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Die Freigabe des Embryos ist nicht allein eine Frage der Ethik

Maintainer: Birgit Niemann, Version 1, 03.01.2002
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Die Freigabe des Embryos ist nicht allein eine Frage der Ethik

(1) In allen Medien wiederholt sich die Formel vom schwierigen ethisches Problem, dass die juristische Freigabe der menschlichen embryonalen Stammzelle für die medizinische Forschung darstellen soll. Diese Art gesellschaftlicher Reflektion greift nicht nur zu kurz, sondern ist vor allem trügerische Selbstbefriedigung der Gesellschaft, die den irreversiblen Dammbruch der neuartigen Verwertung des biologischen Menschen in demokratischer Meinungsvielfalt rethorisch begleitet.

(2) Die menschliche Stammzelle entstammt nicht nur einem menschlichen Embryo, sie kann auch die einzellige Stamm-Mutter eines vielzelligen Menschen werden. Sie ist neben der Eizelle die einzige Zelle die weiß, wie aus einem menschlichen Genom ein lebensfähiger Säugling entwickelt wird. Die Wissenschaft wird der Stammzelle all ihr Wissen entreissen, um daraus Zellkulturen und Organe zu produzieren, wodurch die medizinische Praxis der Ausschlachtung hirntoter Leichenspender zwecks Gewinnung biologischer Ersatzteile ersetzt werden soll. Der Wissenschaft, tönt es aus allen Röhren, geht es nicht um reproduktives Klonen, womit auch ganze Menschen erzeugt werden können. Es geht ihr allein darum, mit Hilfe der Stammzelle das menschliche Genom so gut zu beherrschen, dass zum Wohle der Kranken jeder einzelne Zelltyp erzeugt werden kann. Zweifellos wird das der Wissenschaft gelingen. Hat sie es geschafft, beherrscht sie das ganze menschliche Genom.

(3) Wächst die Stammzelle erst im Kulturmedium, kann der Einfluss aller bekannten Wachstums- und Differenzierungsfaktoren auf ihre Entwicklung leicht untersucht werden. Und jeden Tag werden neue Faktoren bekannt. Mit genetischer, proteinchemischer und immuntechnischer Analytik kann man im hohen Durchsatz der Chip-Technik feststellen, was dabei in und mit ihr passiert. Mit dem Methodenrepertoire der Gentechnik müssen in der Stammzelle Gene ausgeschaltet, aktiviert und eingebaut werden, um deren Funktionen und Zusammenspiel zu erkunden. Die Herstellung von Mutanten ist ein üblicher und notwendiger Schritt bei der Erforschung lebender Wesen, der auch an der menschlichen Stammzelle nicht vorbeigehen wird. Zwischendurch, bis die ersten Erfolge sich einstellen, werden Stammzellen aller möglichen Differenzierungsphasen in kranke Körper implantiert. Wenn der Patient und der forschende Mediziner Glück haben, weiss so ein kranker Körper von selbst, wie er die implantierten Stammzellen in Funktion nehmen kann. Vom ersten Tage ihrer Freigabe an, werden die Embryonen-verbrauchende Forschung und der davon lebende Markt expandieren.

(4) Die Freigabe der Stammzelle soll kontrolliert und eingeschränkt erfolgen, sagt der nationale Ethikrat des Kanzlers. Wie aber sieht diese Einschränkung aus? Das deutsche Embryonenschutzgesetz ist das restriktivste seiner Art in der Welt. Embryonen kann es jedoch nicht mehr länger schützen. Wenn man sie hier nicht herstellen darf, wird bei Kollegen im Ausland gearbeitet und die Ergebnisse werden importiert. Doch kann sich jeder Embryo zum Menschen entwickeln und erlaubt den Zugriff auf das funktionsfähige menschliche Genom. Im November ging die Meldung durch die Presse, dass der Firma Advanced Cell Technology die Klonierung und die Parthenogenese am Menschen gelang. Selbst in England werden rasch Gesetze erfunden, die das Einpflanzen solcher Klone in eine Menschenfrau zwecks Erzeugung eines Baby's untersagen. Wer aber will kontrollieren, ob unter den zahlreichen künstlich geschwängerten Frauen, nicht auch so manche einen Klon austragen wird? Das nächste Problem wird die Anwendung der Gentechnik auf das etwicklungsfähige menschliche Genom. Sind die ersten Stammzell-Rekombinanten erst fertig, muss es neue Gesetze geben, die deren Einpflanzung in eine Frau verhindern sollen. Doch alle Gesetze, die die Arbeit mit der Stammzelle einschränken, haben eines gemeinsam: Weil sie Entwicklungen nicht vorraussehend abdecken können, sind sie immer umgehbar. Bereits im Stadium ihrer Enstehung setzen sie nicht Recht, sondern können Rechtsetzung nur noch simulieren.

(5) Die Stammzelle soll freigegeben werden, damit die freie Wissenschaft ihre Grenzen ausloten kann, hört man Liberale immer wieder sagen. Welche Grenzen sind hier wohl gemeint? Die Stammzelle selbst wird keine Grenzen setzen. Alles was sie leistet, kann auch nachgemacht werden. Die Überwindung technischer Probleme ist allein eine Frage des eingesetzten Kapitals und der Zeit. Die Grenzen der Wissenschaft aber sind doch längst bekannt. Im Dritten Reich, dessen Geist die rationale Wissenschaft von allen Schranken befreite, hat es sich herausgestellt: Die Wissenschaft kennt von allein keine Grenzen, auch nicht bei der Vernutzung von Menschen.

(6) Warum sollte die Wissenschaft denn ganze Menschen herstellen wollen, wo es doch längst mehr als genug davon gibt? Ganz einfach. Weil ein Markt dafür vorhanden ist. In einer Zeit, in der psychische und körperliche Zivilisationskrankheiten beschleunigt zunehmen, neue und alte Seuchen grassieren, Krankheiten ökonomisch immer unlebbarer werden und das Selbstmanagement die Vorraussetzung für erfolgreiche Jobsuche ist, wird folgendes deutlich: Der sozial-ökonomische Druck, der den Einzelnen zwingt, die bisher allein geistige Selbstkonditionierung auch auf seine Gene auszuweiten, wird steigen. Sind die biotechnischen, ökonomischen und juristischen Möglichkeiten dafür vorhanden, wird der individuelle Mensch sie nutzen.

(6.1) 6, 31.01.2002, 23:39, stephan küppers: Freunde für mich ist glasklar das die Entwicklung der Gentechnischen Wissenschaft neben vielen anderen Aspekten ein Projekt der herrschenden Gerontokratien ist.Die Ägyptische Elite damals zu von mir aus tut ench amons Zeiten hat das Leben der damaligen Machthaber nur symbolisch verlängern können.Was die aktuell herrschende Machtelite vorhat ist letztendlich der hoffentlich vergebliche Versuch sich unsterblich zu machen...Sie leben dann nicht nur ganz herkömmlich in ihren Kindern fort sondern vielleicht in ihren geklonten Stammzellen.

(6.1.1) Re: herrschende Gerontokratien, 04.02.2002, 23:42, Birgit Niemann: Ich denke, dass es um herrschende Gerontokratien höchstens am Rande geht. Die genetischen Programme der lebendigen Welt sind einfach der letzte Sektor, der noch nicht "durchkapitalisiert" ist, wie es Robert Kurz so schön nennt. Auch wird es mit der Unsterblichkeit sicher noch etwas dauern, erst mal steht eine neuartige Expansion des Gesundheitsmarktes an. Was dann auf dem Programm steht, ist leicht zu erraten. Das Kapital wird seine menschlichen Funktionselemente in Zukunft nicht mehr nur psychisch funktionalisieren, sondern das Ganze etwas dauerhafter und vererbbar gestalten. Beginnen wird es mit der Reparatur von monogenetischen Krankheiten, aber es wird nicht allzulange dauern, bis genetische Anforderungprofile auch auf Stellenausschreibungen erscheinen. Oder in den Fragebögen der Versicherungen. Ausbildung allein reicht dann nicht mehr. Noch eine kleine Nebenbemerkung: Wenn die herrschende Elite nur in ihren geklonten Stammzellen fortleben würde, dann ensteht kein Schaden. Denn mit Stammzellen können Menschen spielend fertig werden. Mit herrschenden Eliten (und erst recht mit dem Kapital) ist das schon schwieriger und hat zumindestens in der Geschichte reichlich Blut gekostet.

(6.1.1.1) Re: herrschende Gerontokratien, 15.06.2003, 14:46, Andreas Morvay-Mach: Es passt vielleicht nicht ganz daher, aber ich möchte dazu nur sagen: Die Natur hat einen fatalen Fehler gemacht, als sie dem Menschen zu seiner "Intelligenz" verhalf. Ich selbst bin im ersten Moment vielleicht nicht ganz unglücklich darüber, aber der Natur selbst und damit uns allen bringt sie nicht viel Gutes. Oder?!

(6.1.1.1.1) Re: fataler Fehler, 16.06.2003, 14:03, Birgit Niemann: Vielleicht hat "die Natur" das auch "selbst erkannt" und eben deshalb den Menschen dazu gebracht, das Kapital "zu erfinden". Eine sichere Methode, den Menschen mit seiner Intelligenz schnellstmöglich wieder loszuwerden.

(6.1.1.2) Re: herrschende Gerontokratien, 23.10.2003, 14:10, Ano Nym: Das ist doch dieser alte linke Schwachsinn von wegen alter Kapitalisten, die sich gegen die Natur und den Rest der Menschheit verschwören. Euer Eifern und Gruseln, liebe Freunde, fußt nur auf einem reaktionäre romantisierenden Bild von der Natur. Und das sich der Kapitalismus mittels Gene vererben kann, glaubt auch nur jemand, der das gentechnische Potential hoffnungslos überschätzt.

