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Frei wozu?

Maintainer: Uli Weiss, Version 1, 19.12.2001
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) Christoph Spehr will allgemeine Bestimmungen einer Politik der freien Kooperation erarbeiten.# Das impliziert einen theoretischen Anspruch. Zugleich bietet er Geschichten, Analogien und Beschreibungen, sozusagen konzentriert und bildhaft vorgetragene Lebenserfahrungen. Diese Passagen könnten auch gut für sich stehen. Ihr Zusammenhang mit den theoretischen Aussagen über freie Kooperation ist nicht zwingend, eher - ich nehme mein Urteil vorweg - ein Fehlversuch, Wege zur allgemeinmenschlichen Emanzipation mittels Kategorien der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu suchen. Leute mit sonst ziemlich ähnlichen Urteilen reagieren extrem verschieden auf die Grundlegung, so erlebt im überschaubaren Berliner Diskussionskreis Wege aus dem Kapitalismus, in der sogenannten 48. Woche und in einem Kölner Zusammenhang (P.Bach, C. Möller, H. Weinhausen u.a.). Die von Spehr angestoßenen Diskussionen scheint ziemlich fruchtbar zu sein. In Vorbereitung auf eine Veranstaltung mit Christoph im März 2002 in Berlin hier einige eigene Gedanken.

Praxisformen möglicher menschlicher Emanzipation

(2) Einige Passagen im dritten Teils der Grundlegung ("Grundrisse eine Politik der Freien Kooperation") sind überschrieben: Entprivilegierung der formalen Arbeit, Aneignung von Räumen und Zusammenhängen, Ermöglichung (Freundlichkeit), Gestaltung (agancy), Organisierung, Individuation. Diese Abschnitte lese ich als eine förderliche Beschreibung der von Praxisformen, zu denen es mich seit langem drängt. Es geht zum Beispiel um eine Art von Gemeinschaftlichkeit, die unsere Familie - meine, die vorhergehende und die nachfolgenden Generation - dazu (ver-)führte, uns eine Herde Kinder anzuschaffen und dies auch noch zu genießen. Diese Praxisformen legen uns andere Bedürfnisse nahe (und ermöglichen ihre teilweise Befriedigung) als die, gemäß dominierenden Karriere- und Konsumtionsmustern nach den vorgehaltenen Würsten zu jagen. Sie lassen es uns als Bereicherung und Spaß empfinden, nunmehr mit vier Generationen unter einem Dach zu leben. Sie ermöglichen jedem von uns eine gegenüber den Zumutungen der herrschenden Arbeits- und Lebensweisen entschieden größere Souveränität als etwa in denen der isolierten Kleinfamilie. Diese Praktiken und Bedürfnisse haben sich nicht aus der Lohnarbeit heraus konstituiert und ebenso nicht aus meiner Tätigkeit in politischen Organisationen zu DDR-Zeiten und nach der Wende. Sie haben sich im Widerspruch zu ihnen entwickeltet, entstanden aus persönlichen Kontakten, familiären und sonstigen. Sie waren und sind u.a. auf Spaß an selbstorganisierten Gemeinschaftserlebnissen gerichtet, auf die Lust, die Herausforderungen anzunehmen, die aus der Entwicklung von Kindern und aus den Konflikten zwischen Generationen resultieren, auf Kultur, Sport, Geschichtsbetrachtung und Gesellschaftskritik. Den Widerspruch zwischen dieser und der beruflich-politischen Sphäre formulierte ich als neuer Mitarbeiter in einer Parteigruppe der Hauptverwaltung Aufklärung einst so: "Wäre wir nicht die gemeinsame Arbeitsaufgabe, was hätten wir eigentlich miteinander zu tun?" Die Antwort: Schweigen.

(3) Ein Beispiel: Meine Fähigkeiten zu wissenschaftlichen Fragestellungen an Geschichte waren aus beruflichen Gründen (Ost-West-Verbindungen mit politisch-operativem Ziel aufbauen) gern gesehen. Wenn mich aber tatsächlich Inhalte beschäftigten, relevante für unser postuliertes Selbstverständnis als sogenannte Berufsrevolutionäre, und ich hierfür Gesprächpartner im eigenen Bereich suchte, traf mich regelmäßig der Vorwurf: "Du arbeitest hier nicht als Theoretiker." Das Gleiche zu Solidarnosc-Zeiten (Ich wollte mir selbst die polnischen Ereignisse mit unserem ML-Instrumentarium begreifbar machen wollte) und bezüglich des zunehmenden Gegensatzes zwischen dem Perestroika-Gorbatschow und unserer Parteiführung. Fragen danach, was uns denn über den (auch von mir gewollten) äußeren Zweck unserer Arbeit (die Existenz der DDR sichern) hinaus eigentlich zusammenhält, wie wir uns unmittelbar zu grundlegenden Lebensfragen verhalten, wohin wir uns eigentlich entwickeln, wurden nicht angenommen. Ernstere Restriktionen habe ich nicht erlebt, unsere Denk- und Handlungsspielräume waren erheblich. Viel bedrückender war das Schweigen. Darin drückte sich (so sehe ich das heute) Furcht vor eigenem Denken aus, eine Angst (nicht vorrangig wegen irgendwelcher Repressionen), sich damit in eine Minderheit zu versetzen, zu einem selbstbestimmten Handeln zu kommen und dafür auch noch selbst verantwortlich zu sein. Dieses Schweigen war nur 1989/90 kurzzeitig aufgehoben. Es lebte sofort in meinen dann neuen Arbeits- und politischen Strukturen (so von mir im PDS-Landesvorstand) wieder auf. Dies alles war und ist keine östliche Besonderheit. Es ist gesamtdeutsche Normalität und zwar in jeglichen Strukturen, die auf ökonomische oder politische Macht orientiert sind. Wer in diesen Feldern erfolgreich bewegt, begrenzt sich unvermeidbar im Denken und Handeln auf sich verselbständigende, äußerlich werdende Zwecke, etwa auf Wahlerfolge. Fragen wie "Was tun wir eigentlich zu welchem Zweck? Laufen nicht unsere Formen der emanzipatorischen Absicht entgegen?" werden als unpraktisch, skurril, nicht lebensfähig und blauäugig ignoriert oder mehr oder minder aggressiv abgelehnt. Meine Schlussfolgerungen: Von diesen Bereichen kann dauerhaft kein emanzipatorischer Impuls ausgehen.

(4) Zwei Dinge haben diese Lebenserfahrungen mit Spehrs Arbeit zu tun: Erstens haben die o. g. höchst erfreulichen Passagen im Grundrisseteil genau die entgegengesetzte Wirkung. Sie befördern die Entwicklung von Mentalitäten, die Menschen entfalten und auch entfalten müssen, wollen sie sich von äußerlichen Zwecken befreien, also nichtkapital- und nichtherrschaftsförmige alternative Gemeinschaften begründen. Zweitens steht die in Spehrs Arbeit aufgestellte Theorie der freien Kooperation als ein Konzept zur Entwicklung allgemeinmenschlicher Emanzipation im völligen Gegensatz zu diesem Anspruch.

Wo steckt das Problem?

