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Ethik in der Postmoderne

Maintainer: Peter Steinhagen, Version 1, 25.08.2001
Projekt-Typ:
Status: Archiv

Ethik

(1) Ethik in der modernen Gesellschaft Einleitung.............................................................................................1 1. Kennzeichen der Moderne.........................................................5 2. Individualisierung......................................................................13 3. Anomie.........................................................................................21 4. Moderne Kommunikation........................................................38 5. Kontingenz und Ironie..........................................................48 6. Solidarität.................................................................... 7. Post-moderne Ethik...........................................................8. Fazit............................................................................................... Einleitung Diese Arbeit wird sich nicht so sehr mit der Frage beschäftigen, ob angesichts eines allgemeinen gesellschaftlichen Normenverfalls auch Ethik und Moral verfallen, weil sich dies Frage für mich nach einigen Überlegungen nicht mehr stellte. Es gerieten vielmehr die Zwänge unserer Gesellschaft in den Blick und damit die Frage, ob die heutigen gesellschaftlichen Entwicklungen überhaupt genug Freiraum für eine fundierte ethische Entwicklung lassen. Damit möchte ich auch meine drei Thesen vorstellen. 1. These Ethisches Handeln bedarf in der Erziehungszeit einer Balance zwischen intakten äußeren Normen einerseits und innerem Freiraum andererseits. Ethisches Verhalten muß erlernt werden, bedarf dann aber der Freiheit der eigenen Entscheidung. Beides ist heute gefährdet. 2. These An die Stelle alter Normen sind heute vielfältige Zwänge getreten, vor allem jene, sich selbst auf dem freien Markt anbieten und einen großen Teil der Lebens- und Meinungsäußerungen nach dem Marktwert ausrichten zu müssen, um selbst gut dazustehen. Der zweite große Zwang besteht an der Teilhabe am Markt als Konsument, also am Zwang zur Auswahl unter vielen Produkten und an der Kenntnis der derzeitigen Angebote. Diese Zwänge führen zur Aushöhlung der wirklichen Vielfalt und zu einer neuen Vereinheitlichung unter dem schillernden Deckmantel des Marktes. 3. These Ethisches Handeln kommt heutzutage dort zum Zuge, wo tatsächlich größere innere Freiräume entstanden sind, bzw. erkämpft wurden. Bereits Beck beschrieb die hier zu untersuchende Fragestellung präzise. Er wies auf eine Standartisierung ausdifferenzierter moderner Lebensläufe „bis in alle Fasern der Existenz(sicherung) hinein (Beck, 1986)“ hin und zwar durch die immer größere Marktabhängigkeit der Individuallagen. Genau dieser Frage möchte ich hier nachgehen, nicht ohne auch die psychologische Dimension dieser Zwänge etwas zu beleuchten. Ethik Zuerst möchte ich erklären, was ich unter Ethik und unter ethischem Verhalten verstehe: Alles, was der Entfaltung des Lebens dient. Ich gehe also davon aus, daß menschliches Leben gelingen und auch scheitern kann, und zu seinem Gelingen bestimmte Voraussetzungen notwendig sind. Die eine Voraussetzung ist, daß das Individuum, besonders solange es klein und hilflos ist, nicht physisch und psychisch verletzt wird. Die andere Voraussetzung ist die, daß das Individuum daran gehindert wird, andere zu verletzen, soweit dies in der Macht der Erzieher steht. Wenn es jedoch zu Verletzungen anderer kommt, soll das Individuum die Fähigkeit entwickeln Mitleid und Reue zu empfinden. Ich halte also nicht nur den Schutz des Individuums für die Voraussetzung für seine Entfaltung, sondern auch seine Entwicklung von Altruismus und Mitgefühl. Andererseits unterstelle ich bei jenen Individuen, die über kein oder nur ein verkümmertes Mitgefühl verfügen, Isolation und psychische Schäden. Darunter verstehe ich die Abspaltung eigener Gefühle des Schmerzes, der Angst und Verletzlichkeit und der Sehnsucht nach Annahme. In einer seelsorgerischen Ausbildung gewann ich die Erkenntnis, daß die Fähigkeit zur Empathie anderen gegenüber an eine authentische Selbstwahrnehmung gebunden ist. Dort wo der Seelsorger ein Trauma abgespalten hat, versagt er bei anderen. Wenn jemand z.B. Mißbrauchserfahrungen gemacht, diese aber verdrängt hat, wird er als Seelsorger bei diesem Thema versagen. Hat er sie jedoch in seine Persönlichkeit integriert, wird er in diesem Bereich seine besonderen Stärken besitzen. Die Fähigkeit Mitgefühl zu empfinden, hat also eine gewisse psychische Integrationsbereitschaft zur Voraussetzung. Ethisches Handeln wiederum ist meiner Ansicht nach ohne Mitgefühl kaum denkbar. Damit ist Ethik, wie ich sie verstehe, an Ganzheit gebunden. Damit komme ich zu meiner ersten These. Die erste These beinhaltet die Annahme, daß für die Entwicklung von Ethik bei Kindern von den Erziehern aufgestellte Grenzen notwendig sind, daß Kinder also nicht von Natur aus wissen, was gut und richtig ist. Kinder brauchen, wie bereits dargelegt, die Anleitung dritter, um überhaupt erkennen zu können, wann sie jemandem schaden und daß dies nicht gut ist, weil auch sie selbst dies nicht mögen würden. Normen sind für die Begrenzung ihres Egoismus die Voraussetzung. Sie müssen erkennen, daß sie in eine vorgegebene soziale Welt hinein wachsen, deren Gesetze sie nur in geringen Umfang ändern können. Dieses geordnete Miteinander ist also nach These 1 eine Voraussetzung für Ethik. Die andere Voraussetzung ist innerer Freiraum. Erziehung würde zur Dressur, ließe sie dem Kind nicht die Freiheit, es selbst zu sein. Seine Würde und sein Stolz dürfen nicht zerstört werden. Obwohl der Stolz des Kindes scheinbar rein egoistischen Impulsen folgt, ist er eine Voraussetzung für die Fähigkeit zum ethischen Handeln. Eine auf Demütigung aufgebaute Erziehung würde zur solchen Schäden führen, daß eine zerrissene Persönlichkeit dabei heraus käme, die eigene und fremden Schmerzen gegenüber unempfindlich geworden ist. Darum ist in These 1 von Balance die Rede. Ethisches Empfinden und Verhalten müssen also erlernt werden, wie Sprechen und Lesen. Ethik braucht Freiheit, nämlich die Freiheit „nein“ zu den Ansprüchen des anderen sagen zu können. Ethisches Verhalten unter Kontrolle ist kein ethisches Verhalten. Sind ethisches Empfinden und Verhalten aber erst einmal gelernt, und d. h., ist der andere als verletzliches Wesen in den Blick des Individuums getreten, tragen sie sich selbst, wird das Individuum seine egoistischen und altruistischen Impulse selbständig abwägen können. Die zweite These unterstellt, daß die Freiheiten der Moderne zum großen Teil eine Fiktion sein könnten. An dieser Stelle möchte ich nun erläutern, was ich unter Freiheit verstehe. Freiheit Es gibt zwei Arten von Zwängen, äußere und innere. Ein Mann in Gefangenschaft leidet unter äußeren Zwängen, die ihn daran hindern, dahin zu gehen, wo er hingehen möchte. Innere Zwänge hindern einen Menschen in äußerer Freiheit daran, bestimmte Dinge zu tun oder zu lassen, die er eigentlich gerne tun möchte. Es können Forderungen der Gesellschaft an sein Verhalten sein, auch die Konstruktionen, die er sich von der Wirklichkeit gemacht hat, unbewußte und bewußte Ängste und ähnliches mehr. Innere Zwänge bestehen aus der Verarbeitung der eigenen Sozialisation und weiteren biographischen Entwicklungen des Individuums. Diese Zwänge hindern es in Situationen, völlig frei in seinen Reaktionen und seinem Handeln zu sein. Sie engen seinen Handlungsspielraum ein. Die inneren Zwänge können als Gefühle, als Gedanken, als Körperwahrnehmungen und auch als Krankheiten auftreten. Unter Freiheit verstehe ich ein weitgehendes Freisein von inneren und äußeren Zwängen. (Das ist natürlich idealtypisch definiert, völlige Freiheit halte ich zwar für wünschenswert, aber zur Zeit für kaum realisierbar.) Da ich das Freisein von Zwängen mit psychischer Ganzheit gleichsetze, widerspreche ich der soziologischen These, daß das Funktionieren einer freien Gesellschaft an in der Sozialisation erworbene innere Zwänge ihrer Mitglieder gebunden sei, weil nach meinem Menschenbild nicht