kein unnatürlicher Vorgang und derartiges ist schon anderen Arten passiert (Siehe z.B. Teil 1, Anmerkung 25.1 von Annette Schlemm). Die Frage ist, ob wir das verhindern wollen, und ob wir es können. Trotz unserer scheinbaren Macht sind auch wir nur ein Wirbel in den Turbulenzen der Evolution.

(3)

Da also nur wenige Situationen denkbar sind, in denen kriegerische Auseinandersetzung einer Sammlerinnen- und Jägergruppe überhaupt einen Vorteil bringen könnte, da sich solche Gruppen größere Verluste durch solche Auseinandersetzungen auch gar nicht leisten können, und da die Befunde bei noch existierenden Sammler- und Jägerkulturen ihren friedlichen Charakter bestätigen, dürfen wir davon ausgehen, dass durch Tausende Jahrhunderte vor dem Übergang zur Landwirtschaft Krieg im Leben der Menschen eine Ausnahmeerscheinung gewesen sein muss.

(3.1) Krieg im Leben der Menschen eine Ausnahmeerscheinung, 05.03.2002, 23:45, Birgit Niemann: Jane Godall hat ihre Gombe-Schimpansen ein halbes Menschenleben lang beobachtet. Erst nachdem sie über zehn Jahre dort war, hat sie den vierjährigen Krieg zwischen der abgespaltenen Kahama-Gesellschaft und der ursprünglichen Kasakela-Gesellschaft entdeckt, der mit der vollständigen Vernichtung der ersteren endete. Überfälle und Auseinandersetzungen mit anderen Nachbarn waren noch häufiger. Ein großer Krieg in einer Generation, das dürfte auch keiner Menschengesellschaft fremd sein. Bisher wurde keine Menschengesellschaft entdeckt, der der Krieg unbekannt war. Viele ältere Berichte von Anthropologen erwiesen sich als unrichtig. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Menschenpopulationen, aber für den Menschen gab es überall auf der Welt nur einen ernst zu nehmenden Konkurrenten. Das waren andere Menschen. Auch wenn viel über Ritualisierung abgefangen wurde und vollständige Vernichtung von anderen Völkern viel stärker eine Eigenschaft der Moderne ist. Auch war die den Menschen verfügbare Erde in den letzten zwei Millionen Jahren keineswegs menschenleer (außer Australien und Amerika), da schon Homo erectus ganz Eurasien besiedelt hatte. Wenn Krieg eine Ausnahmeerscheinung gewesen wäre, dann hätte es nicht der Ritualisierung von Kriegshandlungen bedurft. Ritualisiert wird vor allem, was real häufig das Leben essentiell bedroht.

(3.1.1) Re: Auch war die den Menschen verfügbare Erde in den letzten zwei Millionen Jahren keineswegs menschenleer, 24.03.2002, 16:19, Martin Auer: Okay, hier ist ein Argument, von dem ich mich verabschieden muss. Ich habe mir inzwischen Berechnungen angesehen, die zeigen, wie schnell eine Population, selbst wenn sie bei Null beginnt, den jeweils zur Verfügung stehenden Lebensraum besiedeln kann. Die Strategie, Konkurrenz um Jagdgründe zu vermeiden indem man ausweicht, kann nur für sehr kurze Zeitspannen funkionieren. (Im Fall des Homo Erectus wären nur 1400 Jahre nötig gewesen, um ganz Eurasien zu besiedeln).

Bleiben noch ein paar bedeutsame Unterschiede zu späteren Gesellschaftsordnungen, die für die Ausnahme sprechen:
Sammler und Jäger verfügten nicht über die Vorräte, die ihnen längere Kriegszüge ermöglicht hätten. In fremdem Territorium wird zusätzlich der tägliche Nahrungserwerb viel schwieriger (Jeder Pilzesammler weiß, dass gutes Pilzwissen und Gespür für ausrichtsreiche Plätze wohl wichtige Faktoren für den Erfolg sind, der wichtigste Faktor aber ist: schlicht und einfach "seine" Plätze zu kennen.)
Die kleinen Gruppen konnten sich keine größeren Verluste leisten. Kämpfe sind deshalb nur zu erwarten, wenn eine Gruppe der anderen unzweifelhaft überlegen ist. Wenn der Kampfausgang ungewiss ist, oder wenn zwar ein Sieg zu erwarten, aber auch mit Verlusten zu rechnen ist, dann sollte der Kampf unterbleiben.
Für Sammler und Jäger gibt es eine ideale Gruppengröße bzw. eine Minimum und ein Maximum, die nicht unter- oder überschritten werden sollten. Das Minimum ergibt sich etwa aus der minimalen Anzahl von Jägern für bestimmte Jagdtechniken (Treibjagd), einem gesunden Mix von Alten erfahrenen und Jungen kräftigen Individuen, generell dem Minimum an verschiedenen Talenten, die in einer Gruppe gebraucht werden, ein Minimum an kräftigen Individuen, um das Lager gegen Räuber (tierisch und menschlich) zu verteidigen. Das Maximum ergibt sich daraus, dass man bei zu großer Gruppengröße zu weit vom Lager ausschwärmen muss, um die Nahrung zu sammeln und zu jagen, dass die Individuen ab einer gewissen Gruppengröße sozial überfordert wären, die Möglichkeiten für Konflikte zu vielfältig werden usw. Je geringer nun der Unterschied zwischen Minimum und Maximum ist, desto schwerer kann die Gruppe eine Größe erreichen, die eine Teilung möglich macht. Liegt das Minimum bei 150 und das Maximum bei 180 (in diesem Bereich bewegen sich laut einer Untersuchung die meisten Gruppengrößen), so kann eine Gruppe, die das Maximum erreicht hat, sich nur so teilen, dass der kleinere Teil weit unter dem Minimum bleibt (der kleinere Teil kann ja höchstens 90 Mitglieder mitnehmen). Wenn Teilung keine Option ist, dann muss die Gruppe Maßnahmen ergeifen, um nicht über das Maximum hinaus zu wachsen. Beziehungsweise könnte es auch so sein, dass zunehmender Streit und Desorganisation eine zu große Gruppe derart schwächen, dass sie wieder unter das Maximum absinkt. Dies könnte also ein Faktor sein, der das Bevölkerungswachstum bei Sammlern und Jägern in solchen Grenzen hält, dass Konkurrenz um Territorien nicht häufig auftritt. Das ist freilich eine theoretische Überlegung, für die ich noch keine ethnographischen Belege gefunden habe.
Sammler- und Jägergruppen, soweit mir bekannt, sind exogam. Sie suchen sich ihre Ehepartner in anderen Gruppen. Wenn benachbarte Gruppen zusammenstoßen, sind also immer Verwandte in beiden Grppen da, die eventuell schlichten können. Verwandte in verschiedenen Gruppen besuchen einander oft, schließen sich für eine Zeit der anderen Gruppe an, sodass zwischen benachbarten Gruppen auch ein Ausgleich in der Gruppengröße stattfinden kann, ohne dass um Territorium gekämpft wird. Das sind Momente, die eher gegen Kampf zwischen benachbarten Gruppen sprechen. Dass sich aber die benachbarten Gruppen zusammenschließen um gemeinsam gegen weiter entfernt lebende Gruppen vorzugehen, wird durch die Lebensweise erschwert oder unmöglich gemacht.

Wesentlicher Unterschied zu späteren Gesellschaftsordnungen bleibt auf jeden Fall, dass eine Sammler- und Jägergruppe zwar territorial, aber nicht expansionistisch ist. Sie braucht im Schnitt ein Territorium von 1 Quadratkilometer pro Person, das sie verteidigt oder eventuell auch zu erobern versucht, aber nicht mehr. Sie wird nie versuchen, ihre "Herrschaft" über ein größeres Territorium auszudehnen.

(3.1.1.1) Re: Auch war die den Menschen verfügbare Erde in den letzten zwei Millionen Jahren keineswegs menschenleer, 28.03.2002, 19:39, Birgit Niemann: Nein, eine Jäger- und Sammlergruppe kann objektiv nicht besonders expansionistisch sein. Ebensowenig, wie ein Singvogelpärchen. Die Ressourcen und die für die Reproduktion eingebundenen Kräfte geben es einfach nicht her. Aber sowie es mit der Viehzucht und dem Ackerbau losgegangen war, ging es auch mit dem erweiterten Expansionismus los. Da war dann kein langes Halten mehr. Zumal der Populationswachstum durch die Landwirtschaft ja auch arg beschleunigt wurde.

(3.1.1.1.1) Re: Die Ressourcen und die für die Reproduktion eingebundenen Kräfte geben es einfach nicht her., 29.03.2002, 15:54, Martin Auer: Nein, nein, nicht weil sie nicht können, sondern weil es keinen Sinn machen würde, sind Singvogelpärchen und Sammler- und Jägergruppen nicht expansionistisch.

(3.1.2) Re: Viele ältere Berichte von Anthropologen erwiesen sich als unrichtig., 24.03.2002, 16:44, Martin Auer: Diesen Satz habe ich auch bei Eibl-Eibesfeldt gelesen. Der führt zum Beispiel gegen den unkriegerischen Charakter der Buschmann-Völker an, dass es bei ihnen eine besonders hohe Mordrate gibt. Mord und Krieg sind aber zwei verschiedene Paar Schuhe. Ich habe mich hier nicht um eine eindeutige Definition von "Krieg" bemüht, weil das über die verschiedenen Gesellschaftsordnungen hinweg (v.a. staatliche und nichtstaatliche) schwierig ist, aber Eifersuchtsmorde sind keine Kriegshandlungen. Auch bei der Kopfjagd bin ich mir nicht so sicher.
Für Eibl-Eibesfeldt erwächst die Aggression aus der Territorialität, daher daher schmeißt er gern Territorialität, Aggression und Krieg in einen Topf.
Dass einer Gesellschaft der Krieg nicht unbekannt ist, heißt auch noch lange nicht, dass er die Regel ist.

(3.1.2.1) Re: Viele ältere Berichte von Anthropologen erwiesen sich als unrichtig., 28.03.2002, 19:22, Birgit Niemann: Ausser bei den antiken Sklavenhalterkulturen, die den Krieg als Arbeitskraftbeschaffungsmassnahme in ihre Ökonomie direkt eingebaut haben, ist der Krieg wohl nirgends die Regel. Selbst dann nicht, wenn er relativ häufig stattfindet. Krieg ist einfach für alle menschlichen Gesellschaften aus den unterschiedlichsten Gründen eine mögliche Strategie.

(3.1.2.1.1) Re: Ausser bei den antiken Sklavenhalterkulturen, die den Krieg als Arbeitskraftbeschaffungsmassnahme in ihre Ökonomie direkt eingebaut haben, ist der Krieg wohl nirgends die Regel., 29.03.2002, 14:16, Martin Auer: Ich habe versucht in diesem Artikel darzulegen, dass seit der Entstehung des Tributstaates Krieg in allen darauf folgenden Gesellschaftsordnungen die Regel war und ist. Wenn eine Gesellschaft ein stehendes Heer unterhält, wenn die herrschende Schicht der Kriegerstand ist, wenn der Herrscher seine Rolle in erster Linie seinen (wirklichen oder ihm zugeschriebenen) kriegerischen Fähigkeiten verdankt, wenn die Beziehungen zwischen den Staaten von ihrer relativen militärischen Stärke bestimmt werden, dann ist Krieg die Regel in einer Gesellschaft, die Struktur der Gesellschaft ist kriegerisch.
Ich habe versucht zu zeigen, dass die Tributgesellschaft, die Sklavenhaltergesellschaft und die kapitalistische Gesellschaft von ihrer Struktur her expansionistisch sind. Dass also zusätzlich zu Konflikten, die etwa durch knappe Ressourcen bzw. Populationsdruck entstehen können, die Struktur der Gesellschaft selber es ist, die Konflikte hervorruft und unvermeidlich macht.
Die Frage ist ja nicht bloß von akademischer Bedeutung. Angesichts der Möglichkeit zur Selbstauslöschung der Menschheit wird es immer dringender, Kriege zu verhindern. Wenn Krieg eine von mehreren möglichen Strategien ist, um Konflikte um knappe Ressourcen zu entscheiden, dann hat es Sinn, nach anderen, friedlichen Strategien zur Konfliktlösung zu suchen. Wenn aber Krieg aus der Struktur der Gesellschaft entspringt, dann nützen Techniken zur Konfliktlösung herzlich wenig, sondern es muss bei der Struktur der Gesellschaft angesetzt werden.# Ich habe versucht zu zeigen, dass egalitäre Gesellschaften nicht expansionistisch sein können (obwohl Konflikte um knappe Ressourcen nicht ausgeschlossen sind), während Gesellschaften, die auf Ausbeutung beruhen, expansionistisch sein müssen. Wenn die Überlegung stimmt, dann liegt in Bezug auf die Abschaffung des Krieges der Schluss auf der Hand, dass die gegenwärtige Gesellschaftsordnung durch eine egalitäre, nicht expansionistische ersetzt werden muss.

(3.1.2.1.1.1) Re: nützen Techniken zur Konfliktlösung herzlich wenig, 30.03.2002, 08:54, Martin Auer: Und ich kriege laufend Einladungen zu Friedens-Festivals, Friedens-Kongressen, mit Trainingskursen zu Mediation und Konfliktlösung.

(3.1.2.1.1.2) Re: Ausser bei den antiken Sklavenhalterkulturen, die den Krieg als Arbeitskraftbeschaffungsmassnahme in ihre Ökonomie direkt eingebaut haben, ist der Krieg wohl nirgends die Regel., 31.03.2002, 10:26, Birgit Niemann: "Ich habe versucht zu zeigen, dass die Tributgesellschaft, die Sklavenhaltergesellschaft und die kapitalistische Gesellschaft von ihrer Struktur her expansionistisch sind. Dass also zusätzlich zu Konflikten, die etwa durch knappe Ressourcen bzw. Populationsdruck entstehen können, die Struktur der Gesellschaft selber es ist, die Konflikte hervorruft und unvermeidlich macht." Deine grundlegenden Überlegungen teile ich selbstverständlich. Allerdings scherst Du für meinen Geschmack die verschiedenen Gesellschaften in dieser Frage zu grob über einen Kamm. Aus meiner Sicht kann einer gesellschaftlichen Struktur nur dann das Attribut "regulär kriegerisch" zugesprochen werden, wenn der Krieg in ihr ein notwendiger Bestandteil der Ökonomie geworden ist. Solange das nicht der Fall ist, kann sich eine Gesellschaft theoretisch auch ohne Krieg erhalten und reproduzieren. Das praktisch immer Krieg geführt wird, ist in der Tat eine Resultante aus Konkurrenz zwischen den Sozietäten und dem inneren Bevölkerungsdruck. Vermutlich kommen auch noch andere Faktoren, wie z.B. Konkurrenz zwischen den (männlichen) Mitgliedern einer Gesellschaft (oder zwischen den Familien innerhalb einer Gesellschaft), hinzu. Denn bei Überfällen wird Beute gemacht, die Reichtum erzeugt und das Ansehen des erfolgreichen Räubers in der eigenen Gesellschaft erhöht. Selbstverständlich zeigt die Geschichte, dass keine Gesellschaft, die den zwar gefährlichen aber bequemen Ressourcenzugang durch Krieg erst einmal erfolgreich praktiziert hat, diese Strategie freiwillig wieder aufgegeben hat. Das heißt aber nicht, das z.B. die Tributgesellschaft dies nicht theoretisch durchaus könnte, solange sie den wesentlichen Anteil der Reproduktion ihres Gesellschaftszusammenhanges einschließlich ihrer Mitglieder noch durch eigene Produktionsprozesse erreicht. Sparta allerdings war als kollektiver Tributnehmer bzw. Sklavenhalter über diesen Punkt weit hinaus, obwohl die Spartaner viel egalitärer als andere Griechen lebten. Auch muss man unterscheiden, wer primär ausgebeutet wird. In den asiatischen Despotien waren es in der Regel primär die eigenen Gesellschaftsmitglieder, die zunächst einmal ausgebeutet werden mussten, bevor überhaupt nennenswerte Kriegskapazitäten frei wurden. Gerade die Vorläufer der alten Griechen, die dann ja die zwangsläufig kriegerische Sklavenhaltergesellschaft schufen, entstammen ja einer egalitären Gesellschaft, die gerade weil sie egalitär war, das eroberter Territorium auch in egalitäres Privateigentum verwandelte. Das genau war ja die Grundlage dafür, dass keine asiatische Despotie daraus wurde, sondern die noch viel expansionistischere Sklavenhaltergesellschaft, in der die Produktionsmittel (Boden und Menschen) privat wurden. Die Griechen selbst blieben dabei ja so weit wie möglich "scheinegalitär", indem sie die gegenseitige Versklavung juristisch verboten haben und in den antiken "Demokratieformen" die alte Stammesdemokratie dialektisch aufhoben. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das Egalitäre in den urprünglichen menschlichen Gesellschaften sich ja auch nur auf die eigenen Gesellschaftsmitglieder bezog. Mit der Zahl der Gesellschaftsmitglieder, die arbeitsteilig zu koordinieren war, ging ausnahmlos in allen Gesellschaften die Egalität flöten. Wirklich überall schlug Bevölkerungsquantität in qualitätive Strukturänderungen mit Verlust von Egalität um. Egal in welcher spezifischen Form.