(5) Bereits die erste Geschichte von den alten und jungen Bären verweist darauf: Spehr mangelt es an Sinn für die Tatsache dass sich in der Geschichte immer vorhandene freiheitlichen Bestrebungen nie durchsetzen konnten und warum das so war. Ohne Verständnis für die partiell zivilisationsfördernde und bis in die jüngere Zeit nicht umgehbare Rolle von Herrschaftsförmigkeit gesellschaftlicher Entwicklung kann m. E. die Frage auf Grund welcher Voraussetzungen und in welchen Formen freiheitliche Gemeinschaften gesellschaftlich dominant werden können, nicht beantwortet werden. Die anklagende Fixierung auf die äußeren Erscheinungsformen von Herrschaft und Knechtschaft kann dies nicht befördern. Mensch kommt auf diese Weise, die nur die eine Seite (die bösen alten Bären) gegen die potentiell gute (die jungen Bären) richtet, nur zur "schlechten" Negation, verbleibt im Bekämpften und landet letztlich wieder in der "alten Scheiße" . Zur Erläuterung wieder ein Stück Geschichte: Zum Erstaunen meiner Freunde habe ich u DDR-Zeiten und danach wiederholt Verständnis gezeigt für Restriktionen mir gegenüber und für die konkreten agierenden Personen. Feige, dumm oder gar schizophren? Verständnis für die gleichen Leuten (und Strukturen), die mich als leistungsfähig usw. loben und fördern und zugleich als schwach, dumm, unmündig, blauäugig behandeln, einmal gar als gefährlich für die politisch-geistige Stabilität der von mir verteidigten DDR? Nein. Eher ein Verständnis in die dahinterliegende Problematik, in die - auch im Real-"Sozialismus" nicht aufgehobene (noch nicht aufhebbare?) - Widersprüchlichkeit zivilisatorischer Entwicklung. Einige Gründe hierfür:

(6) Erstens war ich weder dumm noch selbstgerecht genug, um mich in scheinbar souverän über Engherzigkeiten auch mir gegenüber zu ereifern. Es langweilte mich, die Akteure als unwahrhaftig, unmoralisch, dumm abzuqualifizieren etwa mit dem Hinweis auf geistige Beschränktheit oder das allgegenwärtige menschliche Böse. Ich war und bin dagegen hinreichend neugierig, um nach dem tieferen Sinn von Alten-Bären-Praktiken in Ost und West zu fragen. Mir ist klar, dass ohne diese Praktiken die menschliche Zivilisation nicht einmal die Stufe der Urgesellschaft hätte überschreiten geschweige denn bis an die Möglichkeiten sozialistisch-kommunistischer Gesellschaften herankommen könnte. Letztere selbst sind historische Produkte und nicht von Anfang an gegeben.

(7) Zweitens habe ich das, was mich selbst traf, mit produziert und zwar bewusst. Ich (wer nicht?) stand selbst faktisch immer auf beiden Seiten dieses Widerspruches. Meine Anteil an Herrschaftspraktiken war immer mit darüberhinaus gehenden Hoffnungen und Taten verbunden: Durch diese widersprüchliche Geschichte hindurch müsste die eigentlich gewünschte Welt entstehen. Ich strebte immer danach, auch und gerade in meiner Arbeit in der DDR-Aufklärung, die angenommenen und lange Zeit vorhandene Brücke zwischen dem Ringen um eine freundliche (friedliche) Welt und den Methoden der Unfreundlichkeit nicht zerbrechen zu lassen.

(8) Jenseits dieser Zweck-Mittel-Wirklichkeit (der der angenommene Zweck immer mehr abhanden kam) versuchte ich immer, mir ein Stück Assoziation freier Individuen - sozusagen ein Stück Kommunismus - vorwegzunehmen (siehe o.g. Familie). Ich tat und tue dies nicht vergessend - und dies drittens -, dass die dominierende herrschaftsförmige (Lohn-)Arbeit eine der Bedingungen meines besonderen Luxus ist, mich, meine Familie und Freundschaften wenigstens teilweise von der herrschenden bürgerlichen Lebensweise abzukoppeln. Aus dieser Bewusstheit resultieren u.a. folgende Fragen: Warum tun dies andere Menschen, die sich durchaus diese Freude intellektuell und materiell leisten könnten, nicht auch? Und: Welche Bedingungen müsste es geben und wie könnten diese entstehen, damit dies massenhaft und durchgängig gewollt und praktiziert werden könnte. Diese Fragestellung schützt mich vor der Arroganz und Geschichtsfremdheit etwa der Autoren des Manifestes gegen die Arbeit.# Menschen, deren (Lohn-)Arbeit die Bedingung ihrer und meiner Existenz ist, denunziere ich nicht als Würstchen. Suche ich vor diesem Hintergrund nach Wegen aus dem Kapitalismus, muss ich Antworten auf die Frage suchen, wie und wovon die Menschen denn leben können, wenn sie ihre Gesellschaft anders als herrschaftsförmig formieren.

(9) Mir fehlt die Naivität und der Zynismus zu sagen: "Liebe Leute, macht es doch einfach so wie ich. Steigt (wenigstens partiell) aus der (Lohn-)Arbeit aus. Wo es euch nicht gefällt, geht doch einfach weg." Dies allerdings ist der Kern von Spehrs Bestimmungen freier Kooperationen: Ich nehme Einfluss auf Kooperationen dadurch, dass ich mit meinem Auszug drohe bzw. diesen realisiere.

(10) Der Kern meiner Kritik: Wege aus dem Kapitalismus können nur mit einer Denkmethode gesucht werden, die die historischen Zusammenhänge sozusagen zwischen Barbarei und zivilisatorischem Fortschritt ignorieren. Meines Erachtens passiert Spehr in seiner Grundlegung genau dies. Die Allgemeinheit seiner Bestimmungen einer Theorie Freier Kooperationen ist eine Fiktion. In Wirklichkeit gehören diese Bestimmungen einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Grundstruktur an - der bürgerlich-kapitalistischen. Die geistige Vorwegnahme des Aufhebens heutiger, d.h. historisch-konkreter Entfremdungsstrukturen etwa durch Assoziationen freier Individuen bedarf eines Verständnisses für die spezifische zivilisatorische Funktion (und damit auch Grenzen) heutiger, also bürgerlich-kapitalistischer herrschaftsförmiger Strukturen in einem gesellschaftlichen Ganzen. Herr- und Knechtschaft sowie die entsprechenden Ideologien sind nicht als sich selbst oder einem allgemeinen Bösen genügende, also sozusagen wegnehmbare Angelegenheiten zu begreifen und deren Aufhebung auch nicht als ein einfaches Abwerfen von Herren und falschem Bewusstsein.

(11) Meinen Antrieb zu einer theoretischen (und in Keimen praktizierten) Aufhebung des Widerspruches zwischen herrschaftsförmigen Existenzbedingungen und parallel existierenden marginalen alternativen Gemeinschaftsstrukturen gewann ich erst, als die Wende meine als natürlich empfundene Einbindung in herrschaftsförmige Praxen zerstörte. Scheinbar festgefügte gesellschaftliche und persönliche Strukturen gerieten ins Fließen und zwar mit unbekanntem Ziel. Gegen meinen Widerstand befreit, nehme ich wie oben dargestellt die eigene Geschichte und die damit verbundenen Erfahrungen an. Ich lehne damit die begriffs- und geschichtslosen Denunziation eines aus durchsichtigen Interessen vom Ganzen abgesonderten Teils der DDR-Gesellschaft als sogenannte Täter - "Ach, wie konntet Ihr nur!?" - ebenso ab wie die gleichartige Selbsterhebung des anderen Teils als arme Opfer. Was habe ich damit gewonnen und was ist für user Thema relevant? In Relation zu einer denkbaren allgemeinmenschlichen Emanzipation habe ich nicht nur die Wesensverwandtschaft der ost- und westdeutschen Gesellschaften begriffen, sondern auch die beider zu vorhergehenden. Geändert haben sich "nur" einige Herr- und Knechtschafts-Formen, damit in Verbindung wurden mehr oder weniger Eliten ausgetauscht: Im Osten 1945 ff durch Verjagen der Großbourgeoisie und herausgehobener Nazi- und Kriegsverbrecher, dann 1990ff noch einmal, um tatsächliche Volksbewegungen zu kanalisieren und zugleich westliches Bedürfnis nach eigener verpasster Säuberungen zu befriedigen: Abservierung der DDR-Staatsnahen. Das jeweils personifizierte Böse wurde so als entsorgt angesehen.