Zwang, sondern Freiheit die Voraussetzung für Ethik ist. Das soziologische Rollenmodell behält dennoch seine (traurige) Gültigkeit, solange die Individuen unserer Gesellschaft gezwungen sind, ihr Leben lang unterdrückten Schmerz mit sich herumzutragen, sich aber durch Rollenidentifikation zu einem gesitteten Verhalten gezwungen sehen, weil diese unkontrollierte Ausbrüche von Haß und Gewalt meist verhindern. Negative Gefühle wären aber kein so großes Problem in unserer Gesellschaft, würde ihr Ausdruck nicht schon Kindern aberzogen und damit einer lebenslangen Verdrängung Vorschub geleistet. Mit der zweiten These möchte ich die Vermutung aussprechen, daß moderne Individuen unter großen inneren Zwängen leiden, weil sie viele der vor allem von den Medien propagierten Normen der Ästhetik internalisiert haben. Wie ein Mensch sich kleidet, aussieht, wie oft er reist, wie er kommuniziert, als das ist zwar so individualisiert wie noch nie, ist aber auch wie noch nie eine Appell an andere; eine inszenierte Selbstdarstellung, die auf Anerkennung, auf Präsentation auf dem Markt der Persönlichkeiten, zielt. Wenn all dies aber geschieht, um dem Trend der Moderne zu folgen, geschieht es nicht aus Freiheit, sondern aus Zwang. Die heute gebräuchlichen Szene-Begriffe, „in“, „out“ und vor allem „mega-out“, zeigen einen aggressiven Normendruck der sich an alle richtet, die irgendwie dazugehören möchten. Als die bindenden Kräfte dieser Normen sehe ich, Beck folgend, die Kräfte des Marktes und des Geldes an. Nahezu alles, was sich unter den Stichworten Individualisierung und gesellschaftlicher Vielfalt fassen läßt, spielt sich unter der Sogwirkung des Marktes und des „In“-Seins ab, so die hier vertretene Behauptung. Weltanschauungen und Lebenskonzepte können leichter, als jemals zuvor über Bord geworfen werden, wenn sie nicht mehr dem Trend entsprechen und verlieren somit auch an gesellschaftlicher Aussagekraft. Auch sie sind Teil der „Masken des Marktes.“ Während einerseits der Markt alle gesellschaftlichen Gruppen in ihrer schillernden Vielfalt eng an sich gebunden hat, zerschlug er die althergebrachten gesellschaftlichen Gruppierungen, wie lokale Gemeinschaften, Großfamilien usw. Das Stichwort Individualisierung besitzt hier, in der Bedeutung von Atomisierung der Gesellschaft seine relevantere Bedeutung. Die dritte These ergibt sich aus dem bereits Gesagten. Wenn viele Menschen heute unter inneren Zwängen leiden, dann sind sie nur bedingt in der Lage, ethisch zu empfinden und zu handeln. Es bleibt die Frage, ob die Befreiung von äußeren Zwängen in der Post-Moderne auch zu einer Befreiung von inneren Zwängen führt. 1.Kennzeichen der Moderne Die Modernisierung ist ein sehr vielschichtiger und widersprüchlicher Prozeß, der geschichtlich einzigartig ist. Die Persönlichkeit des Menschen ist Teil dieser Veränderungen. Der aufblühende Handel im Westeuropa ab dem 11. Jahrhundert und die dadurch bewirkte Verstädterung , die wiederum ein unabhängiges Bürgertum hervorbrachte, waren Vorbedingung der späteren Modernisierung. Die Städte entwickelten Unabhängigkeit gegenüber den Lokalfürsten und waren so in der Lage eigene Gesetze zu erlassen „nach denen sich das wirtschaftliche, politische und soziale Leben auszurichten hatte“ (Van der Loo/ Von Reijen, 1992). Mit steigendem Handel erlangte das Geld einen hohen Stellenwert als Maßeinheit für Arbeit, Güter und Werte aller Art und vor allem das Bürgertum war im Besitz des Geldes. Die Erfindung der Buchdruckerkunst machte die schnelle Verbreitung neuer Ideen in Europa möglich. Letztlich setzte sich das Bürgertum sowohl gegen die Lokalfürsten, wie auch gegen die Monarchen durch, in Frankreich eher, in Deutschland später. Es setzte wirtschaftliche, kulturelle, wie auch politische Freiheiten durch. Auf kulturellem Gebiet führte die Herausbildung der Renaissance im Abendland zu einer „Dynamik, die für den Aufschwung der Modernisierung unentbehrlich war“ (Van der Loo/ Von Reijen, 1992). Die Schriften der klassischen Antike wurden nicht mehr nur durch die Brille der christlich-theologischen Scholastik gesehen, für die alle Wahrheit bereits im neuen Testament festgeschrieben war, sondern neu interpretiert. Es wurde nicht mehr nur über das Wesen der Dinge nachgedacht und das Verhältnis Gottes zu Mensch und Welt; nun rückte stattdessen der Mensch und die meßbare Welt in den Mittelpunkt des Interesses. Durch die Postulierung eines heliozentrischen Weltbildes durch Kopernikus und dessen wissenschaftliche Durchsetzung zerbrach das für den Wahrheitsanspruch und das Selbstverständnis der Kirche wichtige geozentrische Weltbild mit seiner Gleichsetzung von religiöser und ständisch-gesellschaftlicher Ordnung. „Das Weltall konnte als eine Maschine aufgefaßt werden, deren Funktionsweise dem menschlichen Verstand zugänglich ist“ (Van der Loo/ Von Reijen, 1992). Die Wissenschaft wurde nun gebraucht, um genauere Verfahren z.B. zum Rechnen und zum Messen zu entwickeln und so befruchteten sich die entstehende Marktwirtschaft und die moderne Wissenschaft gegenseitig: Die Wirtschaft lieferte die Mittel und die Nachfrage, die Wissenschaft machte viele Wünsche erst umsetzbar, was z.B. Transportmittel, Konsumartikel und auch Kriegsgeräte anbelangte. Ein weiterer Grund für den Anstieg der Macht des Geldes war neben dem seines erhöhten Umlaufs also auch die Möglichkeit, mit seiner Hilfe in den Besitz neuerer und aufwendigerer Techniken zu gelangen. In der Renaissancezeit „rückte der Mensch selbst immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses“ (Van der Loo/ Von Reijen, 1992). Das Individuum erhielt Gelegenheit sich zu entdecken und zu entwickeln. Nun empfanden sich Menschen nicht mehr nur als Opfer göttlichen Willens oder natürlicher Ereignisse, sondern selbst als Gestalter ihres Lebens und der Umwelt. Auch die Gesellschaft und der Staat wurden mit einemmal als veränderbar angesehen. Die Reformation nahm der Renaissance ihren Optimismus, was die Möglichkeiten des Menschen anbelangte und führte einen neuen Ernst ein. Dies gilt auch für weiterhin katholische Gebiete, in denen die Kirche im Zuge der Gegenreformation wieder stärker Tugenden wie Rechtgläubigkeit und Askese einforderte. Zwar trat z.B. innerhalb der lutherischen Reformation erstmalig der Mensch allein vor Gott und festigte so den Prozeß einer Etablierung des Individuums gegenüber Gesellschaft und Kirche. Andererseits stand dieses Individuum aber weitaus schlechter da als der Renaissancemensch: Der Protestant war ein Sünder und konnte seinem schuldbeladenen Dasein nicht einmal wie ein Katholik durch fromme Werke, Opfer und Beichte entkommen, sondern nur durch den Glauben. Seine Möglichkeiten zur Selbstvervollkommnung waren somit, wenn er den Schriften Luthers und Calvins folgte, auf Null reduziert. Alles Gute kam fortan von Gott. Max Weber stellte dar, wie innerhalb der calvinistischen Reformation sich eine Art Volksreligiösität herausbildete, die versuchte, dem rigorosen Pessimismus Calvins zu entkommen, indem sie ein Leben von innerweltlicher Askese herausbildete. Dieses sparsame und fleißige Leben vieler Unternehmer habe die Entwicklung des Kapitalismus durch die Anhäufung freien Kapitals unterstützt und beschleunigt. Das Rechtssystem wurde den religiösen Autoritäten der Kirche entwunden und den Erfordernissen der kapitalistischen Marktwirtschaft angepaßt. „Das Recht entwickelte sich zu einem geschlossenen Komplex logisch zusammenhängender, konsistenter, allgemeiner Regeln, die auf konkrete Fälle angewandt werden mußten [...]“, wovon die Folge war, „daß die Rechtsregeln zunehmend einer internen Logik des Rechts entsprachen und an eine Gesetzesauslegung auf Grund juristischer Doktrinen auch ein gediegenes System von Begriffen und Rechtfertigungen angeschlossen wurden.