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Visionen und Utopien - Grundsätze, Ideen, Fragen, Zweifel, lebhafte Debatte

Maintainer: Annette Schlemm, Version 1, 26.01.2001
Projekt-Typ:
Status: Archiv

Keine Visionen mehr?

(1) Es mag sich polemisch anhören, aber auch Linksradikale haben einen Alltag. Der besteht zumeist in dem immergleichen Rhythmus Planung-Event-Nachbereitung-neues Event und viele haben sich wohl schon stoisch damit abgefunden, ihr Leben damit zu fristen, Jahr für Jahr zu der Schar wackerer KämpferInnen zu gehören, die ihre ganz eigene Lebensnische gefunden haben, in der alle Zeit für den Widerstand geopfert wird. In all der Hektik nimmt sich kaum noch jemand Zeit für die Frage nach Visionen und Zielen. In der Bekämpfung der bestehenden Misere verlieren wir immer mehr aus den Augen, wie die Welt, für die wir kämpfen, eigentlich aussehen soll. Oder haben wir etwa Angst, dass wir so verschiedene Visionen haben, dass uns gar mehr trennt als eint? Oder haben wir etwa gar keine Visionen mehr?

Ran an die Visionen, ran an die brennenden Fragen!

(2) Das Projekt „Visionen und Utopien“ möchte Visionen vorstellen, die bereits entworfen wurden und fragen, inwiefern wir aus ihnen schöpfen und lernen können. Es möchte Ansätze und Denkmodelle diskutieren und abseits von einem selbstverständlichen Konsens der Frage auf den Grund gehen, warum die Menschheit vor einer radikalen Veränderung Angst hat und ob uns nicht sogar selber immer noch einige Zweifel auf den Nägeln brennen. Es möchte Sichtweisen und Theorien aus anderen Disziplinen in die Debatte schmeißen, sich die Frage nach der Bedeutung von Kommunikation stellen und es möchte vor allem eins – Eure Visionen und Utopien, Eure Ideen, Eure Fragen, Eure Zweifel und Eure Hinweise auf vieles, was wir vergessen, übersehen oder erstmal weggelassen haben.

(2.1) Übersicht zu anarchistischen Strömungen und Visionen, 26.01.2001, 17:08, Oliver Uschmann: EINE KLEINE ÜBERSICHT ZU STRÖMUNGEN VON ANARCHISMUS/VISIONEN Wie überall streiten sich die Gelehrten darum, wie man jetzt die Strömungen des Anarchismus voneinander abgrenzen kann und vor allem, wer wo dazugehörte. Einerseits zwängt mensch sich dadurch Schubladen auf, andererseits braucht mensch auch ein wenig Übersicht im Wust der Richtungen. Dieser Versuch ist ein rein subjektiver Vorschlag. ANARCHO-KOMMUNISMUS – der Kampf um die Kommune mit Wort und Waffe Klingt böse, beschreibt aber imgrunde die Richtung, die Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem durch Michail Bakunin dafür sorgte, dass sich die antiautoritären Kommunisten von den autoritären Kommunisten unter Marx abspalteten. Seit dieser Zeit (1872) steht der Anarchismus endgültig dem Staatskommunismus als eigene Bewegung offensiv gegenüber. Die Gesellschaft ist hier dezentral in Kommunen aufgeteilt, sämtliche Hierarchien, Ideen oder Institutionen, die unsere freie Entfaltung verhindern, werden abgeschafft. Die Kommunen handeln und arbeiten in freien Kooperationen nach Bedürfnis, gegenseitiger Hilfe und individuellem Talent. In Sachen Entscheidungen herrscht das Konsensprinzip.Waren sich die zwei wichtigsten Denker dieser Richtung – Michail Bakunin (1814-1876) und Peter Kropotkin (1842-1921) über ihr Ziel einig, so teilten sich jedoch die Meinungen über den Weg dahin und auch über die Herleitung aus der bestehenden Gesellschaft. Bakunin förderte den gewalttätigen Kampf des Proletariats und den Aufbau autonomer Arbeitergenossenschaften mit allen Mitteln, während Kropotkin als Pazifist