(3.1.2.2) Re: Viele ältere Berichte von Anthropologen erwiesen sich als unrichtig., 28.03.2002, 19:44, Birgit Niemann: Es ist nicht nur Eibl-Eiblsfeld. Diese Erkenntnis findet sich z.B. auch bei Sarah Hrdy und anderen. Ob Mord und Krieg in ihrem Wesen so sehr unterschiedlich sind, wäre noch zu überlegen. Die Zielpersonen sind andere, aber es wäre zu prüfen, inwieweit beide Handlungen im Dienste der Konkurrenz stehen. Den Mord allein als Eifersuchtsmord zu sehen, wäre mir zu billig. Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere bis heute noch nicht bis ins letzte durchgesetzte Monogamie ja nicht so sehr alt ist (evolutionär gesehen). Wie drängend und häufig Eifersucht ein Mordmotiv ist, könnte ich in den verschiedenen Kulturen nicht einschätzen.

(3.1.3) Re: hätte es nicht der Ritualisierung von Kriegshandlungen bedurft, 24.03.2002, 20:34, Ano Nym: Nach Eibl-Eibesfeldt erwächst die Aggression aus der Territorialität. Sie muss durch Ritualisierung entschärft werden. Als Argument für diese Entschärfungsfunktion führt er z.B. an, dass mancherorts für den Krieg relativ harmlose Waffen benutzt werden (z.B. ungefiederte Pfeile), obwohl für die Jagd viel effektivere Waffen bekannt sind und auch benützt werden. Dies soll die Gefahr von Todesfällen reduzieren.
Ritualisierte Kriegführung ist mir nur von Gartenbau und Ackerbau-Gesellschaften bekannt (Elemente bleiben später noch bestehen). Dabei wären Verluste für Sammler- und Jägervölker mit ihren kleinen Gruppen viel bedrohlicher.
Gegen die Funktion der Entschärfung sprechen auch die extrem rituzalisierten Blumenkrieg der Azteken. In diesen Kriegen kämpfte man nicht um zu töten, sondern um Gefangene zu machen. Die wurden dann allerdings rituell hingeschlachtet, mit einem Höchstmaß an Grausamkeit. Hier ist die Grausamkeit selbst ritualisiert. Die Azteken führten diese Blumenkriege mit ihren längst unterworfenen und tributpflichtigen Nachbarn, nicht wenn irgend ein Streit ausbrach, sondern wenn Opfer gebraucht wurden. Wenn Sie aber Eroberungskriege führten, kämpften sie ohne Ritual, und um zu siegen.
Gerade das Nebeneinanderbestehen von ritualisiertem und nichtritualisertem Kampf (z.B. auch Coups nehmen bei den Dakota, Zweikämpfe der Anführer bei den Ritterheeren usw.) spricht gegen die Entschärfungs-Hypothese. Der ritualisierte Kampf ist kein entschärfter Vernichtungskampf, sondern muss einen anderen Ursprung haben als der Vernichtungskampf.

(3.1.3.1) Re: hätte es nicht der Ritualisierung von Kriegshandlungen bedurft, 24.03.2002, 23:37, Martin Auer: Ups, der obige Absatz ist von mir, war nicht eingeloggt.
Hätte jetzt gern den letzten Satz geändert in: Der ritualisierte Kampf ist kein entschärfter Territorialkampf, sondern muss einen anderen Ursprung haben.

(3.1.3.2) Re: hätte es nicht der Ritualisierung von Kriegshandlungen bedurft, 28.03.2002, 19:31, Birgit Niemann: Entschärfung ist nur eine Möglichkeit. Es gibt hier in der Regel kein Entweder-Oder, sondern meist ein Sowohl-Als-auch, wie immer bei menschlichen Verhalten und auch sonst in der Biologie. Bei den Blumenkriegen der Atzteken dürfte ein Aspekt sehr stark sein, der hier noch gar nicht angesprochen ist. Die Proteinversorgung der Bevölkerung in Form von Kannibalismus. In allen Gegenden, aus denen die große Jagdbeute weitgehend verschwunden ist und wo die Menschen nicht zum Ersatz Viehzucht entwickelt haben, tritt gehäuft Kannibalismus auf. Das betrifft sowohl weite Teile von Mesoamerika, als auch Neuguinea und die gesamte mikronesische Inselwelt. Es wird immer gern hervorgehoben, das Kannibalismus kultische Gründe hat. Das halte ich allerdings für sekundär hinzugekommen. Menschen haben alle ihre Tätigkeiten (z.B. auch Jagd und Krieg) mit Kult überzogen, es wäre überraschend, wenn sie das ausgerechnet bei einer so heiklen und ambivalenten Ernährungsweise unterlassen hätten. Ausserdem trägt auch kultisch verzehrtes Menschenfleisch zur Proteinversorgung bei.

(3.1.3.2.1) Re: Menschenfleisch, 29.03.2002, 15:48, Martin Auer: Es ist natürlich richtig, dass die Motive, aus denen Menschen handeln, nicht den eigentlichen Grund widerspiegeln müssen, warum ein bestimmtes Verhalten sich evolutionär durchsetzt. Es könnte also durchaus sein, dass Menschen, die aus kultischen Gründen Menschenfleisch essen, dadurch ein Proteindefizit decken, das Leute mit einer anderen Religion nicht decken können. Dadurch würde sich dann kultisches Menschenfressen verbreiten, ohne dass den Menschen überhaupt bewusst sein müsste, dass sie ohne das ein Proteindefizit hätten.
Marvin Harris erklärt so z.B. das Schweinetabu im nahen Osten. Leute, die aus welchen abergläubischen Gründen immer das Schwein verabscheuen, vermeiden dadurch einen schweren ökologischen Fehler. Sie müssen keine Ahnung haben, dass ihre Landschaft für Schweinezucht nicht geeignet ist: Diejenigen, die das Schwein für unrein halten, haben einfach einen besseren Erfolg in der Landwirtschaft als die, die keine Vorurteile haben.

Obwohl die zugrundeliegende Ursache für Menschenfresserei nicht die sein kann, dass die Welt untergeht, wenn die Sonne nicht mit Menschenfleisch gefüttert wird - Proteinmangel ist auch nicht der eigentliche Grund.
Die meisten Menschenfresser, die ich kenne, sind nebenbei auch Bauern und Viehzüchter. Den Mikronesiern und Polynesiern hat es, neben den Schweinen, Hunden und Hühnern, die sie hatten, vor allem nie an Fisch gemangelt. Die Gartenbau-Kulturen in Neuguinea betrieben intensive Schweinezucht. Die Azteken haben sicher einen schönen Kriegerschinken nicht verachtet. Ihren täglichen Proteinbedarf haben sie aber in erster Linie mit Mais und Bohnen gedeckt, dazu hatten sie noch Truthahn, Fisch, Frosch, Iguana, Hund, Hirsch, Schlange und noch anderes Getier. Auf die große Hungersnot von 1450 antworteten sie nicht mit vermehrtem Kannibalismus, sondern mit dem Bau von Dämmen, die der Intensivierung der Landwirtschaft dienten.
Ich denke, wenn es nur um's Fleisch geht, ist es immer leichter, dem Nachbarn die Truthühner oder Schweine wegzunehmen, als den Nachbarn selber zu fressen. Denn der Nachbar wird sich gegen letztere Absicht noch verzweifelter wehren als gegen die erstere. Und wenn es denn Menschenfleisch sein soll: Warum hat keine Kultur jemals Menschen gezüchtet, um sie zu fressen? Das ist eine der wenigen Perversionen, auf die die Menschheit noch nicht verfallen ist. (Mit Ausnahme der Hexe von Hänsel und Gretel.)
Gerade in Zeiten der Hungersnot haben die Azteken einander nicht aufgefressen, sondern die Chronisten beklagten, dass überall unbegrabene Leichen herumlagen. Die große Hungersnot brach auch erst aus, als die Ernte auch im dritten Jahr ausgefallen war. Die ersten beiden Jahre konnte die Bevölkerung mit Vorräten aus den Lagern des Herrschers ernährt werden. Allein das zeigt, dass die Azteken nicht am Hungertuch genagt haben. Die meisten Menschenopfer wurden während und nach der Erntezeit gebracht, und auch nicht alle Opfer wurden gegessen. Die Opfer für den Regengott Tlaloc mussten begraben werden, und gerade der hat besonders viele Opfer für sich beansprucht. Für die Oberschicht von Zentralmexiko (nur die durfte überhaupt Menschenfleisch essen) wird geschätzt, dass das Menschenfleisch gerade einmal ein halbes bis 1,3 Prozent des Proteinbedarfs deckte.

(3.1.3.2.1.1) Re: Menschenfleisch, 31.03.2002, 11:32, Birgit Niemann: "Ich denke, wenn es nur um's Fleisch geht, ist es immer leichter, dem Nachbarn die Truthühner oder Schweine wegzunehmen, als den Nachbarn selber zu fressen." Und wieder dieses Entweder-Oder Denken, von dem man sich beim dem Versuch, die lebendige Welt zu verstehen, wirklich einmal verabschieden sollte. Das eine schließt doch das andere nicht aus und es gibt niemals nur einen Faktor. Wo es nur geht, werden verschiedene Vorteile synergistisch miteinander verknüpft und gewinnen z.T. erst daraus ihre Durchsetzungskraft. Auch gab es damals noch keine Massentierhaltung, so dass die paar Hühner und Schweine eben doch nicht gereicht haben könnten. Auch ist es etwas anderes, bewußt nach Nahrung zu suchen oder alte kultische Verhaltensweisen zu celebrieren, von denen der Nahrungsaspekt gar nicht bewußt sein muss. Gerade Menschen können da sehr stur auf ihren bewußten Motiven beharren und blind für die zugrundeliegenden Funktionen sein. Auch wenn man vielleicht genug Bohnen hat, wird man den einen oder anderen Braten nicht verschmähen, wenn man sich doch seit Jahrhundertausenden daran gewöhnt hat, ihn zu geniessen. Natürlich ist der Verzehr von Artgenossen für denkende Wesen eine extrem ambivalente Angelegenheit, die unbedingt sozial eingegrenzt und geregelt werden muss. Andernfalls würden sich die Populationen gegenseitig ausrotten. Solange die Kontrolle durch das Gemeinwesen noch funktioniert, ist es auch in Hungerzeiten nicht zu erwarten, dass gesellschaftlich Tabus nun massenhaft gebrochen werden. Die Ambivalenz zeigt sich schon bei Schimpansen, bei denen abwechselnd Zu- und Abwendung beobachtet wurde, wenn es um das Anknabbern von fremden Schimpansenkindern ging. Obwohl zwischen den Weibchen einer Gruppe desöfteren Kindsmord mit Verzehr des gemordeten Jungen beobachtet wurde (dies dürfte allerdings überwiegende im Dienst der Konkurrenz als im Dienst der Ernährung stehen). Der Anteil von Fleisch stieg beim Menschen von 0,4 % (Bonobo hier nicht ganz korrekt aber machbar als Ausgangspunkt gesetzt) über 4% (Schimpanse) auf fast 40 . 80% der Jagdbeute von Schimpansen sind andere Affen. Wenn ich mich frage, was Erectus denn so gejagt haben kann (vor allem bevor er den Speer erfand, mit dem er auch schnelle Huftiere erwischen konnte), dann fallen mir neben grassfressenden Herden auch diverse pflanzenverzehrende Australolopithecinen ein, die vermutlich langsamer waren als der Savannenläufer Erectus, die alle lange neben Erectus gelebt haben und irgendwann verschwanden. Es könnte sein, dass Kannibalismus (auch wenn Erectus und Australopithecus vermutlich bereits zu verschiedenen Arten gehörten, aber irgendwann waren sie ja einfach verschiedene Subpopulationen einer Art) eben sehr sehr alt ist und die Ambivalenz dieser Ernährung schon sehr früh mit Kult überzogen wurde. In allen dafür geeigneten "natürlichen" und "sozialen" Umwelten könnte sich diese Art Beute, die mit Sicherheit niemals das einzige Nahrungsmittel war, als kultisches Relikt gehalten haben. Auch ist es wirklich erklärungsbedürftigt, dass derartige Kulte in Gebieten ohne großes Jagdvieh bzw. großes Nutztiere besonders häufig sind. Denn Kannibalismus scheint viel häufiger gewesen zu sein, als wir es gern wahrhaben möchten. Das Menschen bisher noch niemals andere Menschen für den Verzehr gezüchtet haben, finde ich überhaupt nicht verwunderlich. Denn solche Kinder hätten ja in irgendwelche Familien integriert werden müssen, um überhaupt erst einmal groß genug zu werden. Das genau aber hätte Bindungen erzeugt, die ein Verspeisen unmöglich gemacht hätten. Heute, im Zeitalter der Massentierhaltung wären viel eher die Bedingungen für so etwas gegeben, allerdings gibt es keinen ökonomischen Grund, für die Ernährung statt Rindviecher Menschen zu züchten. Schon eher könnte man sie als ideale (wenn auch sehr teure) Versuchskaninchen gebrauchen. Dieses Grauenhafte hat es ja nun tatsächlich im letzten Jahrhundert gegeben. Wobei man sich da auch die Aufzuchtskosten gespart hat und von den ohnehin internierten einfach die genommen hat, die man ökonomisch nicht mehr anderweitig verwerten konnte. Per sé schrecken also Menschen wirklich vor gar nichts zurück. Im Übrigen bezeichnet der indianische Philosoph Forbes die Versklavung der Menschen durchaus als Form des Kannibalismus (Kolumbus und andere Kannibalen). Allerdings ist dieser Kannibalismus eher virtuell als stofflich. Viele der indianischen Menschen, von denen einige Kulturen durchaus mit Formen des echten Kannibalismus vertraut waren, könnten den virtuellen Kannibalismus durchaus als schlimmere Grausamkeit empfunden und den tod vorgezogen haben.