“ (Van der Loo/ Von Reijen, 1992) Das ethisch richtige Verhalten wurde also durch ein relativ unabhängiges, auf festgeschriebenen internen Regeln basierendes, Rechtssystem vorgeschrieben. Mit der Aufklärungszeit kam auch der Fortschrittsglaube auf. Dieser ist ein wichtiger Bestandteil der Moderne geblieben, auch wenn er manchmal nur auf Teilbereiche der Gesellschaft angewandt wird oder gar in sein Gegenteil umschlägt und Fortschritt mit fortschreitendem Verfall von Gesellschaft und natürlicher Umwelt gleichsetzt. Die Vertreter der Aufklärung gründeten alle folgenden Entwicklungen auf die menschliche Vernunft, also die Ratio, an die sie noch uneingeschränkt glaubten. Auch wenn dieser Glaube oft erschüttert wurde, so bleibt er bis heute, auch angesichts des Mißbrauchs von Gefühl und primitiveren Empfindungen während der Zeit des Faschismus als Garant einer demokratischen Gesellschaft und auch der Notwendigkeit einer weiteren technischen Innovation wegen bestehen. Der Mensch brach spätestens während der Aufklärungszeit aus einer vorgegebenen religiösen Ordnung aus, die auf das Universum projiziert worden war, und noch ein gewisses Gleichgewicht des Gebens und Nehmens vorschrieb. Seitdem bestimmten die technischen Möglichkeiten des Menschen allein darüber, was er der Erde abringen konnte. Die Idee der Selbstbeschränkung trat erst wieder im späten 20. Jahrhundert auf. Die von den Aufklärern geforderte Selbstvervollkommnung des Menschen hatte auch etwas mit der Entwicklung von Anstand und Selbstbeherrschung im bürgerlichen Sinne zu tun. Bürgerliche Normen an das Verhalten des Einzelnen gewannen immer mehr Allgemeingültigkeit, Fremdzwang wurde zum Selbstzwang. Der Prozeß der Modernisierung deutet hier bereits in eine Richtung, auf deren Fortsetzung auch These 2 Bezug nimmt: „So sehen wir, daß die Menschen im Lauf des Zivilisationsprozesses ihre Emotionen und Gefühle immer besser zu bezwingen lernten, und zwar, weil sie mehr Rücksicht aufeinander nehmen mußten, je abhängiger sie voneinander wurden und je mehr sich die Machtunterschiede zwischen ihnen verringerten“(Van der Loo/ Von Reijen, 1992). Die langsame Entwicklung, fort von mittelalterlicher Gebundenheit, hin zu einer von bürgerlichen städtischen Eliten kontrollierten Geld- und Marktwirtschaft, erhielt einen entscheidenden Schub durch die Erfindung von Dampfmaschinen und später auch Ölverbrennungsmotoren. Es konnten zum ersten Mal regelrechte Fabriken entstehen die zu einer immensen Produktionssteigerung fähig waren. Die Lebensbedingungen der Arbeiter verschlechterten sich für viele Jahrzehnte gegenüber dem Niveau vor der Einführung von Fabrikarbeit. Es wurde auf sie ein weitaus höherer Anpassungsdruck ausgeübt, was die regelmäßigen Zeiten des Schichtbeginns, aber auch die Kontinuität und die Schwere der Arbeit anbelangt. Dieser Aspekt wird für die Frage nach Individualisierung und Ethik von großer Bedeutung bleiben. Der sogenannte „Disziplinierungsdiskurs“, (die Inanspruchnahme des Individuums durch den modernen Staat und seiner Wirtschaft) hat in meinen Thesen größeres Gewicht als der „Befreiungsdiskurs“ (die Befreiung des Individuums aus den Zwängen der feudalen und vormodernen Ordnungen), da ich Unfreiheit auch an inneren Zwängen und nicht nur an äußeren festmache. Worin zeichnet sich die Moderne oder auch die Post-Moderne, eben die Gesellschaft, in der wir zur Zeit leben, nun aus? Nach Van der Loo/van Reijen lassen sich die gesellschaftliche Wirklichkeit und das menschliche Handeln von vier Seiten aus betrachten: Von der Struktur, der Kultur, der Person und der Natur aus. Diese vier Perspektiven treffen sich in ihrer Mitte im sogenannten Handlungsfeld, das die eigentliche gesellschaftliche Wirklichkeit abbilden soll. Die strukturelle Perspektive befaßt sich mit den Rollen, die die Individuen einnehmen und innerhalb derer sie miteinander interagieren. Die kulturelle Sicht beschäftigt sich mit „Auffassungen, Ideen, Symbolen, Werten, Normen und Bedeutungen, die unserem Handeln Richtung geben und ihm Sinn. Der Blickwinkel der Person beinhaltet psychologische und ethische Fragen. Mit diesen wird sich diese Arbeit auch weitgehend befassen. Die Perspektive der Natur richtet den Blick auf die Abhängigkeiten der Gesellschaft und des Menschen von natürlichen Gegebenheiten. Bezogen auf diese vier Perspektiven lassen sich verallgemeinernd vier Eigenschaften moderner Gesellschaften feststellen: So wird die Struktur zur Differenzierung, die Kultur zur Rationalisierung, die Person zur Individualisierung, die Natur zur Domestizierung geführt bzw. gezwungen. „Differenzierung bezieht sich auf die Spaltung eines ursprünglichen homogenen Ganzen in Teile mit eigenem Charakter und eigener Zusammensetzung. [...] Die neuen differenzierten Einheiten spezialisierten sich immer weiter in der Erfüllung bestimmter Funktionen“ (Van der Loo/ Von Reijen, 1992). „Rationalisierung bedeutet, (...) daß unser Denken und Handeln immer mehr der Berechnung, Begründbarkeit und Beherrschung unterliegt.“ (Van der Loo/ Von Reijen, 1992). Mythologisches Denken, traditionelle Tabus und ähnliche Beschränkungen werden ausgeschaltet und durch vernünftiges und das heißt kausal nachvollziehbares Denken ersetzt. „Individualisierung verweist auf die wachsende Bedeutung des Individuums, das sich aus der Kollektivität seiner unmittelbaren Umgebung herauslöst.“ (Van der Loo/ Von Reijen, 1992). Übergeordnete Wertekataloge haben ihre alles bestimmende Bedeutung verloren, der Einzelne kann sich seine Werte selbst zusammenstellen, wenn einmal unbewußte Prägungen durch die Erziehung außer Acht läßt. Das Individuum lebt in verschiedenen sozialen Systemen, in denen es unterschiedliche Rollen spielt und die ebenfalls nur noch für sich selbst, nicht aber für das ganze Leben des Individuums Werte und Normen einfordern können. „Domestizierung schließlich bezieht sich auf das Maß, in dem Individuen sich ihren biologischen und natürlichen Begrenzungen entziehen konnten.“ (Van der Loo/ Von Reijen, 1992). Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung und Domestizierung bilden nach van der Loo und van Reijen des weiteren Paradoxien heraus, wobei es sich bei den scheinbar entgegengesetzten Prozessen nur „um zwei Seiten derselben Modernisierungsmedaille“ handelt. (Van der Loo/ Von Reijen, 1992). Beim Differzenzierungsparadox handelt es sich die gegenläufigen Tendenzen von Maßstabsverkleinerung bei sozialen Strukturen und gleichzeitiger Maßstabsvergrößerung. Die Zerschlagung althergebrachter sozialer Einheiten in kleinere selbständige funktionale Einheiten ist mit Maßstabverkleinerung gemeint, mit Maßstabsvergrößerung die immer notwendigere Zusammenarbeit vieler funktionaler Einheiten innerhalb immer größerer Systeme. Mit dem Rationalisierungsparadox ist hier der Widerspruch zwischen Pluralisierung und Generalisierung gemeint. Pluralisierung bedeutet die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Normen und Symbole in viele Teileinheiten, die ihre eigenen Werte, Normen und Symbole schaffen und befolgen. Gleichzeitig tritt in der modernen Gesellschaft der Effekt der Generalisierung ein, mit dem die Vermischung und Relativierung ursprünglich vieler Kulturen zu einer allgemeineren Überkultur gemeint ist, die nicht mehr so aussagekräftig wie die ursprünglichen Teilkulturen ist, aber in ihrer allgemeinen Abstraktheit globale Gültigkeit beansprucht. Individualisierungsparadox Das moderne Individuum besitzt einen großen Handlungsspielraum, den es mit Hilfe selbstausgewählter Netzwerke, Werte und Handlungsstrategien ausfüllen kann. „Diese Situation vermittelt dem modernen Menschen oft Gefühle von Freiheit, vor allem wenn er seine sozialen Beziehungen so gestaltet hat, daß er von nichts und niemandem besonders abhängig ist. Er erlebt sich als Herr und Meister seines eigenen Schicksals.