die sogenannte alltägliche Propaganda vertrat. Reden, reden und nochmals reden, dazu eigene autonome Presse und viel Überzeugungsarbeit und Gründung von Genossenschaften um die eigene Vision schon vorzuleben. Außerdem begründete Kropotkin seine Vision damit, dass das Prinzip gegenseitiger Hilfe die eigentliche Natur von Mensch und Tier sei, die nur freigesetzt werden müsse. Er vertrat das auf der Basis seiner Studien als Naturwissenschaftler. Bakunin dagegen wollte erst mal die totale Zerstörung des Bestehenden, um neu anzufangen, anstatt in ihm die positiven Aspekte zu fördern. Somit verkörpern diese beiden Männer imgrunde die argumentierende und besonnene und die kämpferische und revolutionäre Seite derselben Medaille. ANARCHOSYNDIKALISMUS – die Gewerkschaft triezt die Bosse, bis sie aufgeben Die Anarchosyndikalisten sehen die Gewerkschaft als Grundorganisation einer freien Welt und den Generalstreik als mächtigstes Mittel auf dem Weg dahin. Ihr Ziel ist eine Übernahme der Betriebe durch die ArbeiterInnen und eine dezentrale, selbstverwaltete Gesellschaft. Hauptansatzpunkt dieser Richtung liegt in der schrittweise Zersetzung des Kapitalismus durch eben die Mittel, welche die ausgebeuteten Massen praktisch haben – Boykott, Besetzung, Streik, Sabotage, direkte Aktion. Gerade zu Anfang des 20. Jahrhunderts zogen anarchosyndikalistische Gewerkschaften wie die IAA überall große Massen an. In der spanischen Revolution bildeten sie Milizen, die in vorderster Front kämpften und ihr Ansatz war schon immer ökonomisch und nicht so sehr auf die Freiheit des Individuums bedacht. Die wollen sie natürlich auch, aber sie bildet nicht den Hauptantrieb für den Widerstand – den bildet eben das klassische Modell des Kampfes gegen die Kapitalisten und des Übernehmens der Produktionsmittel. Berühmte Vertreter dieser Richtung waren Ferdinand Pelloutier (1867-1901) und George Sorel (1847-1922). Die Realisierung ihrer Vision hat bei den Anarchosyndikalisten keine wirklichen Tabus zwischen Überzeugung, friedlichem Protest und revolutionärem Kampf. Hauptsache es geht voran. SOZIALISTISCHER ANARCHISMUS / LIBERTÄRER SOZIALISMUS – das Aufbauen eigener Kreisläufe neben den Kapitalisten, bis dem seine Leute zur Konkurrenz überlaufen Was den sozialistischen Anarchismus von dem Syndikalismus unterscheidet, ist grob gesagt das Aufbauen eigener Kreisläufe anstatt das Bekämpfen der bestehenden Macht. Ihre dezentrale, freie Gesellschaft lässt solange neben den Ausbeutern und ihren Betrieben freie Genossenschaften und Kooperationen entstehen, bis diese aufgeben müssen. Revolutionärer Kampf a’la Bakunin liegt ihnen eher fern, das Entwickeln eigener Kreisläufe näher. Pierre Proudhon (1809-1865) etwa wollte die freie Gesellschaft unter anderem durch die Gründung einer Volksbank, die zwar durchaus eine Währung als Tauschmittel hat, aber weder Zinsen noch Eigenkapital aufweist. Seine Vision beinhaltet somit Geld als reines symbolisches Tauschmittel ohne jede Möglichkeit auf Monopol und Vermehrung durch sich selbst. Gustav Landauer (1870-1919) grenzte sich von den Syndikalisten auch dadurch ab, dass seine Vision das Buhlen um die Massen in Gewerkschaften zu plump fand. Er wollte eine sozialistische Ordnung auf anarchistischer Basis. Heute vertreten die letzten linken Intellektuellen wie der amerikanische Professor Noam Chomsky einen Mischmasch aus Syndikalismus und dem, was er libertären Sozialismus nennt. Eine sozialistische Gesellschaft ohne Autorität unter freier Entfaltung des Einzelnen. Und den Weg als