(6.1.1.2.1) Re: Vererbung des Kapitalismus, 04.11.2003, 09:56, Birgit Niemann: Hier muss ein Anonymus eine sehr billige 1:1 Übersetzung, die im Leben bestenfalls auf molekularer Ebene vorkommt, im Sinn haben. Denn das lebendige Wesen (also auch Menschen) vererbbare Eigenschaften besitzen, die mit der Funktionalisierung unter einen übergeordneten Organisationszusammenhang zu tun haben oder auch dieser im Wege stehen können, kann nun wirklich nicht glaubwürdig wiederlegt werden. Welche Eigenschaften das in bestimmten Zusammenhängen in Einzelnen sind bzw. sein können, ist eine andere Frage. Das einfache Beispiel der Kastration, als sehr primitiven und grobschlächtigen nachträglichen Eingriff in menschliche Stoffwechselzusammenhänge, kann hier als sozial-historisch relativ häufig angewendete Methode der Beseitigung eines angeborenen "Funktionalisierungs-Hemmnisses" angeführt werden. Weitere, auf die zukünftig ebenfalls mit "feineren und dauerhafteren Methoden" aufgebaut werden könnte, lassen sich mühelos finden.

(7) Durch ein Verwertungsverbot des Embryos, gleich welcher Quelle, schützt die Gesellschaft daher nicht allein die "Würde des Menschen" im Embryo, sondern monopolisiert das Recht auf die biologische Reproduktion für ihre menschlichen Rechtssubjekte, indem sie andere gesellschaftliche Rechtssubjekte, wie Firmen und Wissenschaftseinrichtungen, davon ausschließt. Die juristische Monopolisierung der Zeugung war in der Geschichte des Menschen bisher noch nie erforderlich, weil nur individuelle Menschen diese Tätigkeit überhaupt beherrschten. Genau dies aber ändert sich jetzt. Mit der Freigabe der embryonalen Stammzelle für die wissenschafts-ökonomische Verwertung gibt die soziale Gesellschaft die Verfügungsgewalt des Menschen über seine biologische Reproduktion an das Life-Science-Kapital ab. Mit diesem Schritt liefert sie gleichzeitig das funktionsfähige menschliche Genom dessen technischen Möglichkeiten aus. Das aber ist die letzte selbstbestimmte Reproduktionstätigkeit, die wir Menschen zu verlieren haben. Infolgedessen ändert sich nicht nur das "Menschenbild", sondern es lassen sich die angeborenen Potentiale wirklicher Menschen fremdbestimmt verändern. Noch nicht heute und auch noch nicht morgen, denn gewaltige wissenschaftliche Arbeit muss noch finanziert werden und wird immer schneller geleistet. Soziale Akzeptanz kann den Prozess nur weiter beschleunigen.

(7.1) 31.01.2002, 23:42, stephan küppers: Freunde wir sehen zu wie unsere Kinder schon bei ihrer Geburt in gewisser Weise 2te Wahl sind .

(7.1.1) zweite Wahl, 04.02.2002, 23:46, Birgit Niemann: Selbstbestimmte "zweite" Wahl würde ich als "erste" Wahl betrachten. Denn mit der Optimierung von Menschen ist das so eine Sache. Ein Optimum ist nämlich keine absolute Größe, sondern es ist nur in Bezug auf konkrete Bedingungen optimal. Wenn das Kapital diese Bedingungen bestimmt, dann wird sich die "optimale" genetische Vielfalt des Menschen nicht mehr aus ihm selbst, sondern aus der Funktionsvielfalt der Einzelkapitale ergeben. Auf eine solche "erste" Wahl würde ich gern für meine Nachkommen verzichten.

(7.1.1.1) Re: zweite Wahl, 23.10.2003, 14:18, Ano Nym: Erste Wahl? Höre ich da nicht die "Stimme des Blutes" heraus? Vielleicht gibt es ja ein Kommunarten-Gen? Ist es nicht toll wenn künftig SELBST-gezeugte, autonome, anti-kapitalistische Weltverbesserer in ihrem Perma-Dung herumwühlen?

(7.1.1.1.1) Re: die "Stimme des Blutes", 04.11.2003, 10:08, Birgit Niemann: Unser Anonymus hört hier offensichtlich heraus, was er selbst hineinwirft. Eine einfache und praktische Methode zur Polsterung der Sättel, mit deren Hilfe man sich bequem auf hohen Rössern festsetzen kann. Allerdings gelangt dann der tatsächliche Klang geäusserter Stimmen nicht mehr bis in die luftige Höhen hinauf. Sonst hätte nicht überhört werden können, dass hier die Stimme der menschlichen ReProduktionssouveränität erschallt. Die Produktionssouveränität haben wir Menschen ja schon etwas länger verloren während der Verlust der Reproduktiossouveränität gerade jetzt auf der Tagesordnung steht.

(8) Ein expansionsfähiger Markt, die Freiheit der modernen Biowissenschaften, Gesetze, die Rechtsetzung nur noch simulieren und Menschen, die biologischen Ersatzteilen und ihrer eigenen Optimierung hinterherlaufen. Das ist der Wunschpunsch, aus dem sich Aldous Huxley's "Schöne neue Welt" von der Utopie zur Wirklichkeit entfalten kann.

(8.1) Zum ganzen Text, 14.06.2002, 17:22, Benni Bärmann: Auch in diesem Biotech-kritischen Artikel finde ich wieder die selben Argumentationsmuster die mich in so gut wie allen dieser Artikel immer wieder stören:

1. Der Biotechnik wird auf den Leim gegangen. Ihre Heilsversprechen der perfekten Kontrollierbarkeit des Lebens werden zwar als Unheilsversprechen entlarvt aber dennoch geschluckt. Dabei ist die Forschung weit davon entfernt diese Kontrolle wirklich ausüben zu können und wird es wohl auch immer bleiben, da Leben eben kein lineares System ist, wo man einfach ein paar Schalter umlegen könnte um einen gewünschten Effekt zu ereichen. Ich sehe da starke Parallelen zu den Heilsversprechungen, die die Forschung zur künstlichen Intelligenz seit den 60er Jahren verbreitet. Diese Geschichte und ihr Scheitern müsste man sich angucken um die wahren Gefahren der Gentechnik erkennen zu können.

(8.1.1) Re: Ihre Heilsversprechen der perfekten Kontrollierbarkeit des Lebens, 16.06.2002, 09:53, Birgit Niemann: Wer hat Dir denn den Bären aufgebunden, das zur Umprogrammierung konkreter lebendiger Wesen das ganze Leben "perfekt kontrollierbar" sein muss? Es gilt vielleicht für den Auto- und Flugzeugkonstrukteur, dass er sein Produkt zunächst im Geiste (Konstruktionspläne) halbwegs "perfekt" fertigstellen muss, bevor er es auch in ein funktionierendes stoffliches Konstrukt umsetzen kann, aber nicht für den Gentechniker. Der Gentechniker musste nur wissen, wie er an isolierte DNA-Fragmente herankommt und mit welcher Technik er diese Fragmente in den lebendigen Zusammenhang längst vorhandener Genome intergriert bekommt, als er vor 30 Jahren loslegte. Alles andere erledigen die Zellen dann selbst und der Gentechniker kann im Anschluss an das erfolgreiche Experiment in aller Ruhe die für den Erfolg verantwortlichen stofflichen Reaktionsketten und genomischen Bedeutungen analysieren, wobei er Scheibchen für Scheibchen genetische Algorithmen in geistige überführt, was dem Erfolg nachfolgender Experimente selbstverständlich ausserordentlich zuträglich ist. Anders als in der Welt des von dualistischen Grabenkämpfen zerstrittenen (und sich dadurch mitunter selbst kastrierenden) virtuellen Geistes arbeiten im wirklichen Leben also die verschiedenen "Wissen akkumulierenden Strukturen" ganz problemlos nach der seit vier Milliarden Jahren bewährten Versuch-Irrtum-Methode ausserordentlich erfolgreich zusammen. Und das konstruktive Arbeitsfeld des Gentechnikers ist nun einmal das wirkliche stoffliche Leben und nicht die virtuelle Theorie. Auch ist der Gentechniker nur begrenzt von der Sucht nach Kontrolle getrieben. Seine wesentliche Triebkraft findet sich in der erweiterten Grundregel der Molekularbiologie (die in deren Kindertagen auch als zentrales Dogma bezeichnet wurde, bis man feststellte, dass das echte Leben keinen Dogmen folgt), die folgendermaßen lautet: "DNA makes RNA makes Protein makes Money". (Alle Schritte sind selbstverständlich umkehrbar und erzeugen einen zusammenhängenden Rückkopplungszyklus). Diese kleine und einfach strukturierte Programmsequenz ist wiederum Diener zweier Herren. Sie dient der Selbstentfaltung des Menschen in Gestalt der Biowissenschaftler ebenso willig wie der Selbstenfaltung des Kapitals in Gestalt der Life-Science-Kapitale. Das für den "Rest" der lebendigen Welt dabei die gewachsenen (und ohnehin sehr fragilen) lebendigen Interaktionszusammenhänge unkontrollierbar zerrissen werden, hat bisher weder die Lebenswissenschaftler noch die Life-Science-Kapitale an der erfolgreichen und kooperativen Fortführung ihrer beider Selbstentfaltung auch nur ansatzweise behindern können. Das dabei mit dem "Umlegen von Schaltern" gewünschte Effekte sehr wohl ganz praktisch erreicht werden, beweisen von der Bakterienzelle bis zum Säugetier alle transgenen lebendigen Organismen, deren Anzahl und Vielfalt seit 30 Jahren exponentiell zunimmt. Um das zu übersehen, muss man schon sehr konsequent beide Augen fest zudrücken und sich selbst die Wirklichkeit übertönend in die Ohren schreien, das nichts sein kann was nicht sein darf.