“ (Van der Loo/ Von Reijen, 1992). Gleichzeitig wird es in der modernen Gesellschaft schwieriger, die eigene Identität zu bewahren und angesichts der Abhängigkeit des alltäglichen Lebens von industrieller und staatlicher Organisationen tatsächlich ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen. „Freiheitsgefühle stehen damit Ohnmachtsgefühlen gegenüber. (Van der Loo/ Von Reijen, 1992)“. Dadurch, daß der Staat viele der Dienst- und Fürsorgeleistungen übernahm, die vor die Nachbarschaften und Familien leisteten, wuchs auch die Abhängigkeit von ihm. Domestizierungsparadox meint, daß domestizierte Individuen unabhängiger von den Begrenzungen werden, die ihnen ihre körperlichen Möglichkeiten und die natürliche Umwelt auferlegte, dafür aber auch abhängiger von den technischen oder kulturellen Mitteln, die ihnen diese Unabhängigkeit verschafften. Es wird deutlich, daß die Modernisierung sehr viele widersprüchliche und gegenläufige Entwicklungen hervorgebracht hat. Für meine Thesen bedeutet dies, daß sie nur einen Aspekt, einen kausalen Zusammenhang unter mehreren beleuchten können. Der Befreiungsimpuls, der oben beschrieben wird, steht der zunehmenden Abhängigkeit des Individuums von Gesellschaft und Organisationen entgegen. Meine Thesen beziehen sich jedoch auf die Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung und den Verheißungen des Marktes, auf die Abhängigkeit davon, „in“ zu sein. Die Thesen zweifeln also die Befreiung als solche an. Wenn der neue Freiraum an Handlungsmöglichkeiten in der Moderne nur dazu genutzt wird, Dinge zu tun, die „in“ sind, ist dieser Freiraum verspielt. Ich vermute sogar, daß es einen wirklichen Freiraum gar nicht gegeben hat. Sobald Tabus fielen, wie z.B. Ende der sechziger Jahre in der Bundesrepublik, wurden sie gleich mit (meist entgegengesetzten) gesellschaftlichen Aufforderungen aufgefüllt. So führte die „sexuelle Befreiung“ zu keiner Entspannung, keiner neuen Gelassenheit, sondern einer Erweiterung des Leistungsdenkens in den sexuellen Bereich hinein. Zwischen dem früheren „Du darfst nicht“ und dem neuen „Du sollst“ bestand keine Lücke der Selbstfindung. Eine Gesellschaft, die auf Leistungsdenken aufbaut, kann viele Veränderungen an äußeren Normen durchmachen, ohne daß sich diese ihr zugrunde liegende Basis ändern muß. Dafür spricht der Normendruck, dem sich Jugendliche selbst in sexuellen Fragen, in Fragen der Attraktivität und der Kleidung aussetzen. Es ist ja gar nicht im Sinne der Eltern, daß ihre Kinder dieselbe teure Kleidung erwerben müssen, wie deren Klassenkameraden. Meine Thesen unterstellen, daß der Druck, dem Schüler untereinander ausgesetzt sind, das ganze Leben anhält. Es gehört heute viel Mut dazu sich wirklich unkonform zu verhalten. Unter diesen Gruppen-Zwängen sehe ich eine der direkten Abhängigkeit von industrieller und staatlicher Organisation vergleichbaren Begrenzung persönlicher Freiheiten. Ich habe jedoch den Eindruck, daß ein Großteil dieser inneren Zwänge von der Industrie lanciert worden ist, um den Konsum anzuheizen, was schon am Verhalten von Kindern und Jugendlichen deutlich wird. Das bedeutet, wie These 2 sagt, daß unser Wohlstand und unsere Möglichkeiten zum Konsum auch als Zwang dazu verstanden werden können. 2. Individualisierung Individualisierung wird oft in Zusammenhang mit drohender Desintegration diskutiert, das will sagen, daß dieser Begriff nicht nur einen beschreibenden, sondern auch einen wertenden Charakter in der pädagogischen Diskussion angenommen hat. „Die simplifizierende Rezeption der Individuationsthese unterstellt, daß mit zunehmender Verbreitung von Individuationstendenzen das `Soziale´, hier durchaus im soziologischen wie auch alltäglichen Sinne des Wortes, verschwindet. Die Auflösung und Abschwächung klassischer industriegesellschaftlicher Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsformen führt danach zum Zerfall der kollektiv geteilten Werte, Normen, Handlungsmuster und Orientierungen. Das Ergebnis sind allein gelassene Individuen, die scheinbar ihrem eigenen `Egoismus´ hilflos ausgeliefert sind“ (Beck, 1997). Mit dem Individualisierungsbegriff ist meist auch eine mehr oder minder heilsgesättigte Vergangenheit mitgedacht, in der es mehr Solidarität, intakte Familien und Nachbarschaften und mehr sinnstiftende Kultur und Normen gab, als heute. Als Anzeichen von Individualisierung gelten im Gegensatz dazu anomische Tendenzen aller Art, ob sie nun versteckt und unauffällig sind oder eher auffällig, seien es „Singles, kinderlose Ehepaare, Jugendkriminalität, Drogenkonsum, Hooliganismus, Scheidung, Rechtsradikalismus,“ (Beck, 1997). oder anderes mehr. Individualisierung kann aber auch ganz unspektakulär als die Möglichkeit verstanden werden, Wahlbiographien zu leben, die sich einerseits auf das soziale Netz des Wohlfahrtsstaates stützen und andererseits „immer weniger auf vorgestanzte Muster verlassen“ Es kommt jedoch nicht zu einer Herausbildung von Millionen einzelner Biographien, die sich strukturell völlig voneinander unterscheiden, auch wenn dies der subjektiv und motivativ wichtige Eindruck der jeweiligen Akteure sein mag. Es bilden sich eher wiederum strukturell ähnliche Lebensentwürfe heraus, die trotz ihrer Unverbindlichkeit mit dem Markt und eigenen sozialen Netzwerken kooperieren, anstatt in ein gesellschaftliches Vakuum zu fallen. Diese These Becks kommt meiner These sehr nahe. Ob wir Individualisierung nun von der „Seite der Sieger“, also von jenen her betrachten, die sie für ihre eigenen Lebensentwürfe nutzen oder aber von den anderen her, die sie eher erleiden, weil sie aus sozialen Strukturen herausfielen und in Isolation gerieten, sie ist jedenfalls nicht einfach nur ein Zerfallshinweis, sondern auch eine „Voraussetzung für die Integration moderner differenzierter Gesellschaften, die auf dieses (teil-) autonome Personal angewiesen sind.“ (Beck, 1997). Mit anderen Worten, das was von der einen Seite als Befreiung durch Individualisierung aussieht, könnte von der anderen Seite her als die Angleichung gesellschaftlicher Strukturen an die Forderungen des Marktes interpretiert werden, wie ich eben schon vermutet habe. “Moderne komplexe Gesellschaften lassen sich eben nicht mehr als hierarchisch durchstrukturierte Gesellschaften verstehen, außer um den Preis der Desintegration, da in solchen Konzeptionen alle Probleme zugleich Gesellschaftsprobleme werden. Integration ist also nicht mehr eine Systemleistung (...) sondern eine Leistung der und Anforderung an die Individuen“ (Beck, 1997). Nicht Individualisierung ist also das Problem, sondern es handelt sich bei Individualisierung um eine „Transformation von Problemen.“ Die Individualisierungsthese wird nicht unbestritten hingenommen. Zweifel erheben sich an der Frage, ob sie generalisierbar sei, also sich auf alle oder eben nur „bestimmte soziale Milieus“ (BURKART, 1993), beziehe. Des Weiteren steht diese These bei einigen Autoren unter einem Ideologieverdacht, die behaupten, daß sie „vor allem auf die Ebene einer individualisierten Kultur und Ideologie abziele und dabei strukturelle Abhängigkeiten und Bedingungen übersehe, dass sie also mit ihren Theoriedesign letztlich eine individualistische Kultur – und damit im Grunde falsches Bewußtsein – reproduziere“ (Wohlrab-Sahr, 1997). Wenn ich diesen Vorwurf richtig verstehe, unterstellt er der Individualisierungsthese, sie produziere erst Individualisierung als Phänomen. Diesen Gedanken möchte ich widersprechen, erstens weil diese Theorie natürlich Dinge beschreibt, die schon vor ihrer Entstehung existierten und zum Zweiten da ich Individualisierung als durch die Wünsche und Forderungen des Marktes hervorgerufen ansehe. Wenn jemand falsches Bewußtsein produziert, dann Werbung, Wirtschaft und Medien, die auf Individualisierung drängen. Seit Mitte der achtziger Jahre hatten sich mehrere Autoren mit dem Thema Individualisierung beschäftigt, das anscheinend in der damaligen BRD in der Luft lag. Es handelt sich dabei um eine spezifisch westdeutsche Nachkriegsentwicklung. Sie gründete auf einer allmählichen Anhebung des Lebensstandarts, an der bis Mitte der siebziger Jahren nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen Anteil hatten, gesellschaftlicher Absicherung biographischer Risiken durch den sich herausbilden Wohlfahrtstaat, „der Bildungsentwicklung in Richtung auf breitere und längere Bildungspartizipation etc. – und dem kulturellen Code der Individualisierung.