Ziel durch Überzeugung, Gegenöffentlichkeit und das Schaffen eigener Strukturen anstatt das direkte Trietzen der Konzerne oder gar das Warten auf einen heftigen revolutionären Umsturz. INDIVIDUALANARCHISMUS – das Individuum muss sich nur vor sich selbst legitimieren Hat das schlechte Image einer bösen Ellbogentheorie, meint aber das genaue Gegenteil. Zentrum der Theorie ist alleine die völlig freie Entfaltung des Individuums. Der Mensch darf nie mehr nur in seiner Rolle gedacht werden, die er in irgendeinem Kollektiv einnimmt. Demnach sollten selbst die freien Kooperationen auf ein Minimum eingeschränkt werden. Der Mensch soll sich als Individuum gänzlich befreien und nie mehr im Dienste irgendeiner höheren Sache stehen, sei sie nun durch Kapital, Religion, Wissenschaft oder Moral begründet. William Godwin (1756-1846) formulierte in diesem Rahmen als allererster anarchistische Ideen und sah den Menschen als Vernunftwesen, der in einer freien Gesellschaft sein Potential schon entfalten werde. Max Stirner (1806-1856) dachte seine Vision nur vom Individuum aus – wenn jeder nach seinem Gutdünken handelt und es keine Hierarchie oder Macht mehr gibt, würde die Gesellschaft sich von selber einpendeln. Die Realisierung dieser Vision kann selbstverständlich nur von jedem Einzelnen und gewaltlos ausgeübt werden, da ja niemand das Recht hat, anderen etwas aufzuzwängen. FOURIESMUS – muntere freie Arbeit und Luxus für alle Diese Lehre von Charles Fourier (1772-1837) sieht die Arbeit an sich als Grundtrieb des Menschen an, der durch den Kapitalismus pervertiert worden wäre. Da wir imgrunde alle einen kreativen und produktiven Drang haben, muss also die Arbeit in freien Assoziationen nach Talent, Fähigkeit und Sympathie geschehen. Diese Produktionsweise soll erstmal als autonomer Kreislauf im System aus-probiert werden, das Eigentum wird erst abgeschafft, wenn genug Reichtum für alle da ist. Das Motto heißt: Luxus für Alle statt allgemeines Elend. Fourier ging naiverweise davon aus, dass die Kapitalis-ten mit der Zeit von dieser effektiven und freien Organisation überzeugt würden und im allgemeinen Luxus ihre Macht von selber abgeben. SAINT SIMONISMUS – die tüchtigen Funktionäre Die Saint-Simonisten kann man nicht zu den Anarchisten zählen, da sie zwar die Lohnarbeit, aber nicht den Staat abschaffen wollten. Die Menschen werden zu Funktionären ihres Staates und die Regierung ergebe sich aus den Besten in Wissenschaft, Kunst und Industrie. Die Verteilung der Güter geschieht nach Tüchtigkeit. Somit ist diese Strömung gegen jede freie Entfaltung des Individuums und wurde auch eher von autoritären Kommunisten und im Laufe der Geschichte gar von radikalen Liberalen aufgenommen. ANARCHOLIBERALISMUS – freier Handel ohne Monopol, Staat und Ausbeutung Diese von Silvio Gesell (1862-1930) ins Leben gerufene Lehre will weder das Geld, noch das Eigentum abschaffen. Sie verlangt aber einen freien Handel ohne Staat, freien Boden und freies Geld. Das klingt natürlich nach stinkendem Neoliberalismus und sicherlich berufen sich neoliberale Denker auch darauf, aber diese Vision hatte einen entscheidenden Kniff. Das Geld muss immer im Umlauf bleiben, verliert beim Horten an Wert und es ist unmöglich, aus Geld mehr Geld zu machen. Somit gibt es keinerlei Kollektiv, der Mensch soll seinen individuellen Eigennutz als Triebfeder ruhig leben, aber es gibt keine Möglichkeit von Akkumulation und Ausbeutung der Mehrheit durch die Minderheit. Imgrunde eine schöne Utopie autonomer Föderationen in ständigem