Home   Was ist ot ?   Regeln   Mitglieder   Maintainer   Impressum   FAQ/Hilfe  

Eigentum und Produktion am Beispiel der Freien Software -- Begriffe

Maintainer: Stefan Merten, Version 1, 23.02.2003
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

1. Begriffsklärungen

(1) Vor einer direkten Befassung mit der Preisfrage der Rosa-Luxemburg-Stiftung möchte ich gerne die Begriffe klären, die in der Frage und ihrer Erläuterung verwendet werden. Damit soll einerseits ein gemeinsames Verständnis dieser Begriffe geschaffen werden. Andererseits bietet eine solche Klärung die Möglichkeit, diese teils sehr alten Begriffe unter einem neuem Blickwinkel zu betrachten, der für eine emanzipatorische Vision von Nutzen ist. Hinzu kommen einige Begriffe, die in diesem Text von zentraler Bedeutung sind.

1.1. Emanzipatorische Vision

(2) In den Ausführungen zur eigentlichen Preisfrage wird der Begriff der emanzipatorischen Vision als Leitidee genannt. Dieser Text greift diese Leitidee durchgehend auf. Daher zunächst einige Gedanken zu den Elementen einer emanzipatorischen Vision. Sie sind zwar nicht besonders spektakulär, sollen aber verdeutlichen, was in diesem Text als Kernelemente einer emanzipatorischen Vision begriffen wird.

Bedürfnisorientierung

(3) Den Kern einer emanzipatorischen Vision bildet eine umfassende Orientierung an den individuellen Bedürfnissen aller Menschen. Eine emanzipatorische Vision kann sich also weder auf irgendetwas beziehen, was nicht einem individuellen Bedürfnis entspringt, noch kann sie die Bedürfnisse einer bestimmten Menschengruppe für wichtiger halten als die einer anderen Menschengruppe. Es ist dagegen ohne weiteres denkbar, dass individuelle Bedürfnisse kollektiv organisiert werden.

(4) Nun sind die Bedürfnisse unterschiedlicher Menschen höchst unterschiedlich. Sie hängen zu einem guten Teil von der je konkreten Kulturalisierung und Sozialisierung eines je konkreten Menschen ab. Dennoch lassen sich einfache Basisbedürfnisse ausmachen, die in allgemeiner Form als unhintergehbare Grundlage einer generellen Bedürfnisorientierung angesehen werden können. Insbesondere das Bedürfnis nach ausreichender Nahrung und ähnlichen grundlegenden Bedürfnissen wie Unterkunft, Gesundheitsversorgung und sozialer Einbindung können hier angeführt werden. Kurz gesagt: Die biologische und soziale Existenz der Menschen muss gewährleistet sein. Die Form, in der diese Bedürfnisse befriedigt werden, unterliegt dagegen bereits der Individualität der Menschen, so dass hierüber keine allgemeine Aussage gemacht werden kann.

(5) Unzweifelhaft schließt eine solche Orientierung an den Bedürfnissen Konflikte nicht aus. Jedoch fallen auch Konflikte unter die generelle Bedürfnisorientierung. Um in Einklang mit der emanzipatorischen Vision zu stehen, müssen Konflikte daher in Formen ausgetragen werden, die dem generellen Ziel einer universellen Bedürfnisorientierung entsprechen.

(6) Zu einer generellen Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen gehört im Weiteren auch, dass die Bedürfnisbefriedigung in möglichst hoher Qualität erfolgen sollte. In vielen Fällen wird erst der Einsatz technischer Mittel einen hohen Qualitätsstandard ermöglichen, so dass Technik eine wichtige Größe bei der Betrachtung von Formen von Bedürfnisbefriedigung ist.

Selbstentfaltung

(7) Ein besonders herausgehobenes Bedürfnis ist das Bedürfnis nach Selbstentfaltung. Selbstentfaltung basiert auf den skizzierten Grundbedürfnissen und beschreibt quasi ein Metabedürfnis, dessen individuelle Ausprägung die individuelle Ausformung anderer Bedürfnisse bestimmt. Wird angenommen, dass die Möglichkeit der Selbstentfaltung ein wesentlicher Aspekt eines Begriffs des Menschen ist, so machen erst Bedingungen der Selbstentfaltung einen Menschen zum Menschen. Selbstentfaltung möglich zu machen ist so verstanden ein Schritt zu einer umfassenden Menschwerdung.

(8) Eine umfassende Gewaltfreiheit ist eine logische Folgerung aus Selbstentfaltung, da der Einsatz von Gewalt gerade auf die Unterdrückung von Selbstentfaltung zielt. Solche Gewaltfreiheit bedeutet in der Praxis unter anderem einen umfassenden, generellen Respekt vor allen Menschen sowie eine generelle Anerkennung persönlicher Grenzen.

(9) Generell ist Selbstentfaltung besser möglich, wenn mehr individuelle Handlungsmöglichkeiten (vulgo: Freiheit) existieren. Soll eine maximale Selbstentfaltung gewährleistet werden, so ist ein Teilaspekt also die Vergrößerung der Handlungsmöglichkeiten. Eine Quelle von Handlungsmöglichkeiten sind Fähigkeiten, über die ein Individuum verfügt. Viele, gut ausgebildete Fähigkeiten ermöglichen unterschiedliche Handlungsweisen und begünstigen daher Selbstentfaltung. Neben äußeren Bedingungen ist daher Lernen als eine Vergrößerung des individuellen Handlungsrepertoires eine wichtige Dimension einer emanzipatorischen Vision.

1.2. Entfremdung

(10) Da der Begriff der Entfremdung für diesen Text zentral ist, soll die hier verwendete Bedeutung ebenfalls zu Beginn eingeführt werden. Dies scheint gerade bei diesem Begriff besonders notwendig, da er mit verschiedenen Bedeutungen verwendet wird. Die folgende Definition erhebt allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern versteht sich als Arbeitsdefinition.

(11) Als Kurzdefinition für den Begriff der Entfremdung wie er in diesem Text verwendet wird, mag der Satz gelten: Ein Entfremdungsverhältnis liegt dann vor, wenn ein Mensch in Bezug auf eine Sache nicht verantwortlich handeln kann.

(12) Die "Sache" ist hier weit gefasst zu verstehen und umfasst neben materiellen Dingen auch immaterielle Dinge wie Ideen oder Bedürfnisse. Ja sogar Menschen können Sachen im Sinne dieser Definition sein und also Teil eines entfremdeten Verhältnisses sein.

(13) Unter Verantwortung ist hier streng das gemeint, was ein Mensch für sich individuell als Verantwortung erkennt. Es ist insbesondere nicht das gemeint, was im üblichen Sprachgebrauch Menschen auf normative Weise als deren Verantwortung zugeschrieben wird. Jedes individuelle Normensystem, auf dem Verantwortung letztlich beruht, ist gesellschaftlich geprägt - Menschen sind gesellschaftliche Wesen und folglich erheblich von Gesellschaft geprägt. Ein individuelles Normensystem ist aber immer auf den konkreten Menschen bezogen und Teil seiner Individualität. Das Erkennen von Verantwortung auf diesem individuell geprägten Normensystem ist hier gemeint. Die Verantwortung für sich selbst ist Grundlage solcher Verantwortung.

(14) Die Unmöglichkeit verantwortlichen Handelns kann neben individuellen Gründen auch prinzipielle Gründe haben. So ist in einem verselbstständigten System verantwortliches Handeln prinzipiell unmöglich - sonst wäre das System nicht verselbstständigt. Hier ist verantwortliches Handeln höchstens noch im Verhältnis zu dem verselbstständigten System möglich.

(15) Auch für von Domination Betroffene ist verantwortliches Handeln nicht möglich. In Verhältnissen, die durch Domination bestimmt sind, ist das Handeln ja gerade eben durch andere bestimmt und nicht durch die eigene Verantwortung. Auch hier ist jedoch wieder ein verantwortliches Handeln im Verhältnis zur Domination möglich, beispielsweise das Verlassen des dominativen Verhältnisses.

(16) Generell kann gesagt werden, dass verantwortliches Handeln ein Mindestmaß an individueller Freiheit voraussetzt. Wo diese nicht gegeben ist, kann von verantwortlichem Handeln nicht gesprochen werden.

1.2.1. Entfremdung als Verhältnis

(17) Es verdient eine besondere Hervorhebung, dass ein so gebildeter Entfremdungsbegriff nur angewendet werden kann, wenn jeweils angegeben wird, in Bezug auf was eine Entfremdung vorliegt. Eine "Entfremdung an sich" kann es demnach nicht geben.

(18) Dadurch, dass der Bezugsrahmen immer mit anzugeben ist, öffnet sich dem Entfremdungsbegriff die Fülle und damit auch die Widersprüchlichkeit des Lebens. Ein Sachverhalt, der in Bezug auf eine Sache als nicht entfremdet gelten kann, kann in Bezug auf eine andere Sache völlig entfremdet sein.