“ (Wohlrab-Sahr , 1997) Mit dem Letzteren ist nach meinem Verständnis jenes, schon hier angedeutete und meinen Thesen zugrunde liegende, auf Authentizität, Selbstverwirklichung und Originalität ausgerichtete, Werte-Konglomerat gemeint, das sich zuerst 1968 öffentlich Gehör verschaffte und seitdem eine wirksame gesellschaftliche Forderung geworden ist. Das, was als linker Aufbruch aus der kleinbürgerlichen Nachkriegsordnung begann, ist inzwischen schon lange kommerzialisiert und als Kosumtionsmotor für alle etabliert worden. Individualisierung läßt sich als Folge sozialer Differenzierung deuten, die die beiden Aspekte a) der „neuartigen Grenzziehungen oder Trennungen und b) der Steigerung der Varianz oder Verschiedenheit (Pluralisierung)“ einschließt. Es gibt also immer mehr Gruppen, mit eigenen kulturellen Codes, deren Grenzziehungen untereinander immer variabler werden. Die Außengrenzen der Szenen, sozialen und wirtschaftlichen Gruppen gehen auch durch die Menschen selbst hindurch, die nun in der Lage sein müssen, im Rollentausch zwischen verschiedensten sozialen und kulturellen Codes hin- und her zu springen. Wenn man sich dies vergegenwärtigt, verliert, wie bereits behauptet, die These von der immer größeren Verschiedenheit der Gruppen untereinander an Aussagekraft, wenn sie impliziert, daß diese in ihren Werten immer unvereinbarer miteinander werden würden. Dies mag für die Werte an sich sogar gelten, aber da diese unterschiedlichsten Weltanschauungen und Werte in immer größerem Maße der Selbstdarstellung der Individuen und Gruppen dienen und damit, so variabel sie auf den ersten Blick auch sein mögen, in ihrer Ausgerichtetheit auf den Marktwert, an Brisanz verlieren. Da, wie ich es sehe, die allermeisten Konstruktionen von individuellen Werten in ihrem Werben um Anerkennung und Mitglieder so sehr an den Markt der Öffentlichkeit gebunden sind, sind sie auch an die Gesellschaft geklammert, sind sie also unfähig, diese völlig zu verlassen. Außerdem ist der Leim zwischen Individuum und seiner Weltanschauung, wie ich vermute, aus den gleichen Gründen, schwächer geworden. Individuen können ihr Wertesystem viel schneller als früher ändern, wenn es nicht mehr im Trend ist. Ich gebe zu, daß es auch gewichtige Gegenargumente gibt. So scheint z.B. die rechte Szene in der Öffentlichkeit ausgesprochen unattraktiv zu sein. Hier hat sich eine Gegenkultur etabliert, die ihre Anerkennung aus sich selbst heraus bezieht - scheinbar. In Wirklichkeit wirbt sie um Mitglieder, beteiligt sich am Wettbewerb um die öffentliche Meinung und – nicht zuletzt – verkörpert öffentlich vermarktete Werte wie Männlichkeit und Gewalt und öffentliche Sehnsüchte nach Einfachheit und Geborgenheit. Um ihrem Ansehen nicht mehr als notwendig zu schaden, hat die rechte Szene offene Gewalt, wie sie Anfang der neunziger Jahre in höherem Maße stattfand, wieder zurückgenommen und sich auf unauffälligere Aktivitäten, wie verdeckte Gewalt und das Publizieren im Internet spezialisiert. Käme es aber wieder zu einer rechten „Machtergreifung“ würden „Ströme von Blut fließen“, wie mir ein dort involvierter Jugendlicher einmal gestand. Das Auseinanderfallen der Werte würde also erst nach dem Untergang der liberalen Gesellschaft geschehen, wenn eine Gruppe sich durchsetzen konnte, wie dies sich auch die Geschichte der Hitlerbewegung zeigt. Subjektive Erfahrung und Zurechnung „In welchen Zusammenhang stehen Prozesse individualisierter Zurechnung zu Prozessen sozialer Differenzierung? Nicht alle gesellschaftlichen Gruppen sind gleichermaßen individualisiert. Das liegt zum einen an der unterschiedlichen Verteilung äußerer Chancen und Optionen innerhalb dieser Gruppen. Zum anderen liegt es aber auch an der Differenzierung durch unterschiedliche innere Fähigkeiten und Freiheiten, die neben der äußeren die innere Voraussetzung von Individualisierung sind. Wenn das Arbeitsamt oder sozial engagierte Vereine z.B. Bildungsmaßnahmen anbieten, die die reale Erfolgschance der Teilnehmer auf dem Arbeitsmarkt vergrößern würden, so können sich solche Angebote, wenn sie neue, unbekannte und besonders innovative Angebote beinhalten, nur an solche Teilnehmer richten, die neben intellektueller Fähigkeiten über ein gewisses Maß an Selbstsicherheit, Neugier und Offenheit verfügen. Diese Eigenschaften sind aber aus sozialen und biographischen Gründen bei den potentiellen Teilnehmern unterschiedlich entwickelt. Da die gesamtgesellschaftliche Entwicklung aber in Richtung Individualisierung drängt, ist „anzunehmen, daß sich Angehörige aller Milieus – auf je spezifische Weise – mit diesen Prozessen auseinanderzusetzen haben, gleichgültig, ob dies in Form der Übernahme einer individualistischen Ideologie, in Gestalt von Retraditionalisierung, in der Erfahrung von Anomie oder auf andere Weise geschieht.“ Es gibt jedoch auch schichtspezifische geschlechtstypische Zurechnungen, die Individualisierungstendenzen immer wieder unterminieren. Sowohl Männer wie auch Frauen, die sich durch biographische Brüche z.B. in ihrer Karriere- oder Familienplanung wieder auf sich selbst zurückgeworfen sehen, könnten sich für einen Rückzug auf ihr Herkunftsmilieu entschließen. Dieses verfügt meist noch über klarere Rollenerwartungen, was aber bei den „verlorenen Söhnen und Töchtern“ die Versagensgefühle noch verstärken würde. Mit anderen Worten, persönliche Individualisierungsversuche (als Befreiungsversuche von den Werten und Normen der eigenen Sozialisation gedacht) sind angesichts der Gefährdung von Lebensplanungen durch äußere Umstände auch immer selbst gefährdet und können durch Krisen wieder zunichte gemacht werden. Ronald Hitzler zweifelt an der Sinnkrise in der modernen Gesellschaft und glaubt eher daran, „dass ein großer Teil dessen, was hierbei zur Debatte steht, Rückwirkungen einer fehlenden Anpassung (zentraler) gesellschaftlicher Institutionen und Organisationen an die sich verändernden Interessen der handelnden Individuen sind. Folglich meint die Rede von der Sinnkrise in aller Regel zuvörderst das Problematisch-Werden hinlänglich erfolgreicher institutioneller Sinnvermittlung.“ (Ronald Hitzler,1997) Mit dem Letzteren sind vor allem die Kirchen gemeint. Lange Zeit nahm man an, dass die Menschen in der späten Moderne areligiöser würden. „Inzwischen wissen wir, dass dem keineswegs so ist, sondern dass die religiösen Bedürfnisse lediglich zunehmend außerhalb bzw. jenseits der Kirchen verrichtet werden.“ (Hitzler, 1997) Viele, wenn nicht alle der vorgegebenen Strukturen ändern sich. Die Normalarbeitszeiten werden immer seltener. Dafür werden mehrerer kürzere Arbeitsverhältnisse oft aneinander gereiht. Das Bildungsniveau hat sich für den Gesamtdurchschnitt der Gesellschaft erhöht, die Unterschiede haben sich jedoch nicht wesentlich geändert. Jedoch hat sich das Bildungsniveau speziell bei Frauen auch im Verhältnis zur übrigen Gesellschaft erhöht. Damit sind sie nicht mehr auf Männer als „Ernährer“ angewiesen und können eigenen Lebensentwürfen folgen, was das Verhältnis der Geschlechter verändert. Ehen sind nicht mehr so stabil, Scheidungen kein Tabubruch mehr. Normalfamilien geraten zunehmend in die Minderheit und machen Rumpf- und Teilfamilien Platz. Ehen ohne Trauschein verdrängen ebenfalls die Normalehe. Während immer unsicherer ist, was als „normal“ zu gelten hat, verrechtlichen sich die Sozialbeziehungen zwischen den Menschen. Kinder können sich gegen Misshandlungen durch ihre Eltern zur Wehr setzen. Damit wird Kinderaufzucht auch über das Finanzielle hinaus zu einem Problem. Hitzler glaubt nicht, dass die Moderne sich so fundamental ändern wird, dass man in nächster Zukunft von einer Post-Moderne sprechen könnte. Er sagt vielmehr eine Radikalisierung der Moderne voraus, womit der „Auflösung vormoderner Relikte im modernen Leben, mit einer tendenziellen Ablösung gesellschaftlicher Verkehrformen von der bisher hegemonialen Logik der Industriealisierung und mit einer Selbstkonfrontation der Moderne mit den Nebenfolgen ihrer zivilisatorischen Entwicklungserfolge zu tun.