Handel mit Geld als dauerhaft fließendem Schmiermittel. Eine Gesellschaft nur aus Mittelklasse. MODERNE VISIONEN – gegen die Arbeit, gegen das Wertgesetz, gegen die reine Vernunft Von den modernen Visionen seien wegen Zeitmangels hier nur ein paar wenige Beispiele erwähnt. Die Gruppe Krisis hat mit ihrem Manifest gegen die Arbeit nicht den Kampf gegen die Konzerne oder die Gemeinschaft der Ausgebeuteten, sondern den Kampf gegen das Konzept Arbeit an sich beworben. Die Arbeit sei im Kapitalismus der Motor allen Übels und wenn man ihm den Sprit – also sich selbst – entziehe, sei dies der wirksamste Widerstand gegen das System. Kollektive Arbeitsverweigerung als Weg zum Ziel einer freien Gesellschaft, in der nicht mehr die Arbeit, sondern die freiwillige Tätigkeit der Motor der Gesellschaft sind. Die Gruppe Gegenbilder zeichnet in ihrem Buch Freie Menschen in freien Vereinbarungen einen visionären Mix aus dem Grundprinzip der freien Entfaltung des Individuums und der ökonomischen und ökologischen Notwendigkeit freier, dezentraler, antihierarchischer, betriebsamer Kooperationen. Der Weg wird hier als Ziel beschrieben, ständiges Lernen und dauerhaftes Hinterfragen der eigenen Bewegung als dringende Notwendigkeit visionärer Bewegungen beschrieben. Die Wurzel allen Übels in der bestehenden Gesellschaft ist das Wertgesetz, dem mittlerweile alle unterliegen, womit alte Unterteilungen wie Kapitalisten und Unterdrückte obsolet werden. Auch der Manager unterliegt dem totalitären Wertgesetz, der Mensch selber ist zur nutz- und formbaren Ressource geworden. Die Realisierung einer alternativen Gesellschaft geschieht darin, die Keimzellen des Neuen (autonome Kreisläufe und Freiräume) gedeihen zu lassen und auszubilden und wenn überhaupt erst dann, wenn der Konsens in „unsere“ Richtung kippt, revolutionäre Gewalt anzuwenden. Die Panokratie ist ein viel gescholtener Exot unter den Visionen. Die Panokratie bricht mit zahlreichen anarchistischen Tabus und ist inhaltlich wie sprachlich in keine Schublade einzuordnen. Ihre provokanten Unterschiede zu klassischen anarchistischen Vorstellungen gewinnt sie aus einem geschlossenen Modell, der Berücksichtigung des Irrationalen und des Gefühls, der Proklamierung von Abstimmungen statt Konsens und einer Vorfertigung bis ins Detail. Für viele problematisch, da hier das Konzept der Autarchiegenese als Wurzel allen Übels dasteht. Das meint das automatische Entstehen von Machtgefällen in allen Systemen, die in nicht Gefühl und Ratio zu vereinen wissen. Verstand ohne Gefühl ist Mord, Gefühl ohne Verstand macht manipulierbar. In diesem Sinne basiert die Panokratie auf eine Wiedervereinigung von Ratio und Gefühl und definiert sich selber abseits von rechts und links (im Sinne des Kommunismus) neben der Anarchie als einziges Aufwärtssystem. Sie propagiert eine genauestens durchgeplante Parzellierung der Gesellschaft. Parzellen je nach Größe in freien Föderationen verknüpft und je nach Größe mit verschiedenen Aufgaben belegt. Produktion mit Einbezug aller Technik auf Bedarf und dezentral. Das Individuum und auf Sympathie gegründete Kernzellen als Basis. Sämtliche Entscheidungen von unten nach oben. Individualwacht, freie Entfaltung als Basis gegenseitiger Hilfe und Vertrauens. Breites Bildungssystem mit verschieden freien Stufen und Mündigkeitstest für die Zellengrößen. Teils absurde technische Visionen. Dieses Modell ist größenwahnsinnig, vorlaut, dreist und sogar noch unterhaltsam verfasst – wie das nun zu werten ist, bleibt jedem selbst überlassen.