(19) Gleichzeitig öffnet sich mit dieser Wählbarkeit des Bezugsrahmens ein Entscheidungsraum, der individuell gefüllt werden muss. Nur das Individuum kann letztlich entscheiden, was das Ergebnis einer Abwägung unterschiedlicher Bezugsrahmen ist. Dies spiegelt sich in der individuellen Verantwortung wider, deren Bezugsrahmen ebenfalls individuell gewählt wird - auch wenn die Gesamtheit der Bezugsrahmen gesellschaftlich vorgeprägt ist. Damit kann jeder Mensch für sich jederzeit in Anspruch nehmen, Teil eines entfremdeten Verhältnisses zu sein. Dies entscheidet die entsprechende Person aufgrund der von ihr wahrgenommenen Realität unter Berücksichtigung ihres je gewählten Bezugsrahmens.

1.2.2. Entfremdung und Nutzung

(20) Von besonderer Bedeutung in diesem Text ist der Bezug zu einer Sache, den wir als Nutzung der Sache bezeichnen. Dieser Schwerpunkt ergibt sich daraus, dass Eigentum viel mit Nutzung von Sachen zu tun hat.

(21) Allgemein bekannt ist das Beispiel der Waren, deren konkreter Nutzen für die Menschen in einer Geldgesellschaft gegenüber ihrem Wert zurücktritt. Menschen, die mit Waren umgehen, handeln nicht mit Verantwortung gegenüber dem konkreten Nutzen der Ware, sondern entfremden sich davon. Der Zweck der Produktion einer Ware liegt vielmehr in ihrer Verkaufbarkeit und der konkrete Nutzen der Ware spielt dabei nur insofern eine Rolle, insofern er für die Verkaufbarkeit relevant ist. Da für eine emanzipatorische Vision aber der konkrete Nutzen einer Sache zwecks Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen von großer Bedeutung ist, ist beispielsweise das entfremdete Verhältnis bei Waren hochproblematisch.

(22) Generell kann verantwortliches Handeln in Bezug auf eine Sache - beispielsweise die konkrete Nützlichkeit eines Produkts - tendenziell auch deswegen unmöglich werden, weil das handlungsleitende Interesse eines Menschen durch einen Bezug auf einen anderen Aspekt - beispielsweise die Verkaufbarkeit des Produkts - geprägt ist.

1.2.3. Entfremdung und emanzipatorische Vision

(23) Eine emanzipatorische Vision muss kurz gesagt dem je konkreten Menschen maximal gerecht werden, da nur dann die maximalen Entfaltungsmöglichkeiten für alle Menschen erreichbar sind. Dies impliziert, dass das Sein eines je konkreten Menschen in allen Fällen beachtet werden muss. Sprechen wir in Bezug auf eine emanzipatorische Vision von Entfremdung, so ist der Bezugspunkt letztlich der konkrete Mensch. Daraus folgt unmittelbar, dass Menschen nicht als Teil eines entfremdeten Verhältnisses vorkommen dürfen, da sie in solchen Fällen nicht verantwortlich handeln können und daher eines Teils ihres Menschseins beraubt sind.

(24) Ein bekanntes Beispiel für Menschen in entfremdenden Verhältnissen liegt mit der Geldgesellschaft vor, in der Menschen nur noch abstrakter Behälter von Arbeitskraft bzw. Kaufkraft sind und damit zu Funktionen innerhalb des verselbstständigten Systems der Geldgesellschaft werden. Als reine Funktion ist aber kein verantwortliches Handeln mehr möglich - bestenfalls in Bezug auf eine Funktion kann verantwortlich gehandelt werden. Der Mensch wird sich also als Bestandteil der Geldgesellschaft selbst fremd und gibt damit einen Teil seiner Entfaltungsmöglichkeiten und damit seines Menschseins auf.

1.3. Individuelles Eigentum

1.3.1. Eigentum als formales Konstrukt

(26) Der Begriff Eigentum ist sehr vielschichtig. Eine eingehende Betrachtung seiner Bedeutung kann im Rahmen dieses Textes nicht geleistet werden. Wichtig ist jedoch, dass Eigentum eine soziale Form ist, die nicht ohne eine formale Festlegung auskommt, die in der bürgerlichen Gesellschaft i.d.R. in Verträgen festgehalten wird. Die Notwendigkeit einer formalen Festlegung deutet aber schon an, dass es sich beim Eigentum nicht um eine selbstverständliche soziale Praxis handelt, sondern vielmehr notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden muss.

(27) Mit Blick auf eine emanzipatorische Vision ist es sinnvoll, dem Begriff Eigentum vom Begriff Besitz zu unterscheiden. Im Gegensatz zum Eigentum beschreibt Besitz ein Verhältnis zwischen Menschen und Dingen, das einer bestimmten sozialen Praxis entspricht: Ein Mensch be-sitzt genau dann etwas, wenn eine direkte Nutzung des Dings durch die BesitzerIn erfolgt.

(28) Aus diesem kleinen Unterschied ergeben sich erhebliche Konsequenzen. So ist die Menge von Dingen, für die ein einzelner Mensch als EigentümerIn auftreten kann grundsätzlich unbegrenzt. In der Praxis ergeben sich aus unbegrenztem Eigentum schnell Probleme mit der Anerkennung der Legitimität von Eigentum. Besitz dagegen ist immer durch eine bestimmte soziale Praxis begrenzt und durch die konkrete Nutzung ergibt sich eine allgemein nachvollziehbare Legitimität. Weiterhin ist Eigentum auch jenseits vertraglicher Festlegungen nicht unbedingt ersichtlich. Dagegen ist Besitz im sozialen Kontext vergleichsweise einfach erkennbar.

(29) Ein Beispiel aus unserer alltäglichen Lebenspraxis macht diese Unterscheidung augenfällig: Die MieterIn einer Wohnung ist deren BesitzerIn, da sie die Wohnung direkt nutzt. Die VermieterIn ist hingegen die EigentümerIn der Wohnung, die nur indirekten Nutzen aus der Wohnung zieht - eben die Miete.

(30) Da es sich beim Eigentum um ein formales Konstrukt handelt, ist auch die Menge der Sachen nicht eingeschränkt, die zu Eigentum gemacht werden können. So kann neben mobilen materiellen Gütern auch Land bis hin zu entfernten Planeten zum Eigentum erklärt werden. In unserer gibt es Bestrebungen, die Gruppe der immateriellen Sachen - Ideen, Software, Musik, etc. - unter dem Begriff geistiges Eigentum immer stärker unter das Eigentumsregime zu nehmen.

1.3.2. Vorkommen, Begrenztheit, Knappheit

(31) Sprechen wir über Eigentum an Gütern, so müssen wir immer auch über die Begriffe Vorkommen, Begrenztheit und Knappheit sprechen. Das Konzept des Eigentums macht wenig Sinn für Güter, die sowieso unbegrenzt zur Verfügung stehen: Das allgemeine Eigentum an Luft macht - bislang zumindest - noch keinen Sinn. Das Eigentum an Luft macht aber schon eher Sinn, wenn es sich um begrenzt vorhandene, spezielle Luft handelt - sei es Pressluft oder die gute Luft in einem Kurort. Aber wie sind die Verhältnisse genau?

(32) Zunächst können wir das Vorkommen eines Guts betrachten. Hier ist das absolute Vorkommen gemeint, das jenseits menschlicher Existenz auf der Erde existiert. Die genaue Größe des Vorkommens eines Guts - insbesondere von Naturstoffen - kann dabei in den seltensten Fällen exakt bestimmt werden.

(33) Tritt der Mensch hinzu, so ist die Nutzung eines Vorkommens begrenzt durch technische, soziale und andere Faktoren. Diese Begrenzungen, sind dabei nicht überhistorisch, sondern durch historische und gesellschaftliche Entwicklungen bestimmt. So ist beispielsweise Erdöl die meiste Zeit in der Geschichte des Menschen lediglich als Unrat betrachtet worden, während heute die begrenzte Menge an Erdöl zur Überlebensfrage eines bestimmten Zivilisationstyps wird. Das Verhältnis von Begrenztheiten zum absoluten Vorkommen ist einerseits durch die technischen Mittel bestimmt, die das Vorkommen real nutzbar machen (zum Beispiel bestimmte Abbauverfahren bei Naturstoffen), andererseits kann es politische Entscheidungen geben, die die Nutzung erkannter Vorkommen verhindern (beispielsweise Schutz von Naturschutzgebieten).