(8.1.1.1) formale Vorbemerkung, 18.06.2002, 13:56, Benni Bärmann: Zunächst mal vorneweg: Ich bin etwas enttäuscht. Nicht so sehr vom Inhalt Deiner ausführlichen Antworten, für die Du Dir ja sehr viel Zeit genommen hast, sondern vielmehr von der Form. Ich hab überlegt, ob ich überhaupt antworte. Normalerweise habe ich nämlich keine Lust mit Leuten zu diskutieren, die mir Hämmer ala "ist die Qualität der schulischen Ausbildung schon so schlecht ..." an den Kopf werfen. Ich kenne die Grenzen meiner Klugheit sehr gut und hab es auch nicht nötig andere für dumm zu erklären, also bitte ich darum, dass Du das auch nicht mit mir machst. Ich verstehe Open-Theory so, dass man hier seine Texte reinstellt, weil man hören will was andere darüber denken. Da bleibt es logischerweise nicht aus, dass auch mal Leute mit anderen Meinungen ihren Senf ablassen. Andererseits kann ich Dich auch verstehen, ist schliesslich "Dein Ding". Also vielleicht können wir uns ja einfach auf etwas mehr Nettigkeit einigen? Darunter muss die Klarheit in der Sache ja nicht leiden. Im Gegenteil. So, jetzt aber wieder zum Inhalt ...

(8.1.1.1.1) Re: formale Vorbemerkung, 18.06.2002, 22:20, Birgit Niemann: Uiii, hier habe ich aber daneben getroffen. Es fällt mir nicht ein, Deine Intelligenz zu bezweifeln, ich habe etwas flapsig die schulische Ausbildung attackiert, über die ich mich anhand meines eigenen Sohnes ausreichend oft ärgere, um schon diverse Antiquariate nach meinen eigenen naturwissenschaftlichen Schulbüchern abzusuchen, auch wenn ich weiß, dass es nicht allein eine Frage der Bücher ist. Allerdings reagiere ich schon leicht ironisch auf Aussagen, die auf mich den Eindruck machen, dass sie möglichst allgemein und unreflektiert einfach nachgeplappert werden, ohne das sie wirklich kritisch durchdacht sind. Was genau bringt Dich denn zu der Einsicht, dass ich der Biotechnik "auf den Leim" gehe? Wo genau siehst Du denn die Grenzen der Technik? Begründe doch diese Auffassung einmal. Und bitte nicht mit einem Allgemeinplatz wie: "Das Leben" ist unkontrollierbar.

(8.1.1.2) Re: Ihre Heilsversprechen der perfekten Kontrollierbarkeit des Lebens, 18.06.2002, 14:03, Benni Bärmann: Diesen Bären hat mir schon deshalb niemand aufgebunden, weil ich das garnicht geschrieben habe. Vielmehr bin ich mit Dir völlig einer Meinung, dass die Biotechnik die perfekte Kontrolle nicht erreichen kann. So wird sie uns aber verkauft. Deshalb "Heilsversprechen". Diesen Heilsversprechen gehst Du im Text auf den Leim unter anderem wenn Du schreibst "Zweifellos wird das der Wissenschaft gelingen. Hat sie es geschafft, beherrscht sie das ganze menschliche Genom." und ähnliches. Statt dessen ginge es gerade darum, die biologistische Definition was Leben ist - und aus der die prinzipielle Beherschbarkeit abgeleitet wird - anzugreifen.

(8.1.1.2.1) Re: biologistische Definition, 18.06.2002, 22:35, Birgit Niemann: Was genau ist eine "biologistische" Definition von Leben. Die Biologie ist die Wissenschaft, deren Untersuchungsgegenstand "das Lebendige" ist. Daher gibt es wohl keine Wissenschaft, die mehr legitimiert ist, "das Lebendige" zu definieren. Wem sonst willst Du die Kompetenz dafür zusprechen? Es gibt vielleicht eine "biologistische" Definition geistiger Vorgänge, aber der Biologie nun ihren ureigensten Gegenstand abzusprechen halt ich für etwas absurd. Im übrigen ist alles Lebendige primär stofflich. Selbst die den Lebewesen zugrundeliegenden genetischen Programme, die als Programm selbstverständlich virtualisierbar sind, sind fest an stoffliche Nukleinsäuremoleküle gebunden. Stoffliches aber kann man untersuchen und von Programmen kann man den Inhalt ergründen. Es gibt erstens keinerlei theoretischen Hinweis, dass dies in Sachen Lebewesen unmöglich sei und zweitens auch keinen praktischen. Das musst Du natürlich nicht glauben, aber von den verschiedenartigen Glaubenssätzen, denen auf dieser Welt so gehuldigt wird, interessiert mich in erster Linie ihre soziale Funktion, weniger ihr Inhalt.

(8.1.1.2.1.1) Re: biologistische Definition, 30.09.2002, 13:18, Martin Szaramowicz: Es gibt den theoretischen Hinweis, dass komplexe Lebewesen wie der Mensch nicht auf ihren genetischen Code reduzierbar sind. Es gibt den ziemlich wichtigen praktischen Hinweis, dass bisher genetische "Programme" für komplexe Eigenschaften des Menschen (Intelligenz, Sexualverhalten etc.) nicht gefunden worden..

(8.1.1.2.1.1.1) Re: biologistische Definition, 01.10.2002, 19:35, Birgit Niemann: Es gibt in der Biologie keine Definition, die den Menschen auf sein, in der Tat unverzichtbares, genetisches Programm reduziert. Wenn das der Fall wäre, würden wir mit Hochschulabschluss und Lebenserfahrung auf die Welt kommen. Das sind nichts als verkürzende Zweckbehauptungen, die als Schlägerargumente durch kontroverse Auseinandersetzungen geistern. Was es in der Tat gibt, ist die massive Tendenz, gesellschaftliche Mittel auf die Erforschung der stofflichen Grundlagen des Menschen zu konzentrieren, halbgare und veraltete Erkenntnisse zu ideologisieren und soziale Problemlösungsansätze dabei komplett zu verdrängen. Das aber hat Gründe die zu analysieren und kritisieren sind, aber bitte nicht auf der Ebene von selbsterzeugten, argumentativen Popanzen.

(8.1.1.2.1.1.1.1) Re: biologistische Definition, 02.10.2002, 09:14, Martin Szaramowicz: Falls ich gemeint bin: Was genau sind bei mir die "Schlägerargumente" (?) und "Popanzen" (?)? Du hattest in dem von mir kommentierten Absatz nach theoretischen und praktischen Hinweisen gefragt. Und: "Wenn das der Fall wäre, würden wir mit Hochschulabschluss und Lebenserfahrung auf die Welt kommen. Das sind nichts als verkürzende Zweckbehauptungen,..." ???? Ich habe dich aber, glaube ich, doch verstanden: "Bitte nicht stören." Mach ich dann auch nicht mehr.

(8.1.1.2.1.1.1.1.1) Re: biologistische Definition, 04.10.2002, 19:57, Birgit Niemann: Natürlich bist nicht Du gemeint. Dich kenne ich doch überhaupt nicht. Hier in der Anonymität des Netzes passiert für meine Begriffe etwas Empire-mäßiges. Ein geäußerter Satz erzeugt keine gedanklich Reaktion auf die Person, die ihn äußert, was üblicherweise in direkten Diskussionen in nicht unerheblichem Ausmass die Reaktion bestimmt. Dafür aber präsentiert sie um so eindringlicher gleich den ganzen Diskurs, den die Aussage im Schlepptau hat. Die Person verschwindet hinter dem Diskurs und bleibt unsichtbar, vor allem, wenn man nicht einmal eine Vorstellung von ihr hat. Also die von Dir geäußerte Aussage hat mit vielen anderen Varianten dieser Art Aussagen eine Konsensus-Bedeutung und eine gemeinsame Vorraussetzung. Die Vorraussetzung besteht darin, Jemandem die Äußerung zu unterstellen, der Mensch wäre ein deterministisches Produkt seiner Gene. Diese, von mir als selbsterzeugter Popanz bezeichnete, vorrausgesetzte Aussage wird üblicherweise Biologen untergeschoben. Die siegessichere Widerlegung, der Mensch ist nicht allein Produkt seiner Gene ist die Konsensusbedeutung zahlreicher ähnlicher, verschiedenartiger Argumentationsformen. Diese Auseinandersetzung existiert in verschiedenen Wellen seit Darwin und taucht in immer neuen Gewändern, die nicht immer sehr freundlich verlaufen, wieder auf. Diesen Diskurs habe ich in der Tat ziemlich satt, vor allem weil er daran hindert, sich über wirklich ablaufende Prozesse zu verständigen. Wenn Du die Sache jetzt also persönlich genommen hast, dann tut es mir leid.

(8.1.1.2.1.1.1.1.1.1) Re: biologistische Definition, 07.10.2002, 17:07, Martin Szaramowicz: Ich habe nichts persönlich genommen, sondern mit "ich" hier natürlich meinen Text gemeint. Weil das hier kein Forum werden soll, höre ich dann auch auf. Denn: Wenn du weißt, was "wirklich ablaufende Prozesse" sind und über die Diskussionsgeschichte seit Darwin den Überblick hast - selbstverständlich ohne ihn dazulegen - dann solltest du diesen Text lieber alleine schreiben. Ich will dir jedenfalls nicht mit "Diskursen" auf die Nerven fallen, die du satt hast. Vorschlag: Projekt abschließen und den Text ohne Kommentare veröffentlichen. (Das ist nicht böse gemeint. Man muss ja nicht diskutieren oder zusammen schreiben, wenn man glaubt, man hätte es alleine verstanden, und dieses Gefühl hat eben jede/r mal).