“ Ich vertrete die gegenteilige Auffassung, dass die „hegemoniale Logik der Industrialisierung“ ihren Höhepunkt noch gar nicht erreicht hat und noch immer der entscheidende Motor der gesellschaftlichen Veränderungen ist. Neuentwicklungen wie Handy und Internet verbreiten sich schnell und dringen tief in das soziale Leben der Gesellschaft ein. Dies geschieht auf eine so aggressive Weise, dass ich behaupten möchte, die gesellschaftlichen Veränderungen geschehen stärker um die neuen Techniken und Möglichkeiten herum, als umgekehrt. Dinge, die noch nicht gebraucht werden, werden auf den Markt geworfen, um schnell unentbehrlich zu werden. Die Nachfrage wird erst geschaffen. Sind sie erst einmal verbreitet, verändern Entwicklungen, wie das Handy, jedoch das Sozialverhalten. Da es viele neue Entwicklungen gibt, summieren sich diese sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen; die Gesellschaft wird also durch die immer weitere Entwicklungen in eine bestimmte Richtung gedrängt und zwar dahin, diese zu brauchen, zu benutzen und zu integrieren. Kommunikationstechniken wie das Handy implizieren geradezu Individualisierungstendenzen, denn erst wenn man sich räumlich getrennt hat, kann man auf technischer Grundlage miteinander kommunizieren. Ich vermute also, dass eine Entwicklung, wie das Handy, auf weitere soziale Zersplitterung der Gesellschaft drängt, wobei die einzelnen Individuen gleichzeitig (einzeln wieder) an den Markt gebunden werden. Man könnte aber auch die entgegengesetzte These vertreten, dass das Handy die Kommunikation wieder verbessert, deren Häufigkeit erhöht und damit eine integrierende Kraft besäße. Dort jedoch, wo das Handy vor allem der Selbstdarstellung dient, könnte dies der mit seiner Hilfe geführten Gespräche abträglich sein. Elisabetz Beck-Gernsheim wendet sich in ihrem Artikel gegen die These, dass die Familie immer noch eine stabile Größe wäre. Sie zitiert eine Pressenmitteilung des statistischen Bundesamtes wonach der Anteil von Scheidungen je 10 000 Ehen von 1900 mit 8,1 Punkten auf 92,3 im Jahre 1995 gestiegen sei. 1980 betrug der Anteil noch 61,3 Punkte. Damit wird eine Dynamik von Veränderung auf mehr Scheidungen hin deutlich, die an sich stabil ist. In welche Richtung wird sich die Dynamik in Zukunft entwickeln? Wie gesagt, sind Scheidungen zu etwas Normalem geworden. Barrieren und Tabus, die die Funktion hatten, Scheidungen zu verhindern, wurden abgebaut. Diekmann und Engelhardt vermuten sogar einen Schneeballeffekt, eine sich selbst verstärkende Spirale hin zu immer höheren Scheidungszahlen. Um so mehr die Scheidung zu einer normalen Möglichkeit bürgerlichen Lebens wird, um so öfter wird von ihr Gebrauch gemacht, was wiederum zu einer Normverschiebung in ihre Richtung führt, so die These. Auch muss eine Ehe nun im Verbleib mit anderen Lebensformen bestehen, was sie früher nicht musste, da sie selbstverständlich war. Beziehungen werden also immer mehr auf ihre Tragfähigkeit und ihren emotionalen Nutzen hinterfragt, da Trennungen und Scheidungen als Möglichkeit immerzu mitgedacht werden können. Darum halten Paare sich diese Option als Selbstschutzstrategie auch zunehmend offen, z. B. indem sie nicht heiraten, den Kinderwunsch verschieben oder ganz fallenlassen und auf riskante gemeinsame Kredite lieber verzichten. Dies könnte zu dem ungewollten Effekt der weiteren Erhöhung der Trennungszahlen führen. Die betroffenen Kinder lernen, daß Scheidungen etwas Normales sind, vielleicht auch, dass man sich auf Beziehungen nicht verlassen kann. „Durch Scheidung wird ein individualistischer Lerneffekt angelegt, was in der Generationenfolge dann zu weiteren Scheidungen führt“. (Beck-Gernsheim, 1997)“ Die Richtung der Entwicklung scheint klar zu sein: „Durchgängig nämlich `legen die Untersuchungs-ergebnisse eine Dynamik nahe, welche die etablierten Familienstrukturen weiter schwächen wird. Dies gilt insbesondere in Anbetracht dessen, dass eine relativ große Anzahl der Kinder von heute familiäre Erfahrungen machen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit negative Konsequenzen für ihr eigenes Familienleben haben werden`(Fthenakis 1995).“ Es wird anti-modernistische Gegenbewegungen geben, starke Sehnsüchte zurück in eine stabilere und heilere Familienwelt. Wunsch und Wirklichkeit werden aber für lange Zeit auseinander klaffen. Die uneindeutige Sozialstruktur Was heißt Armut, was Reichtum in der „Selbst-Kultur“ fragt Ulrich Beck (Beck 1997). S.183 Er bezeichnet das im Zuge von Individualismus entstandene spannungsvolle Miteinander und Gegeneinander in von individualisierten Persönlichkeiten als Selbst-Kultur. Die besondere Würze erhält diese Kultur dadurch, dass Individualisten, die sich aufeinander einlassen wollen, und damit auf andere individualisierte Lebenskonzepte, sich gezwungen sehen, auf die konsequente Durchsetzung eigener Individualität teilweise zu verzichten oder aber die ganze Beziehung um das Aushandeln alltäglicher Kleinigkeiten herum zu strukturieren. Es gibt vielleicht auch deshalb eine zunehmende Zahl von Einzelhaushalten und eine hohe Bewertung des Für-sich-seins nach eigenem Raum und eigener Zeit. Die Teilnehmer an der Selbst-Kultur zeichnen sich durch ein „verinnerlichtes praktiziertes Freiheitsbewusstsein (Beck 1997).“ aus. Es bildet sich innerhalb dieser Kultur eine Art von Selbstorganisation auf vielen Ebenen heraus. Sie zielt auf eigenmächtiges Handeln. „Selbst- Kultur setzt voraus, was sie zugleich auch fördert: Konfliktbereitschaft, Kompromiss-fähigkeit, Zivilcourage, Neugierde, Ambiguitätstolerenz etc, auch gegenüber den häßlichen Gesichtern der Selbstkultur selbst. (Beck 1997).“ Eine einfache Regel für Selbst-Kulturen: „Stellt Rechte und minimale Ressourcen zur Verfügung und laßt die Menschen allein. (Beck 1997).“ „Entspriche die Rede von `Selbst-Kultur´ vielleicht der Sicht der Gewinner, während die Verlierer noch stumm, gleichwohl mit Gewalt zeugender Ungeduld unter die Räder geraten? (Beck 1997).“ Ulrich Beck spricht von „Zusammenbruchs- und Armutsindividualisierung (Beck 1997).“ In einer indiviualisierten Gesellschaft ist Armut nicht mehr bestimmten Gruppen zugeordnet sondern, tritt vereinzelt auf, auch oft nur in biographischen Phasen. Damit können frühere schichtspezifische Unterschiede sich jetzt in einer Biographie versammeln, sagt Beck. Er führte eine Studie aus den USA an, bei der nur 0,7% der Befragten angaben, durchgängig arm zu sein, aber 24% zumindest einmal von Armut betroffen waren. (Berger, 1996). Dies wird von den Soziologen „dynamische Armut“ genannt: die Armut wächst zwar insgesamt, verteilt sich aber auf immer mehr Biographien, in dem sie sich auf Phasen verkürzt. Diese neue Armut versteckt sich als Phänomen, wenn sie Leute aus einem bis dahin abgesichertem Milieu trifft, erst recht. Leute, die sich ihrer Armut schämen, die unter Selbstzuschreibungen des Scheiterns und Versagens leiden, haben es schwer, Hilfsangebote anzunehmen und auch von diesen erreicht zu werden. Beck spricht von „Demokratisierung“ von Massenarbeitslosigkeit und Armut, weil es immer mehr auch die Reichen trifft, weil sich die Armut immer mehr verteilt. Hier zeigt sich eine echte Form der Individualisierung: Die Armut. Sie wird nicht gezeigt, sie bleibt streng privat, sie dient nicht der Selbstdarstellung. Andererseits wird Armut nicht freiwillig in ein Leben gerufen und sie ist auch bei allen Betroffenen gleich. Der Vielfalt öffentlicher, marktabhängiger und selbstinzenierter Individualisierung tritt also eine versteckte, gleichmacherische und unfreiwillige Form der Individualisierung gegenüber, eine Armut nämlich, die auch marktabhängig ist. Anomie und Integration Anomie ist ein Prozeß der Abkopplung einzelner Teile der Gesellschaft von deren Gesamtheit. Sie kann dort entstehen, wo die Balance der Wechselwirkung von Autonomie und Integration gestört ist. Emile Durkheim beschrieb, daß moderne Staaten die Solidarität nachbarschaftlicher Traditionen, die auf althergebrachte Art und Weise funktionieren, zerstören müssen und sie durch eine neue, modernere Form der Solidarität zu ersetzen. Diese sollte durch ein schnell installiertes gesetzliches Regelwerk durchgesetzt werden. Auch sollte die Arbeitsteilung in der neuen Gesellschaft zu einer inneren Solidarität führen. Wenn aber zwischen der Zerstörung mechanischer Solidaritätsformen, (worunter er die selbstverständliche Solidarität in vormodernen Gesellschaftsformen verstand) und der Neuschöpfung organischer Solidarität (damit meinte er Solidaritätsformen, die in modernen Gesellschaften durch Arbeitsteilung entstehen) eine Lücke klafft, besteht nach Durkheim die Gefahr von Anomie. 