(34) Die Begrenztheit von materiellen Produkten ist wesentlich dadurch bestimmt, wieviele Produkte hergestellt werden können. In einer konkreten Situation spielt es weiterhin eine Rolle, ob die jeweils benötigten Produkte auch am gewünschten Ort zur Verfügung stehen. Da die Verfügungsmöglichkeit über Güter für die Handlungsmöglichkeiten eines Menschen von erheblicher Bedeutung ist, ist die Begrenztheit verfügbarer Produkte ein wichtiges Problem. Eine emanzipatorische Vision hat also das Problem zu lösen, wie Produkte in ausreichender Menge zu den Menschen kommen, die sie benötigen. Die dem erreichten gesellschaftlichen Niveau angemessene Existenzsicherung muss hierbei als Voraussetzung jeglicher emanzipatorischen Vision angesehen werden.

(35) Knappheit ist dagegen ein Begriff, der - zumindest in diesem Text - eine Situation beschreibt, in der ein Gut über seine Begrenztheiten hinaus denen vorenthalten wird, die ein Bedürfnis danach haben. Es ist klar, dass solche Verhältnisse letztlich nur mit Gewalt gefestigt werden können. Ob die Gewalt dabei unmittelbar geschieht oder tief in ein Herrschaftssystem eingebaut ist, ist für die Frage einer emanzipatorischen Vision unerheblich.

(36) Knappheit beschreibt also immer ein Entfremdungsverhältnis zum Nutzen des verknappten Guts und ist damit im Gegensatz zu Begrenztheit also ein Konzept, das in einer emanzipatorischen Vision keinen Platz hat. Folglich muss ein emanzipatorisches Projekt, in dem die Bedürfnisbefriedigung an oberster Stelle stehen muss, die Knappheit beseitigen und Formen finden, wie mit weiter bestehenden Begrenztheiten umgegangen wird.

1.3.3. Eigentum wozu?

(37) Wollen wir den Begriff Eigentum in einer emanzipatorischen Vision verwenden, so ist zu klären, welchen konkreten Nutzen Eigentum eigentlich hat. Nur wenn dies geklärt ist, können die wünschenswerten Teile eines solchen Begriffs in eine neue Vergesellschaftungsform hinübergenommen werden.

(38) Ein naheliegender Nutzen von Eigentum ist die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten. Per Definition vergrößert Eigentum die Handlungsmöglichkeiten der EigentümerIn, weil es ihr mehr oder weniger unbeschränkte Verfügungsmöglichkeiten über die Sache gewährt - bis hin zu ihrer Zerstörung. Eine Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten ist aber zunächst stets eine Erweiterung von Freiheit, so dass diese Qualität von Eigentum für eine emanzipatorischen Vision erhalten bleiben muss.

(39) Auf der anderen Seite schränkt Eigentum natürlich auch Handlungsmöglichkeiten und damit Freiheit ein - nämlich gerade für die Nicht-EigentümerInnen. Wenn eine EigentümerIn die Verfügungsgewalt über eine Sache hat, so hat sie damit selbstverständlich auch die Möglichkeit andere von der Nutzung dieser Sache auszuschließen.

(40) Dieser Ausschluss der Nutzung durch andere kann einerseits inhaltliche Gründe haben. Dies ist insbesondere dann gegeben, wenn die direkte Nutzung des Eigentums - der Besitz also - nicht anders als durch Ausschluss anderer gewährleistet werden kann. Ein einfaches Beispiel für solche inhaltlichen Gründe liefert das oft vorgebrachte Brötchen, das durch Konsum verbraucht wird und somit nur von einem Menschen genutzt werden kann. Ein weiteres Beispiel bilden Geheimnisse, die per Definition ihren Nutzen verlieren, wenn sie anderen zugänglich gemacht werden.

(41) Andererseits gibt es aber auch nicht-inhaltliche Gründe, die einen Nutzungsausschluss der Nicht-EigentümerInnen für die EigentümerIn attraktiv machen. Die bürgerliche Gesellschaft ist geradezu darauf gegründet, durch Ausgrenzung der Nicht-EigentümerInnen deren Bedürfnisbefriedigung unter Bedingungen zu stellen. Bei Waren schlägt sich dies in der Entrichtung des Kaufpreises nieder, die als Bedingung für die Übertragung des Eigentums gestellt wird.

(42) Die mit Gewalt bewehrte Unbegrenztheit von Eigentum zusammen mit der Möglichkeit des Nutzungsausschlusses prädestiniert Eigentum dazu, neben einer direkten Nutzung auch indirekte, entfremdete Nutzungsarten zu ermöglichen.

(43) Das Beispiel der Mietwohnung zeigt dies: Während die MieterIn eine direkte Nutzung der Wohnung betreibt, hat die VermieterIn nur ein entfremdetes, nämlich geldförmiges Interesse an der Wohnung. Dieses entfremdete Interesse ist aber der zentrale Antrieb für den Erwerb von Eigentum.

(44) Mit dem Entfremdungspotential von Eigentum geht ein erheblicher Teil der negativen Eigenschaften einher, die in einer emanzipatorischen Vision überwunden werden müssen.

(45) In der bürgerlichen Gesellschaft wird Eigentum insbesondere dazu eingesetzt, um Knappheit zu erzeugen. Besonders augenfällig wird dies heute in den Debatten um geistiges Eigentum. Während durch die historisch neue Möglichkeit der digitalen Kopie Informationen heute praktisch zum Nulltarif beliebig reproduzierbar sind, müssen sie zur Erhaltung der Wareneigenschaft künstlich verknappt werden - denn nur knappe Güter können verkauft werden und nur durch Knappheit kann die Wareneigenschaft eines Guts erhalten werden. Scheint bei Gütern mit nennenswerten Produktionskosten eine Verknappung noch durch die stofflich gegebene begrenzte Verfügbarkeit nachvollziehbar, so ist im Fall der Verknappung digitaler Kopien offensichtlich, dass die künstlich herbeigeführte Knappheit ausschließlich entfremdeten Geldinteressen dient.

(46) Neben der Verknappung begünstigt die durch Eigentum mögliche Entfremdung aber noch einen weiteren, subtileren Aspekt. Die EigentümerIn ist nicht primär an den stofflichen Qualitäten der Sache interessiert; vielmehr dienen diese nurmehr als Vehikel für die von den stofflichen Qualitäten entfremdete Nutzung als Ware. Auf einem Markt, auf dem sich nur WarenanbieterInnen treffen, wird also tendenziell nicht die maximal mögliche, sondern nur noch die für eine Vermarktung gerade eben nötige stoffliche Qualität von Gütern erreicht. Für eine emanzipatorische Vision ist aber die Orientierung auf eine maximale Güterqualität wünschenswert, so dass auch von dieser Perspektive her eine Überwindung der Entfremdungspotentiale von Eigentum angezeigt ist.

(47) Steht der direkte Nutzen eines Gutes zur Debatte, so ist die direkte NutzerIn zweifellos diejenige, die den Nutzen letztendlich am besten beurteilen kann. Ob sie die entsprechenden Gütereigenschaften selbst erzeugen kann oder ob sie ohne die Hilfe von ExpertInnen eine günstige Wahl treffen kann, ist davon unabhängig.

(48) Auch die Verantwortung gegenüber einer Sache ist bei Eigentum nur insofern gegeben, insofern die entfremdeten Nutzungsmöglichkeiten in Frage gestellt sind. Besitz dagegen konstituiert eine selbstverständliche Verantwortung für das besessene Gut, solange eine weitere Nutzung des Gutes angestrebt wird.

1.3.4. Besitz als emanzipatorische Form von Eigentum

(49) Verstehen wir Besitz also als das, was der direkten Nutzung durch die BesitzerIn unterliegt, so beinhaltet es die positive Eigenschaft von Eigentum (Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten), während es die negativen Qualitäten (Einschränkung von Bedürfnisbefriedigung der Nicht-EigentümerInnen, Entfremdungspotential mit Tendenz zu Verknappung, suboptimaler Qualität und Unverantwortlichkeit) vermeidet. In der Konsequenz können wir also unter emanzipatorischem Blickwinkel Eigentum als das verstehen, was wir heute als Besitz kennen.

(50) Ob es sich bei solchem Eigentum um individuelles oder kollektives Eigentum handelt, ist nach diesen Definitionen unerheblich. Wenn von einer direkten Nutzung ausgegangen wird, dann unterscheidet sich kollektives Eigentum von individuellem dadurch, dass es der direkten Nutzung einer Gruppe von Menschen unterliegt anstatt eines einzelnen Individuums.

(51) Allerdings tritt bei kollektivem Eigentum Konfliktpotential auf, da die Individuen des Kollektivs unterschiedliche Ansichten über die bezogen auf die kollektive Nutzung je angemessene Behandlung des kollektiven Eigentums haben können. Diese Frage liegt im Bereich der Konfliktlösung in Kollektiven und ist eine eigene Diskussion wert. Festzuhalten bleibt aber, dass das Konfliktpotential in den meisten Fällen erheblich entschärft sein dürfte, wenn entfremdete Nutzungen des kollektiven Eigentums gar nicht erst möglich sind, sondern es nur noch um eine Optimierung des konkreten Nutzens geht.