(12) In Spehrs Grundlegung ist diese Denkform auch präsent und zwar bereits in der Geschichte von den Bären (Ja, wenn diese nicht wären, wie schön könnte .... Wirklich?) und in seinen theoretischen Bestimmungen. Auch wenn Spehr in seinem Buch von den Aliens Mechanismen der inneren Rekonstruktion von Herrschaft beschreibt, er ist damit noch lange nicht beim Kern der Sache und seine interessanten Beschreibungen von Emanzipationsformen in alternativen Gemeinschaften bleiben abstrakt. In seinem gegenläufigen theoretischen Kontext kann deren innerer Bezug (ein antagonistischer) zur aufzuhebenden kapitalistischen, notwendig herrschaftsförmigen, also nichtfreien Wirklichkeit gar nicht hergestellt werden.

Wie sind Brüche und Übergänge denkbar?

(13) Immanuel Kant feierte einst die Aufklärung als Ausbruch der Menschheit aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Hegel hielt dagegen: Nur eine historische Entwicklung innerhalb der Unmündigkeit kann die Bedingungen ihrer Aufhebung schaffen . Das Anwenden moralischer Kriterien wie Schuld auf einen historischen Prozess setzt voraus, die Menschen hätten aus mangelnder Aufklärung und/oder Bösartigkeit zuvor nicht bereits grundlegend anders gehandelt. So ist aber eben die reale Problematik der Aufhebung von Knechtung nicht zu begreifen. Spräche mensch allerdings von selbstproduzierter Unmündigkeit und hätte er/sie nicht vorrangig die theoretische Arbeit (wie eben Hegel) sondern auch und gerade die materielle Produktion als Existenzbedingung menschlicher Zivilisation im Auge, dann käme mensch der Frage näher: Unter welchen historisch entstehenden materiellen und geistigen Bedingungen und in welchen Formen kann die Unmündigkeit tatsächlich aufgehoben werden? Von welchem Punkt an wird Unmündigkeit im Sinne ihrer Aufhebbarkeit tatsächlich selbstverschuldet?

(14) Ich hatte großes Glück. Vor 1990 war ich Akteur der real-"sozialistischen" (Knecht- und) Herrschaft und zugleich Analysator der westlichen, ausgerüstet mit einem Bewusstsein vom widersprüchlich-zivilisatorischen Fortschritts beider Gesellschaften. Dann wurde ich u.a. zur Erkenntnis befreit, dass der verteidigte "Sozialismus" seine emanzipatorischen Potenzen ausgeschöpft hatte und nur noch (wie heute der verbliebene westliche Kapitalismus) um den Preis zunehmender Barbarei hätte weiterbestehen können. Das ermöglichte mir ernsthafter als je zuvor Kantsche Fragen selbst zu stellen: Was kann ich überhaupt wissen, was hoffen? Was kann und soll ich tun? Die historisch gewachsenen Bedingungen und die sozialen Qualitäten der jetzigen Gesellschaft beachtend kann ich nun souverän fragen: Was will ich überhaupt? Kann ich auf etwas anderes hoffen als auf Kapitalismus? Unter welchen Bedienungen und in welchen Formen können viele andere Leute Ähnliches fragen und dementsprechend handeln?

(15) Auch heute lebe ich in zwei Welten, von der die eine nicht nur beständig gegen die andere rebelliert, sondern diese zugleich auch voraussetzt. In Spehrs Selbstverständnis geht es um die Förderung der einen, der alternativen Welt, der der nichtherrschaftsförmigen freien Kooperation. Das ist ok. Was mich abstößt: Er ignoriert die soziale Qualität der dominierenden bürgerlich-kapitalistischen Welt. Damit kann er auch und gerade dann, wenn er letzter als unmenschlich, unverständlich, altertümlich denunziert, die notwendige Dimension jedes erfolgversprechenden Aufhebungsversuches nicht erfassen. Das zeigt sich darin, dass er auf eine wesentliche Änderung der Gesellschaft durch persönliche Einsichten in bessere Kooperationsregeln und deren Praktizierung setzt.

(16) Freunde im Diskussionskreis Wege aus dem Kapitalismus erklären mir, es sei nicht Spehrs Anliegen, die Qualität der heutigen Gesellschaft zu referieren. Ihm ginge es nur um ganz allgemeine Bestimmungen einer freien Kooperation und das sein gut so. Ich sollte solche Bestimmungen als zeitlose, also die spezifische Qualität einer Gesellschaft nicht berührende, wichtige Prinzipien annehmen. Die Menschen hätten immer verschieden Handlungsmöglichkeiten (was ich bestätige), also immer auch die, sich zu freien Kooperationen zusammenzuschließen (auch das bestätigt meine eigene Praxis).

(17) Die allgemein-abstrakte Anerkennung von menschlichen Handlungsalternativen ist in Bezug auf unsere Frage völlig nichtssagend. Es geht hier nicht um Alternativen innerhalb knechtender Verhältnisse (z.B. westlicher Kapitalismus versus Real-"Sozialismus"), sondern um deren Aufhebung. Ich kann konkret-historische Bedingungen (vor allem hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen und die damit verbundene geistigen Bedingungen) benennen, unter denen die Alternative "Sozialismus" eben nicht zugänglich war, unter denen jegliche Versuche, kommunistische Gemeinschaften zu etablieren, unvermeidbar Sekten bzw. in einer derartigen Jahrhundertbewegung wie im real-"sozialistischen Kommunismus" enden mussten.

(18) Spehr geht davon aus, dass, wenn freie Kooperationen in der Gesellschaft dominant werden würden, ihre inneren Bestimmungen auch für die ganze Gesellschaft gültig wären. Die freie Kooperation beschreibt er jedoch in den Kategorien der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Und genau das ist die Falle. Sie ist das nicht nur im historischen Sinne. (Ich folge der Auffassung, dass erst die bürgerliche Epoche die Voraussetzungen für Gesellschaften schafft, unter denen sich frei assoziierende Individuen allgemeinmenschlich emanzipieren können.) Es handelt sich auch um einen logisch-systematischen Fehler, der unsere heutigen Suchen nach Wegen aus dem Kapitalismus berührt.

(19) Die Spehrsche Art, die Begründung einer neuen Gesellschaftlichkeit zu denken, ist der von Robert Kurz in seinem Schwarzbuch des Kapitalismus ähnlich. Das mag überraschen, doch in beiden Fällen ist der Zusammenhang zwischen der konkret-historischen Qualität der kapitalistischen Gesellschaft und den realen Möglichkeiten und Schwierigkeiten, diese aufzuheben, ins zeitlos Allgemeine geschoben. Das positive Aufheben dieser Gesellschaft kann entweder gar nicht (mehr) gedacht werden (Kurz) oder unter Spehrscher Ignoranz der Tatsache, dass wir es mit einer gesellschaftlichen Totalität bestimmter Qualität zu tun haben, die sich alle ihre Elemente ein- und unterordnet, auch die Kooperationen.

(20) Kurz sieht in der entwickelten kapitalistischen Welt keinerlei Keimformen einer neuen. Nachdem der angeblich mögliche Weg ins Reich der Freiheit mit dem gebrochenen Widerstand gegen den aufkommenden Kapitalismus nicht gegangen wurde, kann mensch laut Schwarzbuch nur über die allgemeine Katastrophe und die eventuell mögliche massenhafte Erleuchtung in eine neue lebenswerte Welt geraten. Also: allgemeines Verweigern und Warten auf die Katastrophe. Spehr dagegen orientiert bereits in der bestehenden Gesellschaft auf freiheitliche Formen von Gemeinschaften, die wie oben gesagt in manchen alternativen Projekten gut bekannt sind und die auch mich anziehen. Spehrs Text erscheint als ein Aufruf: "Leute, verlasst erzwungene Kooperationen oder droht damit". Wie Kurz (Raus aus dem Stall, ihr Verhausschweinte! ) weist auch Spehr auf einen nur scheinbar massenhaft gangbaren antikapitalistischen Weg (was zugleich den meisten der kapitalistischen Ökonomie angehörigen Begrifflichkeiten Spehrs widerspricht.