(4)

Frühe ökologische Katastrophen

(5)

Die Evolution der Menschen von pflanzenfressenden Baumbewohnern zu sammelnden und jagenden Zweibeinern hat in Afrika stattgefunden. In dem Maß, wie die Menschen zu immer effizienteren, gefährlicheren Jägern wurden, konnten ihre Beutetiere die entsprechenden Fluchtreaktionen ausbilden. Auch als die Menschen langsam nach Europa und Asien vordrangen, fanden sie dort Tierpopulationen vor, die genetisch nicht völlig getrennt von ihren Verwandten in Afrika waren. Als die Menschen aber vor 40.000 bis 30.000 Jahren den australischen Kontinent betraten, und vor etwa 12.000 Jahren den amerikanischen, stießen sie dort auf große Säugetiere, die sich über Jahrmillionen ohne Gefährdung durch Menschen entwickelt hatten. Das Aussterben dieser großen Säugetierarten fällt, soweit es mit heutigen archäologischen Methoden festzustellen ist, zeitlich sehr genau mit dem Auftauchen der Menschen auf diesen Kontinenten zusammen. Aus historischer Zeit sind genügend Fälle bekannt, wo Seefahrer auf Inseln Tiere fanden, die keinerlei Scheu vor den ihnen unbekannten Menschen zeigten. Sie konnten mit einem Knüppel auf sie zugehen, sie erschlagen und braten. Binnen kurzer Zeit war zum Beispiel der berühmte Dodo ausgerottet. Es steht auch fest, dass die Maori, als sie Neuseeland besiedelten, in kurzer Zeit den Moa, einen flugunfähigen Großvogel, als hervorragenden Fleischlieferanten ausrotteten. Wissenschaftler wie Jared Diamond gehen davon aus, dass die erste Besiedelung Australiens und der beiden Amerikas jeweils eine gewaltige ökologische Katastrophe war.[31] Das Szenario muss man sich so vorstellen, dass die Menschen mit ihren Speeren, Keulen und Steinen sich zunächst auf Grund des ungeheuren, leicht zu erlangenden Nahrungsangebots gewaltig vermehrten und rasch über die Kontinente ausbreiteten, und in relativ kurzer Zeit, möglicherweise nicht mehr als tausend Jahren, feststellen mussten, dass sie sich ihrer eigenen Existenzgrundlage beraubt hatten. Mit abnehmendem Nahrungsangebot werden sie ihre Jagdmethoden noch verfeinert und verbessert und so den Zusammenbruch noch beschleunigt haben. Und schon lange bevor das letzte Riesenkänguru, das letzte Riesenfaultier abgeschlachtet war, müssen Gruppen um eben diese letzten noch nicht vernichteten Ressourcen gewaltsam konkurriert haben. Man kann noch weiter spekulieren und vermuten, dass Gruppen, die es in klimatisch wenig begünstigte und nicht so wildreiche Gegenden verschlagen hatte, einen sorglicheren Umgang mit den Ressourcen entwickelten (oder beibehielten), und dass nach dem Zusammenbruch der Neuanfang von diesen Gruppen ausging.

(5.1) Australien, 26.02.2002, 18:32, Annette Schlemm: Eine Kleinigkeit zu Australien: vor 50 000... bis 30 000 Jahren fand dort ein Megafaunenwechsel statt, an dem die Menschen nun wirklich ausnahmsweise mal keine Schuld trugen. Daß damals die großen Tiere ausstarben, ist ihnen also nicht anzulasten. Sie kamen ungefähr, als die neue Ökologie begann und von der alten wirklich höchstens kleine Reste dahinvegetierten (wir waren letzten Sommer in einem Museum in Australien, wo sie die alte Ökologie nachgestaltet hatten: dichter Urwald mit Verwandten von Känguruhs und anderen, jetzt nicht mehr lebenden Arten...).

(5.1.1) Re: Australien, 27.02.2002, 23:51, Martin Auer: Na ja, das wird eben gerade diskutiert. Die Ausrottung durch den Menschen wird als These unter anderem von Jared Diamond vertreten. Sie ist nicht bewiesen, aber es gibt viel, was dafür spricht

(5.1.1.1) Re: Australien, 26.03.2002, 10:11, Martin Auer: Die umfassendste Darstellung des Themas scheint dieses Buch zu sein: Quaternary_Extinctions hsg. von Paul S. Martin and Richard G. Klein

Landwirtschaft

(6)

Die landläufige Vorstellung vom Übergang zur Landwirtschaft ist noch immer die, dass Menschen eines Tages entdeckten, dass und wie sie essbare Pflanzen vermehren konnten, dass sie den Schluss zogen, dass ihnen diese Art, ihre Nahrung selbst zu produzieren, mehr Sicherheit bot als von dem abhängig zu sein, was die Natur ihnen gab, und dass sie sich also niederließen, um nunmehr als Ackerbauern zu leben. So war es allerdings nicht. Es gibt genügend Beispiele von Sammlern und Jägern, die trotz ihrer Kenntnis der Pflanzenvermehrung es vorziehen, Sammler und Jäger zu bleiben. Nach neueren Erkenntnissen ist es eher so, dass die Menschen durch eine Verkettung von Umständen in die Landwirtschaft hineinschlitterten, ohne es gewollt oder geplant zu haben.

(6.1) Re: Landwirtschaft, 01.03.2002, 09:36, Ralle D. ??: Genau der Übergang vom Sammler und Jäger zum Akerbauern ist die Zeit in der sich der Mensch von den Gesetzen der Natur löste(auch wens ungewollt war). Wo er sich einen Freiraum schafte ,wo er sich zu dem entwickeln konnte was wir jetzt sind .Bis heute haben wir es geschaft hunderte von Tierarten auszurotten und wir werden es woll noch schaffen die ganze Welt irgend wie zu zerstören .

(7)

Mit dem Ende der letzten Eiszeit nahm nicht nur die Durchschnittstemperatur zu, sondern auch die jahreszeitlichen Unterschiede. In der Gegend des Jordantals, wo die ältesten Spuren von Pflanzendomestikation festgestellt wurden, waren es vor allem Gräser und Hülsenfrüchte, die sich den neuen Bedingungen anpassen konnten, während andere verschwanden - und mit ihnen das Wild. Als einjährige Pflanzen kamen sie mit der verkürzten Vegetationsperiode besser zurecht, und ihre trockenen Samen konnten zwischen den Vegetationsperioden überdauern. Für Sammler und Jäger waren das Pflanzen dritter Wahl gewesen, wenig ergiebig und schwierig zu ernten im Vergleich zu Früchten, Nüssen, Wurzeln und dergleichen. Auf Grassamen griff man nur in Notzeiten zurück. Solche Notzeiten hatten jetzt begonnen. Die Landwirtschaft wurde zuerst von Menschen entwickelt, die durch zufällige Entwicklungen schon bestimmte Voraussetzungen dafür hatten: An fischreichen Seen, Flüssen oder Meeresufern haben auch Sammler und Jäger schon sesshafte Lebensweisen entwickelt. Die Natufier lebten im Tal des Jordan, wo es viele seichte Seen gegeben hatte, die nun, mit Ausnahme von dreien, austrockneten. Sie hatten schon mit Steinsplittern bestückte Sicheln, die zum Abschneiden von Schilf (für Matten und Körbe) entwickelt worden waren, und auch Mahlsteine, mit denen vorher verschiedene wilde Nahrungsmittel bearbeitet worden waren.[32]

(7.1) waren es vor allem Gräser und Hülsenfrüchte, die sich den neuen Bedingungen anpassen konnten,, 05.03.2002, 23:55, Birgit Niemann: Solche Bedingungen verbessern oft die Lebensbedingungen für grassfressende Huftiere, wie das jüngere Beispiel der Büffel in Nordamerika zeigt. Es stellt sich die Frage, wo blieben in den Gegenden, in denen sich die Grassteppe ausbreitete, die Herden von Grassfressern, die doch ein gutes jagdbares Wild hätten abgeben können? Vielleicht wurden sie ja solange gejagt, bis unter den gegebenen ökologischen Bedingungen keine mehr da waren. Nachdem die Grassfresser verzehrt waren, mussten die Menschen vielleicht ebenfalls beginnen Gras (Getreide) zu futtern. Da sie biochemisch natürlich immer noch eher Früchtefresser als Grasfresser waren, blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Körner auszuwählen. Mit allen bekannten Folgen.

(8)

(In der biologischen Evolution finden wir vergleichbare Erscheinungen: Eine bestimmte genetische Mutation tritt in einer Population auf, ohne besonders zu stören oder zu nützen. Z.B. eine Veranlagung für ein dichteres Haarkleid. Individuen, die das Gen von nur einem Elternteil erben, werden es weitergeben, ohne selbst einen dichten Pelz zu bekommen. Individuen, die es von beiden Elternteilen erben, werden unter größerer Hitze leiden und einen Fortpflanzungsnachteil haben. Doch nun tritt ein Klimawandel ein, es wird kälter, und nun haben die Individuen mit dichterem Pelz einen Vorteil. Da die weniger behaarten öfter krank werden und sterben, steigen die Chancen, dass zwei dichtbehaarte Individuen sich paaren und dichtbehaarte Nachkommen kriegen. So setzt sich das Pelzgen, das vorher eine Ausnahmeerscheinung war, durch.

(9)

Ähnlich können auch in der kulturellen Evolution Abweichungen von der Norm unter geänderten Bedingungen sich als Vorteil erweisen und zur Entwicklung einer neuen Norm beitragen.)

(9.1) 01.03.2002, 09:38, Ralle D: Das ist wohl richtig

(10)

Die landwirtschaftliche Lebensweise erforderte mehr Arbeit und war unsicherer als die Lebensweise der Sammler und Jäger. Sammler und Jäger nutzen Hunderte verschiedener Nahrungspflanzen, Ackerbauern manchmal nur ein Dutzend. Dadurch wurde erstens die Nahrung einseitiger und zweitens die Gefahr einer Katastrophe durch Ernteausfall größer. Die Archäologen haben festgestellt, dass die frühen Ackerbauern weitaus kleiner und kränker waren als ihre sammelnden und jagenden Vorfahren. Durch das nahe Zusammenleben verbreiteten sich Infektionskrankheiten unter Menschen wie Haustieren, und auch von den Haustieren zu den Menschen.[33]

(11)

Ackerbauern brauchen freilich weniger Land pro Kopf. Getreidebrei eignet sich gut als Babynahrung, daher konnten die Frauen früher abstillen und wurden schneller wieder fruchtbar. Das begünstigte die Zunahme der Bevölkerungsdichte, und das wiederum machte es noch schwieriger, in Notzeiten auf Wildtiere und Wildpflanzen zurückzugreifen. Die Landwirtschaft erwies sich als Falle. Ein Zurück zur Sammler- und Jägerlebensweise war unmöglich geworden.

(11.1) Das begünstigte die Zunahme der Bevölkerungsdichte, 06.03.2002, 00:04, Birgit Niemann: Das ist wohl wahr. Gleichzeitig geriet das ganze Kinderbetreuungsystem durcheinander. Denn ein menschlicher Trag- und Säugling war ebenso wie andere Primatenkinder daran angepasst, vier bis fünf Jahre der Mittelpunkt seiner Mutter zu sein. Wenn nach zwei Jahren das nächste Kind kam und auch am Leben blieb, dann hatte das mindestens zwei Folgen. Die erste hieß totale Überlastung der Mutter und die zweite hieß Vernachlässigung des älteren (aber noch zu jungen) Kindes. Dies dürfte die Sozialstrukturen insgesamt etwas durcheinandergebracht haben, da die Art der Sozialisation von Kindern ja abhängig von deren Erfahrungen ist. Es könnten sich individuelle Überlebensstrategien gehäuft haben, die an Sozialität verloren und dafür etwas egoistischer waren.

(12)

Es war keineswegs so, dass der Ackerbau von den Nachbarn als großartige Erfindung begeistert aufgenommen und nachgeahmt worden wäre. Er verbreitete sich mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 1000 Metern pro Jahr. Warum aber hat er sich überhaupt ausgebreitet? Bevölkerungszuwachs und immer wiederkehrende Hungersnot zwangen immer wieder Menschen zur Auswanderung. Und die nahmen die landwirtschaftliche Kultur mit. Fand man unbesetztes Land, konnte man möglicherweise zur Sammler- und Jägertätigkeit zurückkehren. Doch wenn das Land von Sammlern und Jägern besetzt war, konnten Bauern mit ihrem geringeren Landbedarf sich vom Rand her zwischen die Jagdgebiete drängen.

(13)

Die Landwirtschaft war also keineswegs die angenehmere, aber sie war die effizientere Lebensweise. Sie konnte mehr Menschen auf weniger Fläche ernähren, daher musste sie auf Dauer die wildbeutende Lebensweise verdrängen. Der Preis waren verkürzte Lebenserwartung, Katastrophenanfälligkeit, Seuchen – und der Eintritt der Arbeit in das Leben der Menschen. „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!“ lautet der Fluch, mit dem Adam und Eva aus dem Paradies einer Natur, die alles von sich aus gibt, vertrieben werden und sich zu Ackerbauern wandeln müssen. Von keinem Jägervolk ist bekannt, dass sie die Notwendigkeit zu jagen oder Früchte und Beeren zu sammeln als Belastung empfunden hätten.

(13.1) dass sie die Notwendigkeit zu jagen als Belastung empfunden hätten., 06.03.2002, 00:06, Birgit Niemann: Ganz im Gegenteil. Jägervölker haben häufig für Bauern nichts als Verachtung übrig.

 

(14)

Parallel zu dieser Entwicklung begannen Jäger, die Herden vor allem von Huftieren folgten, diese Herden aktiv zu managen. Die nomadisierende Viehzucht entstand.

 

(15)

Frühe Ackerbaugesellschaften waren immer noch egalitär. Die Funde zeigen keine nennenswerten Unterschiede zwischen Behausungen oder Grabbeigaben. Das gemeinsam Land wurde wahrscheinlich gemeinsam bearbeitet oder den Familien periodisch neu zugewiesen – darauf deuten jedenfalls spätere Gebräuche hin.[34]

(16)

Frühe Bauerngemeinschaften scheinen auch nicht kriegerisch gewesen zu sein. „Bei den neolithischen Ausgrabungen fällt vielmehr das völlige Fehlen von Waffen auf, während es an Werkzeugen und Töpfen nicht mangelt“[35] Die Mauern um das alte Jericho wurden von der Wissenschaft zwar auch als Befestigungsanlagen gedeutet[36], ihre Funktion war aber wahrscheinlich, die Stadt vor Schlammfluten zu schützen.[37]

(17)

Endemischer Krieg

(18)

Nichtsdestoweniger steht fest, dass heute noch existierende einfache Acker- oder Gartenbaukulturen den Krieg praktizieren. Vielzitierte Beispiele sind die Maring in Neuguinea und die Yanomamö im Amazonasgebiet. Die Stammes- und Clankriege dieser Kulturen wirken befremdlich, weil sie nur wenig gemeinsam haben mit den Kriegen, die den Hauptinhalt unserer Geschichtsbücher ausmachen. Vielleicht könnte man genau das zu ihrer Charakterisierung verwenden: Es sind ahistorische Kriege, Kriege, die keine historischen Veränderungen bewirken. Sie zeichnen sich weiters durch starke Ritualisierung aus und durch ein starkes Element des Zweikampfs und der Blutrache.

(18.1) Es sind ahistorische Kriege, Kriege, die keine historischen Veränderungen bewirken., 06.03.2002, 00:12, Birgit Niemann: Sind Kriege, die keine historische Veränderung bewirken ahistorisch? Auch diese Kriege sind meines Erachtens Produkt bestimmter historischer Bedingungen. Deshalb finde ich den Begriff ahistorisch hier nicht ganz passend. Auch wenn diese Kriege stabilisierende Funktion auf die Bevölkerungsdichte haben, das ist doch genau auch ihre historische Spezifik.