(52) Im Sinne einer emanzipatorischen Vision ist es also zunächst sinnvoll, auf den aus der bürgerlichen Gesellschaft tradierten Begriff Eigentum zu verzichten, und stattdessen vielmehr auf den aus einer sozialen Praxis gewachsenen Begriff Besitz einzugehen. Dies geht, weil Besitz die für eine emanzipatorische Vision wesentlichen Qualitäten des Begriffs Eigentum umfasst, während es andere, eher hinderliche Qualitäten vermeidet.

1.4. Vergesellschaftete Produktion

(53) Ist Eigentum ein recht vielschichtiger Begriff so scheint der Begriff Produktion wesentlich leichter greifbar zu sein: Vorgänge, in denen Naturstoffe oder Vorprodukte in andere Produkte umgewandelt werden. Dabei ist es von einem sachlichen Standpunkt aus unerheblich, wer bestimmte Teile einer Produktion konkret zu Wege bringt (Maschine, Mensch oder auch ein Naturprozess). Weiterhin ist es unerheblich, ob es sich bei dem Produkt um ein stoffliches oder geistiges Produkt handelt. Im Zusammenhang dieses Textes soll der Begriff der Produktion auf solche beschränkt sein, bei der Menschen in irgendeiner Form beteiligt sind.

(54) Wenn Menschen an Produktion beteiligt sind, so hat dies immer schon gesellschaftlichen Charakter. Allein die Produktionsmittel sind immer schon gesellschaftlicher Natur - und sei es nur das Wissen um ihre Herstellung. Eine vergesellschaftete Produktion liegt also im engeren Sinne immer schon vor und somit macht es wenig Sinn, über vergesellschaftete Produktion als solches zu sprechen.

(55) Sinnvoll ist es dagegen, unterschiedliche Produktionsformen zu betrachten und damit die unterschiedliche Form ihrer Vergesellschaftung. Verschiedene Produktionsformen unterscheiden sich nämlich stark voneinander und da sie erheblich die Vergesellschaftungsform bestimmen, haben sie für eine emanzipatorische Vision höchst unterschiedliche Auswirkungen.

(56) Für diesen Text wollen wir Produktionsformen betrachten, bei denen nicht einzelne Menschen oder kleine Gruppen autonom die Produktion je ihrer Gütern regeln (Subsistenzproduktion), sondern bei denen der Produktionsprozess arbeitsteilig und damit über die Gesellschaft verteilt ist. Ziehen wir uns auf diesen Begriff zurück, ist die Vergesellschaftungsform noch nicht festgelegt. Insbesondere ist nicht festgelegt, inwieweit die Vergesellschaftungsform staatliche Anteile enthält.

(57) Bei der Betrachtung arbeitsteiliger Produktionsformen gilt es mehrere Aspekte zu unterscheiden.

1.4.1. Ausführung der Produktion

(58) Die Produktion komplexer Produkte, wie sie auf dem erreichten Stand der Produktivkraftentwicklung die Regel sind, wird nicht von einzelnen Menschen oder kleinen Gruppen zu Wege gebracht. Vielmehr fließt in komplexen Produkten eine Vielzahl elementarer Produktionsprozesse zusammen, die von ganz unterschiedlichen Akteuren beigesteuert werden. Heute sind die Akteure dabei durchaus über den gesamten Globus verteilt.

(59) Die hohe Arbeitsteiligkeit moderner Produktion ist ein unmittelbares Ergebnis einer ständig steigenden Komplexität des Gesamtproduktionsprozesses. Diese steigende Komplexität ist ihrerseits ein Ausfluss der technischen Entwicklung, die immer zahlreichere und immer differenziertere technische Vorgänge ermöglicht, die für die Produktion relevant sind.

(60) Ein mögliches Ergebnis dieser Technikentwicklung ist eine Steigerung des Automatisierungsgrads, bei der Produktionsprozesse von Menschen auf Maschinen verlagert werden. Automatisierung kann überall dort stattfinden, wo die spezifischen Fähigkeiten von Menschen durch maschinelle Prozesse ersetzt werden können. Dieses Potential von Automatisierung erhöht die Handlungsmöglichkeiten von Menschen, da diese dann die Wahl haben, ob sie den automatisierbaren Prozess selbst ausführen, oder ob sie ihre Zeit und Energie lieber mit anderen Dingen zubringen wollen. Daher ist eine weitere Steigerung des Automatisierungsgrads in einer emanzipatorischen Vision von zentraler Bedeutung.

(61) Weiter ist festzuhalten, dass die hohe Arbeitsteiligkeit eine ungeahnte Menge an Gebrauchswerten hervorbringt, die mit geringerer Arbeitsteilung nicht erreicht werden kann. Die Arbeitsteilung ist dabei auch eine Folge der ständig steigenden Komplexität der gesamtgesellschaftlichen Produktion sowohl hinsichtlich der Vielzahl von Produktionsprozessen als auch hinsichtlich ihrer inneren Differenziertheit und Kompliziertheit. Aus diesem Grund kann eine emanzipatorische Vision einer vergesellschafteten Produktionsform nicht ohne guten Grund hinter den erreichten Grad an Arbeitsteiligkeit zurückfallen.

1.4.2. Organisation der Produktion

(62) Findet die Produktion eines Guts nicht in einer sozialen Einheit (beispielsweise ein Betrieb) statt, so benötigen die über die Gesellschaft verstreuten ProduzentInnen eine Organisationsform, mit deren Hilfe der konkrete Ablauf und das möglichst reibungslose Ineinandergreifen verschiedener Produktionen geregelt wird.

(63) In geldbasierten Gesellschaft geschieht diese, in einer arbeitsteiligen Produktionsweise objektiv notwendige Organisation durch die "unsichtbare Hand des Marktes", die sich allerdings bekanntlich nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, sondern vielmehr an der abstrakten Geldvermehrung orientiert ist. Folgerichtig funktioniert diese Organisationsform überhaupt nicht, wenn in einer geldbasierten Gesellschaft der Faktor Geld aus dem einen oder anderen Grund herausgenommen wird. Tauschringe belegen zum Beispiel eindrucksvoll, wie nach wie vor auf Tausch fixierte Geldmonaden eine Güterproduktion in der Regel gar nicht und wenn dann nur auf niedrigstem Niveau hinbekommen.

(64) Eine emanzipatorische Vision hätte also Lösungen für dieses Organisationsproblem zu benennen, günstigstenfalls Organisationsformen vorzuschlagen.

1.4.3. Entscheidung über die Produktion

(65) Der dritte Aspekt einer arbeitsteiligen Produktionsform, der mit der Frage der Organisationsform zwar zusammenhängt, aber dennoch getrennt davon zu betrachten ist, ist die Frage, wer darüber entscheidet, was wann produziert werden soll. In einer emanzipatorischen Vision ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Produktion sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, da nur unter solchen Bedingungen die maximale Entfaltung der Menschen gewährleistet sein kann. Entscheidungen über die Produktion müssen sich daher einerseits an den Nutzungsbedürfnissen der Menschen orientieren. Andererseits müssen sie die Bedürfnisse der Menschen in der Produktion selbst berücksichtigen.

(66) Fallen entfremdete Interessen wie das Geldinteresse weg, so reduzieren sich die möglichen Konflikte in solchen Entscheidungsprozessen auf unterschiedliche Einschätzungen sachlicher Aspekte. Die Entscheidungen über den Einsatz beispielsweise von Naturressourcen wird dadurch sicher nicht wirklich leicht, aber es wäre schon viel gewonnen, wenn immer auf einer sachlichen Ebene von Entscheidungsprozessen geblieben werden könnte und nicht sachfremde, entfremdete Interessen inhaltlich sinnvolle Lösungen blockieren würden.

1.5. Universelle Entwicklung der Individuen

(67) In diesem Text soll die Frage, was unter der universellen Entwicklung der Individuen zu verstehen ist mit dem Begriff Selbstentfaltung beantwortet werden. Selbstentfaltung wird dabei aufgefasst, als die individuelle Entwicklung und das Leben der eigenen Subjektivität, der eigenen Persönlichkeit. Selbstentfaltung bedeutet die schrittweise und zunehmende Realisierung menschlicher Möglichkeiten auf dem jeweils aktuell erreichten Niveau. Sie ist damit also strukturell unbegrenzt und nur im gesellschaftlichen Kontext denkbar.