(21) Beim Schwarzbuch-Kurz muss das ganze Verwertungssystem wie eine Supernova explodieren ehe die Frage Wie und wovon dann Leben? überhaupt konkret in den Blick kommen kann. Spehr dagegen will, an vorhandene Erfahrungen anknüpfend, sofort beginnen (wogegen nichts zu sagen ist) und zwar unter Ignoranz gegenüber den Zwängen der Wertvergesellschaftung. Bei ihm erscheint die Gestaltung einer ganzen Gesellschaft nach den Prinzipien einer freien Kooperation als die Aufgabe, sozusagen die Gruppendynamik von Gemeinschaften zu beherrschen. Was als völliger Gegensatz (Kurz vs. Spehr) erscheint, hat eine gemeinsame geistige Grundlage: Der Bruch (Kurz) bzw. der Übergang (Spehr) wird weder logisch noch historisch konkret gedacht.

Was kann Theorie leisten?

(22) Meine o. g. Begeisterung über Passagen in Spehrs drittem Teil ist adäquat meiner Ablehnung seiner Theorie, den allgemeinen Bestimmungen der freien Kooperation. Die Diskussion darüber macht nun allerdings Probleme sichtbar, für die ich leider selbst keine überzeugenden Lösungen biete.

(23) Erstens. Die an sich bereits hinreichend vorhandenen Kenntnisse darüber, dass der postfordistische Kapitalismus selbst zur Zivilisationsbedrohung wird, können unmöglich massenhaft aufgegriffen werden, ohne dass in diese Kritik auch Vorstellungen von einer Gesellschaft des positiv aufgehobenen Kapitalismus eingehen. Wenn ich diskutiere, ob oder unter welchen Bedingungen zum Beispiel o. g. alternativen Praxen sozusagen Keimformen von Assoziationen freier Individuen sein könnten oder nicht, dann muss zugleich eine Verständigung darüber erfolgen, wovon denn dies die Keimformen sein könnten. Eine halbwegs entwickelte Vorstellung von der noch nirgends vorhandenen Blüte der Keime, also sozusagen die Bestimmung von Grundzügen einer kommunistischen Gesellschaft, ist für eine freiheitliche Bewegung unverzichtbar. Der Real-"Sozialismus" war es offenkundig nicht. Was aber kann es sein?

(24) Die zweite Anforderung: Genau diese Grundzüge müssen als aufgehobene heutige Verhältnisse gedacht und praktisch konstituiert werden, Sozialismus-Kommunismus als konkret aufgehobener Kapitalismus. Bewegungen zur Durchsetzung allgemeinmenschlicher Emanzipation können sich nur entlang der heutigen Widersprüche und Möglichkeiten entwickeln (Brüche in dieser Entwicklung eingeschlossen). Doch damit sind wir wieder bei der notwendigen Verständigung über die Qualität des heutigen Kapitalismus, bei der Kapitalismusanalyse und -kritik und diese wiederum bedarf einer Vorstellung von Sozialismus. Ein schöner Zirkel! Auflösbar nur indem der Zusammenhang und der Bruch zwischen beiden spezifischen Totalitäten, das Herauswachsen der einen aus der anderen, gedacht und praktisch betrieben wird. Spehrs interessante zusammengefasste Lebenserfahrung hängt, da er die Qualitäten der kapitalistischen Gesellschaft und damit auch die des positiv aufgehobenen Kapitalismus ignoriert, in der Luft.

(25) Wie kommt mensch aber diesem Problem bei? Hilfreich ist das Verständnis dafür (ich meine ein historisch materialistisches kein moralisierend denunzierendes), warum bisher in Ost wie West kein wirklich ernsthafter Schritt in Richtung Aufhebung des Kapitalismus gegangen wurde, genauer: bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in den fordistisch geprägten Gesellschaften nicht gegangen werden konnte. Auch diese Diskussion kann sich im selbigen Zirkel bewegen bzw. sie wird kaum angenommen, insbesondere nicht vom Großteil der Menschen, die sich einst im Osten als staatstragende Sozialisten verstanden. Wer mit antikapitalistischer Absicht die DDR etwa als Sozialismus verteidigt(e) oder kritisiert(e) (etwa mit dem zutreffenden Hinweis, dass es in ihr auch Elemente gab, die eigentlich über den Kapitalismus hinausweisen) und wer demzufolge die Frage nach der tatsächlichen sozialökonomischen Qualität dieser Gesellschaft nicht wirklich zuließ und zulässt, verbleibt in diesem Zirkel. Die Konsequenz: Ein Sozialismus- und Kapitalismusbild, das einen erneuten innerkapitalistischen Modernisierungs- und Zähmungsversuch theoretisch stützt, zu studieren an der PDS-Politik. Mit einer Suche nach Wegen aus dem Kapitalismus hat das nichts zu tun.

(25.1) Unmöglichkeit eines industriellen Kommunismus, 26.12.2001, 11:23, Franz Nahrada: Ich weiß nicht ob dies an anderer Stelle begründet wird aber hier sind wir zumindest jenseits all dessen was bis dato materialistisch über Kommunismus ausgesagt wurde: eine negative Determination wird behauptet.Also im Gegensatz zu Marx' und Engels Hoffnung in das Industriesystem: das blanke Gegenteil. An dem Punkt fehlt mir das Argument - obwohl ich die als solche ausgewiesene Vermutung hier durchaus richtig am Platz fände. Genau ist hier noch gar nichts, nur die Behauptung. Es ist allerdings konsequent, aber sehr schmerzhaft, darüber nachzudenken, und nicht einmal die "Krisis" hat sich über den "Planwirtschaftsfetisch" getraut - freilich um den vom Autor erkannten Preis, daß ihr das Andere der kapitalistischen Gesellschaft seltsam abstrakt bleibt.
Der einzige Autor der meines Wissens ein Kommunismuspostulat aus der "Entgesellschaftung" der Produktionsmittel abgeleitet hat ist Ulrich Sigor mit seinem Entwurf einer "freien Ássoziation der Produzenten" unter dem Namen "Forumswirtschaft". Im Gegensatz zu Christoph Spehr konzentrieren sich seine Verfahrensregeln freier Kooperation allerdings sehr rigide auf den Aufbau des Systems gesellschaftlicher Arbeit, auf die "unmittelbar gesellschaftliche Arbeit" der wissenschaftlichen Analyse des Produktinsprozesses und auf die Rolle von Axiomen, Schemata und Agorithmen einer Automation, die dem Einzelnen oder kleinen Gemeinschaften maximale Freiheit gibt, ohne daß diese Freiheit auf Kosten der Gesellschaft geht. Es ist darin die Forderung nach einer qualitativen Ökonomie die die "unsichtbaren Wirkungen" unserer Handlungen auf die Handlungsvoraussetzung von anderen thematisiert.