(19)

Die Maring legen durch Brandrodung Gärten im Urwald an und züchten Schweine. Sobald die Schweinepopulation ein gewisses Ausmaß angenommen hat, wird es Zeit, ein großes Fest für die Verbündeten zu geben, die mit Fleisch und Fett bewirtet werden, um das Bündnis zu festigen. Gleichzeitig wird der Friedensbaum ausgerissen und den verfeindeten Clans der Krieg erklärt. Eine Waldlichtung wird von beiden Parteien abwechselnd gesäubert und als Kampfplatz hergerichtet. Zum vereinbarten Termin ziehen die feindlichen Parteien singend und tanzend zum Kampfplatz, rufen einander Beschimpfungen und Drohungen zu und schießen aus der Deckung großer Schilde mit stumpfen Pfeilen aufeinander. Sobald jemand ernsthaft verletzt wird, vermitteln mit beiden Seiten befreundete Personen. Hier kann der Krieg enden. Wenn eine Seite auf weiterer Rache (für in früheren Kriegen begangene Untaten) besteht, kommen Äxte und Stoßspeere ins Spiel, die beiden Parteien rücken nun näher aufeinander zu. Nun kann es sein, dass eine Seite losstürmt um der anderen tödliche Verluste beizubringen. Sobald jemand getötet wird, wird ein Waffenstillstand ausgehandelt. Nun gibt es ein oder zwei Tage Kampfpause für Begräbnisrituale bzw. Dankopfer an die Ahnen. Dann kehrt man wieder auf den Kampfplatz zurück. Zieht sich der Kampf in die Länge, werden die Verbündeten lustlos und wollen nach Hause. Wird so eine Partei einseitig geschwächt, kann die andere einen Sturmangriff versuchen und die schwächere Partei vom Kampfplatz jagen. Die Unterlegenen fliehen dann in die Dörfer ihrer Verbündeten. Die Sieger verfolgen sie nicht, sondern überfallen ihr Dorf, töten dort eventuell vorgefundene Nachzügler, zünden Häuser und Vorräte an und treiben die Schweine fort. In zwei Drittel aller Kriege kommt es zu einer solchen Zerstörung. Nun pflanzen die Sieger den Friedensbaum und für zehn bis zwölf Jahre herrscht wieder Waffenstillstand.[38]

(20)

Man kann sich vorstellen, dass das Leben im Hochland von Neuguinea jahrhundertelang so weitergeht, ohne dass sich durch die periodisch veranstalteten Kriege etwas Grundsätzliches ändert. Im Gegenteil tragen diese Kriege zur Stabilität bei, indem sie das Wachstum sowohl der Menschen- als auch der Schweinepopulation begrenzen und so eine Überausbeutung des Waldes verhindern helfen. Wobei die Wachstumsbegrenzung nicht durch die Verluste in der Schlacht bewirkt werden – Männer sind ersetzbar – sondern weil eine kriegerische Gesellschaft dazu tendiert, weiblichen Nachwuchs aktiv (durch Kindsmord) oder durch Vernachlässigung zu reduzieren. Die Sieger besetzen nicht direkt das Land der Besiegten, doch die Besiegten suchen Unterschlupf bei verbündeten Clans und meiden ebenfalls ihre alten Gärten, so dass diese über Jahre unbebaut bleiben und das Land sich erholt. Nach Jahren kehren entweder die Besiegten zurück oder die Sieger nehmen nach und nach das Land in Besitz.

(21)

Periodische Neuverteilung des Lands und Wachstumsbegrenzung sind aber Nebeneffekte dieser Art von Krieg. Dass der Krieg immerhin in einem Drittel der Fälle endet, ohne dass eine Partei den Versuch macht, die andere ernsthaft zu schädigen, macht deutlich, dass das ritualisierte Kriegsspiel nicht bloß ein Vorspiel ist, sondern um seiner selbst willen veranstaltet wird. Die Funktion dieses „Null-Krieges“ („nothing-war“) ist wohl ziemlich eindeutig demonstrative Kraftverschwendung. Verräterisches Indiz dafür ist die Anwesenheit der Frauen auf dem Schlachtfeld. Dieser Teil des Kriegs könnte auch durch ein Fußballmatch oder einen sonstigen sportlichen Wettkampf ersetzt werden.

(21.1) Periodische Neuverteilung des Lands und Wachstumsbegrenzung sind aber Nebeneffekte dieser Art von Krieg., 06.03.2002, 00:17, Birgit Niemann: Das mag die meiste Zeit stimmen, aber es ergibt eine Möglichkeit. Die Frage könnte lauten, wann und unter welchen Bedingungen schlägt eine solcher Nebeneffekt in einen eigenen Zweck um?

(21.2) Verräterisches Indiz dafür ist die Anwesenheit der Frauen auf dem Schlachtfeld, 06.03.2002, 00:18, Birgit Niemann: Auch Frauen waren mitunter an echten kriegerischen Handlungen beteiligt. Die Frauen der Kelten und waren z.B. bekannt dafür.

(21.3) Re: dass das ritualisierte Kriegsspiel nicht bloß ein Vorspiel ist, sondern um seiner selbst willen veranstaltet wird., 30.03.2002, 13:42, Martin Auer: Gerade lese ich bei John Keegan (Die Kultur des Krieges/A history of Warfare, 1993)das folgende: Ein Hinweis Vaydas, dass während der letzten längeren Kampfperiode die Bevölkerungsdichte bei den Maring offenbar im Abnehmen Begriffen war, stellt seine eigene Erklärung, Landmangel veranlasse sie zum Kämpfen, in Frage. Eher könnte man annehmen, dass die maring aus Gewohnheit kämpfen, vielleicht sogar zum Vergnügen, nicht aber aus irgendeinem der anthropologischen Theorie bekannten Motiv.

(22)

Der „sportliche“ Charakter des Krieges kommt z.B. auch in einem seltsamen Brauch der Dakota zum Ausdruck: Besonders tapfere Krieger stürzen sich in die Schlacht, nicht, um Feinde zu töten, sondern sie nur mit einem speziellen Stab zu berühren. Jede Berührung ist ein „Coup“ – ein Pluspunkt. Wer in der Schlacht viele Coups sammelt, wird ebenso oder mehr geehrt als einer, der viele Feinde getötet hat.

(22.1) Der „sportliche“ Charakter des Krieges kommt ..., 06.03.2002, 00:23, Birgit Niemann: Dem Coup kann man natürlcih den sportlichen Charakter nicht absprechen. Die Frage ist nur, warum entwickelte sich eine solche Art von Sport. Die Dakota waren ein reichlich kriegerisches Volk. Sie rauften sich häufig sowohl mit den Schwarzfüssen, als auch mit den zusammengewürfelten Ponka oder auch mit den Verwandten Assiniboine. Kriegervölker sind darauf angewiesen, dass sich die einzelnen Kämpfer darauf verlassen können, das die anderen nicht feige kneifen, sondern ihre Kampfaufgaben auch erfüllen, wenn es riskant wird. Was eignet sich besser dafür, den persönlichen Mut und die eigene Verlässlichkeit unter Beweis zu stellen, als solch ein wagemutiger Sport?

(22.1.1) Re: Der „sportliche“ Charakter des Krieges kommt ..., 30.03.2002, 13:27, Martin Auer: Also, wenn ich General wäre, würde ich die Tapferkeit meiner Leute zuerst durch Kampfspiele oder dergleichen testen, und sie dann aber in die Schlacht schicken mit dem Auftrag, zu töten und zu siegen und sich nicht mit Spielereien abzugeben. Ich würde ihnen sagen: "Stell eure Tapferkeit unter Beweis, ober so, dass es auch praktische Folgen hat!" Ein Krieger, der sich während der Schlacht mit Coups-Zählen vergnügt, anstatt seinen Kameraden beizustehen,erfüllt doch gerade nicht seine Kampfaufgabe, gefährdet doch den Sieg.
Schlussfolgerung: Die Demonstration persönlicher Tapferkeit muss hier so wichtig sein, dass sie praktiziert und akzeptiert wird, obwohl sie den Sieg in Frage stellen kann. Und die Erklärung dafür kann meiner Meinung nach nur darin liegen: Der Zweck der Tapferkeit ist nicht der Sieg im Krieg, sondern der Zweck - oder sagen wir, die primäre Funktion - des Krieges ist die Demonstration von Tapferkeit.
Ich gebe zu, dass das Verhalten des Coup-Zählens in der Zeit, aus der uns berichte zur Verfügung stehen, möglicherweise nur mehr ein Überrest aus früheren Zeiten war.

(23)

Man kann diese und ähnliche Formen des endemischen Krieges, wie Blutrache, Kopfjagd und dergleichen, vielleicht so charakterisieren: Diese Form des Kriegs existiert, weil kriegerisches Heldentum ein ebenso gutes „kostspieliges Signal“ für gute Überlebensfähigkeit ist wie viele andere. Frauen, die Kriegshelden sexy finden, haben ebenso gute Chancen auf lebensfähigen Nachwuchs wie Frauen, die große Jäger sexy finden. Napoleon Chagnons Untersuchungen scheinen zu belegen, dass besonders aggressive Yanomamö-Männer mehr Nachkommen haben.[39] Diese Form des Kriegs existiert weiters, weil Ackerbauern bzw. Gartenbauern ihn sich zumindest periodisch leisten können. Sie häufen Überschüsse an, die ihnen das Kriegführen eine Zeitlang erlauben. Diese Form des Kriegs kann sich schließlich halten, weil sie die Bevölkerungsdichte auf einem ökologisch tragbaren Niveau begrenzt.

(23.1) Diese Form des Kriegs existiert, weil kriegerisches Heldentum ein ebenso gutes „kostspieligesSignal“ für gute Überlebensfähigkeit ist wie viele andere., 06.03.2002, 00:29, Birgit Niemann: Auch hier würde ich eine Interpretation in Richtung Territorialverhalten vorziehen, weil sie aus meiner Sicht einfach näher liegt, als ein Handicap. Nutzen ist aus meiner Sicht ein stärkerer Motor als Beweisführung durch hohe Kosten. Natürlich kann man eine solche Interpretation nicht ausschließen, aber solange eine plausiblere da ist, würde ich die bevorzugen. Es kommt übrigens nicht immer nur auf große Jäger an, sondern in sozialen Organisationszusammnehängen vor allem auf charismatische Charaktere, die soziale Kompetenz besitzen. Tatanka Yotanka (Sittung Bull), dem begnadeten Organisator, wird von einigen Zeitgenossen sogar ausgesprochene Feigheit nachgesagt. Obwohl das sicher auch wieder übertrieben ist.

(23.1.1) Re: Diese Form des Kriegs existiert, weil kriegerisches Heldentum ein ebenso gutes „kostspieligesSignal“ für gute Überlebensfähigkeit ist wie viele andere., 30.03.2002, 13:50, Martin Auer: Territorialverhalten kann aber eben Coups-Zählen oder Blumenkriege oder das Führen von Kriegen auch dann, wenn der Bevölkerungsdruck abnimmt, nicht erklären.

(24)

Diese stabilisierende Wirkung des endemischen Kriegs kann man wie Marvin Harris als „ökologisch sinnvolle Anpassung“ werten, man kann sie aber genauso gut als kulturelle Stagnation deuten. Die Maring investieren ihre Überschüsse in demonstrative Kräfteverschwendung, anstatt sie, wie es anderswo geschehen ist, in kulturellen Fortschritt zu investieren. Würde der Krieg ihr Bevölkerungswachstum nicht bremsen, müssten sie Wege finden, die Produktivität ihrer Wirtschaft zu erhöhen, oder auswandern, um Neuland zu kolonisieren, oder andere Methoden finden, das Bevölkerungswachstum zu kontrollieren. Anpassung oder Teufelskreis – das lässt sich nur vom Endergebnis her bewerten.

(24.1) man kann sie aber genauso gut als kulturelle Stagnation deuten., 06.03.2002, 00:32, Birgit Niemann: Warum soll kulturelle Stagnation ein Nachteil sein? Fortschritt ist doch kein Gut an sich. Wenn der Fortschritt den Menschen schadet, dann muss man ihn auch sein lassen können. Wo bleibt denn sonst die Freiheit?

(24.1.1) Re: Warum soll kulturelle Stagnation ein Nachteil sein?, 30.03.2002, 13:51, Martin Auer: Muss ja auch nicht.

Krieg und Tribut

(25)

Eine gänzlich andere Dynamik entwickelte der Krieg im Zweistromland und im Niltal, wo sich die ersten Ackerbaukulturen entwickelt hatten. Lewis Mumford rekonstruiert die Entwicklung so, dass die neolithische Ackerbaukultur mit der paläolithischen Jägerkultur zusammenstieß.Ackerbau ist mit dem Anhäufen von Vorrätenverbunden. Der Antrieb dazu mag rational und auch irrational sein: Ein großer Getreidehaufen in der Vorratsgrube ist ebenso ein „kostspieliges Signal“ für überschießende Kraft wie eine Versicherung gegen Ernteausfall. Jägergruppen entdeckten, dass die von den Ackerbauern aufgehäuften Vorräte eine leicht zu erlangende Jagdbeute waren.[40] Waren die Bauern erst genügend eingeschüchtert, konnte man sich die Raubüberfälle sparen und den Bauern anbieten, sie gegen Leistung eines regelmäßigen Tributs vor Raubüberfällen zu schützen. So entstanden zweierlei Hierarchien. Einerseits setzten sich die Jäger über die Bauern. Andererseits konnten die Anführer der Raubüberfälle ihre Position institutionalisieren und sich zu Häuptlingen aufschwingen. In der egalitären Jägerhorde wurden Aktivitäten, die einer Leitung bedurften, jeweils von den dafür geeignetsten Personen angeführt, eine Jagdexpedition wurde von einem geschickten Jäger angeführt, doch bei der Auswahl und Anlage eines neuen Lagerplatzes wurde auf den Rat ganz anderer Personen gehört. Wurden die Kriegszüge zur bestimmenden Aktivität, so konnte aus einem zeitweiligen Anführer auf einem beschränkten Gebiet, einem Ersten unter Gleichen, dessen Autorität auf seiner fachlichen Eignung beruhte, ein unumschränkter Häuptling werden, dem alle jederzeit zu gehorchen hatten.

(26)

„Diese ursprüngliche Verbindung zwischen Königtum und Jagd ist in der gesamten geschriebenen Geschichte sichtbar geblieben: von den Stelen, auf denen sich ägyptische wie assyrische Könige ihrer Tapferkeit als Löwenjäger rühmen, bis zur Erhaltung riesiger Jagdreviere als unantastbare Domänen der Könige unserer eigenen Epoche.“[41]

(26.1) Königtum und Jagd, 06.03.2002, 00:35, Birgit Niemann: In dieser ganzen Geschichte gibt es etwas, was ich vermisse. Dieses Etwas ist das religiöse Denken. Die Synthese von menschlichen Gesellschaften erfolgte die meiste Zeit in der menschlichen Evolution und Geschichte im Geiste. Dafür gibt es zwei zentrale Bereiche. Der eine ist die Ratsversammlung, in der Situationen analysiert und geplant werden. Das andere ist eben das religiöse Denken, das gesellschafts-organisierende Funktionen hat. Gerade in den antiken ökonomischen Despotien sind Religionen von überragender Bedeutung. Es kann auch kein Zufall sein, dass die erste monotheistische Lehre (Aton-Kult durch Echnaton) im Niltal, sprich Ägypten auftauchte.

(26.1.1) Re: das religiöse Denken, 30.03.2002, 13:58, Martin Auer: Das vermisse ich auch. Bzw. das Denken überhaupt. Soll nachgeholt werden. Insbesondere soll auch die Frage behandelt werden: Wie falsche Theorien zu richtigem Handeln führen können.