(8.1.1.3) Versuch und Irrtum, 18.06.2002, 14:15, Benni Bärmann: Versuch und Irrtum sind tatsächlich die Basis jeder Ingenieurswissenschaft. Darin unterscheidet sich die Gentechnik gerade nicht von anderen Ingenieurswissenschaften. Sowohl Flugzeugbauer als auch Software-Ingenieure arbeiten mehr oder weniger nach diesem Prinzip. Dennoch gilt für alle diese Ingenieurswissenschaften, dass sie Modelle und Theorien haben, nach denen sie funktionieren. Dieses Modell ist im Fall der Gentechnik eben genau das von Dir angeführte "DNA makes RNA makes Protein (makes Money)". Letzteres hab ich in Klammern gesetzt, weil es eben gerade nicht Gegenstand der Biotech-Wissenschaft ist. Diese zieht sich vielmehr auf die ersten drei zurück und reduziert damit den Menschen sowohl im hier und jetzt (weil "makes Money") fehlt als auch in einer vorstellbaren Zukunft ohne Geld. Worauf ich hinaus will, ist, dass es eben genauso wichtig ist auf die Verkürzung dieser Kette hinzuweisen, wie darauf dass "makes Money" nur sehr indirekt etwas mit den Menschen zu tun hat. Dieses Modell von Leben ist also verkürzt und deswegen funktioniert das "Umlegen von Schaltern" eben doch nicht so einfach. Das schliesst nicht aus, dass es nicht trotzdem "Erfolge" in der Technik geben kann, das zu bestreiten wäre tatsächlich blauäugig.

(8.1.1.3.1) Re: Versuch und Irrtum, 18.06.2002, 23:22, Birgit Niemann: Versuch und Irrtum in anderen Ingenieurswissenschaften sind etwas anderes, als in der Gentechnik. Deshalb muss ich versuchen, dass genauer zu erklären. Noch nie habe ich gehört, dass ein neuer Autotyp einfach dadurch erzeugt wurde, dass in 1000 Autogetriebe eine neue Schraube hineingeworfen wurde und die Konstrukteure abgewartet haben, dass wenigsten eines (oder mehr) der 1000 Autos diese Schraube von selbst in ihren Funktionszusammhang eingebaut hat und auch noch funktionierte. Bevor ein Auto überhaupt gebaut werden konnte, musste das grundlegende physikalische Funktionsprinzip zuerst in den Köpfen der Techniker vorhanden sein. Das dann am Modell noch etwas herumprobiert wurde, um die optimale Anordnung der Teile zu finden, das mag sein. Bis das Funktionsprinzip aber geistig entwickelt war, zogen Pferde die Kutschen. Die Gentechniker aber arbeiten anders. Sie können sich darauf verlassen, dass das ganze Wissen um den funktionierenden Zusammenhang bereits in der Zelle vorhanden ist. (Den Begriff Wissen gebrauche ich hier im Sinne von relevanter Information). Der Gentechniker arbeitet also mit der Zelle zusammen, die alles von selbst ergänzt, was er nicht weiß. Deshalb hatte es der Gentechniker nicht nötig, erst den kompletten Funktionszusammenhang der Moleküle in der Zelle zu ergründen, bevor er diese umprogrammieren konnte. Auch bastelt er nicht an einem einzigen Exemplar herum, sondern er behandelt viele Milliarden Zellen mit dem gleichen DNS-Molekül und verlässt sich darauf, das vielleicht 100.000 Zellen dieses Molelül aufnehmen. Unter diesen 100.000 Zellen finden sich immer hunderte, die das aufgenommene Gen so in ihren Funktionszusammenhang eingebaut haben, wie der Gentechniker es braucht. Diese muss er nur herausfischen (selektieren) und vermehren. Natürlich haben 30 Jahre Gentechnik mittlerweile das molekularbiologische Wissen enorm erweitert. Auch hat die Gentechnik in ihrem jungen Dasein mehrere technische Revolutionen hinter sich und die Überführung von genetischem Wissen in geistiges erfolgt so schnell, dass es auch von Fachleuten nicht mehr generell verfolgbar ist. Auch klebt die Wissenserweiterung in der Molekularbiologie fest an Computern. Ohne Computer und Bioinformatik, wären die Datenmassen gar nicht auswertbar. Der Stand ist heute so, dass gegenwärtig an Projekten gearbeitet wird, die Vorgänge in einer Zelle "in Silico" modellieren sollen. Wenn das steht, gibt es neue Synergie-Effekte und der Gentechniker wird dem Autokonstrukteur ähnlich.

(8.1.1.3.2) Re: makes money, 18.06.2002, 23:43, Birgit Niemann: Die von mir genannte erweiterte Grundregel ist kein Modell (und schon gar kein verkürztes), sondern eine generelle Prozessanleitung, die selbstverständlich die Zwischenschritte so nicht artikuliert. Das "erweitert" bezieht sich übrigens gerade auf das "makes money". Die wissenschaftliche Variante endete natürlich schon immer beim Protein. Die erweiterte Form ging vor 20 Jahren eher als Witz durch mein damaliges Labor. Tatsächlich aber ist es kein Witz, sondern die wirkliche Triebkraft. Gerade dadurch stellt sich ja der Zusammenhang zum Kapital her. Und das ist Bestandteil der Molekularbiologie und erst recht der Gentechnik. Denn beide sind in der ablaufenden Form nur durch das Kapital finanzierbar. Eine Gesellschaft die tausend wichtigere Dinge am Hacken hat und vielleicht das Tempo gar nicht so unkontrollierbar schnell haben will, könnte niemals die Unmengen an Mitteln für die Biowissenschaften (und deren notwendiges Umfeld) erübrigen, die heute dort hineingesteckt werden. Wissenschaft aber ist immer ein Kind dessen, der sie finanziert. Und dem Finanzier dient sie in der Regel auch. Die "freie Wissenschaft" gibt und gab es nur als Mythos.

(8.1.1.4) Missverständnis Selbstentfaltung?, 18.06.2002, 14:25, Benni Bärmann: Bist Du sicher, dass Du mit "Selbstentfaltung" das selbe meinst, wie ich. Ich beziehe mich damit auf eine Diskussion im Oekonux-Projekt, wo wir Selbstentfaltung definieren als "Die Selbstentfaltung des Einzelnen ist die unmittelbare Bedingung der Selbstentfaltung aller und umgekehrt." Sorry, das war nicht ganz klar, aber ich dachte Du kennst die Diskussion, da ich Deinen Namen meinte auch in dem Zusammenhang schonmal gelesen zu haben, sonst hätte ich da gleich explizit drauf hingewiesen. "Selbstentfaltung von Life-Science-Kapital" macht in diesem Kontext dann wohl keinen Sinn mehr.

(8.1.1.4.1) Re: Missverständnis Selbstentfaltung?, 19.06.2002, 00:08, Birgit Niemann: Unter Selbstentfaltung verstehe ich die Entwicklung und Reifung aller potentiellen Fähigkeiten einer Struktur für die Realisierung ihres eigenen Selbstzweckes. Der Satz den Du da noch zusätzlich zitierst, ist die kürzeste Fassung mit der Marx die vom Menschen anzustrebende Gesellschaft charakterisiert hat. Eine solche Gesellschaft ist sicherlich die ideale Prozessumgebung für einen seine Fähigkeiten entfaltenden Menschen, aber sie steckt im Begriff der Selbstentfaltung noch nicht mit d'rin. Denn Selbstentfaltung ist für Individuen auch in suboptimaler Umgebung möglich, wenn auch nicht für alle. Zum Beispiel hat sich Aristoteles auf dem Rücken enteigneter Sklavenarbeit prima selbst entfalten können. Die Ergebnisse seiner Selbstentfaltung werden heut noch bewundert, wenn sein Image auch etwas angekratzt ist. Vermutlich irritiert Dich, dass ich die Selbstentfaltung nicht allein auf den Menschen beziehe. Aber selbst entfalten kann sich auch ein genetisches Programm (davon profitiert die Gentechnik), sofern es in der dafür geeigneten Prozessumgebung steckt. Was bei dieser Selbstentfaltung herauskommt ist ein Organismus, der das Programm erweitert reproduziert, während er selbst zugrunde geht. (zumindestens als Vielzeller). Selbst entfalten kann sich auch ein Einzelkapital. Was dabei in geeigneter Prozessumgebung herauskommt ist vielleicht ein Global Player, der Kapital erweitert reproduziert. Denn auch Lebewesen und Einzelkapitale realisieren einen Selbstzweck. Und wie das im Leben so ist, kann des einen Selbstentfaltung der Untergang des anderen sein. Bis wir Menschen endlich die o.g. ideale Prozessumgebung wenigsten für uns geschaffen haben werden (falls wir dass noch hinkriegen), muss man sich eben selbst enfalten wo man nur Gelegenheit dazu findet.

(8.1.2) Re: Die Geschichte des Scheiterns der künstlichen Intelligenz, 16.06.2002, 21:51, Birgit Niemann: Seit den 60iger Jahren laufen also die Arbeiten zur künstlichen Intelligenz bereits. Ich habe zwar keine Ahnung von den theoretischen Grundlagen dieser praktischen Arbeit und neuronale Netzwerke sind für mich auch ein Buch mit sieben Siegeln, aber soweit ich von dieser Entwicklung sporadisch etwas höre und lese, sollen die Arbeiten ja bereits bis zur "Schwarmintelligenz" (a là Ameisenkolonie) vorgestoßen sein. Die Entstehung der Vielzeller, zu denen auch wir gehören, setzt man so um 600 Millionen v.u.Z. an. Die Abspaltung der Ameisen von den Wespen soll etwa vor 120 - 150 Millionen Jahren stattgefunden haben. Seien wir also großzügig mit den Zahlen und halten fest, dass es vom Beginn des Viellzellerdaseins bis zur "Schwarmintelligenz" a lá Ameisenkolonie so um die 400 Millionen Jahre gedauert hat. Dem Computer-bewaffneten, kapitalen menschlichen Geist ist also in 40 Jahren gelungen, wofür das geistfreie Leben 400 Millionen Jahre gebraucht hat. Das soll eine Geschichte des Scheiterns sein ??? Mir scheint eine solche Einschätzung lässt sich nur durch jugendliche Ungeduld erklären, die noch keinen Begriff von Entwicklungszusammenhängen und deren Dimensionen hat. Extrapolieren wir nur einmal die Zeiten hoch. Von der "Schwarmintelligenz" bis zu selbstbewussten Wesen hat das geistfreie Leben dann noch einmal etwa 150-200 Millionen Jahre gebraucht. Analog hätte also der menschliche Geist noch mindestens 15 - 20 Jahre Zeit um das "künstliche Selbstbewußtsein" hervorzubringen. Falls wir bis dahin noch nicht als Kollateralschaden den globalen Weltordnungskriegen zum Opfer gefallen sind, oder als Zufallsopfer von Kamikazekriegern endeten bzw. durch BSE oder Acrylamidhaltige Pommes vergiftet wurden oder von anderen netten Überraschungen um's Leben gebracht wurden, können wir noch selbst gespannt darauf sein, was in Sachen "künstlicher Intelligenz" bis dahin zustande kommt.