Tabuthemen?

(3) Außerdem soll dabei mal ein unzensierter Blick auf die eigene Bewegung geworfen und gefragt werden, inwiefern wir unsere Visionen überhaupt schon leben können oder an unseren Ansprüchen scheitern. Außerdem sollen Fragen aufgeworfen werden, inwiefern gewisse Themen und Denkweisen (das Irrationale im Menschen, Kritik an der Moderne, Technikwahn oder Technikfeindschaft, Psychologie) bereits in sich antiemanzipatorisch sind oder erst durch die Konsequenzen, die manche daraus ziehen, antiemanzipatorisch gemacht werden. Visionen sind schließlich nur dann wirksam und sinnvoll, wenn sie keine in sich abgeschlossenen Luftschlösser bauen, sondern ihre Konzepte aus der Analyse des Bestehenden ziehen und sinnvoll herleiten. Mut zum radikal Neuen aus purem Realismus bei der Betrachtung des Alten. Oder?

(3.1) Thesen zu Visionen, 26.01.2001, 17:23, Oliver Uschmann: EIN PAAR THESEN ZU VISIONEN UND DEM KAMPF UM EINE ALTERNATIVE GESELLSCHAFT So verschieden die emanzipatorischen Visionen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart auch sind – sie haben fast alle ein paar unsichtbare Sichtweisen gemeinsam. Diese sollen hier vor-gestellt und mit Gegenthesen konfrontiert werden. Dabei möchte ich darauf aufmerksam machen, dass ich diese Thesen gerade deswegen vertrete, weil ich von dem Konzept runter will, in dem es „eine“ unumstößliche Wahrheit gibt und somit Kommunikation blockiert wird. Der (radikale) Konstruktivismus, den ich hier anzureißen versuche, beinhaltet ja logischerweise in sich selbst, dass er auch nur ein Konstrukt ist. Außerdem gibt es sicherlich auch andere Wege als Systemtheorie und radikalem Konstruktivismus, um zu einem Verständnis der Menschen als Individuen zurückzukommen und den elitären Gedanken der „einen Wahrheit“ über Bord zu werfen. Die Debatte sei somit eröffnet... 1.DIE „REALITÄT“ ALS FESTE GRÖßE Eigentlich alle Visionen gehen davon aus, dass es eine Realität außerhalb der Wahrnehmung von Menschen gibt. Diese Realität kann man erkennen oder nicht, man kann sie so zeigen, wie sie ist oder aber gezielt verfälschen. Dieses Modell ist heute eigentlich überholt. Damit soll nicht die Existenz dieser Realität bestritten, sondern darauf aufmerksam gemacht werden, dass niemand direkt auf sie zugreifen kann. Vielmehr geht mensch davon aus, dass wir Menschen uns alle unsere eigene Wirklichkeit schaffen – was für uns „Wahrheit“ ist ist abhängig von allem, was wir erleben, lesen, lernen und erfahren. Einen Zugriff auf eine „objektive Realität“ hat niemand, wir alle sehen nur ein Konstrukt von der Welt. Als „objektiv wahr“ gilt das, was in den Köpfen der meisten Menschen übereinstimmt – im Moment etwa der Kapitalismus als Naturgesetz, vor 700 Jahren die Welt als Scheibe oder im Faschismus die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung. Somit existieren viele „Wahrheiten“ nebeneinander und „objektiv wahr“ wird die, die sich am besten verkauft und die meisten Menschen überzeugt, sie habe Recht. Macht mensch sich klar, dass wir somit keinen Zugriff zur „Realität an sich“, sondern nur Konstrukte in unseren Köpfen haben, zieht das eine radikale Veränderung in unserem Selbstbild und darin nach sich, wie wir für „unsere Wahrheit“ eintreten. 