(27)

Die Ausgrabungen zeigen, dass auch schon egalitäre, unabhängige Bauerngemeinschaften ihre Überschüsse bis zu einem gewissen Grand in die Verbesserung der Produktion investierten. Bewässerungsanlagen im lokalen Maßstab wurden auch schon ohne Könige errichtet, eine gewisse Arbeitsteilung war schon vorhanden, indem sich manche Dorfmitglieder auf die Herstellung von Töpfen oder Werkzeugen spezialisierten. Doch unter der Herrschaft der Kriegerhäuptlinge konnte eine ganz andere Dynamik entstehen: Kriegerhäuptlinge können den Überschuss von mehreren Dörfern abschöpfen. Je mehr Dörfer sie beherrschen, umso mehr Überschuss können sie im Zentrum konzentrieren. Sie können die Dörfler aber auch zwingen, sich für ihren täglichen Bedarf mit weniger zufrieden zu geben, als sie es freiwillig täten, wodurch sich der Überschuss, über den die Häuptlinge verfügen, noch einmal erhöht. Einen Teil dieser Überschüsse werden die Krieger einfach verprassen. Doch einen Teil können sie auch in Steigerung der Arbeitsproduktivität, z.B. Bewässerungen investieren, um in späteren Jahren noch mehr Überschüsse an sich ziehen zu können. Aber den größten Teil werden sie in die Verbesserung ihrer militärischen Effizienz investieren, in Waffen und Befestigungen. Doch auch dadurch tragen sie auf längere Sicht zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität bei. Sie können Spezialisten beschäftigen, die von der landwirtschaftlichen Tätigkeit befreit sind und sich ganz der Perfektionierung ihres Handwerks widmen. Erfindungen aus dem militärischen Komplex kommen später auch dem zivilen Bereich zugute, so wie auch heute noch die Teflonbeschichtung für Bratpfannen aus der militärischen Raumfahrt kommt. So beginnt sich das Rad des Fortschritts zu drehen.

(28)

War unter Sammlerinnen und Jägern der Krieg eine vereinzelte Ausnahme, unter Hortikulturalisten endemisch aber statisch, so wird der Krieg der kombinierten Krieger-Bauern-Gesellschaft maßlos. Weder Sammler/Jäger noch egalitäre Ackerbauern können mehr Land brauchen, als sie bewirtschaften können. Doch der Tributstaat ist noch expansionistischer als die Ameisenkolonie. Für den Kriegerfürsten bedeutet mehr Land mehr tributpflichtige Bauern, mehr Tribut bedeutet mehr Krieger, mehr Verwaltungsbeamte, mehr Priester und mehr Spezialisten für Waffenherstellung, für die Herstellung von Luxusgütern, für die Errichtung von Palästen und Tempeln. Und all das wird wieder in militärische Macht umgesetzt und benutzt, um noch mehr Land zu erobern und noch mehr Bauern tributpflichtig zu machen. Bleiben dann noch Überschüsse, kann sie der König in demonstrative Verschwendung investieren, wie zum Beispiel den Bau von Pyramiden. Dazu steht der Kriegerfürst bald in Konkurrenz zu benachbarten Kriegerfürsten, deren Expansionsdrang ebenso maßlos ist. Im Kampf der Nachbarfürstentümer werden die Territorien der Besiegten denen der Sieger einverleibt, noch mehr Tribut kann beim Häuptling, der nun zum König wird, konzentriert werden. So entsteht schließlich das Reich. Der Ausdehnung des Reichs sind wohl technische Grenzen gesetzt - zum Beispiel durch die vorhandenen Kommunikations- und Transporttechniken oder durch geografische Umstände - aber keine prinzipiellen.

(29)

Form und Ziele des Kriegs werden also nicht durch die psychologische Grundausstattung des Menschenwesens bestimmt, auch nicht durch einfache Größen wie Bevölkerungsdichte und Bevölkerungswachstum, sondern durch die innere Struktur der Gesellschaft.

(29.1) 06.03.2002, 00:42, Birgit Niemann: Aber die innere Struktur der Gesellschaft hängst sehr wohl von der Bevölkerungsdichte ab.

(29.1.1) 30.03.2002, 14:05, Martin Auer: ...sowie von anderen ökologischen Gegebenheiten, von den Techniken, die die Menschen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse entwickelt haben ("Stand der Entwicklung der Produktivkräfte"), von den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten von Kooperation und Konkurrenz in dissipativen Systemen, von den vorhergegangenen gesellschaftlichen Strukturen...

 

(30)

Mit der Entstehung des Krieger-Bauernkomplexes in der Jungsteinzeit beginnt ein Prozess positiver Rückkopplung, der binnen 10.000 Jahren die Produktivität menschlicher Arbeit bis auf das heutige Maß gesteigert hat: Stehen sich zwei Reiche gegenüber, so wird dasjenige siegen und sich das andere einverleiben, dessen Bevölkerung den höheren in militärische Macht umsetzbaren Überschuss hervorbringt. Beziehungsweise werden solche erfolgreiche Kulturen zu Vorbildern, nach denen sich benachbarte Kulturen modeln.

(31)

Nicht diejenige Kultur setzt sich durch, die ihren Mitgliedern die höhere Lebensqualität bietet, sondern diejenige, die effizienter produziert. Das bleibt für die ganze Epoche der Zivilisation bestimmend.Und der Tributstaat, der den Bauern nur wenig mehr als das Existenzminimum lässt, ist eben effizienter als die egalitäre Ackerbauerngemeinschaft, als der nomadische Viehzüchterstamm oder gar die Sammlerinnen- und Jägerhorde. Es ist die Konkurrenz der Reiche, die die Geschichte von nun an vorantreibt.

(31.1) sondern diejenige, die effizienter produziert, 06.03.2002, 00:44, Birgit Niemann: ... und sich eben dadurch ausbreitet, sprich erweitert reproduziert.

 

(32)

Die Viehzüchternomaden können sich noch am besten der Unterwerfung durch das Reich entziehen. Das Reich beruht auf den Getreideüberschüssen, die man den Bauern abnehmen kann. Die Nomaden können ausweichen in die Wüsten und Steppen und plagen noch jahrtausendelang die Reiche mit ihren räuberischen Überfällen. Wenn das Reich stagniert, zuviel in Luxus und demonstrative Verschwendung investiert statt in militärische Macht, gelingt es den Nomaden, das Reich zu erobern und sich selbst zur herrschenden Klasse aufzuwerfen. Doch diese Herrschaft hat nur Bestand, wenn sie sich die Kultur des Reichs zu eigen machen undweiterentwickeln.

Schrift und Arbeitsteilung

(33)

Schon früh in der Epoche der Zivilisation hat der mesopotamisch-ägyptische Komplex zwei wesentliche Elemente zur Konzentration des Überschusses hervorgebracht: Die Schrift und die extreme Arbeitsteilung. Die Schrift wurde in Mesopotamien zur Aufzeichnung von Abgabenentwickelt. Zunächst wurden dem Verwalter fürjedes abgelieferte Maß Korn eine Marke (aus dem überall vorhandenen Lehm geformt) übergeben. Hatte er eine bestimmte Anzahl solcher Marken, wusste er, dass die gleiche Anzahl von Kornmaßen in seine Scheune gebracht worden war. Anders geformte Marken standen für einen Krug Öl oder für ein Schaf usw. Aus solchen Marken entwickelte sich die Schrift, ein unschätzbares Mittel, um das Einziehen und Verteilen des Tributs zu kontrollieren. Die Schrift bringt die Befehle des Zentrums bis an die entlegensten Grenzen des Reichs und die Informationen aus dem Reich wieder ins Zentrum. Die Schrift ermöglicht die Entstehung der Bürokratie, die den Zusammenhalt des Reichs gewährleistet.

(34)

Die ägyptische Bürokratie entwickelte Meisterschaft nicht nur in der Verwaltung des Arbeitsprodukts, sondern auch in der Organisation der Arbeit. Das Grundmuster war dasselbe bei Bergbauexpeditionen wie bei Eroberungszügen und hat sich in der Organisation der Armeen bis in unsere Zeit erhalten: „Grundeinheit war die Abteilung unter der Aufsicht eines Gruppenführers. Selbst in den Ländereien der reichen Grundbesitzer des alten Reiches herrschte diese Struktur vor. Erman zufolge formierten sich die Abteilungen zu Kompanien, die unter eigenem Banner marschierten oder paradierten. An der Spitze jeder Arbeiterkompanie stand ein Vorarbeiter, der den Titel Kompaniechef trug. Man kann ruhig behaupten, dass es in keinem frühneolithischen Dorf je etwas Derartiges gegeben hat.“[42]

(35)

„‚Der ägyptische Beamte’, bemerkt Erman, ‚kann diese Leute nur als Kollektiv sehen.; der individuelle Arbeiter existiert für ihn ebenso wenig wie der individuelle Soldat für unsere höheren Armeeoffiziere existiert.’“[43]

(36)

Lewis Mumford nennt diese Organisationsform die Megamaschine. Sie beruht auf der Zerlegung des Arbeitsvorgangs in kleinstmögliche Bestandteile, die mechanisch ausgeführt werden können. Voraussetzung für die spätere Entwicklung mechanischer Maschinen. „...war die große Arbeitsmaschine in jeder Hinsicht eine echte Maschine: um so mehr, als ihre Komponenten, obgleich aus menschlichen Knochen, Nerven und Muskeln bestehend, auf ihre rein mechanischen Elemente reduziert und streng auf die Ausführung begrenzter Aufgaben zugeschnitten waren. Die Peitsche des Aufsehers sicherte Konformität.“

(37)

„Das Geheimnis der mechanischen Kontrolle bestand darin, dass ein einziger Kopf mit genau bestimmtem Ziel an der Spitze der Organisation war und dass es eine Methode gab, Anweisungen über eine Reihe von Funktionären weiterzugeben, bis sie die kleinste Einheit erreichten. Exakte Weitergabe der Anweisung und absolute Unterwerfung waren gleichermaßen von wesentlicher Bedeutung.“[44]

(38)

„Wirken auf Entfernung durch Schreiber und schnelle Boten, war eines der Kennzeichen der neuen Megamaschine... ‚Der Schreiber, er lenket jede Arbeit, die in diesem Lande ist’, heißt es in einem Text aus dem Neuen Königreich Ägypten.“[45]

(39)

„Hätten rein menschliche Arbeitsformen, die die Menschen zur Befriedigung ihrer unmittelbaren Bedürfnisse freiwillig auf sich genommen hätten, vorgeherrscht, dann wären die kolossalen Errungenschaften der frühen Zivilisation vermutlich unvorstellbar geblieben – das muss man zugeben. (...) Hätte jedoch andererseits die kollektive Maschine nicht Zwangsarbeit – in Form von periodischen Zwangsaushebungen oder Sklaverei – verwenden können, dann wären die ungeheuren Fehlschläge, Perversionen und Vergeudungen, die stets mit der Megamaschine einhergingen, vielleicht unterblieben.“[46]

(40)

Wie Kooperation Arbeitsteilung und Spezialisierung zur Folge hat, haben wir also beim Zusammenschluss von Zellen zum vielzelligen Organismus gesehen, wir haben es bei der Ameisenkolonie gesehen und sehen es jetzt wieder bei der menschlichen Gesellschaft. Eine einzelne Leberzelle ist weder lebensfähig noch hat sie eine Daseinsberechtigung. Eine einzelne Ameise, herausgelöst aus dem Netzwerk einander durch Düfte und Futtergaben steuernder Mitameisen, ist ein leerlaufender Automat. Und der Mensch?

(41)

Geld und Sklaven – Die Tücken des Markts

(42)

Der griechisch-römische Komplex entwickelte zwei weitere Komponenten der Zivilisation, zwei wesentliche Elemente zur Konzentration von Überschuss: Gemünztes Geld und die Sklaverei.

(42.1) Gemünztes Geld und die Sklaverei., 06.03.2002, 00:54, Birgit Niemann: Das gemünzte Geld wurde von den Griechen glaub ich neu erfunden. Die Kreter hatten es bereits, aber es ging wieder verloren. Zur Sklaverei würde ich hinzufügen, dass sie privat war. Die ägyptischen Zwangsarbeiter waren zum Beispiel immer staatlich. Das ist ein Unterschied. Sklavenhandel gibt es vor allem beim Privateigentum an Sklaven.

(42.1.1) Re: Gemünztes Geld und die Sklaverei., 26.03.2002, 13:33, Martin Auer: Die Griechen hatten es von den Lydern (Berühmt der lydische König Krösus).

(43)

Arbeitsteilung erfordert die Verteilung der produzierten Güter. Die Verteilung kann durch gemeinschaftlichen Konsum geschehen, etwa in der Familie, oder wenn die Teilnehmer an einer Treibjagd (Späher, Treiber, Netzeaufsteller, Speerwerfer) sich die Beute teilen; durch unmittelbaren Tausch zwischen den Produzenten (Eine Bronzehacke gegen einen Scheffel Korn); durch organisierte Umverteilung, etwa wenn der Pharao Tribut und Steuern in Form von Getreide einhebt und dieses an seine Beamten und Spezialisten, seine Soldaten, Palastarbeiter und Arbeiter an öffentlichen Bauten verteilt; und schließlich durch spezialisierte Händler und Kaufleute.

(44)

Von all diesen Formen hat sich der Handel als die flexibelste und effizienteste erwiesen.

(44.1) 06.03.2002, 00:56, Birgit Niemann: Auch war der Handel eindeutig eine der besten Möglichkeiten, privaten Reichtum anzuhäufen. Während Häptlinge innerhalb der Gruppe der Kontrolle unterlagen und deshalb verschiedenste Arten von Großzügigkeit und Geschenkfesten entwickelten, waren Händler fernab von ihrer eigenen Gemeinschaftskontrolle. Hier fand der Eigennutz keine natürliche gesellschaftliche Bremse.

(45)

Der Handel erhöht die Produktivität der Arbeit nicht in der Weise, wie eine Erfindung es tut, z.B. der eiserne Pflug und die Verwendung von Zugtieren. Aber der Handel ermöglicht Arbeitsteilung im großen Stil, auch zwischen Produzenten, die einander weder kennen noch unter einer gemeinsamen Autorität stehen. Der Handel ermöglicht, dass Individuen das produzieren, was sie mit dem geringsten Arbeitsaufwand und dem höchsten Ertrag produzieren können. Aber nicht nur Individuen, auch ganze Regionen können sich auf diese Weise spezialisieren. So wird in dem gesamten durch Handel verbundenen Gebiet die Menge der Arbeitsprodukte und damit auch die Menge des Überschusses erhöht. Der Vorteil für den einzelnen Handelspartner liegt also nicht sosehr darin, dass er etwas bekommt, was er sonst gar nicht haben könnte, sondern dass er für sein Produkt, das ihn eine bestimmte Anzahl Arbeitstage gekostet hat, eines bekommt, das er selbst nur mit einem größerenAufwand an Arbeit hätte herstellen können. Der griechische Olivenpflanzer kann für eine halbe Jahresernte Olivenöl soviel Getreide aus Ägypten bekommen, wie er auf seinem eigenen Grund, hätte er ihn mit Getreide bebaut, nur in einem ganzen Jahr hätte ernten können. Der ägyptische Getreidepflanzer kann mittels Bewässerung zweimal im Jahr Getreide ernten, während Ölfrüchte ihm nur eine Ernte geben würden. So steigern beide, Olivenbauer und Getreidepflanzer ihre Effektivität, wenn sie ihre Produkte tauschen. Die Gesamtmenge an produziertem Getreide und Olivenöl ist höher, als wenn jeder beides produziert hätte. (Realistischer wird das Beispiel, wenn man statt einzelner Handelspartner Regionen einsetzt, die miteinander tauschen.) Und es hängt vom Geschick des Händlers ab, der den Tausch vermittelt, wie viel von dem beiderseitigen Vorteil er für sich selbst abzweigen kann. Er muss schließlich jedem der beiden Produzenten nur soviel geben, dass der einen spürbaren Vorteil davon hat, der ihm den Tausch noch lohnend erscheinen lässt. Den Rest kann er einsacken, sofern das lohnende Geschäft nicht andere Händler anzieht, die, um ihren Anteil am Markt zu bekommen, den Produzenten günstigere Bedingungen bieten. Doch die seefahrenden Griechen hatten nur die Phönizier als ernsthafte Konkurrenten und so konnte ein großer Teil des zusätzlich geschaffenen Reichtums nach Griechenland transferiert werden. Die Überlegenheit des Marktes über den Tributstaat zeigte sich in der siegreichen Auseinandersetzung der Griechen mit den Persern.