(8.1.2.1) Re: Die Geschichte des Scheiterns der künstlichen Intelligenz, 18.06.2002, 14:20, Benni Bärmann: Nun. ich nehme gerne jede Wette an :-) Die Geschichte der KI wird dann zu einer des Scheiterns, wenn man sie an ihren eigenen Versprechen misst. Dann wird die Entwicklung von "Schwarmintelligenz" nämlich verständlich als eine Rückzugsoption der Forschergemeinde nach dem sie Jahrzehntelang versucht haben höhere Ziele zu erreichen und daran gescheitert sind und noch immer haben sie nur andeutungsweise die Komplexität ihres Untersuchungsgegenstandes erfasst.

(8.1.2.1.1) Re: Die Geschichte des Scheiterns der künstlichen Intelligenz, 19.06.2002, 00:15, Birgit Niemann: Anders als Du messe ich den Erfolg einer Wissenschaft nicht an ihren ursprünglich verkündeten Absichten, die schon deshalb zeitlich immer überzogen sind, weil die Wissenschaftler ja erreichen müssen, dass ihnen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, sondern an dem Abstand, den sie vom Ausganspunkt erreicht hat. Schließlich werfe ich auch den Kernphysikern nicht vor, dass sie die Kernfusion noch nicht im Griff haben. Vielmehr hoffe ich (vermutlich vergeblich), dass ihnen das nie gelingen wird, weil mir schon die Atombombe zu viel des Erfolges ist.

(8.1.2.1.2) Re: Die Geschichte des Scheiterns der künstlichen Intelligenz, 23.10.2003, 14:32, Ano Nym: Warum soll die "Schwarmintelligenz" ein Rückzugsgefecht sei? Intelligentes Verhalten beruht überall in der Natur auf den kollektiven Selbstorganisationsphänomenen einfacherer Teilchen.

(8.2) zum ganzen Text (2), 14.06.2002, 17:29, Benni Bärmann: 2. Es ist richtig darauf hinzuweisen, dass es nicht um Ethik geht. Aber die (kapitalistische) Verwertung des Lebens findet sowieso statt auf allen Ebenen ("Biomacht"). Jede Technologie wird hier und heute genau dazu eingesetzt. Darin unterscheidet sich Gentechnik durch nichts von anderen Kontrolltechniken. Was bleibt dann aber übrig von der verwertungskritischen Sichtweise? Doch wieder Ethik? Eine vitalistische überhöhung des Lebens als an sich gut? Vielleicht einfach ein besonders offensichtliches Beispiel der Tiefe des Zugriffs der Herrschaft. Nur eben auch oft ein in ethische Gewässer irreführendes Beispiel. Dieser Text ist - und das ist ihm hoch anzurechnen - wohl genau dazu angetreten diese ethische Irreführung zu kritisieren. Nur leider funktioniert es so wohl noch nicht.

(8.2.1) Re: Darin unterscheidet sich Gentechnik durch nichts von anderen Kontrolltechniken., 16.06.2002, 22:44, Birgit Niemann: Nein, dass ist ganz sicher richtig. In ihrer Eigenschaft als Zurichtungstechnik im Dienste des Kapitals unterscheidet sich die Gentechnik in keiner Weise von anderen Zurichtungstechniken. Was die Gentechnik allerdings sehr wesentlich von anderen Techniken unterscheidet, ist ihr zuzurichtender Gegenstand. Sie ist die einzige Technik, die konstruktiven Zugang zu den Bauplänen von Lebewesen hat (alle Züchtung war immer nur selektiv, das band sie an die inhärente Veränderungsgeschwindigkeiten und Veränderugnsmöglichkeiten von spezifischen Genomen). Und eben diese richtet sie zu. Da der Mensch auf der Ebene der Gentechnik nichts als eine Variation des allgemeinen Themas Lebewesen ist, richtet sie eben auch Menschen zu, wenn sie nur gelassen wird. Spätestens an dieser Stelle aber wird es Zeit zu begreifen, dass all unsere Selbstentfaltungsbedürfnisse und Fähigkeiten historische Strukturen sind, die stoffliche Grundlagen haben, die nunmehr aktiv technisch veränderbar sind. Ebenfalls besonders an der Gentechnik ist, dass die Gentechniker nur wenig Ahnung davon haben müssen, wie ein solcher Bauplan in seiner Gesamtheit funktioniert, um ihn zu verändern. Doch das sagte ich oben schon. Niemand aber wird ernsthaft behaupten, das Veränderung immer Verbesserung sein muss. Propagandisten einmal ausgenommen.

(8.2.1.1) Re: Darin unterscheidet sich Gentechnik durch nichts von anderen Kontrolltechniken., 18.06.2002, 14:54, Benni Bärmann: Meine These wäre halt, dass alle Kontrolltechniken das Leben zurichten, nicht nur die Gentechnik. Wenn man darin das Spezielle sieht, geht man der biologistischen Definition von Leben auf den Leim, die gerade ja das Problem ausmacht. Du bewegst Dich dann sozusagen schon mitten in dem Diskurs, den es zu kritisieren gilt.

(8.2.1.1.1) Re: Darin unterscheidet sich Gentechnik durch nichts von anderen Kontrolltechniken., 19.06.2002, 00:27, Birgit Niemann: Die Gentechnik verändert nicht das Leben, weil das Leben nicht stofflich existiert sondern ein abstrakter Begriff ist, um den sich die Gentechnik praktisch nicht im geringsten schert. In der stofflichen Welt gibt es das Leben nur in Gestalt von diskreten und stofflich-konkreten Lebewesen, die sich ohnehin in permanenter Veränderung befinden. Ich habe es doch sehr genau ausgedrückt. Warum verwässerst Du es wieder? Die Gentechnik verändert die genetischen Programme realer Lebewesen, die sie damit real zurichtet. Das spielt sich im echten Leben ab, nicht im Bereich der Abstraktionen und das leistet in der Form auch nicht eine einzige andere Technik.

(8.2.1.1.1.1) Re: Darin unterscheidet sich Gentechnik durch nichts von anderen Kontrolltechniken., 23.10.2003, 14:43, Ano Nym: Wo ist das Problem? Lebewesen sind die materielle Realisierung ihres genetischen Programms. Bisher war der "blinde Uhrmacher", die Evolution dafür zuständig. Nun wird dieser Prozeß für den menschlichen Gestaltungswillen gestaltbar. Wenn man das Leben, oder die gegenwärtige Form des Menschen, nicht als unumstößlich heilig ansieht, kann man das nur begrüssen. Der menschliche Körper wird zum Artefakt. Na und?

(8.2.1.1.1.1.1) Re: Nun wird dieser Prozeß für den menschlichen Gestaltungswillen gestaltbar, 04.11.2003, 10:19, Birgit Niemann: Hierin scheint mir eine grundlegende Fehleinschätzung zu liegen. Wo ist denn hier der "menschliche Gestaltungwille" am Werk ?? Ich sehe hier vor allem den marktgetriebenen Gestaltungswillen von Charaktermasken des Kapitals. Das dies am Ende nur funktioniert, wenn dabei auch ein paar individuelle Interesssen aufgegriffen werden, deren Realisierung am einzelnen konkreten Menschen ohne dazwischenliegende Selektion eher unwahrscheinlich ist, muss nicht extra betont werden. Und im übrigen geht es nicht im geringsten um die "Heiligkeit" des menschlichen Körpers, der wie alle lebendigen Körper schon immer eh ein selbstkonstruiertes und umweltselektiertes Konstrukt ist, sondern darum, dass solche Experimente niemals "Selbstexperimente sind", sondern immer Experimente am anderen Menschen. Über die letzten Konsequenzen dieser Kleinigkeit muss nicht spekuliert werden, weil sie sich historisch studieren lassen - an deutschen und japanischen Menschenversuchen im letzten Jahrhundert.

(8.2.2) Re: ... wohl genau dazu angetreten diese ethische Irreführung zu kritisieren ..., 17.06.2002, 22:25, Birgit Niemann: Nein, der Text ist nicht angetreten um die "ethische Irreführung" zu kritisieren, sondern um die notwendigen Entfaltungsbedingungen für einen real längst ablaufenden Prozess zu umreißen. Das diese Absicht hier nur als knappe Skizze realisiert wurde, liegt vor allem daran, dass der Text für eine Tageszeitung gedacht war. Da muss man sich kurz fassen. Die Ethik hat in diesem ganzen Prozess sehr wohl ihre rationale Funktion. Sie ist als Bio-Ethik in Gestalt zahlreicher Ethik-Kommissionen und -räte die wesentliche Dienstleistung, die die Gesellschaft für das Life-Science-Kapital erbringt, um die ganze Geschichte überhaupt gesellschaftlich akzeptant zu machen. Es ist ja gerade der kapitale Vorzug einer privat-pluralistischen Ethik, die keine Endzwecke mehr setzt, in ethische Dilemmata zu geraten, die sich per Mehrheitsbeschluss ganz demokratisch auflösen lassen. Das garantiert den Fortschritt selbst in den inakzeptabelsten Verwertungsabsichten. Das lässt sich z.B. besonders gut am Lebensschutzargument nachvollziehen. Verlangt man beim Lebensschutz gesellschaftliche Konsequenz, gerät sofort die selbstbestimmte Abtreibung in's Schußfeld. Verteidigt man die Abtreibung, ist man sofort in Rechtfertigungszwang, wenn man die Embryonenverwertung ablehnt. Dabei lässt sich prima überspielen, dass der Tabu-Bruch gar nicht in der Tötung des Embryos liegt, sondern in seiner Verwertung für die Interessen Dritter.