(68) Sind andere im gesellschaftlichen Kontext meine Konkurrenten oder gar Feinde, so habe ich ein Interesse daran, deren Entfaltung zu behindern. Deren Entfaltung bedeutet ja aufgrund der Konkurrenzsituation gerade die Einschränkung meiner Entfaltung. Damit werde ich aber strukturell mein eigener Konkurrent und begrenze also strukturell meine eigene Selbstentfaltung. Der Wunsch nach eigener Selbstentfaltung beinhaltet also zu Ende gedacht auch immer den Wunsch nach der Selbstentfaltung aller.

(69) Der Begriff der Selbstentfaltung geht dabei über den individualisierenden Begriff der Selbstverwirklichung hinaus, der lediglich die Realisierung einer persönliche Anlage oder Neigung zum Ausdruck bringt. Selbstentfaltung behält dagegen immer das gesellschaftliche Sein des Menschen im Blick. Gleichzeitig ist Selbstentfaltung ein Wachstumsprozess, der erst mit dem Tod des Individuums endet.

(70) Die Inhalte von Selbstentfaltung - was also ein Individuum als Selbstentfaltung begreift - sind dabei so verschieden wie die Individuen selbst. Insbesondere ist es durchaus möglich, dass Aktivitäten, die einem Menschen zuwider sind, anderen Freude bereiten und damit Teil ihrer Selbstentfaltung sind.

(71) Ein integraler Bestandteil von Selbstentfaltung ist die Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln. Fremdbestimmtes Handeln kann sich nicht auf das Selbst beziehen und also auch nicht zu seiner Entfaltung beitragen. Aus einer solchen Übernahme von Selbstverantwortung wird auch die Erledigung ungeliebter Notwendigkeiten ein Teil von Selbstentfaltung - wobei dann die Abschaffung solcher Notwendigkeiten ebenso ein Ziel von Selbstentfaltung sein wird.

(72) Wie definiert hängt auch die Frage der Entfremdung eng mit der Möglichkeit zu verantwortlichem Handeln zusammen. In entfremdeten Verhältnissen, in denen einem konkreten Menschen verantwortliches Handeln nicht möglich ist, ist also auch Selbstentfaltung nicht möglich. Auch hier soll nochmals darauf hingewiesen werden, dass hier die Verantwortung gemeint ist, die Menschen auf individueller Grundlage erkennen.

(73) Da Verantwortung ohne zumindest ein gewisses Maß an Beziehung zum jeweiligen Gegenstand nicht denkbar ist, ist mit der Verantwortung immer auch ein unmittelbarer Bezug zwischen dem Selbst und dem Gegenstand gegeben. Da Handlungen sich immer auf einen gesellschaftlichen Rahmen beziehen, ist im Begriff des verantwortlichen Handelns letztlich ein Bezug zwischen Selbst und Gesellschaft enthalten, der einerseits durch den gesellschaftlichen Rahmen der Handlung und andererseits der Beziehung als Voraussetzung von Verantwortung gegeben ist.

1.6. Universelle Entwicklung der Gesellschaft

(74) Individuelle Selbstentfaltung so verstanden eröffnet in einer emanzipatorischen Vision die Möglichkeit einer Gesellschaft, die um ihres Funktionierens willen ihre Mitglieder nicht mehr strukturell oder unmittelbar zwingen muss, sondern wo sich die individuelle Unterschiedlichkeit der Menschen zu einem komplexen Ganzen verwebt. In einer solchen gesellschaftlichen Formation wird die individuelle Selbstentfaltung genauso die Voraussetzung für die Entfaltung der Gesamtgesellschaft, wie die Entfaltung der Gesamtgesellschaft Lebensgrundlage und Mittel für die individuelle Selbstentfaltung bietet und somit zu ihrer Voraussetzung wird.

1.6.1. Der Begriff der Herrschaft

(75) In der systematischen Soziologie gibt es den Standpunkt, dass jede Sozialeinheit auch mit Herrschaft verknüpft ist. Herrschaft besteht in dieser Sicht, an die sich dieser Text anlehnt, aus zwei Anteilen. Im Anteil der Repräsentation fällt Herrschaft die Aufgabe zu, das ansonsten unsichtbare Ganze der Sozialeinheit, die verbindenden Prinzipien gegenüber Mitgliedern und Außenstehenden wahrnehmbar zu machen. In dieser Funktion übt Herrschaft einen wichtigen integrativen und klärenden Beitrag für die Sozialeinheit aus, der aufgrund seiner nützlichen Funktion in der Regel von den Mitgliedern der Sozialeinheit auch nicht als problematisch empfunden wird.

(76) Der andere Anteil von Herrschaft ist in dieser Sichtweise die Domination. Domination wird als Herrschaftsfunktion eingesetzt, um Interessen der Sozialeinheit gegenüber Mitgliedern wie Außenstehenden gegen deren Widerstand durchzusetzen. Um Domination wirksam auszuüben, muss die Herrschaft mit Machtmitteln, mithin also mit Gewalt ausgestattet sein.

(77) Von vielen wird der dominative Anteil von Herrschaft als der einzig maßgebliche betrachtet. Diese Sicht soll hier aber nicht verwendet werden, sondern Herrschaft soll gerade verstanden werden als Wirken für die Sozialeinheit. Es ist klar, dass Missbrauch der Herrschaft in diesem Sinne dem Konzept der Herrschaft selbst widerspricht, da missbrauchte Herrschaft eben kein verantwortliches Handeln für die Sozialeinheit mehr darstellt, sondern anderen, gegenüber dem Wohl der Sozialeinheit entfremdeten Interessen dient. Eine emanzipatorische Vision muss also auch und gerade beim Thema Herrschaft darauf achten, dass Entfremdungspotential soweit nur irgend möglich vermieden wird.

1.6.2. Universelle Entwicklung der Gesellschaft und Herrschaft

(78) Wird Herrschaft so verstanden, bildet dieses Konzept einen wesentlichen Grundbestandteil jeder Sozialität. Die Frage nach der universellen Entwicklung der Gesellschaft ist also wesentlich eine Frage an das Konzept Herrschaft, die sich im Rahmen einer emanzipatorischen Vision zu einer Frage nach der Herrschaftsform konkretisieren kann.

(79) In der Diskussion sind für den hier mit Herrschaft bezeichneten Sachverhalt alternative Bezeichnungen genannt worden. Sowohl interindividuelle Regulation als auch Organisation bezeichnen ebenfalls wesentliche Aspekte des mit Herrschaft gemeinten Sachverhalts. Sowohl in einer gelingenden Organisation als auch in einer gelingenden interindividuellen Regulation kommen die gemeinsamen Interessen der Organisierten bzw. Regulierten zum Ausdruck. Sowohl Organisation als auch Regulation beinhalten also den Aspekt, der oben als Repräsentation bezeichnet wird.

(80) Allerdings verschwindet bei beiden Bezeichnungen leicht, dass sowohl Regulation als auch Organisation immer auch mit Domination verbunden sind. Die Bezeichnungen klingen zwar angenehm nach einem unkomplizierten Business-as-usual und in der Tat ist auch der hier verwendete Begriff der Herrschaft in aller Regel nichts anderes als das. Dass aber Domination ebenso ein wichtiger Kern von Regulation und Organisation ist wie von Herrschaft, kommt in diesen Bezeichnungen überhaupt nicht oder nur ganz schwach zum Ausdruck. Offene Domination wird bei Verwendung dieser Bezeichnungen schnell zum Betriebsunfall - der dann besser schnell vergessen wird.

(81) In der Bezeichnung Herrschaft schwingt dagegen der dominative Anteil immer mit. Gerade wenn der dominative Anteil problematisiert werden soll, ist es aber sinnvoll ihn als integralen und unhintergehbaren Anteil des mit Herrschaft bezeichneten Sachverhalts zu begreifen. Nur dann kann im Sinne einer emanzipatorischen Vision damit umgegangen werden.

1.6.3. Herrschaft und emanzipatorische Vision

(82) Unter emanzipatorischer Fragestellung kann der repräsentative Anteil von Herrschaft als weniger problematisch, ja sogar als wünschenswert betrachtet werden. Dieser Anteil ermöglicht nämlich überhaupt erst die Entfaltung von Sozialeinheiten in größerem Rahmen, indem er hilft sie als wahrnehmbare Einheiten sowohl nach Innen als auch nach Außen zu konstituieren. Repräsentative Herrschaftsfunktionen werden von den Mitgliedern der Sozialeinheit um so mehr akzeptiert, desto enger sie an die Praxis der Sozialeinheit gebunden sind, aus ihr heraus wachsen. Lösen sich die repräsentativen Herrschaftsfunktionen dagegen von der Realität der Sozialeinheit ab, so werden sie nicht mehr als legitim bzw. nützlich für die Mitglieder der Sozialeinheit angesehen.