(26) Kann dieser (Huhn-Ei-)Zirkel überhaupt durch theoretische Arbeit durchbrochen werden? Vermutlich nicht, wenn Theorie als Aufklärung betrieben wird. Vorstellungen von einer entwickelteren Form sogenannter Keimform - konkret: ein auf heutige Realitäten bezogenes Sozialismusbild - können sich offenkundig nur in Bezug auf solche Praxen entwickeln, die wenigstens teilweise Alternativen zu den dominierenden lohn- und herrschaftsförmigen Verhältnissen darstellen. Parteipolitik jeglicher Art, ein unvermeidbar bürgerliches Projekt, ist ein solches Praxisfeld gerade nicht. Theorien der Befreiung von kapitalistischen Zumutungen könnten sich nur in folgenden untrennbaren Doppelfunktionen entwickeln:

(26.1) Keine richtige Praxis ohne Theorie, 26.12.2001, 11:38, Franz Nahrada: Diese neue Rolle von Theorie könnte darin bestehen, daß Theoretiker und Praktiker in gesellschaftlichen Handlungsfeldern nach Alternativen suchen und sich dabei von lohn- und herrschaftsförmigen Vorgaben durch Akteursbündnisse zu lösen versuchen.Theoretiker sind diejenigen, die valide Handlungsoptionen aufspüren. Das klingt strange in deutschen Ohren, weil hier ist ein Theoretiker jemand der ständig erklärt was NICHT geht...;-)
Douglas Engelbart hat die institutionelle Struktur einer solchen neuen Organisationsweise von Theorie als "bootstrap community" beschrieben:
Zielorientierte Theoriearbeit: Promote awareness of the scale, urgency, and complexity of the challenges we face.
einenständige Organisation: Catalyze, launch, and shepherd an active, strategic pursuit of boosting the collective IQ on a scale commensurate with the rate, scale, and pervasiveness of change.
Möglichkeit zu experimentieren: Create an exploratory environment where participants can collaborate, experiment, and set in motion advanced pilot outposts* in diverse application areas.
Integration von Leben und Lernen: Enable a whole new way of thinking about the way we work, learn, and live together.
unbeschränkte Vernetzung: Promote development of a collective IQ among, within, and by networked improvement communities.
freie Repositories: Cultivate a knowledge environment that includes a shared dynamic knowledge repository
technisch unterstütztes Gestalten: Foster development of an open-platform information system infrastructure based on an open hyperdocument systems (OHS) framework.
Bündnisse: Share the A-B-C's of bootstrapping and support co-evolution of human organizations and their tools. Enable sharing of effort, cost and risks of advanced exploration among a diverse set of organizations and improvement communities.
Bootstrap

(27) Einmal als Selbstbewusstsein von theoretisch interessierten Akteuren, die selbst solche Praxisformen mitgestalten, die unmittelbar (nicht vermittelt über Staat, Warenproduktion und sonstige Entfremdungsformen) auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse gerichtet sind.

(28) Zweitens stellt eine solche Theorie ausdrücklich den Bezug zur jeweiligen gesellschaftlichen Totalität her, heute also zur noch bürgerlich-kapitalistisch geprägten. Es handelt sich auch dabei um die kritische Reflexion der je eigenen widersprüchlichen Existenzbedingungen alternativer Lebens- und Produktionsweise, deren partielle Abhängigkeit von und ihre Gegnerschaft gegenüber kapitalistische Normalität.

(29) Die mögliche neue Gesellschaft wäre damit nur durch diejenigen erkennbar, die sich des Widerspruchs ihrer konkreten Teil-Praxen zur Gesamtgesellschaft und ihrer weiterhin partiellen Teilhabe an letzterer wohl bewusst sowie zugleich entschlossen sind, ihre eigenen Wirklichkeiten nach ihrem Maße zu gestalten. Menschen, die alternativen Lebens- und Arbeitsweisen nicht einmal in Ansätzen versuchen, könnten dagegen die spezifischen Qualitäten der alten und der zukünftigen Gesellschaft nicht oder nur schwer erkennen. Das hieße: Menschen können sich nur eine solche Wirklichkeiten theoretisch aneignen, die sie selbst auch mit schaffen. Menschen, die sich wenigstens partiell in Assoziationen engagieren, die frei von Entfremdungsmechanismen auf die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung gerichtet sind, haben auch die Chance, ganze Gesellschaften zu denken, die sich durch freie Individuen konstituieren, Gesellschaften, die für die eigene Tätigkeit zur Sicherung der materiellen Existenz nicht (mehr) der offenen Gewalt oder des stummen Zwangs der Ökonomie bedürfen. Sie können auch erkennen, was unter falsch werdender Hülle an emanzipatorischen Potenzen etwa in der heute dominierenden kapitalvermittelten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft steckt oder eben nicht. Die Marxschen Thesen über Feuerbach und der Gedanke, dass die Theorie nicht nur zur Wirklichkeit, sondern diese auch zur Theorie drängen muss, sind scheinbar für die Suche nach Wegen aus dem Kapitalismus höchst aktuell. Ebenfalls die mir früher als ML-er suspekte Überlegung, dass sich in der Entwicklung zum Kommunismus die theoretische Arbeit als gesonderte Form der Aneignung der Wirklichkeit aufheben wird, damit die gesonderte Existenzen kritischer Kritiker (ebenso wie die von Malern, die Fischern usw. "sowie von Politikern" möchte ich hinzufügen). Wenn sich Individuen wenigstens partiell in solchen Feldern und Praxisformen bewegen, in denen sie selbst Keimformen einer neuen möglichen Gesellschaft gestalten, dann bringen sie für sich selbst auch partiell eine neue Wirklichkeit hervor, in dem sich als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse ein anderes menschliches Wesen konstituieren kann. Theoretisch schon seit langem begründet , von mir auch vor und nach der Wende praktisch erfahren und nun endlich auch durchdacht, gehören partei- und staatsförmige Praxen, richtiger jegliche Vertretungsdemokratie/-diktatur, ebenso das Ringen um Bewahrung der Lohnarbeit zu denjenigen Feldern, auf denen (im Unterschied zu früheren Epochen) heute weder praktischer emanzipatorischer Fortschritt noch theoretische Einsichten in Wege aus dem Kapitalismus errungen werden können.

(29.1) Und wo geht es?, 26.12.2001, 11:43, Franz Nahrada: Vielleicht kann stattdessen aufgezeigt werden, wo überall solche Fortschritte und Einsichten positiv möglich sind. Was ist die Rolle von NGOs? Was die Rolle von lokalen und thematischen Communities? Hier taucht die Frage nach Stefan Meretz' "Keimform" auf....

Sklaven und Erbsünden

(30) Einige Marginalien zum Text verdeutlichen vielleicht meine Einwände hinsichtlich Spehrs theoretischer Grundposition. Er schreibt S. 7/8: "Zukünftige ArchäologInnen, die unser Zivilisation aufgraben, wären erstaunt über die unglaubliche Menge an Artefakten, die diese Zivilisation des demokratischen Zeitalters hervorgebracht hat: Raumfahrzeuge und Endlagerstätten, Kraftwerke und Fabrikhallen Börsen und Konzertsäle, Business-Center und Paläste des privaten Luxus. Die ArchäologInnen der Zukunft würden dieselbe Schlussfolgerung ziehen wie wir, wenn wir die Pyramiden von Gizeh [...] betrachten: dass diese Artefakte das Werk von Sklavenarbeit gewesen sein müssen, sehr wahrscheinlich Kriegsgefangene oder gewaltsam Verschleppte, und deren Kinder und Kindeskinder. Damit wären sie nicht weit weg von der Wahrheit." Ich würde dagegen sagen, dies dürfte eine Beleidigung zukünftiger ArchäologInnen sein. Die dürften auch an der Art unserer heutigen Artefakte erkennen, dass diese eben nicht in Sklavenarbeit entstanden. De Aufhebung von Herrschaftsförmigkeit kann m.E. schlecht auf der Ebene anthropologischer Fragestellungen diskutiert werden. Es wird die besondere Qualität der jetzigen Gesellschaft verwischt, die durch eine Gesellschaft von Assoziationen freier Individuen aufgehoben werden kann. So gerät die aufzuhebende kapitalistische Form von Arbeit und Leben eben nicht ins Visier und damit auch nicht die wirklich neue Qualität der angestrebten freien Gesellschaft. Lohnarbeiter und Arbeitlose, Manager und Subalterne, Kupon-Abschneider und Sozialhilfeempfänger sind keine Sklaven. Wenn Spehr zugleich von der Chance spricht, dass Menschen die Kooperationen, in denen sie wirken, verlassen könnten, dann kann es sich auch nicht um Sklaven handeln. Die Qualifizierung der Kapitalverhältnisse, des stummen Zwangs der Ökonomie als Sklavenverhältnisse geht an dem wirklichen Problem, nämlich der Aufhebung gerade dieses stummen Zwangs vorbei. Es verniedlicht das wirklich existentielle Problem der Suche nach anderen gesellschaftlichen Strukturen.