(8.2.2.1) Abtreibung, 18.06.2002, 15:09, Benni Bärmann: Die (meist religiös motivierten) "Lebensschützer" würden Dir wohl entgegenhalten, dass das genau das Problem von Abtreibungen ist, dass hier Leben "verwertet" wird, z.B. in Gestalt von Karierewünschen der (verhinderten) Mutter. Das fiese ist, dass da was dran ist. Tatsächlich sind wir ja alle mehr oder weniger gezwungen uns dem Verwertungsdiktat zu unterwerfen. Das zeigt btw auch ganz gut, wie tief die Zurichtungen auch schon ganz ohne Gentechnik auf das Leben als solches funktionieren. Der Punkt, dass also nun der Embryo einer direkter gesellschaftlich zugänglichen Verwertung eröffnet wird, hat aber etwas, auch wenn jeder Embryo schon immer von Dritten verwertet wurde. Meiner Meinung nach kommt man aber aus diesen argumentativen Teufelskreisen eben nicht raus, so lange man die biologistischen Grundlagen der Gen-Ingenieure akzeptiert.

(8.2.2.1.1) Re: Abtreibung als Verwertung, 19.06.2002, 00:43, Birgit Niemann: Wenn eine Frau einen Fötus abtreibt, dann verwertet sie ihn nicht. Auch nicht für ihre Karriereinteressen. Sie entscheidet sich, ihre eigenen Lebensressourcen nicht in die Aufzucht eines Kindes zu investieren, sondern in andere Tätigkeiten. Selbst wenn sie dann Karriere macht, verwertet sie ihre eigene Arbeitskraft und nicht den Fötus. Ein Embryo oder ein Fötus der im Mülleimer landet ist weg, weil er tot ist. Deshalb kann er gar nicht in eine Ware verwandelt und verwertet werden. Der zerpflückte extrakorporale Embryo aber stirbt nur als Gesamtorganismus, seine Zellen leben weiter und werden in Produkte verwandelt, die als Waren auf einem Markt landen, um Kapital zu vermehren. Gleichzeitig ermöglicht das auch seine eigene Verwandlung in eine Ware, die vor allem dann interessant ist, wenn der Embryo gentechnisch manipuliert ist. Ich bin wahrlich kein Freund davon, den Begriff Wert allein auf den ökonomischen Tauschwert einzugrenzen, sondern eher dafür, auch Tauschwert zu sagen, wenn Tauschwert gemeint ist. Aber so total beliebig wie Du das hier versuchst, kann man den Begriff Verwertung auch nicht verwenden. Begriffe sind unser wichtigstes Werkzeug zur Erkenntnis und Verständigung. Wenn wir die dermaßen verschleißen, leidet sowohl das Verständnis als auch die Verständigung.

(8.2.2.1.1.1) Re: Abtreibung als Verwertung, 17.09.2002, 11:34, sabine gering: \\\"Sie entscheidet sich, ihre eigenen Lebensressourcen nicht in die Aufzucht eines Kindes zu investieren, sondern in andere Tätigkeiten\\\" Einen utilitaristischeren Satz gibt es gar nicht, der den Sinn von \\\"be-nützen\\\" besser ausdrückt; wird der foetus weggeworfen oder \\\"ver\\\"ertet, so wird er jedenfalls so \\\"be\\\"wertet, daß er zu nichts nutz ist, er wird sozusagen nicht mal mehr benutzt sondern als völlig sinnlos bewertet; ich hoffe, daß die Begriffe hier nicht dazu \\\"benutzt\\\" werden, um zu verschleiern, was eigentlich hiermit legitimiert wird: Die Abwertung von zwei Menschen, der Frau als Einheit, die abwägt was ihr nützt und dem noch nicht eigenständig lebensfähigen Kind, das als Ballast gesehen wird; ich hoffe, daß mein Mann das nicht so bewertet

(8.2.2.1.1.1.1) Re: Abtreibung als Verwertung, 19.09.2002, 23:32, Birgit Niemann: Lange habe ich überlegt, ob ich auf diesen Kommentar reagieren will oder nicht. Er zeigt exemplarisch eine typische und unreflektierte Verwechslung der Benennung eines Prozesses mit dessen Legitimation und mit persönlichen Gefühlen. Diese Mischung ist in der Regel geeignet, Verständnisprozesse zu blockieren und in's Abseits zu führen. Doch Überlegungen und Tatsachen, die mit Kindern (insbesondere Säuglingen) zusammenhängen, gehören für Frauen zu den Fragen, die am schwersten rational zu behandeln sind. Das geht mir, als Mutter eines Sohnes und als Baby-Fan von Kindesbeinen an, nicht anders als anderen Frauen. Deshalb ist Ignoranz bei diesem Thema nicht am Platze. Daher hier noch eine Bemerkung: Utilitaristisch heißt nützlich. Eine Abtreibung ist für die entscheidende Betroffene höchstens insoweit nützlich, indem sie vor Pflichten (und Freuden), für die sie ihre eigenen Lebensressourcen hergeben muss, bewahrt wird. Der Fötus selbst wird für nichts benutzt. Das ist der Unterschied zwischen einer Abtreibung und der Embryonen-Verwertung in Wissenschaft und Ökonomie. In Letzterem wird der Embryo als Material benutzt. Darum, und um nichts anderes ging es in dieser Diskussion.

(8.2.2.1.1.2) Re: Abtreibung als Verwertung, 23.10.2003, 14:53, Ano Nym: Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann entspringt der Entschluß einer Frau einen (ihren?) Fötus abzutreiben einem ökonomischen Kalkül. Knappe Lebensressourcen werden nicht in die Aufzucht des Kindes, sondern in die eigene Karriere gesteckt. Ein Interessen- und Verteilungskonflikt also. Macht es aus der Sicht des Embryo oder Fötus, einen Unterschied aus ob er getötet oder verwertet wurde? Vielleicht würde ein Fötus, wenn er/sie entscheiden könnte, es sogar vorziehen, wenigstens als Zellspende weiterexistieren zu können, als im Mülleimer zu landen?

(8.2.2.1.1.2.1) Re: Ein Interessen- und Verteilungskonflikt also, 05.11.2003, 09:32, Birgit Niemann: Wenn Ressourcenkonflikte (also Interessen und Verteilungskonflikte) zum spezifischen Bestandteil der Ökonomie erklärt werden, dann muss der Ökonomie-Begriff auf die Gesamtheit des Lebendigen ausgeweitet werden. Allerdings ziehe ich es vor, den Ökonomie-Begriff (und seinen Inhalt, speziell den in Kapitalen verselbständigten) als Spezifikum menschlicher Vergesellschaftungsformen zu betrachten und biologische sowie soziale Ressourcen-Konflikte auch als solche zu thematisieren.

(8.2.2.2) Re: ... wohl genau dazu angetreten diese ethische Irreführung zu kritisieren ..., 18.06.2002, 15:14, Benni Bärmann: Hm, das was Du schilderst, ist doch aber genau eine "ethische irreführung". Die ganzen Kommissionen sind als Nebelwerfer unterwegs um gesellschaftliche Akzeptanz für die Verwertung von Leben zu schaffen. Wo ist da jetzt der Widerspruch zu meiner Formulierung?

(8.2.2.2.1) Re: ... wohl genau dazu angetreten diese ethische Irreführung zu kritisieren ..., 19.06.2002, 00:50, Birgit Niemann: Weil mein Thema nicht die Entlarvung der ethischen Irreführung ist, sondern, ich wiederhole, das Umreissen der Prozessbedingungen. Die Ethiker sind in diesem Prozess nur eine der notwendigen Randbedingungen und nicht einmal die Wichtigste.

(8.3) zum ganzen Text (3), 14.06.2002, 17:39, Benni Bärmann: 3. Die heutige linke Kritik an der Biotechnik sieht für mich heute oft so aus, wie die Kritik an der Informationstechnik in den 80ern (Volkszählung, Militärische Anwendung, ...). Diese war damals nicht falsch, aber verbunden mit einer allgemeinen Technikfeindlichkeit, die heute scheinbar völlig verschwunden zu sein scheint. Heute, wo wir alle täglich mit dieser Technik umgehen, sehen wir viel klarer, dass es darin auch positive Potentiale gibt, z.B. freie Software oder Open-Theory. Diese Geschichte übertragen auf die Biotechnik-Debatte bedeutet für mich, dass eine sinnvolle Kritik auch den "wahren Kern" der Heilsversprechen erkennen muss und versuchen muss darauf aufzubauen. Alles andere ist Angstpolitik. Statt dessen ginge es darum, die Widersprüche zwischen Selbstverwertung und Selbstentfaltung auch in diesem Bereich aufzuzeigen und nicht bei der Kritik und Widerstand stehenzubleiben, sondern auch eine Perspektive zu entwickeln.

(8.3.1) Re: Der wahre Kern, 16.06.2002, 22:57, Birgit Niemann: Der wahre Kern der propagandistischen Heilsversprechen ist ein ganz einfacher. Er ist nicht der perfekte Mensch, sondern der perfekt verwertbare Mensch. Denn der bisherige traditionelle Mensch hat ja noch immer eine Reihe von Eigenschaften, die vom Standpunkt des Kapitals nur als Ballast der Evolution und Geschichte betrachtet werden können. Im übrigen hat schon Xenophon bei den alten Griechen die Tatsache beklagt, das Menschen ein paar Eigenschaften besitzen, die sie zum Sklaven untauglich machen. Allerdings hatten die alten Griechen noch nicht die passenden Veränderungstechniken in der Hand. Das auf dem Weg zum perfekt verwertbaren Menschen auch ein paar geheilte Leute herauskommen werden, daran muss man keine Zweifel haben. Das ist bereits jetzt der Fall. Die Geschichte mit der "Technikfeindlichkeit" moderner Linker ist übrigens schon wesentlich älter. Du musst nur einmal den brandaktuellen Essay von Georg Orwell "Gerechtigkeit und Freiheit" aus dem Jahre 1936 lesen. Wie wir heute leicht fest stellen können, haben ja gerade die "technikfeindlichen" Linken damals die zutreffendsten Zukunftsbilder entworfen.