(83) Der dominative Anteil von Herrschaftsfunktionen ist unter emanzipatorischer Fragestellung selbstredend problematisch. Domination ist ja der Kern dessen, was eine emanzipatorische Vision abschaffen möchte, da Domination per se individuelle Selbstentfaltung verhindert. Ist Domination an sich schon problematisch, so ist der Missbrauch der zur Domination notwendigen Machtmittel endgültig indiskutabel. Kommt eine emanzipatorische Vision aus dem einen oder anderen Grund nicht ohne Domination aus, so sollte sie aber wenigstens sicherstellen, dass der Missbrauch der Machtmittel strukturell verhindert wird. Dies ist dann der Fall, wenn Machtmissbrauch sich nicht nur gegen die Mitglieder der Sozialeinheit und somit letztlich gegen die Sozialeinheit selbst richtet, sondern auch gegen diejenigen, die Macht missbrauchen.

(84) Unter emanzipatorischer Fragestellung muss weiterhin diskutiert werden, inwiefern eine Gesamtgesellschaft überhaupt als eine Sozialeinheit betrachtet werden muss, die einem einheitlichen Herrschaftsmodell, letztlich also einem Staat unterliegen muss. Es wären vielmehr auch Gesellschaftsformationen vorstellbar, in der die Gesamtgesellschaft über keine eigene Repräsentation, geschweige denn globale Dominationsinstanzen verfügt. Die Sozialeinheiten einer solchen Gesellschaft würden sich direkt als handelnde Entitäten gegenübertreten anstatt sich staatlicher Vermittlungsinstanzen zu bedienen. Es ist zu erforschen, wie Bedingungen einer solchen Gesellschaftsformation aussehen könnten.

(85) Unproblematischer ist dagegen der Begriff der Herrschaft in Interessengruppen. Ist ein Staatsvolk eine hochheterogene Ansammlung von Menschen, die durch nichts als das abstrakte Staatsinteresse definiert ist, so unterscheidet sich eine Interessengruppe davon einerseits durch sehr spezifische Interessen. Die spezifischen Interessen sind es ja gerade, die die Interessengruppe definieren und die Repräsentation der gemeinsamen spezifischen Interessen spielt in ihrer Organisation die entscheidende Rolle. Andererseits ist bei länger bestehenden Interessengruppen davon auszugehen, dass das spezifische Interesse eine entsprechende Kontinuität besitzt. Auch dies ist bei Gruppen wie einem Staatsvolk nicht gegeben.

1.6.4. Herrschaftsform

(86) Unter emanzipatorischen Blickwinkel besteht eine erhebliche Gefahr darin, dass sich die Herrschaft, die eine Interessengruppe sich gibt um sich zu helfen, sich gegenüber den konkreten Interessen der Gruppe verselbständigt. Dies kann einerseits geschehen, wenn Organe der Gruppe Ziele verfolgen, die nicht im Interesse der Gruppe liegen. Andererseits kann dies geschehen, wenn sich die Interessen der Gruppe verändern, sich dies aber in ihren Organen nicht angemessen reflektiert.

(87) Eine solche Ablösung der einstmals sinnvollen Herrschaft von ihrer Grundlage kann als Entfremdungsprozess der Herrschaft von ihrem Gegenstand verstanden werden. Sie führt in der Regel dazu, dass die nun entfremdete Herrschaft zunehmend Widerstand zu gewärtigen hat und dementsprechend häufiger als zuvor zu Machtmitteln greift, um ihre gegenüber der Gruppe nunmehr entfremdeten Interessen durchzusetzen. Steigender Widerstand kann also als Indikator für einen gerade stattfindenden Entfremdungsprozess gelten.

(88) Soll Herrschaft unter emanzipatorischer Perspektive sich eben nicht von ihrem Gegenstand entfremden und vielmehr den einer Gruppe dienenden Charakter dauerhaft beibehalten, so sollte untersucht werden, unter welchen Bedingungen dies gelingt. Eine Sammlung solcher Bedingungen sagt etwas über die Herrschaftsform, die in einer emanzipatorischen Vision sinnvoll sein könnte.

(89) Nun ist der Versuch einer solchen Sammlung beileibe nicht neu. Einige Bedingungen, die in der Diskussion vorgeschlagen wurden sind:

(90) Kontrolle .

(91) Die Kontrolle der Gruppe über das herrschaftliche Handeln umfasst einerseits seine nachträgliche Beurteilung. Ohne eine nachträgliche Beurteilung wäre die Gruppe nicht in der Lage, sich überhaupt ein Bild über ihre Herrschaft zu machen. Es wäre dann nicht mehr möglich festzustellen, ob das herrschaftliche Handeln noch an den Interessen der Gruppe orientiert ist.

(92) Andererseits umfasst die Kontrolle der Gruppe über das herrschaftliche Handeln auch die letztendliche Steuerung dieses Handelns. Nur die Gruppe selbst kann als Ganzes entscheiden, was ihre je konkreten Interessen sind, an denen sich herrschaftliches Handeln zu orientieren hat. Durch einen Prozess, der die konkreten Interessen der Gruppe zu einem gegebenen Zeitpunkt feststellt, wird der Rahmen vorgegeben, den herrschaftliches Handeln nicht zu überschreiten hat.

(93) Transparenz .

(94) Nur wenn herrschaftliches Handeln transparent vor sich geht, können sich die Mitglieder der Gruppe jederzeit davon überzeugen, ob das herrschaftliche Handeln noch in ihrem Interesse liegt oder ob andere, gegenüber der Gruppe entfremdete Interessen bedient werden. Gleichzeitig schafft Transparenz die Voraussetzung dafür, dass die Gruppe in herrschaftliches Handeln eingreifen und Fehlentwicklungen verhindern kann. Transparenz ist also für beide Formen der Kontrolle eine entscheidende Voraussetzung.

(95) Dabei ist es unerheblich, ob die Transparenz tatsächlich konkret jederzeit zur Kontrolle durch die Gruppe genutzt wird oder nicht. In vielen Fällen werden die Gruppenmitglieder vielmehr aufgrund ihrer Erfahrung ein Vertrauensverhältnis aufbauen, dass eine permanente Kontrolle überflüssig macht. Entscheidend sind aber die Situationen, in denen herrschaftliches Handeln in Frage gestellt wird. Dann ist Transparenz gefordert, damit die Gruppenmitglieder das herrschaftliche Handeln beurteilen und nötigenfalls korrigieren können. Muss dann erst Transparenz geschaffen werden, die bis dahin nicht existiert hat, so wird ein Vertrauensverhältnis weiter beschädigt.

(96) Einsicht .

(97) Die Bindung herrschaftlichen Handelns an die Interessen der Gruppe kann dann als gegeben angenommen werden, wenn die Gruppenmitglieder die Sinnhaftigkeit dieses Handelns erkennen und einsehen. Ein Teil herrschaftlichen Handelns muss daher darin bestehen, diese Einsicht zu vermitteln. Es liegt nahe, einen solchen Vermittlungsprozess als Teil des Kontrollprozesses zu betrachten, in dem die TrägerInnen herrschaftlichen Handelns ihre Beweggründe offenlegen.

(98) Gleichzeitig ist eine solche Offenlegung von Beweggründen ein Element der Repräsentation der Gruppe als solche. Die Beweggründe für herrschaftliches Handeln sollen ja gerade aus einem Verständnis der Gruppe herrühren. Der Versuch Einsicht für dieses oder jenes Handeln zu erzeugen, ist also immer eine Rückbindung an die Gruppe an sich. Gelingt es nicht Einsicht bei den Gruppenmitgliedern zu erzeugen, so ist dies ein Indikator dafür, dass das herrschaftliche Handeln sich von der Gruppe entfremdet hat.

(99) Freiwilligkeit .

(100) Es ist eigentlich selbstverständlich, dass unter emanzipatorischer Perspektive es nur freiwillig möglich sein kann, sich herrschaftlichem Handeln zu unterwerfen. Im Konzept der Interessengruppe ist diese Freiwilligkeit unmittelbar enthalten. Einsicht ist ein Element um diese Freiwilligkeit langfristig aufrecht zu erhalten.

(101) Machtverteilung .

(102) Als Reißleine gegen etwaige Fehlentwicklungen ist Machtverteilung schon immer ein probates Mittel gewesen. Ist die Macht auf viele Mitglieder einer Gruppe verteilt, so ist die Gefahr des Missbrauchs gering. Während Einzelne leichter der Versuchung einer Entfremdung von den Gruppeninteressen unterliegen können, liegt das Handeln Vieler mit hoher Wahrscheinlichkeit nahe an den Interessen der Gruppe. Ein Machtmissbrauch wird also bei einer starken Verteilung der Macht unwahrscheinlicher.

(103) Kommunikation .