(31) "Man stelle die Frage, was von den Artefakten zustande kommen würde, wenn diejenigen, deren Arbeit darin gerinnt, aus freien Stücken übereinkommen müssten, sie zu bauen oder zu ihnen beizutragen. Wenn sie aus eigener Motivation dafür Zeit und Kraft bereitstellen müssten, und nicht aus dem Zwang heraus, sich in der einen oder anderen Form dafür zu verdingen. Es wären wenige der Artefakte, die übrigbleiben." (8) Spehr befördert Empörungen, die an der Sache vorbeigehen. Er gehe zum Potsdamer Platz und schaue sich die Massen der dorthin "gezwungen" pilgernden Menschen an. Mensch kann getrost davon ausgehen, dass ein großer Teil von ihnen auch zu denjenigen "Zwangs"-Arbeitern gehört, die genau solche Artefakte errichten, die noch stolz auf ihre Produkte sind und sich wünschen, dass immer mehr solche Kapital-Pyramiden errichtet werden. Sie sehen sich mit ihrer ganzen Existenz einschließlich ihrer Freuden an solche Produkte gebunden. Das jüngste Zusammenstürzen von zwei solchen Kathedralen wird von ihnen mehrheitlich tatsächlich als Angriff auf ihre eigene Existenz angesehen.

(32) Der tatsächliche Zwang, "sich in der einen oder anderen Form" zu verdingen, der Menschen zu mehrheitlich willentlichen Akteuren (und Opfern) in dieser "schönen Maschine" macht, hat eine viel umfassendere Dimension, als dass dieser Zwang durch Weggehen, durch personifiziertes Anklagen etwa im Stil der Bärengeschichte, durch darauf sich stützendes anderes Denken auch nur erschüttert werden könnte. Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Mit der Spehrschen Methode wird die wirkliche Problematik nicht in ihrer tatsächlichen Produktionsform sondern als eine äußerliche, von falschem Denken und dementsprechendem Verhalten ausgehende gesucht und "gefunden". Wer die charakteristische bürgerlich-kapitalistische Form des Zwangs zu (Lohn-)Arbeit selbst kritisieren und Auswege erkennen will, kann dies nicht in den Selbstverständigungsbegriffen dieser Gesellschaft tun.

(33) "Spehr beschreibt einfach Erscheinungen an der Oberfläche", wird mir entgegengehalten, "er ist kein Marxist. Du kannst nicht erwarten, dass er historisch-materialistische Zusammenhänge darstellt." Außerdem habe er in seinem Alien-Buch durchaus Konstitutionsprozesse von Herrschaft näher beschrieben. "Na und", kann ich nur sagen, "ich weiß selbst nicht, ob ich ein Marxist bin. Muss mensch Marxkenner sein, wenn er oder sie nach den tieferliegenden Zusammenhängen von Oberflächenerscheinungen fragt, die ihn stören?" Nicht nur über die blauen Bände kann mensch erkennen, dass der reale Schein (zum Beispiel der einer Naturgegebenheit kapitalistischer Abhängigkeitsverhältnisse) nicht einfach Unsinn, sozusagen Priesterbetrug ist, sondern der Schein von etwas Bestimmten und dass demzufolge der Versuch, sich falsches Bewusstsein aus dem Kopf zu schlagen, ohne zugleich die Bedingungen praktisch umzustürzen, die beständig falsches Bewusstsein hervorbringen, ein frommer Wunsch bleibt und selbst wieder neue Dämonen hervorbringt.

(34) Weiter Spehr: "Es ist die Erbsünde der demokratischen Moderne, diese Gewalt nicht prinzipiell bekämpft zu haben, sondern sich vorrangig damit zu beschäftigen, wie sie legitimiert und verregelt sein soll und wer darauf Einfluss erhält."(9) Spehr will heute dominierenden Herrschaftsverhältnisse aufheben, ohne die spezifisch kapitalistische Qualität (d.h. unter anderem ihre historische und jetzige spezifische Funktion für Herrschende und Subalterne) zum Thema zu machen. Das geht aber nicht, wenn er (wie auch R. Kurz) deren spezifisch kapitalistische Qualität als eine zufällig oder bösartig vorangetriebenen Fehlentwicklung der Natur oder der Gesellschaft ansieht, einen Irrtum der Geschichte, sozusagen eine unglückliche Mutation, Entartung, die jene Erbsünde begründete, ohne die sich die Geschichte etwa hätte gewaltlos- oder gewaltarm entwickeln können.

(34.1) 21.12.2001, 17:18, Ano Nym: Was nicht betrachtet wird ist der katalytische einfluss der politischen Arbeit, der der einzig relevante überhaupt sein kann, wenn man nicht nach MAcht und Herrschaft strebt. Nicht große Volksbewegungen, sondern Produktion von Reaktionen. Genauso wie ein Symbol wie ein Denkmal oder ein repräsentatives Gebäude, oder eine Demonstration eine katalytische Bedeutung hat. Man brauch gar keine "Massenbewegung".

Ein weiteres Konzept kapitalistischer Modernisierung

(35) Die freie Kooperation, die Spehr hier in den theoretischen Passagen seiner Arbeit beschreibt, eröffnet meines Erachtens keine der Aufhebung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Diese Theorie befördert und erweitert eher eine weitere Entfaltung des stummen Zwangs der (kapitalistischen) Ökonomie, versüßt durch die Möglichkeit, die Bereiche der Unterwerfung unter anonyme Mächte (unter das Es-muss-sich-rechnen = Kapital muss sich verwerten) frei wählen zu können. Heutiges Kapital will und muss an das Gold in den Köpfen der unmittelbaren Produzenten heran. Es braucht zunehmend Leute, die sich eine gewisse innere Souveränität bewahren wollen und können, und die befähigt sind, relativ leicht aus einer Abhängigkeit in eine andere zu wechseln - in eine jeweils als noch nicht so drückend wahrgenommene. Es braucht zunehmend Menschen, die die immer noch großen Refugien nicht-lohnarbeitsmäßiger unmittelbarer Befriedigung menschlicher (Reproduktions-)Bedürfnisse und damit die (familiären oder sonstigen) Gemeinschaften verlassen und möglichst alle ihre Bedürfnisse unmittelbar warenförmig befriedigen. Manche Mitarbeiter in jungen Firmen der Neuen Ökonomie zum Beispiel könnten sich von Spehrs Theorie als zutreffend beschrieben und bestätigt fühlen (wenigstens in der Aufstiegsphase dieser Ökonomie).

(36) Die (neoliberale) kapitalistische Produktionsweise hat tatsächlich noch eine große Entwicklungspotenzen - so die in die Tiefe der Gesellschaft. Sie treibt dahin, auch noch die letzte Reproduktionsarbeit der Verwertung zu unterwerfen. Kapitalismus braucht und schafft sich Yuppies, möglichst losgelöst von traditionellen (familiären) und moderneren Gemeinschaften, in denen (noch) nichtwertförmig menschliches Leben reproduziert wird. Die Spehrschen Bestimmungen freier Kooperationen können auch als ideologische Flankierung dieser Entwicklung gelesen werden. Ist dies überzogen? Wie soll ich angesichts des kapitalistischen Umfelds die entscheidende Bestimmung freier Kooperationen sonst lesen?: Die "vorgefundenen Regeln und die vorgefundene Verteilung von Verfügung und Besitz [sind] ein veränderbarer Fakt. [Die Beteiligten können ] ihre Kooperationsleistungen einschränken oder unter Bedingungen stellen [...], um auf die Regeln der Kooperation in ihrem Sinne einzuwirken." Das Ausscheiden aus der Kooperation müsse "zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis" erfolgen können." (88f)