2.DIE IDEE „NOTWENDIG FALSCHEN BEWUSSTSEINS“ Egal wieviel alle Visionen von „Individuum“ und Gleichheit reden – im Endeffekt glauben sie alle, dass sie selber näher an „der Realität“ sind als die systemkonformen Bürger, deren Wahrnehmung von der Welt von der Maschinerie des Kapitals und seiner Medien verblendet wurde. Sie schuften 40 Jahre für ihre Kinder und wälzen sämtliche Verantwortung von sich, da sie sich damit rechtfertigen können, im Kapitalismus nicht anders überleben zu können. Sie haben also „notwendig falsches Bewußtsein“. Die emanzipatorische Linke dagegen sei näher an „der Realität“. Wer so denkt, merkt nicht, dass er sich automatisch als Elite betrachtet – wenn ich glaube, ich bin an „der einen Realität“ näher dran, dann habe ich einen Vorsprung, dann sehe ich mich als besser und als Avantgarde. Ich werte die Menschen in „gut“ und „böse“, ihre Wahrnehmung in „richtig“ oder „falsch“. Glaube ich aber, dass alle Menschen nur „verschiedene“ Konstrukte von Realität haben, sind alle wieder auf einer Ebene und ich kann versuchen, die Konstrukte der anderen zu verstehen und so viel besser zu kommunizieren. 3.DER MENSCH ALS SELBSTBESTIMMTES VERNUNFTWESEN Alle Visionen sehen den Menschen als im Kern gutes und vernünftiges, selbstbestimmtes und hilfsbereites Wesen. Er ist lediglich durch das kapitalistische Prinzip verdorben, fällt dies aber weg, wird er als reines Vernunftwesen sein volles Potential im friedlichen Miteinander ausschöpfen. Sämtliche Erkenntnisse der Psychologie sprechen ebenso gegen diese Annahme wie die Beobachtung von uns selbst und anderen, wenn wir die Augen aufmachen. Es ist ein großes Hemmnis „der Linken“, das Irrationale im Menschen ebenso wie die Psychologie zu verteufeln und zu glauben, wir könnten alles mit Vernunft regeln. Der Erfolg von Hollywood, Eventkultur, Musikindustrie, Werbung, Spaßgesellschaft und all den anderen Instrumenten der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft geht nicht zuletzt darauf zurück, dass sie den irrationalen Teil in uns ansprechen. 90% dessen, was uns in Kommunikation überzeugt, ist non-verbal. Wir sind nicht nur Vernunftwesen, wir reagieren alle auch emotional. Und zwar jeder. Wer das in seiner Theorie und Praxis von Visionen nicht berücksichtigt, hat schon verloren. 4.GESELLSCHAFT ALS KLASSENKAMPF, ÖKONOMIE ODER ANSAMMLUNG VON INDIVIDUEN Nahezu alle Visionen sehen die Gesellschaft als eine Gesellschaft der Klassen, der Machtkämpfe zwischen Schichten oder Gruppen oder als Gewusel mehr oder weniger bekloppter Individuen. Mensch kann die Gesellschaft aber auch anders sehen. Die in linken Kreisen zu Unrecht verschriene Systemtheorie sieht die Gesellschaft seit Ende des 18. Jahrhunderts bis heute als eine sogenannte „funktional ausdifferenzierte Gesellschaft“. Das bedeutet, dass wir alle in Rollen eingeteilt sind, in denen wir eine Funktion erfüllen müssen. Wir sind ArbeitnehmerIn, StudentIn, AntragstellerIn, KünstlerIn, AktivistIn etc.... Unser Individuum ist überall und nirgends mehr zu Hause. Das liegt daran, dass die Gesellschaft nicht mehr aus klaren Ständen, Klassen oder Schichten, sondern aus Systemen