(8.3.1.1) Re: Der wahre Kern, 18.06.2002, 15:26, Benni Bärmann: In dem Punkt kommen wir dann wohl auch nicht zusammen. Mit Orwell und seinem anthropologischen Arbeitsbegriff hab ich nix am Hut. Ich bin für die Abschaffung der Arbeit durch Technik (ohne zu vergessen, dass es nur mit Technik nicht funktioniert). Ich bezieh mich allerdings nur auf den Text "Kreativität und Lebensqualität" http://www.otopia.de/orwell/ und da auch nur auf den Anfang, den anderen text scheint es online nicht zu geben.

Im übrigen finde ich tatsächlich die Formulierung von "ein paar geheilten Leuten" - in der ja schon immer mitschwingt, dass diese Heilungen im Verhältnis zum Tabubruch unbedeutend sei, ziemlich zynisch und anmassend.

(8.3.1.1.1) Re: Der wahre Kern, 19.06.2002, 00:55, Birgit Niemann: Du solltest den Text zu Ende lesen. Es ist der, der unter der Hauptüberschrift Gerechtigkeit und Freiheit steht. Die Größe des Tabu-Bruches erweist sich am Ende und nicht am Anfang eines Prozesses. Ich mißgönne niemanden seine Heilung, in meiner Formulierung drückt sich nur aus, dass die zu Heilenden nicht Zweck des Ganzen sind, sondern Legitimationsobjekte für etwas anderes.

(8.3.1.2) Re: Der wahre Kern, 30.09.2002, 08:25, Martin Szaramowicz: Es wäre meiner Meinung nach hilfreich, einmal konkreter zu sagen, was mit den Veränderungstechniken denn deiner Meinung oder deinen Informationen nach konkret veränderbar sein wird. Du deutest an, dass demnächst Eigenschaften geändert werden können, die bisher den Menschen untauglich zum Sklaven machten. Demnach glaubst du doch, dass das gesamte menschliche Verhalten über gentechnische Veränderungen programmierbar ist. Das halte ich in der Tat für "biologistisch", auch wenn das Wort hier ein bißchen schlecht ist (weil ja auch lernen, soziale verhältnisse etc. biologische Kompenenten haben) und man vielleicht besser von "genistisch" oder so sprechen sollte. Es gab vor einiger Zeit den Film "Gattacca", der eine interessante These ausmalte: Wenn alle glauben, dass die Gene uns regieren, dann ist das fast so mächtig, als wenn die Gene das tatsächlich tun würden: Weil man dann für jede Tätigkeit, Mitgliedschaft etc. genetische Qualifikationen fordern wird - egal, ob diese erwiesenermaßen nötig sind oder nicht. Also (um auf den Weg der für übermächtig gehaltenen Gentechnik nicht zu kommen): Welche Krankheiten sind schon gentechnisch heilbar? Welche Eigenschaften sind wo im Genom festgelegt und zu verändern? Ich glaube, dass es weniger sind, als du hier ausmalst. Auf einem anderen Blatt steht, dass die Protagonisten der Gentechniken natürlich sehr interessier daran sind, dass wir ihnen alles zutrauen. Manchmal schon aus dem banalen Grund, dass irgendwann das Forschungsgeld ausgeht, wenn immer noch keine Therapie, geschweige denn der zweite Mozart, Einstein oder wer auch immer rausgekommen ist.

(8.3.1.2.1) Re: Der wahre Kern, 16.10.2002, 01:59, Birgit Niemann: Die Veränderungen, die ich um mich herum heranwachsen sehe, passieren auf verschiedenen Ebenen. Zum Einen sind es die Möglichkeiten zur pränatalen und präimplantiven Eugenik, die vor allem auf der genetischen Diagnostik beruhen. Die Einführung dieser Art der embryonalen Eugenik läuft zunächst über eine Art individuelles Recht auf ein gesundes Kind. Aber es sind jetzt schon Kinder geboren, die nicht nur gesund sein sollten, sondern als Embryonen entsprechend ihrem therapeutischen Zusatznutzen für ein krankes Geschwisterkind selektiert wurden. Auch geschlechtsspezifische Selektion (natürlich meist gegen Mädchen) gibt es in anderen Ländern bereits zu Hauf. Wie immer in solchen Fällen, zieht so etwas einen spezifischen "Selektions-Tourismus" nach sich. Diese Trend's werden sich indem Maße verstärken und ausdifferenzieren, wie Versicherungen und Krankenkassen genetische Routine-Tests fordern und fördern und auch der schrumpfende Arbeitsmarkt wird gesundheitliche Selektionskriterien setzen. Das läuft über die Einstellungsuntersuchungen ja bereits auch schon ohne genetische Tests. Die entscheidende Veränderung, die ich aber sehe, ist die Schaffung der wissenschaftlichen Vorraussetzung für die Ektogenese (extrakorporale Schwangerschaft). Das mag zunächst noch ein wenig utopisch klingen, aber die entscheidende Bedingung wurde mit der Freigabe des menschlichen Embryos für Forschung und Verwertung ja jetzt geschaffen. Und wenn die Wissenschaft den menschlichen Embryo erst einmal lebendig und entwicklungsfähig in die Finger kriegt, dann läuft das gesamte übliche Programm der Mutantenherstellung, dass mit ausnahmlos allen Zellen, die untersucht werden, durchgezogen wird. Die muss man dann natürlich auch ein wenig heranwachsen lassen, damit man herauskriegt, wofür die mutierten Gene denn eigentlich da sind. Anders kriegt man ja auch die Stoffwechselzusammenhänge in Differenzierungsprozessen nicht heraus. Wir werden sehen, was für Ergebnisse das zeitigt, zumal es um neue Einsteins oder sonstige Superintelligenzen ja als Letztes geht. Im pragmatischen Amerika hat man im Februar diesen Jahres auf einer philosophischen Konferenz in Oklahoma die juristischen, sozialen und sonstigen Auswirkungen der Ektogenese jedenfalls schon einmal vorsorglich vordiskutiert und in England werden gerade die Reproduktionskliniken zur Embryonenlieferung an eine aufzubauende Stammzellbank verpflichtet. Dabei wird ganz realistisch kalkuliert, dass für die Erzeugung von 4.000 Stammzelllinien so mal locker 40.000 bis 4 Millionen menschliche Embryonen verbraucht werden müssen. Da werden die Kliniken mit der Nachlieferung wohl kaum hinterher kommen. Ausserdem wird es unter diesen Bedingungen unumgänglich, dass die Embryonen nach ordentlichen GMP-Normen (good manufactoring praxis) hergestellt werden, und zwar alle. Auch solche, die nicht in der Verwertung verbraucht werden, sondern tatsächlich in Müttern zu Kindern heranwachsen dürfen. Das werden dann die ersten nach Industrienormen erzeugten Menschenkinder sein. Das ist doch ein vielversprechender Anfang und nicht erst in 100 Jahren, sondern schon übermorgen. Das Ganze wird auch in einen plausiblen ökonomischen und politischen Kontext gestellt. Nämlich in den Kontext der Bevölkerungspolitik, die dank Reproduktionsindustrie zur Bevölkerungsökonomie transformiert. Der britische Politiker Lord Sainsbury hat es bei der Gründungskonferenz der Stammzellbank ja ganz deutlich ausgesprochen: Es müssen Lücken gefüllt werden. Und zwar muss der immer rarer werdende Nachwuchs gesichert werden und die alternde Industriegesellschaft braucht Ersatzgewebe, damit sie nicht vorzeitig zusammenbricht. Und wenn schon der Nachwuchs mit Technik und GMP gesichert wird, kann man ihn auch gleich standardisieren. Welche Eigenschaften, ausser die etwas über tausend Erbkrankheiten dabei abrufbar werden, ist noch nicht absehbar. Das hängt natürlich vom Bedarf und vom sich täglich ändernden Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ab. Ich hätte da höchstens ein paar nette Ideen. Zum Beispiel wäre eine kleine Anpassung an den sitzenden und bewegungsarmen Lebensstil fällig, der doch so viele von uns so zivilisationskrank macht, oder die Ausschaltung des natürlichen Prionproteins als Schutz vor BSE, oder die Effektivierung und Substraterweiterung der körpereigenen Entgiftungsenzyme, denn irgendwie müssen wir ja mit den vielen Umweltgiften und Pharmaka auch einmal fertig werden. Eine kleine Erhöhung der endogenen Endorphinexpression zur Erzeugung glücklicher Funktionselemente wäre auch nicht so übel. Wie die vielen Süchte beweisen, kann man auch leicht davon abhängig werden. Auch mehren sich die wissenschaftlichen Studien, die besorgt die Gefährlichkeit der finsteren und undurchschaubaren mütterlichen Entfaltungsumgebung für den menschlichen Embryo thematisieren. Das genau wird die Argumente liefern, die die Akzeptanzherstellung der Ektogenese begleiten werden. Welche verantwortliche, zivilisationskranke diabetische Mutter wird denn die spätere Gesundheit ihres Kindes schon im Embryonalstadium beeinträchtigen wollen? Also alles zum Wohle des Embryos und seiner ihn gefährdenden Mutter. Natürlich kann man der Ansicht sein, dass das alles gar nicht stattfindet oder wenn es stattfindet, dass es keine Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben haben wird oder dass Gene nichts sind, als soziale Konstrukte, wie es der Kongress "Geist gegen Gene" im letzten Jahr so eindrucksvoll herausgearbeitet hat. Aber was, wenn es nicht stimmt? Was, wenn von den Genen, die da in atemberaubendem Tempo eines nach dem anderen kapitalisiert und digitalisiert werden, tatsächlich wesentliche Vorrausetzungen unserer menschlichen Natur abhängen, wie es ja der kaum wahrnehmbare genetische Unterschied zu unseren engsten Verwandten so nahe legt? Dann hat uns das Kapital eben ganz in der Hand, bevor wir es merken; zumindestens unsere Nachkommen, die wir dann nicht mehr selbst produzieren.