(104) Für viele der genannten Punkte spielt Kommunikation eine entscheidende Rolle. Eine gelingende Kommunikation zwischen den aktuellen TrägerInnen herrschaftlichen Handelns und den aktuellen Gruppenmitgliedern ist also von zentraler Bedeutung für die meisten der oben genannten Bedingungen.

(105) Eine emanzipatorische Vision hat nun die Aufgabe einen Rahmen zu finden, in dem die Einhaltung dieser Bedingungen nicht eine äußerliche Notwendigkeit ist, sondern im Interesse aller liegt. Wird die Einhaltung solcher Bedingungen zur strukturellen Voraussetzung für die Entfaltung aller, so sind Abweichungen von diesen Bedingungen die Ausnahme und damit die Gefahr der Entfremdung der Herrschaft von ihrem Gegenstand entscheidend verringert.

1.7. Freie Software

(106) Ein zentraler Begriff dieses Textes ist Freie Software. Deswegen hier zunächst einige Erläuterungen zum Begriff und anschließend zur möglichen Bedeutung dieses Phänomens für eine emanzipatorische Vision als aktuelles politisches Phänomen und als hier und heute existierende Keimform einer neuen Vergesellschaftungsform.

1.7.1. Zum Begriff Freier Software

(107) Software kommt heute in verschiedenen Formen daher, die sich grundlegend durch ihr Eigentumsmodell unterscheiden. Kommerzielle oder proprietäre Software wird auf einem Markt verkauft und die KäuferInnen müssen für die Software-Ware Geld bezahlen. In den allermeisten Fällen erlangen sie allerdings keine Eigentumsrechte wie sie beim Erwerb materieller Gütern üblich sind, sondern bekommen über so genannte Lizenzen vom Hersteller der Software lediglich bestimmte Nutzungsrechte zugestanden. Diese Nutzungsrechte schränken die Nutzungsmöglichkeiten der bezahlten Software in verschiedener Weise ein. Insbesondere die Anfertigung und Verwendung von Kopien der Software ist i.a. strengstens untersagt. Eine Form von Verstößen gegen diese Nutzungsrechte ist als Raubkopie bekannt und strafrechtlich bewehrt. Neueste Entwicklungen des großen Software-Hauses Microsoft zielen darauf ab, Software mehr und mehr zur Mietsache zu machen, bei der jede einzelne Nutzung bezahlt werden muss. Worin der Gewinn für die Kunden bestehen soll bleibt zwar unklar, die Profitmaximierung des Software-Giganten ist bei diesem Modell allerdings offensichtlich.

(108) Eine Variante von proprietärer Software ist die Shareware, bei der es sich um Software handelt, die in Vollversionen, oft aber nur als eingeschränkt nutzbare Version mehr oder weniger frei kopierbar ist. Shareware-NutzerInnen bekommen i.a. das Recht eingeräumt, die Software über einen kurzen Zeitraum - typisch ist ein Monat - zu nutzen, sind allerdings angehalten, nach Ablauf der Frist eine gewisse Summe für die Software zu entrichten. Trotz der weniger strengen Lizenzbedingungen handelt es sich um proprietäre Software, die zum Zwecke des Gelderwerbs hergestellt wird und lediglich mit einem etwas anderen Geschäftsmodell vertrieben wird.

(109) Freie Software, von der in diesem Text die Rede ist, zeichnet sich dagegen durch Lizenzen aus, die den NutzerInnen alle denkbaren Nutzungsrechte einräumen. Diese umfassen insbesondere auch Rechte, die ohne Nutzung der menschenlesbaren Quellen der Software nicht möglich sind. Neben dem Studium der Quellen als praktischem Anschauungsunterricht ist auch deren Veränderung und auch die Weitergabe von Änderungen erlaubt. Die Nutzungsrechte, die Freie-Software-Lizenzen einräumen, führen also zu einem umfassenden Besitz der Software, während bei proprietärer Software der rechtmäßige Besitz durch restriktive Lizenzen mehr oder weniger eingeschränkt ist.

(110) Verglichen mit proprietären Lizenzen sind Freie-Software-Lizenzen also erheblich näher an den Eigentumsformen, die wir bei materiellen Gütern gewohnt sind. Während proprietäre Lizenzen wesentliche Nutzungsrechte untersagen, die beim Eigentum an materiellen Gütern ganz selbstverständlich sind, werden alle möglichen Nutzungen von Freie-Software-Lizenzen ebenso erlaubt, wie es bei materiellen Gütern üblich ist.

(111) Die wichtigste dieser Lizenzen ist die GNU General Public License (GPL), die das Copyright-Recht, auf dem Software-Lizenzen beruhen, praktisch gegen sich selbst richtet. Neben den genannten umfassenden Nutzungsrechten verlangt die GPL jedoch von allen, die GPL-Software in irgendeiner Form weitergeben wollen, dass die weitergegebene Software unter der gleichen Lizenz steht. So soll verhindert werden, dass das öffentliche Gut, das mit Freier Software existiert, von einzelnen reprivatisiert wird. Die Entscheidung darüber, welcher Lizenz eine bestimmte Software unterstellt wird, liegt letztlich bei den EntwicklerInnen dieser Software.

(112) Der Geist hinter Freier Software ist dem Geist proprietärer Software in gewisser Weise diametral entgegengesetzt. Bei proprietärer Software steht das vom Nutzen der Software entfremdete Interesse nach Verkaufbarkeit im Vordergrund, weswegen deren Verfügbarkeit durch restriktive Lizenzierung verknappt werden muss. Daneben schlägt die Dominanz dieses entfremdeten Interesses sich in der Qualität der Produkte nieder, deren Nützlichkeit eben gerade nicht das Hauptziel ihrer Entwicklung ist.

(113) Freie Software dagegen hat gerade diese möglichst umfassende Nützlichkeit für möglichst viele Menschen zum Ziel. Konsequenterweise ist Freie Software beliebig kopierbar und zu jedem beliebigen Zweck verwendbar. Doch auch die umfassende Nützlichkeit Freier Software hebt sich in vielen Fällen wohltuend von der proprietärer Software ab.

(114) Eine Folge der beliebigen Kopierbarkeit Freier Software ist, dass Freie Software zu sehr geringen Preisen von so genannten Distributoren (SuSE, RedHat) angeboten wird oder auch völlig kostenlos direkt im Internet zu bekommen ist (insbesondere Debian). Es ist jedoch hervorzuheben, dass dieser niedrige Preis nicht das Entscheidende an Freier Software ist, sondern vielmehr die Nutzungsrechte, die Freie Software den NutzerInnen einräumt.

1.7.2. Zur Geschichte Freier Software

(115) Die Geschichte der Freien Software ist untrennbar mit Richard M. Stallmann, der Free Software Foundation und dem GNU-Projekt verbunden. Richard M. Stallmann, der bis dahin den freien Fluss von Software gewohnt war, ärgerte sich über die aufkommende urheberrechtlich gestützte Verknappung und Geheimhaltung von Software so sehr, dass er 1984 das GNU-Projekt ins Leben rief. Ziel war es, ein Unix-artiges Betriebsystem in die Welt zu setzen, das Frei ist. Große Teile dieses Ziels sind auch mit zahlreichen, qualitativ herausragenden Programmen über die Jahre verwirklicht worden. Nur der Kernel, das Herzstück eines Betriebssystems, konnte nicht fertiggestellt werden.

(116) In dieser Situation trat 1992 Linus Torvalds auf den Plan. Er suchte im Internet Leute, die wie er Lust hätten, einen Kernel zu entwickeln. In rasanter Geschwindigkeit fanden sich weltweit zahlreiche ProgrammiererInnen und in atemberaubendem Tempo entstand das, was heute als Linux bekannt ist. Die damals bereits vorhandene GNU-Software ermöglichte diese Entwicklung erst und auch eine heutige Distribution besteht zu einem erheblichen Teil aus GNU-Software. Wir sprechen daher von einem GNU/Linux-System.

(117) Im Jahre 1998, als Freie Software schon erhebliche Erfolge im technischen Bereich hatte, gründete sich die Open Source Initiative deren bekanntester Vertreter Eric S. Raymond ist. Diese Initiative hatte zum Ziel Freie Software stärker ins Geschäftsleben einzubringen und auch Geschäftsmodelle zu fördern, die auf Freier Software basierten. Zielgenau machten sie das Wort "Frei" als für diese Zwecke problematisch aus und verwendeten stattdessen den Begriff Open Source Software. Dieser Begriff, der heute meist für Freie Software verwendet wird, transportiert aber leider nicht in dem Maße die emanzipatorische Vision, die Freier Software auch zu Grunde liegt, sondern versucht vielmehr Freie Software in den Markt zu integrieren. Inwieweit das überhaupt möglich ist, kann hier nicht näher untersucht werden, die fehlenden Möglichkeiten zur Verknappung stellen aber ein großes Hindernis für effektive umfangreiche Vermarktung Freier Software dar.