30 Wenn die Arbeitsteilung zu weit getrieben wird, sieht er weiterhin die Gefahr der Zersplitterung. Die Gesellschaft würde dann auseinander driften, wenn zuwenig Kontakte zwischen ihren einzelnen Teilen bestehen. Durkheim hat in seinem Werk „Der Selbstmord“ (Durkheim, 1897/1973) drei Formen des Suizids dargestellt, nämlich den egoistischen, den altruistischen und den anomischen Selbstmord. „Selbstmord“ war für Durkheim der Gipfel von Anomie überhaupt. Darum wählte er diesen Titel. Die egoistische Selbstmord wird nach Durkheim durch Isolation des Individuums verursacht, der altruistische Selbstmord wird durch fehlende Bedürfnisbefriedigung innerhalb eines gesellschaftlich determinierten Umfeldes hervorgerufen, während der anomische Selbstmord durch gesellschaftliche Krisen verursacht wird. Es tritt dann „ein Bedeutungsverlust kollektiver Orientierungen auf (Bohle, Heitmeyer, Kühnel, Sander, 1997).“ Durkheim glaubte also an die Notwendigkeit einer äußeren disziplinierenden Einwirkung auf das Individuum, da der dieses nur so moralischen Halt bekäme. Die genau entgegengesetzte These vertritt Bauman, worauf später noch einzugehen sein wird. Er sagt, daß die moralische Befähigung des Einzelnen gerade durch das ethische Diktat staatlicher Vernunft enteignet und zerstört wurde. Er glaubt, daß moralisches Handeln überhaupt nicht von der Vernunft erzeugt wird, sondern aus dem Augenblick heraus als innerer Impuls im Menschen entsteht, ohne daß dieser Impuls im voraus planbar und seine Richtung für alle gleich wäre. Dort wo Durkheim den Menschen durch äußere Zwänge gebändigt sehen möchte, sieht Bauman eine Chance zu moralischer Wiedergeburt, wenn nämlich infolge von Krisen die gesellschaftlichen Normen und Abhängigkeiten ihre zwingende Kraft verlieren. Für Durkheim setzte die Arbeitsteilung ein konfliktlösendes Potential frei, da sich spezialisierte Individuen und Gruppen nicht als Konkurrenten wahrnehmen. Durkheim mochte aber im „Selbstmord“ nicht mehr an dieser optimistischen Sicht festzuhalten. Er glaubte, daß Anomie zu einem zunehmenden Dauerzustand in der modernen Gesellschaft werde, eben weil die moralischen Beschränkungen ihre Kraft verlieren und damit die Begehrlichkeiten des Einzelnen mit jenen der anderen und auch mit den realen Möglichkeiten kollidieren müssen. Merton dagegen definiert Anomie als Folge einer Kollision zwischen den Zielen, die in einer Gesellschaft allgemein anerkannt sind und den Mitteln, die den Mitgliedern dieser Gesellschaft zur Erlangung dieser Ziele zur Verfügung stehen. Für die amerikanische Gesellschaft der fünfziger und sechziger Jahre nimmt er als beherrschendes Ziel den (besonders finanziellen) Erfolg an. Merton unterstellt bei unteren Schichten nun diese Kollision zwischen Zielen und Mitteln. Hier sei der Erfolg mit legalen Mitteln nicht oder zu schwer erreichbar und damit entstehe ein Anomiedruck, was zu einer erhöhten Kriminalitätsrate führe. Damit postuliert Merton für alle Gesellschaftgruppen gleiche Konformitätsmerkmale bei gleichen Zielen. Kritiker sehen hierin eine unzulässige Vereinfachung, da Schichten ihre eigenen Normen und Grenzlinien zwischen abweichendem und konformem Verhalten entwickeln. Neben Zielen und Mitteln unterschiet Merton später auch die schichtenspezifische Unterschiede bei normativen Zielen und deren Verwirklichungsmöglichkeiten, die er „Sozialstruktur“ nannte. Damit besaß er eine theoretische Grundlage, um einen differenzierteren Blick auf den Grad von Anomie zu werfen. Der Grad an Anomie entscheidet jetzt darin, in wie weit der Kampf um die Erlangung der kulturellen Ziele einer Gesellschaft oder Schicht noch durch deren normierende Bindekräfte für das ethische Verhalten im Zaum gehalten werden können. Merton postulierte fünf Formen von unterschiedlicher Akzeptanz der kulturellen Mittel einerseits und den institutionalisierten Mitteln andererseits: 1. Konformismus: Bejahung von Zielen und Mitteln, 2. Innovation: Bejahung der Ziele und Verneinung der Mittel, 3. Ritualismus: Aufgabe der Ziele, aber Festhalten an den Mitteln. 4. sozialer Rückzug: Verneinung der Ziele und der Mittel 5. Rebellion: Wie 4., aber Ersetzung der abgelehnten Ziele und Mittel durch eigene. Heute kann an starren Schichtmodellen so nicht mehr festgehalten werden. Zwar bleiben Unterschiede zwischen Arm und Reich auf höheren Niveau bestehen, aber die internen Umschichtungen, Verwerfungen und Stabilisierungen des gesellschaftlichen Systems lassen sich nur mit moderneren Theorien begreifen. Anomie wird heute darum nicht mehr wie bei Durkheim und Merton im Abweichen von starren vorgegebenen Normen gesehen, sondern „muß als ein Zustand gesehen werden, in dem es an sozialen Regulationsmodi mangelt, um wesentliche gesellschaftliche Probleme hinreichend angehen und für alle Beteiligten erwartbar und hinnehmbar gestalten zu können. In diesem neuen Anomiekonzept wird berücksichtigt, daß sich im Vorgang sozialer Regulation die Modi der Regulation durchaus ändern können, ohne daß Anomie entsteht. Anomie tritt erst ein, wenn der Vorgang sozialer Regulation zusammenbricht bzw. zu Ergebnissen führt, die von Teilen der Beteiligten auf Dauer nicht hingenommen werden können (Bohle, Heitmeyer, Kühnel, Sander, 1997).“ Gertrud Nunner-Winkler beschäftigt sich mit der Frage, was die Gesellschaft eigentlich zusammenhält . Sie vertritt die These, daß „der Liberalismus nicht substanzlos (ist), sondern Ausdruck kollektiv geteilter inhaltlicher Wertbindungen.(Nunner-Winkler1997) “ Weiterhin versucht sie zu zeigen, daß die modernen Wertbindungen subversiv sind, da es ihnen auf Interessenausgleich und Herrschaftsabbau geht. Nunner-Winkler möchte sich damit gegen die These wehren, daß es modernen Gesellschaften an Gemeinsinn fehle und sie damit zur eigenen Reproduktion unfähig seien. Dafür gibt es in der Soziologie zwei Lösungsansätze: Einmal die auf Veränderung bestehender Gesellschaftsverhältnisse drängende marxistische Position und andererseits konservativ inspirierte, rückwärtsgewandte Paradigmen, die auf eine Restauration geordneterer vergangener Gesellschafts-strukturen setzen, wofür Durkheim und Parsons stehen. Nunner-Winkler stellt eine Minimalmoral auf: „Menschen sind verletzlich, fähig, andere zu verletzen, und nicht willens grundlos selbst verletzt zu werden (Nunner-Winkler, 1997).“ Desweiteren weist sie auf die Existenz kulturabhängiger Pflichentenkataloge hin, die inhaltlich zwar variabel, jedoch immer an Kulturen geknüpft sind. Drei für die Erhaltung moderner Gesellschaften notwendige Voraussetzungen können „durch aufgeklärtes Selbstinteresse allein nicht hervorgebracht werden: - Moralische Entrüstung (...) - Selbstverteidigung (...) - Politisches Engagement (...)(Nunner-Winkler, 1997).“ Nunner-Winkler sucht nun nach einem Modus, der über dieses aufgeklärte Eigeninteresse der Bürger noch hinausgeht. Sie führt eine von ihr veröffentlichte Längstschnitt-Untersuchung von c. 200 Kindern an (Nunner-Winkler, 1988). „Dabei zeigte sich, daß Kinder früh über ein angemessenes moralisches Wissen verfügen. Universell kennen sie einfache moralische Regeln, sie wissen um deren intrinsische, d.h. sanktions- und autoritätsunabhängige Geltung; sie anerkennen situationsspezifisch differenzierte Geltungsgründe und verstehen die moralischen Regeln kontextsensitiv flexibel anzuwenden. Kinder, so ist daraus zu schlußfolgern, lernen moralische Regeln nicht in Form rigider Handlungsanweisungen, vielmehr verstehen sie (zumindest etwa ab einem Alter von 10 Jahren) die moralischem Urteilen zugrunde liegenden Prinzipien der Schadensvermeidung und der Unparteiligkeit (Nunner-Winkler, 1997).“ Dies beweist doch meiner Meinung aber nur, daß Kinder ein bestimmtes System kultureller Werte internalisiert haben. Viel wichtiger finde ich folgenden Hinweis: „Kinder empfinden spontan – im `Naturzustand´- egoistische Strebungen (...) und altruistische Impulse (...)(Nunner-Winkler, 1997).