(46)

Doch der Markt zeigte auch gleich seine Tücken. Der griechische Getreidebauer wusste nicht, wie ihm geschah, als sein Getreide infolge der ägyptischen und italienischen Konkurrenz immer weniger wert wurde. Nicht er war es, der den Vorteil hatte, sondern sein Nachbar, der Olivenpflanzer. Dem Getreidebauern, dessen Vater noch ein schönes Auskommen gehabt hatte, musste es wie das Eingreifen einer höheren Macht erscheinen, dass ihm seine Arbeit, die er genauso gewissenhaft leistete wie sein Vater früher, nicht mehr genug zum Leben einbrachte und er schließlich sein Land verlor und wegen seiner Schulden als Sklave verkauft wurde. Denn durch das billige Getreide, das an der Küste auf den Markt kam, sanken auch im Landesinneren die Preise. Der Bauer hatte noch immer dieselben Abnehmer wie früher, doch sie waren nicht mehr bereit, soviel wie früher zu zahlen. Der Markt wurde ihm zum Schicksal, dem gegenüber menschliches Tun machtlos war.

(47)

Der Olivenpflanzer, dem dasselbe undurchschaubare Schicksal gewogen war und der seinen Besitz bald um das Land des Getreidebauern vermehrt hatte, sah gerührt den Tragödien eines Sophokles zu, in denen regelmäßig das Schicksal sich stärker erwies als menschliches Planen und Trachten. Neben ihm saß der Sandalenmacher, dessen Schicksal abhängig war vom Import italienischer Rinderhäute und neben dem der Zimmermann, dessen Aufträge vom Preis des Bauholzes aus der nördlichen Ägäis abhingen, und neben dem der Weinbauer, der heuer nicht weniger fleißig gewesen war und nicht weniger geerntet hatte als letztes Jahr, und dem doch das extrem gute Weinjahr in Italien zum Verhängnis werden konnte, ohne dass er die Ursache erfuhr.

(48)

Der Wert der Produkte menschlicher Arbeit wurde in Geld gemessen, Metallstücken, deren Zusammensetzung und Gewicht standardisiert war und durch einen Prägestempel leicht kenntlich. Das war eine lydische Erfindung, die die Griechen von ihren Nachbarn übernommen hatten. Doch nicht nur Waren konnten in Geld bewertet werden, auch Tätigkeiten wie das Holzhacken oder ein Sexualakt. Die Arbeit selbst wurde zur Ware.

(49)

Steuern und Abgaben wurden in Geld entrichtet, und auch die Opfer an die Götter. Die entlegensten Dinge, die zuvor nicht vergleichbar und messbar gewesen waren, wie etwa ein Gedicht, ein Liebesakt und ein Stück Brot, bekamen nun einen gemeinsamen Nenner. Auch wer nicht lesen und schreiben konnte, musste zählen und rechnen können. Die Gewohnheit, von konkreten Eigenschaften, Qualitäten, abzusehen und im Vergleich alles auf Quantitäten zu reduzieren, nämlich auf den Wert in soundsoviel Silbermünzen, förderte abstraktes Denken. So ist es kein Wunder, dass der älteste bekannte Philosoph, Thales, ein Kaufmann war, der die mathematischen Erkenntnisse der Ägypter weiterentwickelte, und dass er überlegte, welches der Urstoff, der gemeinsame Nenner alles Seienden sein könne, und auf das Wasser kam. Noch abstrakter dachte sein Zeitgenosse Anaximandros, der als Urprinzip ein Unbestimmtes und Grenzenloses annahm, das apeiron, während Anaximenes, der dritte Milesier, den gemeinsamen Nenner, auf den alles reduziert werden könne, in der Luft sah.

(50)

Der Markt teilte den Menschen ihre Beschäftigung zu. Was einer tat, bestimmten nicht mehr so sehr Tradition, familiäre Verpflichtungen oder Stammesbindungen. Man tat das, wofür man am meisten Geld bekommen konnte, ob man nun mit Wein handelte oder mit Sklaven oder sich als Söldner einem fremden Herrscher verdingte. Sowohl Platon als auch Aristoteles sahen diese Entwicklung mit Unbehagen. Platon hätte das Geld am liebsten ganz abgeschafft, Aristoteles meinte, von einem reichen Mann müsste man für dieselbe Ware mehr verlangen als von einem armen.[47]

(50.1) Man tat das, wofür man am meisten Geld bekommen konnte,, 06.03.2002, 01:01, Birgit Niemann: Hier gibt es ein Parallelität zur Ameise. Während für die Ameise häufig das Gebot: folge der Spur des stärksten Duftes gilt, gilt für den Menschen unter diesen Bedingungen häufig das Gebot: folge der Spur des größten Geldhaufens. Beide Mechanismen sind blind, aber der Duft wird durch die Anzahl der Moleküle bestimmt, während der Geldhaufen durch die Anzahl der Taler bestimmt wird.

(51)

Die griechische Händlernation konnte sich leisten, nicht nur ein Zentrum zu haben, sondern mehrere. Erst nach der Hochblüte des klassischen Griechenland wurde es unter Philipp von Mazedonien zu einem Reich zusammengeschlossen. Die Stadtstaaten konnten sich sowohl starke Heere und Flotten leisten als auch die herrlichen Bauten und Kunstwerke, die wir heute noch kennen, sportliche und literarische Wettkämpfe im großen Stil, Redner, Politiker und müßige Schwätzer, die sich auf dem Marktplatz, der Agora, trafen, um dort zu handeln, Politik zu machen und zu philosophieren.

(51.1) 06.03.2002, 01:03, Birgit Niemann: Ist es nicht viel mehr so, dass Athen Erster unter Gleichen war und die Überschüsse der Partner im Seebund für die eigenen Prachtbauten verwendet hat? Das war doch Anlass für zahlreiche Rivalitäten, die durch die Gefahr der Perserkriege immer wieder überwunden wurden.

(52)

Krieg war nicht – wie für den Tributstaat - das primäre Instrument, um den Überschuss zu konzentrieren. Der Markt ermöglichte die Konzentration und den Transfer der Überschüsse über Staatsgrenzen hinweg. Doch der Krieg blieb nötig, um sich Konkurrenten vom Hals zu schaffen – und um Sklaven zu erbeuten.

(52.1) und um Sklaven zu erbeuten., 06.03.2002, 01:05, Birgit Niemann: Eben, hier kommt die Funktion des Krieges der Arbeitskraftbeschaffung in's Spiel.

(53)

Sklaverei ist einerseits die extremste Form der Ausbeutung bzw. Überschussaneignung. Aber da Sklaven keinerlei eigenes Interesse an einer Steigerung ihres Outputs haben, nicht unbedingt die effektivste. In Rom hat sich die folgende positive Rückkopplung eingespielt: Die Erbeutung neuer Sklaven und ihr Einsatz auf den Landgütern der Großgrundbesitzer ruinierte die freien Bauern. Denen bot sich als Ausweg der Dienst in der Armee an. So konnten neue Gebiete erobert werden, neue Sklaven erbeutet werden, noch mehr Bauern ruiniert werden, die wiederum zur Vergrößerung der Armee zur Verfügung standen. Und die waren auch nötig, denn um die wachsenden Staatsausgaben finanzieren zu können mussten neue Eroberungen gemacht werden. Rom hat im Lauf seiner Geschichte von den erbeuteten Überschüssen immer weniger in die Steigerung der Produktivität und fast ausschließlich in Luxus und militärische Macht investiert. Daran ist es letztlich zugrunde gegangen.

(54)

Da die Ausbeutung von Sklaven die extremste, aber nicht die effektivste Form der Ausbeutung ist, hat schon in den letzten Jahrhunderten des Kaiserreichs die Leibeigenschaft die Sklaverei zu verdrängen begonnen. Hier wird dem an die Scholle gebundenen Bauern ein festgelegter Prozentsatz seines Produkts abgenommen, so dass bei besserem Ergebnis auch der Familie des Bauern mehr bleibt, und sie so selbst an der Steigerung ihrer Produktivität interessiert sind.

Industriekapitalismus – Explosion der Produktivität und Kampf um Märkte

(55)

Die Markt- und Geldwirtschaft in Europa hat mit dem Untergang Roms einen schweren Rückschlag erlitten und siebenhundert Jahre gebraucht, um sich zu erholen. An den Küsten Europas entstanden wieder Handelsstaaten, wo das Kapital angesammelt wurde, das zur Entstehung der bisher effektivsten Wirtschaftsform, was die Steigerung der Produktivität anlangt, geführt hat, nämlich des Industriekapitalismus. Die Rechtsform der Lohnarbeit ermöglicht es dem Besitzer der Produktionsmittel, sich das Mehrprodukt der eigentlichen Produzenten anzueignen. Der sich stetig ausweitende Handel schafft den Markt und damit den Konkurrenzdruck, der den Unternehmer zwingt, den Großteil dieses Mehrprodukts in die Steigerung der Produktivität und die Ausweitung der Produktion zu investieren. Die Freiheit der Lohnarbeiter (im Gegensatz zu den an die Scholle gefesselten Leibeigenen) ermöglicht es, sie nach den Erfordernissen des Marktes von einem Produktionszweig in den anderen zu verschieben. Die Konkurrenz unter den Lohnarbeitern, ständig verschärft durch den Zustrom verarmter Bauern zur industriellen Reservearmee der Arbeitslosen, zwingt sie, ihre Arbeitskraft billigst zu verkaufen. Die auf Lohnarbeit beruhende Marktwirtschaft drängt also mehr als jede vorhergehende Wirtschaftsform dazu, die Überschüsse der Gesellschaft in die Erweiterung und Intensivierung der Produktion zu stecken. Der Konsum der Massen wird auf das überlebensnotwendige Minimum reduziert, aber auch der Konsum der Unternehmer wird in Grenzen gehalten, denn der Unternehmer, der zuviel von dem Mehrprodukt in Luxus investiert, wird von der Konkurrenz schnell überflügelt. Es wird produziert um des Produzierens willen.

(56)

So erklärt sich das unglaubliche Tempo der Industrialisierung im 19. Jahrhundert nicht bloß aus der Fülle technischer Erfindungen, sondern in erster Linie aus der Struktur der Produktionsweise, die nach technischen Neuerungen geradezu giert.

(56.1) Woher der Innovationszwang?, 26.02.2002, 18:34, Annette Schlemm: Die Erläuterung mit Lohnarbeit, Kapital etc. gefällt mir sehr gut. Dann stimmt aber der kursive Satz nicht ganz (der bezieht sich auf "Struktur der Produktionsweise, die nach technischen Neuerungen geradezu giert" - das wird nicht ganz erklärt). Warum führt kapitalistische Konkurrenz dazu? Reicht nicht Aneignung des Mehrprodukts und Reinvestition auf technisch gleichbleibender Ebene?

(56.1.1) Re: Woher der Innovationszwang?, 28.02.2002, 00:01, Martin Auer: Nein, weil jeder technische Fortschritt einen Konkurrenzvorteil bedeutet und deswegen sofort nachgeahmt und besser noch übertrumpft werden muss.
Wie du selbst schreibst: "Bisher war es so, daß bei ausgeglichenen Profitraten irgendein Unternehmer eine Innovation auf den Markt werfen mußte, um wieder höheren Profit als die anderen zu bekommen. Die anderen mußten mitziehen, bis sich das Ganze auf dieser Ebene wieder angeglichen hat und dann gings in die nächste Runde. Dadurch ist der Kapitalismus derart dynamisch bei der Erzeugung profitbringender Innovationen. Ob irgendwelche Menschen die Innovationen brauchten, war zweitrangig."

(56.1.2) Re: Woher der Innovationszwang?, 13.03.2002, 23:21, Swen Osterkamp: Der entscheidende Grund für den Innovationsdruck scheint mir ein anderer: Gewinnmargenverfall - dadurch in lukrativen Gewerben immer mehr Konkurrenten die bekannten Technologien anwenden /neuerfinden und ggf. auch billiger produzieren (oder zumindest billiger verkaufen, um Marktanteile zu gewinnen). Marktanteile zurückgewinnen oder wieder höhere Preise für Deine Produkte durchsetzen kannst Du (theoretisch) nur durch Innovation. Obwohl die Logik des Innovationsdrucks so selbstverständlich und unausweichlich klingt, diese Logik in andere Bahnen zu lenken, erscheint mir eine echt lohnenswerter Ansatz, weil hierin m.E. ein zentraler Knackpunkt des Kapitalismus (Stichwort "Sachzwänge") liegt.

(57)

Der Kapitalismus ist noch weitaus expansionistischer als der Tributstaat. Da jedes Unternehmen gezwungen ist, nach Möglichkeit die Kosten zu senken, und zu diesen natürlich die Lohnkosten gehören, geht die Tendenz immer dahin, dass zuwenig Kaufkraft für die produzierten Konsumgüter vorhanden ist. Also muss exportiert werden. Zweitens sinken sowohl aus technischen als auch aus organisatorischen Gründen die Stückkosten um so mehr, in je größeren Stückzahlen produziert wird. Dazu gehören Synergien in der Verwaltung, in der Entwicklung, in der Rohstoffbeschaffung, im Transport. Selbst wenn die Aufnahmefähigkeit des Marktes bekannt ist, wird mehr produziert als der Markt aufnehmen kann, weil jedes Unternehmen hofft, seine Produktion auf Kosten der anderen losschlagen zu können. So verläuft die kapitalistische Entwicklung immer konvulsivisch, mit Perioden des Aufschwungs, in denen in Produktivitätssteigerung investiert wird, und Perioden der Stockung und des Rückgangs, hervorgerufen durch die Tatsache, dass die immense Produktivitätssteigerung sich irgendwann in der Produktion von Konsumgütern niederschlagen muss, die aber der Markt nicht aufnehmen kann. Ergebnis ist die Konkurrenz um Märkte. Wurde früher um das Privileg gekämpft, die Produkte eines Landstrichs wegzunehmen, so wird nun in absurder Umkehrung um das Privileg gekämpft, einen Landstrich mit Gütern versorgen zu können.

(57.1) Super!, 26.02.2002, 18:34, Annette Schlemm: Diesen Satz sollten wir uns auf der Zunge zergehen lassen: "Wurde früher um das Privileg gekämpft, die Produkte eines Landstrichs wegzunehmen, so wird nun in absurder Umkehrung um das Privileg gekämpft, einen Landstrich mit Gütern versorgen zu können." !!

(57.1.1) Leider..., 26.02.2002, 18:36, Annette Schlemm: Leider klappt das nicht mit den vielen Bedürftigen dieser Erde, sondern nur gegenüber "zahlungskräftiger Nachfrage" (wie ökonomiewissenschaftlich wohl der "Bedarf" definiert wird...)

(58)

Der Aufstieg Englands zum Weltreich war nicht zuletzt den Profiten der British East India Company aus dem Textilhandel zu danken. Im 19. Jahrhundert produzierte England die Hälfte aller industriell gefertigten Baumwollstoffe. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren in logischer Folge ¼ der Weltbevölkerung britische Untertanen. Der 1. und der 2. Weltkrieg waren Kämpfe um Märkte.[48]

(58.1) Der 1. und der 2. Weltkrieg waren Kämpfe um Märkte., 06.03.2002, 01:09, Birgit Niemann: Und um Ressourcen. Hitler wollte die Ukraine als Kornkammer, nicht als Absatzmarkt.

(59)

Seit dem letzten Weltkrieg gab es wohl keine Kriege zwischen Industrieländern. Doch unter den vier Ländern, die seither am häufigsten Kriege geführt haben, finden sich neben Indien: Großbritannien, die USA und Frankreich, drei hoch entwickelte Industriestaaten und Musterdemokratien.