(118) Immerhin ist es mit dem Begriff Open Source aber gelungen, die Idee Freier Software einem großen Publikum nahezubringen. Eine Folge dieser Verbreitung ist, dass "Open" heute in Verbindung mit anderen Begriffen in allen möglichen Projekten verwendet wird und oft auch die Grundideen Freier Software in diesen Projekten eine wichtige Rolle spielen.

1.7.3. Freie Software als politisches Phänomen

(119) Trotz des erheblichen emanzipatorischen Gehalts wird das Phänomen Freier Software bislang in weiten Kreisen der etablierten Linken nicht oder nur abschätzig zur Kenntnis genommen. Dabei entfaltet Freie Software bereits hier und heute emanzipatorische Qualitäten, von denen viele Formen des klassischen, widerstandsorientierten Denkens nur träumen können.

(120) So bietet Freie Software beispielsweise erhebliche Chancen für die so genannte III. Welt, die nicht nur hochqualitative High-Tech-Produkte zum Nulltarif bekommen kann, sondern wo Menschen auch an Freier Software hochmoderne Fähigkeiten lernen können, die verfügbare Software an die eigene Kultur, Sprache und Verwaltung angepasst werden kann, vergleichsweise billige Computer sinnvoll mit Freier Software betrieben werden können, usw. usw.

(121) Dieses Potential zum individuellen und kollektiven Empowerment ist Freier Software aber auch in den hochindustrialisierten Staaten zu eigen. Da Freie Software den NutzerInnen umfassende Nutzungsmöglichkeiten - und damit praktisch uneingeschränkten Besitz - einräumt, stehen diese Nutzungsmöglichkeiten allen zur Verfügung, die dies wollen. Damit werden Menschen befähigt Dinge zu tun, die sie mit proprietärer Software gar nicht, nicht in dieser Qualität, auf jeden Fall aber erst nach Zahlung oft erheblicher Summen tun können. Dieses Empowerment bietet sich dabei reinen NutzerInnen genauso wie EntwicklerInnen Freier Software. Während für die NutzerInnen hauptsächlich die konkreten Qualitäten des Produkts von Bedeutung sind, gewinnen die EntwicklerInnen vom Entwicklungsprozess selbst, der bei Freier Software durch einen hohen Grad an Selbstentfaltung gekennzeichnet ist.

(122) Im Gegensatz zu vielen durch Widerstand geprägten linken Projekten ist Freie Software nicht vor allem gegen etwas gerichtet. Zwar gibt es in der Freien-Software-Szene eine verbreitete Abneigung gegen proprietäre Software und insbesondere den Quasi-Monopolisten Microsoft. Der Antrieb für die Bewegung speist sich aber aus gänzlich anderen Quellen: die universelle Selbstentfaltung von NutzerInnen und EntwicklerInnen. Damit läuft die Freie Software auch nicht Gefahr, einem strukturellen Konservativismus zu verfallen, wie es beispielsweise bei weiten Teilen der Anti-Globalisierungs-Bewegung zu beobachten ist, wenn sie im Kern eine Rückkehr zum Kapitalismus der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts fordern.

(123) Inmitten der vielfach empfundenen Machtlosigkeit schafft Freie Software mit ihren ganz selbstverständlich vorhandenen Chancen auf individuelles und kollektives Empowerment damit Bereiche, die eine emanzipatorische Vision nicht ignorieren darf, wenn sie auf der Höhe der Zeit sein will. Mitten im ständig weiteren Vordringen der Kapitalverhältnisse bis in die letzten Poren der Gesellschaft bildet Freie Software einen Bereich, der im Kern nicht nach kapitalistischer Logik funktioniert. Gerade weil Freie Software nicht das Resultat einer anti-kapitalistischen Bewegung ist, sondern vielmehr ein jenseits der Tauschlogik angesiedeltes, höchst erfolgreiches Ergebnis des Selbstentfaltungsbedürfnisses einer großen Anzahl weltweit verteilter Personen, kann sie als transkapitalistisches Phänomen gelten.

1.7.4. Freie Software als Keimform

(124) Wenn von dem Phänomen Freie Software als Keimform einer neuen Vergesellschaftungsform gesprochen wird, so ist zu betonen, dass an diesem Phänomen Aspekte studiert werden können, die in ihrer Tendenz auf eine Überwindung überkommener Formen der Geldgesellschaft verweisen. Damit ist weder ausgesagt, dass Freie Software als solche die Geldgesellschaft überwinden kann, noch dass es einen irgendwie gearteten historischen Automatismus gibt, der die Menschen von eigenem politischem Handeln befreit.

(125) Als Keimform zeigt Freie Software allerdings Formen menschlichen Handelns auf, die auf eine emanzipatorische Weise die Geldgesellschaft in einigen Bereichen ganz praktisch hinter sich lassen. Zwar gibt es viele historische Beispiele für Vorgänge, die ebenfalls die Geldgesellschaft hinter sich ließen, jedoch keines, das so unerwartet so erfolgreich geworden wäre und auch sonst so viele interessante Aspekte aufzuweisen hat:

(126) Nützlichkeit .

(127) Freie Software hat als Produkt einen hohen gesellschaftlichen Nutzen, sowohl was die Verfügbarkeit für viele Menschen betrifft, als auch die konkrete Qualität, die in Freier Software oft steckt. Dies erhöht die Handlungsmöglichkeiten vieler Menschen erheblich.

(128) Selbstentfaltung .

(129) Freie Software wird von ganz normalen Menschen hergestellt, weil es zu ihrer unmittelbarer Selbstentfaltung gehört. Ideologische Überlegungen gehören dazu nur selten. Die Handelnden in diesem Prozess sind also keine besseren, weiseren oder sonstwie übermäßig begnadeten Menschen. Oft sind sie aber auf ihrem Gebiet hervorragend.

(130) Selbstorganisation .

(131) Die ProduzentInnen Freier Software organisieren sich nach je eigenem Gusto in verschiedenster, je ihren Bedürfnissen angepasster Weise. Hier wird ganz selbstverständlich ein soziales Experimentierfeld genutzt, auf dem unterschiedlichste Formen nebeneinander existieren können.

(132) Wertfreiheit .

(133) Ganz praktisch unterläuft Freie Software die Geldform - nicht aus karitativen Gründen sondern unter anderem weil die Geldform die Effizienz der Produktion schmälern würde. Hier ist deutlich zu erkennen, wie die Entwicklung der Produktivkräfte beginnt über die Produktionsverhältnisse hinauszuwachsen.

(134) Erfolg .

(135) Freie Software kann sich in wichtigen Bereichen gegen einen etablierten Warenmarkt durchsetzen und die Entwicklung auf diesem Sektor ist noch lange nicht abgeschlossen. Insbesondere dieser Erfolg dürfte bislang noch keinem Produkt vergönnt gewesen sein, das auf ähnlichen Grundlagen wie Freie Software hergestellt wurde.

(136) Produktivkraftentwicklung .

(137) Freie Software wird mit hochmodernen technischen Mitteln erstellt, die die Spitze der Produktivkraftentwicklung darstellen. Immer öfter wird die Produktivkraftentwicklung selbst sogar von Entwicklungen in der Freien Software vorangetrieben.

(138) Globale Vernetzung

(139) Die ProduzentInnen Freier Software kooperieren ganz selbstverständlich auf internationaler Basis. Dabei übertreffen sie die Bemühungen der mächtigsten Firmen der Geldgesellschaft, die mit der Zusammenführung unterschiedlichster Kulturen nach internationalen Übernahmen trotz teilweise erheblichem Mitteleinsatz oft riesige Schwierigkeiten haben.

(140) Synthese .

(141) Trotz des transkapitalistischen Gehalts Freier Software engagieren sich große Firmen wie IBM erheblich für dieses Entwicklungsmodell und staatliche Stellen von ganz unten (Kommunen) bis ganz oben (Bundestag) beginnen sich auf breiter Front für den Einsatz Freier Software zu interessieren. Gerade dieses, auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Phänomen, scheint ein Hinweis auf die Keimformeigenschaft, da in ihr die ansatzweise die Synthese sichtbar wird, die eine Keimform aus These und Antithese der vorherigen Formation bilden muss, um erfolgreich als Muster für ein neues Modell gelten zu können.

(142) Integrität .

(143) Da Freie Software fundamental auf einer transkapitalistischen, insbesondere nicht wertbasierten Produktionsweise beruht - nämlich der Selbstentfaltung der ProduzentInnen - kann Freie Software von der Geldgesellschaft höchstens durch Unterwerfung unter das Wertregime zerstört, nicht aber vereinnahmt werden.


Valid HTML 4.01 Transitional