“ Diese Beobachtung, wenn sie denn angesichts eines nicht existierenden „Naturzustandes“ haltbar ist, bestätigt vielleicht meine These 1, daß Ethik und Moral nur durch einen erzieherischen Rahmen entstehen können, da es sonst ein ungeordnetes Nebeneinander von Egoismus und Altruismus gäben würde. Altruismus und Mitgefühl wären somit kein rein kulturelles Phänomen, sondern bereits im Menschen angelegt. „Moralisches Wissen ist inhaltlich: Es bedeutet die früh erworbene Kenntnis einfacher Regeln und die (...) differenziell anwachsende Fähigkeit, diese auch in komplexeren Situationen angemessen anzuwenden. Moralische Motivation hingegen ist formal, also inhaltsfrei; zugleich aber ist sie intrinsisch, also nicht sanktionsorientiert und nutzenkalkulatorisch (Nunner-Winkler, 1997).“ Es bedarf keiner bloßen Loyalität, um sich für das Gemeinwohl einzusetzten, sagt Nunner-Winkler, es reicht bereits die Anerkennung der moralischen Verpflichtung. Die zentrale, für die Moderne typische, moralische Annahme ist die, daß Ungleichheiten rechtfertigungspflichtig sind und Gleichheit anzustreben sei. Es gibt verschiedene Sozialisationsmodelle. Die kassische Konditionierungstheorie erklärt das Verhalten eines Menschen durch vorheriges Verhaltenstraining das mit Belohnung und Bestrafung arbeitete. Tierdressuren bewiesen die Richtigkeit dieser Annahmen in ihrem Rahmen. Parson behaupte in seinem Triebüberformungsmodell, daß sich der Säugling durch seine hohe Abhängigkeit die Fremderwartungen, z. B. der Mutter, zu eigen mache und dadurch zu eigenen Bedürfnissen umforme. Nunner-Winkler sagt nun, daß „in der Moderne zunehmend das Modell der `freiwilligen Selbstbindung aus Einsicht´ hinzu (-trete) (Nunner-Winkler, 1997)“. Das Kind erkenne aus eigener Einsicht die Spielregeln des Familiensystems, wie es auch andere Spielregeln erlernen würde, und folge diesen freiwillig, um mitspielen zu können. Voraussetzung dafür ist aber eine hierarchiearme offene Aushandelungsstrategie für Konflikte in der Familie. Dies gelte auch für den modernen Staatsbürger, der nicht aus Patriotismus, sondern aus Einsicht für seine Gesellschaft eintrete. Anomie und Religion Am Beispiel von Entwicklungen im Bereich Religion und Kirche soll jetzt gefragt werden, ob es sich bei den aktuellen Umbrüchen auf dem „spirituellen Markt“, tatsächlich um anomische Tendenzen im Sinne der obengenannten Definition handelt. Heiner Barz, der Autor des Artikels „Dramatisierung oder Suspendierung der Sinnfrage?“ weist zu Beginn seiner Arbeit auf die schlechte empirische Situation in der Religionssoziologie hin. Veränderungen im Bereich der Religion zeigen sich in einem unspektakulären „Verdunsten des Christentums.“ Dieses wird an Determinanten wie „Kirchgang, Gebetshäufigkeit, Bibellektüre, Gottesglauben, Auferstehungsglauben (Barz, 1997)“ etc. in den Umfragen der Kirchen selbst festgestellt. Barz weist auf fehlende Daten in Bezug auf Schicht- und Lebensweltspezifik hin, aber auch auf die Ausklammerung der Frage nach religiös motivierter Fremdenfeindlichkeit. Barz spricht von Sollbruchstellen zwischen den Kulturen, die im Zuge sozialer Konflikte jederzeit aufbrechen können, deren Ursachen, aber eher ethnischer und kultureller, denn religiöser Natur sind. Barz weist darauf hin, daß das Christentum in der Öffentlichkeit immer noch als Normalfall, als kulturelle Selbstverständlichkeit angesehen wird, was zur Folge hat, daß andere religiöse und spirituelle Wege von vornherein anomischer Machenschaften verdächtig sind. Der Mitgliederschwund in den großen Kirchen läßt sich am besten an kircheneigenen Austrittsstatistiken aufzeigen. Höhepunkte in der Austrittsbewegung waren um 1920, um 1930, 1939, 1972 und 1990, wobei die höchsten Ausschläge bei der evangelischen Kirche um 1939 und 1990 bei je c.360 000 und bei der Katholischen Kirche um 1990 bei c.190 000 lagen. Seitdem nimmt die Austrittshäufigkeit bis 1993 auf hohem Niveau ab, 1994 steigt sie wieder etwas an. Für die Zeit danach liegen in dieser Veröffentlichung noch keine Daten vor. Protestanten treten danach fast doppelt so häufig aus, wie Katholiken. Die rituelle Praxis des christlichen Glaubens, insbesondere die Gottesdienstbesuche nehmen auch bei Kirchenmitgliedern ab. Andererseits nimmt der Wunsch nach kirchlichen Passageriten seit 1970 in der alten Bundesrepublik wieder zu. In den neuen Bundesländern zeigt sich zumindest am Beispiel der Jugendweihe, daß Passageriten als solche gar nicht an die Kirche gebunden sein müssen. Die Praxis des Gebetes nimmt ab, dafür werden Psychotechniken zur Kultivierung des innerpsychischen Raumes wie Entspannungs- und Meditationstechniken häufiger angewandt. Das Christentum erfreut sich noch immer einer großen Wertschätzung, wenn es bei den Befragungen darum geht, was andere am besten glauben sollten. Gerade jenen, die in irgend einer Art und Weise benachteiligt sind, wünschen die Befragten den christlichen Glauben, sozusagen als kostenlose Stütze für die Schwachen, zu denen man selbst auf gar keinen Fall gehören möchten. Der Glauben an einen transzendenten persönlichen Gott nimmt ab, während andere, offenere Gottesvorstellungen im Zunehmen begriffen sind (Sziegaud-Roos, 1985; Nipkow 1987, Kirchenamt der EKD, 1991; Barz, 1992b) , die auf naturwissenschaftlichen oder auch östlich inspirierten esoterischen Gottesvorstellungen beruhen. Das für alle diese wieder neu aufkommenden Vorstellungen Typische, so meine ich, ist, daß sie das Göttliche wieder näher an den Erfahrungshorizont der Menschen heranholen und seiner strengen kirchlich-theologischen Transzendenz und Autonomie berauben. Das Göttliche wird, könnte man sagen, demokratisiert und den Händen des kirchlich-religiösen Establishments wieder entzogen. Daß diese Tendenzen aus kirchlicher Sicht als anomisch gedeutet werden, liegt nahe, ob sie es aber im Sinne der obigen Definition tatsächlich sind, bleibt fraglich. Religiöses Erleben wird sicher auch von den Forderungen der Freizeitindustrie mit beeinflußt. Es reicht nicht mehr, ein ganzes Leben auf das Heil zu warten. Erlösung, was auch immer das heißt, (vielleicht zuerst einmal Entlastung?) soll schon in der Gegenwart und nicht zuletzt auch körperlich erlebbar werden. In der traditionellen evangelischen Theologie wird dagegen gerade der Glaube ohne Erfahrung und allein aus Vertrauen als wahrer Glaube angesehen. (Joh.20,29: „Selig, die nicht sehen und doch glauben.“) Inzwischen versucht aber auch die evangelische Kirche wieder dem Trend nach erlebnisorientierten Formen von Spiritualität zu folgen, besonders in Form von Kirchentagen, die Tausende Gläubige anziehen, und „Festival-Charakter mit Action, Ekstase und `Gänsehaut´(Barz, 1997)“ versprechen. Religion wird zunehmend nicht mehr um fertiger Antworten willen gesucht, sondern um der Möglichkeit einer persönlichen Suche willen, der “Quest-Orientierung.“ Die Sehnsucht nach Geborgenheit wandert nach der Befragung von Barz aus dem religiösen in das sozial-partnerschaftliche Milieu ab. An der Partnerschaft werden also heute Werte festgemacht, die früher dem religiösen Glauben vorbehalten waren, was zu deren Überlastung mit sinnstiftenden Attributen führen kann. Barz weist auf die „enorme Verantwortungszumutung“ hin, die mit der „Entbindung von überkommenen Traditionen“ für den Einzelnen verbunden ist. Er vermutet, daß es ein steigende Bedeutung des „kompensatorischen Imperativs“ in Krisenzeiten geben wird und meint damit nach Dieter Groh (1987) und Marquard (1981) , daß Verschwörungstheorien an Attraktivität gewinnen, weil sie den Einzelnen entlasten, da dieser seine Verantwortung für sein Leben nicht mehr hinter Göttern oder Schicksalsmächten verstecken kann. Sonderformen des Religiösen In der Öffentlichkeit spielen die traditionellen religiösen Sondergemeinschaften kaum eine Rolle mehr, seit Anfang der siebziger Jahre „Jugendsekten“ diese in den Schatten drängten. In den siebziger und achtziger Jahren erschienen u.a. aus der Feder kirchlich angestellter „Sektenbeauftragter“ und Theologen stammende viele polemisierende und apologetische Schriften zu diesem Thema, die z.B. totalitäre Strukturen, Entfremdung von den Familien und Gehirnwäsche bei den neuen Sekten feststellten und verurteilten. Diese Sekten standen also für Anomie schlechthin, sie drohten die Gesellschaft zu unterwandern und ins Chaos zu stürzen. Tatsächlich ist es auch darum ruhig geworden und über die Mitgliedszahlen gibt es nur Vermutungen, die zwischen 150000 und 2000 schwanken. Über die Sekten gab es drei G


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