(60)

In manchen sogenannten Bürgerkriegen in Afrika werden die sich bekämpfenden Warlords unmittelbar von konkurrierenden multinational agierenden Konzernen finanziert. Ohne die Waffenexporte aus den Industrieländern könnten diese Kriege auch nicht so blutig und ausdauernd geführt werden. Doch in erster Linie muss man feststellen, dass der wirtschaftliche Expansionismus der bereits entwickelten Industrieländer die eigenständige wirtschaftliche Entwicklung der übrigen Welt behindert und lähmt, und damit Armut und Chancenlosigkeit zementiert. Als Europa noch vorwiegend agrarisch war, stand es nicht vor der Aufgabe, eine hochautomatisierte und roboterisierte Industrie aus dem Boden zu stampfen. Die ersten Industrieanlagen wurden von Handwerkern in manueller Arbeit gefertigt. Es waren bekanntlich hölzerne Webstühle, die über Lederriemen von Mühlrädern angetrieben wurden. Wollte jemand heute in Burkina Faso von einheimischen Zimmerleuten eine derartige Weberei aufstellen lassen, was durchaus im Bereich von deren know how stünde und wofür auch das Kapital aufzutreiben wäre – wie sollte er mit den modernen Kunststoff- oder Baumwollwebereien konkurrieren? In der Tat ist es so, dass unsere abgelegten Textilien, die wir in die Spendencontainer werfen, die einheimische Textilindustrie in Afrika ruiniert haben. Aufden entlegeneren Inseln in Tonga geht regelmäßig das Salz aus, wenn der Dampfer von der Hauptinsel ausbleibt.[49] Rund um die Inseln ist das Meer voller Salz, und um es zu gewinnen braucht es keine großartige Technologie. Doch es gibt in Tonga keine Fabrik, die Schächtelchen oder Papierbeutel herstellen würde, in die mandas Salz abfüllen könnte. Es ist nicht möglich, für die 100.000 Einwohner des Inselreichs die Tüten so billig herzustellen wie die, die aus Neuseeland, bereits mit Salz gefüllt, geliefert werden. Es sind die Salzimporte, die die Salzknappheit bewirken.

(61)

Es kann kein Zweifel bestehen, dass auch die ärmsten Länder Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas eine Industrie auf die Beine stellen könnten, die weitaus produktiver wäre als die europäische vor 100 Jahren. Auf dieser Basis könnten sie die Produktivität schrittweise erhöhen, wie es in Europa und den USA geschehen ist. Doch das ist nicht möglich, weil sie auch im eigenen Land mit den Erzeugnissen der hochproduktiven Industrien der entwickelten Länder konkurrieren müssten. Dafür fehlt natürlich das Kapital. Und sogar im Bereich der Landwirtschaft ist es heute so, dass der kenianische Bauer, der mit Hacke und Spaten und vielleicht einer Dieselpumpe zur Bewässerung und einem für Tage gemieteten Traktor wirtschaftet, mit den europäischen Maisüberschüssen aus der EU-Agro-Industrie konkurrieren muss, die – als ägyptischer Mais getarnt – illegal importiert werden. Alle Versuche der Drittweltländer, ihre Wirtschaft durch Abschottungsmaßnahmen zu schützen, werden von der World Trade Organisation, der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds torpediert. So wird Unterentwicklung, Armut und Chancenlosigkeit zementiert, und das ist der Boden, auf dem Warlords gedeihen, die Banden um sich scharen und um die wenigen verbleibenden Brocken raufen.

(62)

Doch wir sehen auch die Bildung dreier großer Wirtschaftsblöcke, des amerikanischen, des europäischen, und des ostasiatischen. Wenn die „emerging markets“ im ehemaligen Ostblock, in China und einigen anderen Bereichen gesättigt sind – was dann? Nichts garantiert,dass nicht aus Wirtschaftskriegen eines Tages wieder heiße Kriege werden, dass irgendwelche „harmlose“ Stellvertreterkriege an der Peripherie nicht eines Tages zurückschlagen auf die Metropolen, wenn es „eng wird“.

(62.1) 06.03.2002, 01:13, Birgit Niemann: Warum so in der Möglichkeit reden? Die Realität hat doch bereits ihre Weltordnungskriege und die Schlacht um die letzten Rohstoffe läuft doch schon mit allen Beteiligten.

(62.1.1) Warum so in der Möglichkeit reden?, 30.03.2002, 14:16, Martin Auer: Nun, Europa ist noch weit von einer direkten Konfrontation mit den USA entfernt. In Afghanistan haben Schröder und Blair gerade mal ein bisschen mitspielen dürfen. Europa muss erst noch gewaltig aufrüsten, um den USA die Rolle als Weltpolizist streitig machen zu können. Ich glaube, kein europäischer oder amerikansicher Politiker denkt an die Möglichkeit einer militärischen Konfrontation zwischen USA und Europa. Ich glaube, in den Köpfen der Politiker sieht die Sache so aus: Europa muss aufrüsten, um von den USA als gleichwertiger Partner anerkannt zu werden, der dann natürlich auch seinen Anteil fordern kann. Einen Anteil, der Europas wirtschaftlicher Stärke entspricht - also dann wohl den größeren. Wohin dieses "Anteil fordern" dann führen kann - ich glaube nicht, dass da irgend einer von denen heute so weit denkt.

(63)

Je komplexer die Marktwirtschaft wird, um so mehr entzieht sie sich der Lenkung durch Individuen oder Regierungen. Die Anhäufung von Überschüssen und ihre Investition in die Steigerung der Produktivität werden zum Selbstzweck. Je mehr das Kapital sich vom Produktionskapital zum Finanzkapital wandelt, umso rasanter, unbeeinflussbarer und absurder wird dieser Prozess. Die Produktion dient nicht mehr dem Konsum, sondern der Konsum dient der Produktion, und die Produktion dient der Vermehrung des Kapitals.

Vom Kapitalismus zurück zum Tributstaat

(64)

Marx wollte nicht bloß die Arbeiterklasse von der Herrschaft der Kapitalisten, sondern die Menschheit von der Herrschaft der Marktkräfte befreien, ihnen durch die Analyse der sozialen Mechanismen die Möglichkeit geben, ihr Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen. Wo sich marxistische Parteien an die Spitze der Arbeiterbewegung setzten und in ihrem Namen die Macht im Staat ergriffen, war das Ergebnis freilich ein Rückfall in den Tributstaat. Auch in den kommunistischen Ländern war nicht die Befriedigung der Bedürfnisse das Ziel, sondern die „Befreiung der Produktivkräfte“. Unter der Parole „den Kapitalismus einholen und überholen“ wurden Überschüsse nicht in die Verbesserung der Lebensqualität investiert, sondern fast ausschließlich in Projekte, die der Vermehrung der militärischen Macht und der Erhöhung der Arbeitsproduktivität dienen sollten. Doch die Arbeitsproduktivität steigern, das kann der Kapitalismus besser[50]. Der Kommunismus konnte sich 70 Jahre lang halten, weil er in Wahrheit ein höheres Mehrprodukt aus den Arbeitern presste als der Kapitalismus in den Ländern Westeuropas und Amerikas, und einen größeren Teil dieses Mehrprodukts in militärische Machtmittel investierte.[51]

(64.1) Re: Vom Kapitalismus zurück zum Tributstaat, 26.02.2002, 18:36, Annette Schlemm: Einschätzung der sozialistischen Länder etwas einseitig. Ulbricht wollte wirklich, daß in jede Wohnung mindestens 2 Stunden lang die Sonne reinscheint und auch das Honneckersche Wohnungsbauprogramm wollte das ewige Wohnungselend wirklich abschaffen. Die "Befreiung der Produktivkräfte" (mit Menschen als Hauptproduktivkraft ja kein schlechtes Ziel!) war primär nur als Mittel zum Zweck gedacht. (als Beteiligte im Bereich Wissenschaft und Technik kann ich das schon einschätzen. Grad unsere Forschungsplanung war ganz anders ausgerichtet als die jetzige.). Es ist schon verrückt: die meisten werfen dem Sozialismus vor, zu wenig ökonomisch gedacht, eine zu schlechte Ökonomie gemacht zu haben. Du machst das Gegenteil: Du hättest es lieber gesehen, es wäre nicht in Technik und Arbeitsproduktivität investiert worden, sondern wir hätte mehr Bananen und Apfelsinen zu unmöglichen Preisen vom Weltmarkt gekauft, oder? Man darf nicht unhistorisch Forderungen an Entscheidungen stellen, deren damalige Bedingungen man gar nicht kennt. Man kann sich viel wünschen - aber es muß historisch analysiert werden unter welchen Bedingungen was möglich war (und wo die wirklichen Fehlurteile getroffen wurden, die ich natürlich auch nicht wegreden will). Als Betroffene kann ich persönlich auch bestätigen, daß MEINE Bedürfnisse gut befriedigt wurden. Vielleicht auf Kosten derer, die lieber einen Mercedes gefahren oder Bananen in sich hineingestopft hätten. Ich hatte (obwohl meine Mutter alleinstehend war) immer die Sicherheit, Nahrung, Kleidung, Wohnung und so zu haben - zusätzlich noch eine sehr gute Bildung und Zukunftsgewißheit (als eins der menschlichen Grundbedürfnisse). Daß das auf Dauer nicht für alle Menschen nicht reichte, noch dazu mit dem Schaufenster BRD nebenan (wenn wir andere Länder als Beispiele "des Kapitalismus" angesehen hätten, würde die Bilanz sicher auch anders aussehen), ist eine andere Frage.
Auch die Machtfaktoren, wie die militärische Macht war kein Selbstzweck. Sie waren ein großes (und wie sich im Nachhinein auch bestätigte) auch für den Selbsterhalt notwendiges Opfer (in den Zeiten der Friedensbewegten hatten sie noch geglaubt,der Kapitalismus wolle uns ja gar nicht angreifen/einverleiben, die würden uns ja wirklich nur Gutes tun wollen und was jetzt aus den CIA-Archiven kommt, hat man einem Schnitzler halt nicht geglaubt... )

(64.1.1) Sozialismus-Begriff, 26.02.2002, 18:38, Annette Schlemm: Bitte auch unterscheiden zwischen "sozialistisch" und "kommunistisch". Die Parteien nannten sich zwar meist "kommunistisch" (weltweit, in der DDR ja nicht), aber in der DDR stand "nur" der Sozialismus auf dem Plan. Das sollte man dann auch nicht mit eigentlich "kommunistischen" Zielen verwechseln (und dem Sozialismus vorwerfen, daß er ja nicht den Idealen des Kommunismus entsprochen habe), wie es oft gemacht wird. Es gab also noch gar keine "kommunistische Planung" (und auch wenige Überlegungen, wie das im Kommunismus mal laufen würde). Ich nenne die gewesene Gesellschaftsform deshalb auch "sozialistisch", denn die Ziele des Kommunismus mußte sie verfehlen, sie war eine Übergangsform und hat immerhin 70 bzw. 40 Jahre lang für viele Menschen besser funktioniert als die letzten 10 Jahre Kapitalismus (wenn man nicht grad die Ost-BRD ansieht, sondern z.B. Bulgarien, Jugoslawien...).

(64.1.1.1) Re: Sozialismus-Begriff - Übergangsform, 28.02.2002, 00:15, Martin Auer: Wieso "Übergangsform", wenn der Übergang (zum Kommunismus) nirgends stattgefunden hat?

(64.1.1.1.1) Re: Sozialismus-Begriff - Übergangsform, 11.03.2002, 00:41, Birgit Niemann: Man kann doch auch mitten im Übergang stecken bleiben, gefressen werden oder sonstwie zu Grunde gehen. Dann bleibt die Vollendung eben aus.

(64.1.2) Re: Vom Kapitalismus zurück zum Tributstaat, 28.02.2002, 00:04, Martin Auer: Du schreibst "wollte" - "Ulbricht wollte wirklich, daß in jede Wohnung mindestens 2 Stunden lang die Sonne reinscheint und auch das Honneckersche Wohnungsbauprogramm wollte das ewige Wohnungselend wirklich abschaffen". Warum ist es, deiner Meinung nach, nicht gelungen?

(64.1.3) Re: Vom Kapitalismus zurück zum Tributstaat, 28.02.2002, 00:07, Martin Auer: Du schreibst: "Es ist schon verrückt: die meisten werfen dem Sozialismus vor, zu wenig ökonomisch gedacht, eine zu schlechte Ökonomie gemacht zu haben. Du machst das Gegenteil: Du hättest es lieber gesehen, es wäre nicht in Technik und Arbeitsproduktivität investiert worden, sondern wir hätte mehr Bananen und Apfelsinen zu unmöglichen Preisen vom Weltmarkt gekauft, oder?"
Ich spreche in erster Linie von der Sowjetunion. Natürlich hätte man nicht Bananen kaufen müssen und auch nicht Orangenbäume in Sibirien pflanzen. Doch ist praktisch zu allen Zeiten das meiste in die Produktionsgüterindustrie und den militärischen Komplex investiert worden, und das Versprechen, dass durch die Entwicklung der Produktionsgüterindustrie die Voraussetzungen für eine Konsumgüterindustrie geschaffen werden, nie wirklich eingelöst worden. Man konnte in den sozialistischen Ländern Unternehmen zwar nicht besitzen oder vererben, aber doch leiten. Und die Leitung eines Unternehmens war eine bedeutende Machtposition. Ein Stahlkombinat bot nicht nur Machtpositionen in Form von Leitungsposten, es schuf auch die Voraussetzung für neue Machtpostionen, z.B. Maschinenfabriken. Eine Nudelfabrik bietet zwar Leitungsposten, aber sie erzeugt keine neuen Unternehmen die wiederum Leitungsposten bieten, sondern sie erzeugt nur Nudeln, die aufgegessen werden. So waren für die Schicht oder Klasse der Nomenklatura Nudelfabriken eben weniger interessant als Stahlkombinate.

(64.1.4) Re: Fehlurteile, 28.02.2002, 00:10, Martin Auer: Die Fehlurteile beginnen schon bei Lenin (wenn wir mal davon ausgehen, dass Lenin und die Bolschewiki ehrlich an die Ziele glaubten, die sie propagierten), der unbedingt den Zerfall des Zarenreichs in Einzelteile verhindern wollte (Und ja auch die Kommunisten Österreich-Ungarns beschworen hat, das Gebiet der Monarchie zusammenzuhalten). Natürlich, er wollte die Bodenschätze des Donbass und das Getreide Kasakhstans für die Sowjetunion haben. Mit der Schaffung des Riesenreichs hat er aber schon die Voraussetzung für riesenhafte Machtentfaltung und riesenhaften Machtmissbrauch geschaffen. Das schöne Leninsche Diktum, den Staat so einrichten zu wollen, "dass jede Köchin ihn lenken kann", musste allein schon an der Größe dieses Staats zuschanden werden. Das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln konnte bei den (aus Gründen der Produktivität) riesigen Industrien, die man schuf, von Anfang an höchstens eine Abstraktion sein. Man konnte vielleicht nach Besuch einer Parteischulung davon überzeugt sein, Mitbesitzer der Produktionsmittel zu sein, direkt sinnlich erfahren konnte man das nicht. Aber man muss wohl noch weiter zurückgehen, nämlich zu Marx, der die Geschichte vom "Absterben des Staates" erfunden hat. Auch Marx war ja ein Fortschrittsgläubiger, er hat den Fortschritt der Menschheit vor allem in der Zunahme der Produktivität der Arbeit gesehen. Die freien Kommunen der Anarchisten waren ja nur bei ländlich-kleinräumiger Produktionsweise vorstellbar, während Marx sich die Zukunft nur großindustriell vorstellen konnte. Also mussten weiträumige staatliche Zusammenhänge erhalten bleiben, also konnte der Staat nicht abgeschafft werden, musste das Proletariat die Macht im Staat ergreifen, solange die Diktatur über die anderen Klassen ausüben, bis keine Klassen mehr da waren, worauf der Staat absterben würde. Nun hätte das Proletariat vielleicht in Liechtenstein seine Macht unmittelbar ausüben können. In einem Land von der Größe der Sowjetunion konnte das von vornherein nur indirekt geschehen, durch seinen ideellen Repräsentanten, die Partei. Und damit fing natürlich das Unglück an. Denn ganz klar: Bevor man an irgend was anderes dachte, musste zunächst einmal die Macht der Partei gesichert werden, die ja die Voraussetzung für alles andere war. Und so mussten auch ehrliche Kommunisten, wie ich viele gekannt habe, wie auch mein Vater einer war, die schlimmsten Übeltaten Stalins schlucken - mit zusammengebissenen Zähnen vielleicht, aber eben doch, weil das Vaterland aller Arbeiter in Gefahr war, weil die Macht der Partei um jeden Preis erhalten werden musste.