besteht. Solche Systeme sind etwa Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Bildung oder Politik. Die Systeme halten sich nicht durch individuelle Menschen am laufen, sondern durch Kommunikation. In jedem System ist nur eine bestimmte Art von Kommunikation möglich und die orientiert sich an einfachen Codes wie wahr/falsch, haben/nicht-haben, recht/unrecht usw....wer nicht nach den Regeln eines Systems kommuniziert, hat keinen Einfluss auf das System. Ich kann somit etwa noch so viel gegen Gentechnik aus moralischer oder politischer Sicht sagen, im System Wissenschaft wird mir keiner zuhören, da es dort nur um wahr oder falsch, möglich oder nicht möglich geht. Das ist auch der Grund, warum ein Künstler alles sagen darf und „wir“ bei Demos von der Straße gekloppt werden – alles, was der Künstler sagt, wird dem System Kunst zugerechnet und nicht der Politik. Wenn wir uns darüber klar werden, dass somit Realität durch Kommunikation entsteht, fallen sämtliche alten Feindbilder und Schuldzuschreibungen weg. 5.DAS AUSSCHLIEßENDE DENKEN Wir alle denken immer noch in Kategorien wie ja/nein, Freund/Feind, richtig/falsch etc...Dieses Denken findet mensch auch in allen emanzipatorischen Visionen. Da wird Autorität und Dominanz so vehement als falsch dargestellt, dass mensch gar nicht bemerkt, dass dieses Pochen auf den eigenen emanzipatorischen Prinzipien auch dominant ist und sein will, da es Leute überzeugen soll. Da wird immer noch in alten Ursache-Wirkung- Mechanismen gedacht. Die Sicht der Gesellschaft als Netz von Systemen, die durch Kommunikation laufen und in denen wir ausnahmslos alle eine Funktion erfüllen macht dagegen klar, dass nahezu alles in Kreisläufen läuft und um sich selber kreist. Ein Denken in Grautönen und Zwischenkategorien fehlt völlig. So spiegelt sich dann auch in „visionären Kreisen“ die große Gesellschaft im Kleinen wieder – und zwar in ungeschriebenen Regeln, Dresscodes, Tabus und Zersplitterung in Kleinstszenen und Untergruppen. 6.FAZIT – UMDENKEN! Ich stelle die These auf, dass wir unsere elementaren Annahmen über Welt, Mensch und Gesellschaft überdenken müssen, wenn wir überhaupt noch erfolgreich für unsere Visionen kämpfen wollen. Es kann nicht sein, dass wir immer noch glauben, als heldenhafte Kämpfer für „die eine, wahre Realität“ anzutreten und alle anderen Menschen nicht als Individuen sehen, deren Wahrheit nun mal anders gebildet wurde als unsere, sondern als Idioten mit „falschem Bewußtsein“, die wir imgrunde verachten. Wenn wir weiter unsere alte Schiene fahren, ohne wenigstens dafür offen zu sein, wie mensch Gesellschaft und Kommunikation auch sehen kann (selbst wenn das unbequem ist), blockieren wir uns selber und nehmen uns viele Möglichkeiten.

Es gibt keinen "obersten" Text - legen wir einfach los!

(4) Es ist Absicht, dass es bei diesem Projekt als Basistext nur diese Einleitung gibt und alle inhaltlichen Sachen als Unterpunkte starten, da wir nicht gewillt waren, der Debatte bereits von vornherein einen dominierenden Text hinzusetzen und es hierbei auch keinen wirklichen „obersten“ Anfang gibt. Legen wir doch einfach los!!!


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