(8.3.2) Re: Alles andere ist Angstpolitik., 16.06.2002, 23:28, Birgit Niemann: Hier ist ein Prozess bereits reichlich fortgeschritten, vor dem man gar nicht genug Angst haben kann. Angst ist schließlich eine Erfindung lebendiger Wesen, die zu lebensrettendem Verhalten veranlasst. Wenn Dir diese Feststellung zu "biologielastig" ist, kann ich sie mit dem Hamburger Soziologen Stefan Breuer auch kultureller formulieren: "Wenn die Systemtheorie etwas von der kritischen Theorie lernen kann, so ist es die Einsicht, dass allein die Angstkommunikation dazu befähigt, die Katastrophe abzuwenden - denn nur wer sich die Katastrophe vorzustellen vermag, kann sich gegen sie wehren. Wer sich vor dem Blick der Medusa zu verstecken versucht, ist schon verloren. Nur wer ihr Bild im Spiegel einfängt und ihren Bewegungen folgt, hat ein Chance, ihr nicht zu erliegen."

(8.3.2.1) Re: Alles andere ist Angstpolitik., 18.06.2002, 15:33, Benni Bärmann: "Die Leidenschaft, die die Menschen am wenigsten die Gesetze übertreten lässt, ist die Furcht." (Hobbes) Gerade heute trifft das so sehr zu wie noch nie. Wir hüpfen von einem Angsthype zum nächsten (11.9., Drogen, Ausländer, ...). Sich da einzureihen bringt nichts ausser ein weiteres Spektakel an dessen Ende die Herrschaft noch fester im Sattel sitzt.

Wo in der kritischen Theorie gibt es denn diesen positiven Angstbegriff?

(8.3.2.1.1) Re: Alles andere ist Angstpolitik., 19.06.2002, 00:58, Birgit Niemann: Der Literaturtipp ist: Stefan Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens

(8.4) zum ganzen Text (4), 14.06.2002, 17:50, Benni Bärmann: 4. In der Diskussion werden oft einzelne Biotechniken vermischt, so dass am Schluss ein grosses böses Etwas übrigbleibt und man nicht wirklich Klarheit gewinnt. Das ist in diesem Text nicht so schlimm wie in den allermeisten anderen, dennoch: In der Überschrift ist von Embryos die Rede und im Text geht es dann teilweise um PID, teilweise um embryonale Stammzellen, teilweise um Genanalyse bei Erwachsenen. Die erste Bedingung um etwas in der Richtung in Gang zu setzen, wie ich es in den ersten drei Punkten skizziert habe, wäre es also hier deutlicher und stärker zu differenzieren. Noch einmal die Parallele zur Informationstechnik: Internet, Freie Software, M$-Monopol und Überwachungsstaat sind eben nicht alle das Selbe.

(8.4.1) Re: Embryos, PID und das Genom von Erwachsenen, 16.06.2002, 23:16, Birgit Niemann: Ist denn die schulische Ausbildung heutzutage tatsächlich schon dermaßen schlecht geworden, dass man Biologe sein muss, um den Zusammenhang zwischen Embryonen, embryonalen Zellen, der Prä-Implantations-Diagnostik und den Gesundheitskosten für Erwachsene zu begreifen? Es geht in allen Fällen gleichermaßen um das menschliche Genom in seiner sich entfaltenden Gestalt. Denn dieses ist in allen Beteiligten (Embryonen, embryonalen Zellen und Erwachsenen) das Gleiche. Die PID ist nichts weiter als eine Möglichkeit, die "Qualität" dieses Genoms schon frühzeitig im embryonalen Stadium festzustellen. Auf dieser Basis werden auf allen Ebenen (von individuellen bis kapitalen) dann reale Entscheidungen getroffen.

(8.4.1.1) Re: Embryos, PID und das Genom von Erwachsenen, 18.06.2002, 15:34, Benni Bärmann: Hab ich irgendwo angezweifelt, dass es Zusammenhänge gibt? Nur sollte man die dann vielleicht auch darstellen und nicht einfach alles in einen Topf werfen.

(8.4.1.2) Re: Embryos, PID und das Genom von Erwachsenen, 30.09.2002, 15:42, Martin Szaramowicz: Die PID ist bis jetzt eine Möglichkeit, bestimmte Krankheiten oder Behinderungen fühzeitig festzustellen (z.B. Trisomien). Die "Qualität" des Genoms (was immer das sein mag) besteht sicherlich aus mehr. Inwieweit sich z.B. marktgängige Qualitäten von Menschen aus der "Qualität" des Genoms herauslesen lassen, ist völlig ungeklärt.

(8.4.1.2.1) Re: Embryos, PID und das Genom von Erwachsenen, 17.10.2002, 21:13, Birgit Niemann: "Die PID ist bis jetzt eine Möglichkeit, bestimmte Krankheiten oder Behinderungen frühzeitig festzustellen (z.B. Trisomien)." Dies genau ist nur ein Teil der Wirklichkeit und enthält noch dazu bereits eine selektive Wertung. Auf der Ebene der DNA-Sequenz gibt es keine Krankheit. Dort gibt es nichts als Sequenzvariationen. Welche Sequenzvarianten nach Umsetzung in Phänotypen mit der Bewertung "Krankheit" oder "Nachteil" assoziiert werden, hängt eben genau vom "Bewerter" der Sequenzen ab. Die Methode PID steht dieser Frage völlig gleichgültig gegenüber. Eben deshalb ist die PID eben nicht in erster Linie eine Methode zur Feststellung von Krankheiten, sondern zum Aufspüren bekannter DNA-Sequenzen, unabhängig von deren Korrelation oder kausalen Zusammenhängen mit phänotypischen Merkmalen. Es stellt sich daher die Frage: Wer oder Was "bewertet" die Sequenzvarianten? Die Antwort auf diese Frage ist sehr vielschichtig. Da wäre zum einen die Zelle selbst, die die Sequenzen abliest und in Proteine umsetzt, von deren Funktion ihre eigene Existenz abhängt. Das gleiche gilt für den gesamten Organismus in allen seinen Lebensphasen, dessen Überleben oder Lebensqualität in einer konkreten Welt ja ebenfalls von bestimmten DNA-Sequenzen abhängt. Handelt es sich bei dem Organismus um einen Menschen, gehören zu dieser Welt vor allem die Eltern, von deren bewußter Bewertung es abhängt, ob der mit PID untersuchte Embryo überhaupt die Chance kriegt, ein Kind zu werden. Diese wiederum benötigen das medizinisch-technische Umfeld, um selbst die Chance zu kriegen, etwas zu bewerten. Ausserdem kriegen sie auch alle Informationen, die sie in die Lage versetzen sollen, eine Entscheidung über das Ergebnis der PID zu treffen, von Anderen, deren Interessen sie nur mangelhaft kennen. Desweiteren hängen die Werturteile der Eltern nun zweifellos von ihrer eigenen sozial-ökonomischen Lage, ihren individuellen Präferenzen und ihrer ethischen Sozialisation ab. Gerade z.B. bei den Trisomien (für deren Feststellung die PID ja nun wirklich am wenigsten gebraucht wird, weil sie meist bereits durch Chromosomenzählung sichtbar sind), von denen einige wenige ja nicht lethal sind, wird das deutlich. Und die sozial-ökonomischen Zwänge auf die Eltern werden vor allem von den heute alles dominierenden Marktbeziehungen gestaltet. Das ist das Spannungsfeld in dem sich die Sache abspielt und aus dem sich im konkreten Fall die "Qualitätskriterien" ergeben werden. Und wenn erst die elterliche Entscheidung noch weg fällt, weil der menschliche Embryo gar nicht mehr in einer potentiellen Mutter, sondern in einem Verwertungsprozess landet, dann wird überhaupt nicht mehr überschaubar, was da warum selektiert und über uns kommen wird.

(8.5) 23.10.2003, 14:24, Ano Nym: Ford, oh Ford! Ich glaube du hast Huxley nicht zu ende gelesen. Bei ihm ging es nämlich um die absolute Revolution, die den Menschen amorph den Vorgaben einer bestimmten Ideologie anpaßt und ihm dadurch auch noch das absolute Recht auf Glück bescherrt. Das kann auch nach links stricken.

(8.5.1) Ich glaube du hast Huxley nicht zu ende gelesen, 05.11.2003, 09:46, Birgit Niemann: Auch hier kommt mir die Tatsache entgegen, dass Huxleys alte Utopie von spezifischen Leuten nur im Rahmen ihrer jeweilig erworbenen Denkmuster erfasst werden kann. Die "amorphe Anpassung des Menschen an die Vorgaben einer bestimmten Ideologie" ist ebenso eine Reminiszens an den Zeitgeist eines Hitlers und Stalin, wie die beschriebenen Bio-Techniken der exogenen Embryogenese unter gezielter Sauerstoff-Limitierung eine Reminiszens an die zeitgeistige Aufklärung des Tricarbonsäurezyklus und der Atmung durch Otto Warburg u.a. sind. Weder wegen des Einen noch wegen des Anderen lohnt es sich, Huxley hinter dem Ofen wieder vorzuholen. Die wirkliche Modernität dieser kleinen Utopie liegt nicht im ideologischen Selektionsdruck, der die gezielte Konstruktion bestimmt, sondern in dem hypermodernen Konzept einer großtechnisch und industriell realisierten Bevölkerungsökonomie. Darin ist Huxley Visionär während er im Sozial-Ideologischen lediglich dem Zeitgeist verhaftet bleibt und hinter Marx, dessen Kapital zu Hyxleys Zeiten längst erschienen war, zurückbleibt. Und wer meint, dass sich diese Sicht allein auf die obskuren Meldungen der Raelisten-Sekte und eines Antinori beziehen, dem sei in Anlehnung an Brecht geantwortet: Was sind die Übergriffe auf einzelne Eizellen durch Brigitte Bosselier gegen die Gründung der MRC-Stammzellbank.


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