(64.1.5) Re: Auch die Machtfaktoren, wie die militärische Macht war kein Selbstzweck., 28.02.2002, 00:14, Martin Auer: Nun ja, hier haben wir eben das ewige Dilemma seit der Entstehung des Tributstaates am Beginn der Zivilisation: Der Expansionismus der einen Seite muss den Expansionismus der anderen Seite rechtfertigen. Die Geschichte des (Sowjet-)Sozialismus ist doch vom Baltikum und Finnland über Osteuropa inklusive DDR bis Afghanistan eine Geschichte des Expansionismus. (Ohne jetzt von China zu reden).

(64.6) Re: Vom Kapitalismus zurück zum Tributstaat, 09.03.2002, 22:23, Birgit Niemann: Um nicht ein großes neues Thema widersprüchlich aufzumachen, möchte ich hier nur wenige Fragen stellen. Erstens wer soll hier der Tributnehmer und wer der Tributpflichtige gewesen sein? Zweitens, wie konnte der Kommunismus ein höheres Mehrprodukt aus den Arbeitern herauspressen als der Kapitalismus, wenn er doch eine geringere Arbeitsproduktivität hatte?

(64.6.1) Re: wie konnte der Kommunismus ein höheres Mehrprodukt aus den Arbeitern herauspressen, 10.03.2002, 12:28, Martin Auer: Da besteht rechnerisch zunächst einmal keine Schwierigkeit: Arbeiter K produziert 100, Arbeiter S ist weniger produktiv und produziert 70. Arbeiter K wird um ein Mehrprodukt in Höhe von 50 erleichtert, bleiben ihm 50, Arbeiter S wird um 60 erleichtert und es bleiben ihm 10. Der Lebensstandard von K wäre dann fünfmal so hoch wie der von S, der Ausbeutungsgrad von K wäre 50% (3/6), der von S 83% (5/6).
Das soll nicht heißen, dass das Zahlenbeispiel die realen Verhältnisse wiederspiegelt, es soll nur zeigen, dass es möglich ist, aus weniger produktiven Arbeitern ein höheres Mehrprodukt herauszuholen.
Es gibt natürlich noch Komplikationen. Erstens ist Arbeiter K nicht gleich Arbeiter K. Wir müssen unterscheiden zwischen Arbeiter K(i) und Arbeiter K(e). Arbeiter K(i), der Arbeiter in den hochindustrialisierten kapitalistischen Ländern verdankt seinen hohen Lebensstandard nur zum Teil der höheren Arbeitsproduktivität und dem erfolgreicheren gewerkschaftlichen Kampf um einen höheren Anteil an seinem Produkt. Zum anderen Teil verdankt er seinen Lebensstandard der Tatsache, dass er mit seinem Lohn viele billige Produkte erwerben kann, die von Arbeiter K(e) oder noch öfter von Arbeiterin K(e) erzeugt werden, nämlich den ArbeiterInnen in den Entwicklungsländern, wo der Ausbeutungsgrad unvergleichlich höher ist.
Die zweite Komplikation ist natürlich die, dass bei der Beurteilung des Ausbeutungsgrad von ArbeiterIn(S) eine Menge Sophisterei möglich ist. Gehe ich davon aus, dass der sozialistische Staat von den Repräsentanten der Arbeiterklasse im Interesse der Arbeiterklasse verwaltet wird, dann ist alles, was die ArbeiterInnen nicht zur privaten Verfügung bekommen, einfach Teil des "gesellschaftlichen Reserve- und Akkumulationsfonds" (Marx, Kapital I), gehört also auch den ArbeiterInnen und der Ausbeutungsgrad ist 0%. Hier kommt's dann also darauf an, wie man die Nomenklatura der Partei- und Wirtschaftsfunktionäre beurteilt, die diese Länder geführt hat (oder noch führt, wie in China).
Wir haben schon an anderer Stelle das Lob des Vergleichs gesungen. Mir scheint, eine vergleichende Studie des zentralisierten bürokratischen Pharaonenstaates und der Staaten Stalins oder Maos wäre äußerst fruchtbar. Trotz den 5000 Jahren, die dazwischenliegen.

(64.6.1.1) Re: wie konnte der Kommunismus ein höheres Mehrprodukt aus den Arbeitern herauspressen, 11.03.2002, 00:46, Birgit Niemann: "Mir scheint, eine vergleichende Studie des zentralisierten bürokratischen Pharaonenstaates und der Staaten Stalins oder Maos wäre äußerst fruchtbar. Trotz den 5000 Jahren, die dazwischenliegen." hier stimme ich Dir unbedingt zu. Dabei würden sowohl die Gleichheiten, als auch die Unterschiede herauskommen. Auf jeden Fall wäre das sinnvoller und realitätsnäher, als den Realsozialismus als Kapitalismus zu betrachten. Aber man darf bei der Betrachtung des Realsozialismus nicht vergessen, dass der gesellschaftliche Reserve- und Akkumulationsfond dadurch geschmälert wurde, dass die gesellschaftliche Infrastruktur für die individuelle Sozialisation weitaus entwickelter war, als im Kapitalismus. Das erlebe ich selbst hautnah an meinem eigenen Kind und das kostete damals nicht wenig gesellschaftliches Mehrprodukt, das heute keiner mehr für so etwas ausgibt. Aber Du hast meine Frage nach dem Tributnehmer und dem Tributpflichtigen noch nicht beantwortet. Zum herausgepressten Mehrwert hätte ich gern einmal echte Zahlen. Das Bild wäre ein anderes, als Dein Gedankenexperiment, denn der ausgepresste Arbeiter im Realsozialismus ist eine Fiktion. Ich selbst erinnere mich gut daran, wie unbeliebt ich mich als ferienarbeitende Schülerin gemacht habe, wenn ich mit Leichtigkeit Normen gebrochen habe, um die Ausbeute meiner dreiwöchigen Ferienarbeit zu maximieren. Heute weiß ich, das die Gegenreaktion richtig war, weil ich wieder zu interessanteren Tätigkeiten gehen konnte und die Anderen ihren Alltag nicht versaut haben wollten. Der Alltag aber war vergleichbar mit dem der Buschmänner: warum mehr arbeiten als wir müssen und als gut für uns ist?

(64.6.1.1.1) Re: Tributnehmer und Tributpflichtige., 30.03.2002, 14:38, Martin Auer: Den Tribut kassiert hat die Klasse der sogenannten Nomenklatura, die Funktionäre in Partei, Staat und und Wirtschaft. Dabei ist die Frage sekundär, wieviel sie davon verprasst haben und wieviel investiert. Ihre Gehälter waren oft relativ niedrig, doch gb ihnen ihre Funktion die Möglichkeit, von staatlichen Einrichtungen zu profitieren (Von der Datscha bis zum Sanatorium, speziellen Läden usw.) zu denen Normalsterbliche keinen Zugang hatten. Breschnew und ein paar andere lebte sozusagen schon im Kommunismus, während die übrigen noch in der Übergangsgesellschaft verharrten. Aber wie gesagt, wieviel die Tributnehmer verprassen, ist nicht entscheidend für die Einschätzung ihrer sozialen Rolle, ebenso wie es für die Einschätzung der Rolle des Kapitalisten nicht entscheidend ist, ob er bescheiden lebt und jeden Tag sechzehn Stunden im Kontor sitzt, oder sich auf Luxusjachten jeden Tag mit einer anderen Blondine auf dem Wasserbett vergnügt.
Was Kapitalismus, Realsozialismus und Tributstaat miteinander gemeinsam haben, ist, dass nur eine bestimmte Klasse über die Verwendung der Produktionsmittel bestimmt, während die anderen Klassen von dieser Entscheidungsgewalt ausgeschlossen sind. Im Tributstaat und im Realsozialismus wird diese Macht von einem hierarchisch strukturierten Kollektiv ausgeübt, im Kapitalismus von anarchisch miteinander konkurrierenden Individuen (die sich aber mit dem Staat auch ein gemeinsames Machtinstrument zur Durchsetzung ihrer kollektiven Interessen schaffen).

(64.6.1.1.2) Re:denn der ausgepresste Arbeiter im Realsozialismus ist eine Fiktion, 30.03.2002, 15:44, Martin Auer: Warum waren denn deine KollegInnen sauer auf dich? Weil sie befürchten mussten, dass die Normen hinaufgesetzt werden würden, nachdem du bewiesen hattest, wie leicht sie überboten werden konnten. Daraus schließe ich, dass nicht die ArbeiterInnen diese Normen festgelegt hatten. Sondern sie waren von oben diktiert, genau wie in jedem kapitalistischen Betrieb. Vermutlich hat in einem österreichischen kapitalistischen Betrieb der Betriebsrat sogar mehr Möglichkeiten, bei der Festsetzung der Normen mitzureden, als die Gewerkschaften in den sozialistischen Ländern es hatten. Deine KollegInnen haben nicht deshalb ihre Arbeitsleistung gedrosselt, weil sie der Meinung waren, die Gesellschaft würde mehr nicht benötigen, sondern weil sie annahmen, dass ihnen eine höhere Arbeitsleistung keinen persönlichen Nutzen bringen würde. Weil eben nicht sie es waren, die über die Verwendung des erwirtschafteten Produkts entscheiden konnten, weder direkt noch indirekt.
Das Paradoxe ist ja, dass "Produzieren um des Produzierens willen" im Sozialismus noch leichter möglich ist als im Kapitalismus. Kapitalisten investieren nur in Produktionen, für die sie sich einen Absatz erhoffen. Im Sozialismus ist es aber möglich - ich überspitze jetzt - ein Stahlwerk zu bauen, das Stahl produziert, aus dem Maschinen gemacht werden, mit denen man Eisen schürft, das zu Stahl gemacht wird, aus dem Maschinen gemacht werden, mit denen man Eisen schürft... Man kann also jeden Fortschritt in der Produktivität in die Erzeugung von mehr Produktionsmitteln investieren, ohne dass dabei am Ende mehr Konsumtionsmittel herauskommen. Im Kapitalismus führt eine solche Überprodukton von Produktionsmitteln zur Wirtschaftskrise. Im Sozialismus geht das. Und ich habe ein paar Absätze weiter oben geschrieben, warum die Nomenklatura immer mehr an der Produktion von Produktionsmitteln als an der Produktion von Konsumtionsmitteln interessiert war. Wenn aber erhöhte Produktivität nur oder hauptsächlich zu mehr Prestigeprojekten wie Großstaudämmen und dergleichen und zu mehr Panzern, aber nicht zu höherem Lebensstandard führt, dann haben die Arbeiter natürlich kein Interesse daran, die Produktivität zu steigern, genauso wenig wie ein ägyptischer Bauer daran interssiert war, die Produktivität zu steigern, wenn dabei nur grlßere Pyramiden herausschauten. Und der Stachel der Konkurrenz, der sinkenden Profitrate, der die Kapitalisten zur ständigen Produktivitätssteigerung antreibt, fehlt im Sozialismus auch. So erklärt sich das Paradox, das Annette Schlemm in Absatz 64.1 anspricht: Ich werfe dem Sozialismus vor, er hätte zuviel in die Steigerung der Produktivität investiert, während man ihm sonst vorwirft, er sei zu wenig produktiv gewesen. Genau weil man immer alles in die Steigerung der Produktivität investiert hat, ist die Entwicklung der Produktivität immer weiter hinter der des Kapitalismus zurückgeblieben. Hätten die Werktätigen wirklich die Möglichkeit gehabt, über die Verwendung ihres Produkts selber zu bestimmen - individuell und/oder kollektiv - hätten sie die Erfahrung gemacht, dass gesteigerte Produktivität ihnen unmittelbar und/oder mittelbar etwas bringt, dann wären sie an der Steigerung der Produktivität interessiert gewesen. Oder auch nicht, klar. Sie hätten auch beschließen können: So, aus ökologischen, psychohygienischen oder sonstigen Gründen steigern wir die Produktivität der Arbeit jetzt nicht mehr oder nicht mehr so schnell oder nur, wenn es umwelttechnisch vertretbar ist, oder oder oder. Aber diese Möglichkeit, selbst zu beschließen, hatten sie ja nicht. Und genau darin unterschieden sie sich von den Buschmännern.

(65)

[28] Haviland 1997

(66)

(67)

[29] Turnbull 1961

(68)

(69)

[30] Ganz ausschließen lassen sich blutige Kriege freilich nicht, da sie auch unter unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen vorkommen können. Goodall beschreibt, wie sich eine kleine Gruppe von Schimpansenmännchen von der Stammgruppe löste und eine eigene Gruppe bildete. Im Lauf der Jahre wurden die Abtrünnigen einer nach dem anderen von Mitgliedern der Stammgruppe ermordet. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass die Abtrünnigen sehr nahe bei der Stammgruppe bleiben mussten, da der Lebensraum der Schimpansen immer mehr schrumpft. Sie hätten gar nicht ausweichen können. (Goodall 1990)

(70)

(71)

[31] Diamond 1992

(72)

(73)

[32] Haviland 1997

(74)

(75)

[33] Diamond 1992, Diamond 1998

(76)

(77)

[34] Thomson 1941

(78)

(79)

[35] Mumford 1967 S 250

(80)

(81)

[36] Keegan 1993, S. 194

(82)

(83)

[37] Haviland 1997

(84)

(85)

[38] Harris 1974

(86)

(87)

[39]

(88)

(89)

[40] Auch heutige Jäger, wie die Buschmänner Südafrikas, unternehmen gern Beutezüge gegen benachbarte Bauernsiedlungen, wobei sie es heute vor allem auf deren Vieh abgesehen haben.

(90)

(91)

[41] Mumford 1966. Vergleiche auch Keegan 1993

(92)

(93)

[42] ebd.

(94)

(95)

[43] Erman 1894, zitiert nach Mumford 1966

(96)

(97)

[44] Mumford 1966

(98)

(99)

[45] ebd.

(100)

(101)

[46] ebd.

(102)

(103)

[47] Weatherford 1997

(104)

(105)

[48]Am 9.9. 1914 erließ der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg die folgenden Kriegziel-Richtlinien: „...die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und eventuell Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren.“

(106)

Aus der Denkschrift von Werner Daitz betr. Die Errichtung eines Reichskommissariats für Großraumwirtschaft vom 31.5.1941: „Wenn wir den europäischen Kontinent wirtschaftlich führen wollen, ... so dürfen wir aus verständlichen Gründen diese nicht als eine deutsche Großraumwirtschaft öffentlich deklarieren. Wir müssen grundsätzlich immer nur von Europa sprechen, denn die deutsche Führung ergibt sich ganz von selber aus dem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, technischen Schwergewicht und seiner geographischen Lage.“

(107)

(108)

[49] Wie der Autor aus eigener Erfahrung weiß.

(109)

(110)

[50] "Die Produktivität der sowjetischen Industrie hat den internationalen Standard noch nicht erreicht. Bis 1975 hat sie die Arbeitsproduktivität im Verhältnis zu den USA schneller steigern können. Sie erzielte Mitte der siebziger Jahre 55 % der Arbeitsproduktivität der amerikanischen Industrie. In den letzten zehn Jahren konnte dieser Abstand jedoch nicht mehr verringert werden. Aus der Veröffentlichungspraxis der UdSSR ist eher zu schließen, dass sich der Abstand wieder vergrößert." Hellmuth G. Bütow (Hrsg.) Länderbericht Sowjetunion. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2. Aufl. 1988. Seite 360.

 

(111)

(112)

[51] Laut Boris Altshuler machten die Militärausgaben der SU 1969 40 bis 50% des Nationaleinkommens (nicht zu verwechseln mit GNP) aus – die der USA 11%. (Altshuler 1998)


Valid HTML 4.01 Transitional