(37) Das Kriterium "vertretbarer Preis" wurde bereits umfassend kritisiert (siehe open theorie). Die Nutzung des Geldausdrucks von Wert drückt ebenso wie der unhinterfragte Kapital-Begriff, den Spehr gebraucht, um innere Prozesse in freien Kooperationen darzustellen, aus, dass er die kapitalistische Qualität der Gesellschaft nicht nur nicht ignoriert, sondern ausdrücklich voraussetzt.# Belege# Freie Kooperation kann so nur als im Kapitalismus agierend und in ihr verbleibend beschrieben werden. Der Witz ist unter anderem der, dass etwa im Erfolg derjenigen Unternehmen der New economy, die Spehrs allgemeinen Bestimmungen weitgehend entsprechen, gerade jene gesamtgesellschaftlichen Zwangsverhältnisse auf eine besonders dynamische und anarchische Weise produziert werden, die als stummer (oder auch offener) Zwang über die Menschen samt ihrer alternativen Gemeinschaften herrschen. Der (kapitalistische) Terror der Ökonomie ist mit der Möglichkeit von Individuen, bestimmte Kooperationen zu verlassen (und damit gegebenenfalls auch partiellen Einfluss zu nehmen), glänzend vereinbar, diese (kapitalistisch beschränkte) Freiheit und jener Terror gehen beständig ineinander über und finden gerade in den von Spehr angeklagten heutigen Artefakten ihre Bestätigung und angebetete bzw. (mit fliegenden Bomben) angegriffene Ornamentik. Diese [Selbst-]Unterwerfung verbunden mit dem weitestgehenden Schein von persönlicher Souveränität, drückt sich aus in der Reduzierung jeglicher Verbindlichkeit von menschlichen Beziehungen auf die Höhe des Ablösepreises und der persönlichen Fähigkeit, Zwang auf die Kooperationspartner auszuüben. So könnte mensch eher die vollendete Blüte der bürgerlichen Gesellschaft beschreiben, aber keinen einzigen Schritt ihrer Aufhebung, kein Schritt in die Freiheit von Unterwerfung unter äußere Zwecke.

(38) Ich nehme Einfluss auf die Kooperation mittels einer Drohung: Wenn es nicht läuft wie ich will, dann gehe ich. Diese rein negative Bestimmung einer angestrebten emanzipatorischen Praxis bleibt im Verneinten hängen und treibt es auf ein neues Niveau. Die Enge des Ostens bin ich los (was ich im Nachhinein als partielle Emanzipation ansehe). In meinem Bestreben, auch aus der heutigen Form von Knechtschaft unter das nun eher anonyme automatische Subjekt herauszukommen, ist mir Spehrs Theorie keine Hilfe. Wer allerdings in der kapitalistischen Modernisierung noch unausgeschöpfte zivilisatorische Potenzen sieht und diese durch Teilhabe an bürgerlichen Herrschaftsstrukturen ausschöpfen will, sieht das sicher anders. Der PDS-nahe Preis für Spehrs Grundlegung ist vermutlich den theoretischen Aussagen geschuldet, nicht aber denjenigen Passagen, die mich in meiner Abkehr von Macht- und Parteistrukturen bestärken.

Das nächste Problem

(39) Spehr präsentiert also interessante Erfahrungen alternative Gemeinschaften und läuft mit seiner Theorie in die Modernisierungsfalle. Also: "Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ist Kröpfchen (oder lieber umgekehrt)?" In meiner an Marx geschulten Gewohnheit frage ich lieber weiter: Vielleicht ist auch diese Widersprüchlichkeit in Spehrs Arbeit sozusagen selbst ein Widerschein von Tendenzen, die über den Kapitalismus hinaustreiben können? Also wieder zu den Keimformen, zur Frage nach dem umstrittenen "richtigen" individuellen bzw. kollektiven Leben im "falschen" Ganzen.# (Adorno, Wo?) Meine Hypothese: Die innere Entwicklung des "falschen" Ganzen kann zu einem Punkt führen, da das "richtige" Leben im Sinne von allgemeinmenschlicher Emanzipation auch geschichtsmächtig werden kann. Bezogen auf Adornos Zeit scheint mir die Behauptung begründet, dass es im Sinne potentiell geschichtsmächtiger Ansätze, die die bürgerliche Epoche samt ihrer Katastrophen aufheben könnte, kein richtiges Leben im Falschen gab. Klaus Mann demonstrierte mit seinem künstlerischen und biologischem Ende die Konsequenzen aus solcher Weitsicht und Wahrhaftigkeit. Heute, so meine große Hoffnung, für die ich einige Gründe angeben kann, ist das "falsche" kapitalistische Ganze selbst der Möglichkeit seiner positiven Aufhebung entgegengewachsen, drängt auch in diesem Sinne Wirklichkeit zur freiheitlichen Theorie.

(40) Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Keimformen des neuen Lebens, die das Ganze (noch) nicht dominieren, sind auch (noch) nicht das Neue selbst. In ihren der alten Totalität untergeordneten Formen stellen sie nicht das sozusagen kleine zukünftige Ganze dar. Der notwendige gesellschaftliche Umbruch, der eine neue Qualität sozialer Beziehungen hervorbringen muss, kann nicht dadurch erfolgen und nicht so gedacht werden, dass sich die bestehenden Ansätze zu Alternativen, die Keimformen, einfach ausweiten, gegebenenfalls vernetzen und sich sozusagen ihr schon unter falscher Hülle vorhandenes, aber noch nicht dominierendes neues Wesen auf die gesamte Gesellschaft ausdehnt. Tausende Landkommunen etwa können nicht dadurch die Gesellschaft kippen und der alten ihr Wesen aufprägen, dass sie sich weiter vermehren und ausdehnen.

(41) Spehr hält die Grundsätze der freien Kooperation sowohl für die kleine Gemeinschaft als auch für die gesamte Gesellschaft für gültig und realisierbar, die freie Kooperation im kleinen sei dann der gesamten Gesellschaft, gedacht und konstituiert eben als freie Koooperation, selbstähnlich. Stephan Meretz hat zum Beispiel darauf verwiesen, dass kollektive und gesellschaftliche Strukturen sich nie selbstähnlich sein können.

(42) Die soziale Qualität der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft beachtend ist diese berechtigte Kritik weiterzuführen. Es zeigt sich, dass diese Qualität selbst die Existenzbedingungen von Kommunen mit einem sehr hohen Grad an Selbstversorgung in einer spezifischen Weise bestimmt. Sie begrenzt nicht nur der quantitativen Erweiterung von solchen Alternativen (die in ihren Außenbeziehungen unvermeidbar eine funktionierende kapitalistische Warenproduktion voraussetzt und reproduziert). Sie beeinflusst auch die inneren sozialen Beziehungen in den alternativen Projekten selbst. Die tatsächlich immer wiederkehrenden Tendenzen zur sozialen Abschottung solcher Gemeinschaften, zur Zurücknahme ursprünglich weitgefasster emanzipatorischer Impulse widerspiegelt diese Problematik. Unfähig selbst eine geschichtsmächtige Dynamik zu entfalten, sind sie, wollen sie nicht eingehen oder zu ganz normalen kapitalistischen Unternehmungen werden, geradezu dazu gezwungen sich zu arrangieren, sich der bürgerlichen Welt anzudienen. Diese Problematik benennt Spehr nicht, doch sie ist eben vorhanden und muss mitgedacht werden. Beachtet mensch dies jedoch (und zwar im Gegensatz zur kapitalförmigen Begrifflichkeit im Theorie-Teil), dann gewinnen die o.g. erfreulichen Passagen im dritten Teil an erheblicher Bedeutung. In diesem Sinne ist seine Arbeit auch ein (unbewusster) Widerschein des unvermeidbaren Konfliktes zwischen den emanzipatorischen Ansprüchen solcher Projekte (im o. g. Sinne als Keimformen gedacht) und ihren kapitalförmigen Existenznotwendigkeiten.

(43) Ich versuche diese objektive Problematik und deren geistige Widerspiegelung für Qualifizierung meines geschichtsmaterialistischen Verständnisses, also für die Erkenntnis von Voraussetzungen und Formen möglicher Wege aus dem Kapitalismus sowie für die Bewertung der eigenen nichtwarenförmigen Gemeinschaftlichkeiten fruchtbar zu machen.

(44) Dazu muss ich erstens weitere Gründe nennen für meine Hochschätzung der unter den Stichworten Entprivilegisierung der formalen Arbeit, Aneignung von Räumen und Zusammenhängen, Ermöglichung (Freundlichkeit), Gestaltung (agancy), Organisierung, Individuation gegebene Zusammenfassung und Verallgemeinerung. Es ist nicht nur bedeutsam, weil es Gemeinschaften helfen kann, mit inneren Konflikten produktiv umzugehen und uns z.B. ein kleines Refugium zu sichern. In solchen Kooperationen entwickeln sich bei den Beteiligten zugleich auch soziale Fähigkeiten, die eine bedeutsame Basis dafür darstellen können, dass notwendige, viel weitergehende große soziale Umbrüche von der subjektiven Seite her überhaupt denkbar und damit auch praktisch möglich werden. Im sozusagen übersättigten kapitalistischen Meer entstehen hier materielle und geistige Kristallisationspunkte für ein breites Engagement von Menschen für das eigene lebenswerte Leben jenseits des Es-muss-sich-rechnen.

(45) Zweitens will ich fragen: Gibt es nicht auch hinsichtlich des von mir als zivilisatorische Sackgasse bezeichneten Yuppietums und dessen theoretischer Flankierung bei Spehr irgend etwas, das unter der Voraussetzung neuer sozialer Bewegungen zur positiven Aufhebung von Kapitalverhältnissen treiben kann? Entwickeln sich in dieser jüngsten Form der erzwungen-freiwilligen Knechtschaft in noch kapitalistischer Form eventuell subjektive Eigenschaften, die noch nicht die Wirklichkeit, aber die Möglichkeit nach einer neuen Form von Vergesellschaftung bieten?

Emanzipatorisch-antikapitalistische Potenzen des bürgerlichen Individuums?

(46) Spehrs entscheidendes Kriterium für die Konstitution und Lebensfähigkeit freier Kooperationen (das Individuum kann dieses zu einem annehmbaren Preis verlassen, kann mit Leistungsentzuge drohen, so Einfluss auf Struktur und Inhalt der Kooperation nehmen) beschreibt - wie gesagt - die Grundsituation bürgerlicher Individuen und zwar dann, wenn zusätzlicher Arbeitskräftebedarf besteht. Das ist die ideale Situation der für die kapitalistische Produktion benötigten bürgerlichen (Lohnarbeits-)Monade. Sie ist frei von persönlichen Bindungen und Kapital. Sie kann und muss aber die eigene Fähigkeit zur (Lohn-)Arbeit verkaufen. Die entscheidenden sozialen Beziehungen dieses Individuums zur Gesellschaft sind an seine Möglichkeiten gebunden, (Mehr-)Wert zu produzieren.

(47) Für unsere Frage bedeutsam: In der innerkapitalistischen Epoche macht das Individuum, das vom Verkaufe der Ware Arbeitskraft lebt, selbst erhebliche Entwicklungen durch. So ist es ein wesentlicher Unterschied, ob es als Angehörige/r einer großen industriellen Arbeiterschaft der tayloristisch-fordistischen Produktionsweise agiert oder durch die heute zunehmende postfordistische Produktions- und Lebenspraxis geprägt wird. Im ersten Falle kann sich dieses Lohnarbeitsindividuum in großen organisierten Massen als mehr oder minder kämpferisches Klassenindividuum entwickeln. Die extrem tiefen und hierarchischen Arbeitsteilungen in der Produktion finden in den Strukturen der großen gewerkschaftlichen und proletarisch-politischen Strukturen ihre Entsprechungen. Sich zur handelnden Klasse konstituierend, können diese Menschen eine geschichtsmächtige, unter Umständen staatenzerstörende und staatenbegründende Kraft entwickeln. Dieser Typ (Lohn-)Arbeiter treibt mit seinen klassenmäßig beschränkten partiellen Emanzipationsbewegungen die kapitalistische Produktionsweise selbst und die ihr entsprechende Gesellschaft zur Ausschöpfung ihrer zivilisatorischen Potenzen. Diese Entwicklungsmöglichkeit und damit auch die Rolle des proletarischen Klassenkampfindividuums scheinen mir mit der Ereichung des Höhepunktes der fordistischen Vergesellschaftungsform ausgeschöpft. Die postfordistische Produktionsform löst auch zunehmend die charakteristischen alten proletarischen Milieus auf, zwingt die unmittelbaren Produzenten immer mehr in neue Rollen. Die reelle Subsumtion unter das Kapital in der Form der Unterordnung des einzelnen Individuums unter die große, kapitalistisch betriebene Maschinerie beginnt sich aufzulösen. Die einzelnen Individuen vermögen immer weniger massenhaft in Klassenstrukturen aufzutreten und werden dazu gezwungen, sich zunehmend tatsächlich als einzelne Monade bewusst und aktiv zu den jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen zu verhalten. Maßgebliche Bestimmungen der formellen Subsumtion unters Kapital üben sie selbst aus: die Einordnung in große Strukturen, das Sich-rechnen-müssen. Sie müssen zunehmend selbst die Kooperation zu vor- und nachgelagerten Produktionsprozessen gestalten, sich selbst in größere Strukturen einordnen, sich selbst kontrollieren, disziplinieren, selbst abrechnen, z.T. selbst ihre Aufträge akquirieren usw., kurz sich selbst unternehmen. Gegenüber dem der großen kapitalistischen Maschinerie untergeordneten Arbeiter hat dieses Individuum erheblich weitere Aktionsräume. Die große Grenze des Ganzen, die diese vermeintliche Freiheit häufig zum Horror werden lässt, ist das Kapital selbst. Dessen anarchischen Entwicklungen ist weiterhin individuell und gesamtgesellschaftlich-staatlich nicht beherrschbar, die Unterordnung der agierenden Individuen unter eine äußere Zweckmäßigkeit, die Verwertung von Wert, wird nicht aufgehoben. Von einer wirklichen Souveränität der Individuen im Produktionsprozess und gegenüber diesem kann keine Rede sein. Im Gegenteil, die soziale Absicherung aller (nun forciert auch die Altersversorgung), selbst die individuelle Existenz von aktuell Besserverdienenden wird zum Lotteriespiel.

(47.1) 26.12.2001, 12:01, Franz Nahrada: Das liest sich jetzt so wie einerseits eine Einlösung der obigen Behauptung von der Unmöglichkeit des Industriellen Kommunismus, andererseits könnte man auch hier eine Unmöglichkeit des Kommunismus der freigesetzten Individuen ableiten. Wie ist das denn jetzt mit den Handlungsmöglichkeiten? Irgendwie produzieren die freigesetzten Individuen ja ein riesiges Chaos, demgegenüber man sich z.B. die alte Post richtiggehend zurückwünscht....

(48) Das bürgerliche Individuum, das Spehr beschreibt, ist nicht das alte in ein relativ stabiles Milieu eingebundene fordistische Klassenindividuum. Es gehört vielmehr dem (noch) relativ kleinen, aber wachsenden Teil von Menschen an, die als Unternehmer ihrer selbst sich beständig neu verkaufen und anwenden sein müssen (und häufig auch wollen) und die häufig alte Kooperationen verlassen und neue bilden. Die Wertbezogenheit, in der das geschieht, setzt Spehr voraus (siehe seine Begrifflichkeiten Preis, Kapital, das Prinzip: Gibst du mir, gebe ichs dir. Wenn nicht, dann ...), ohne dies zu problematisieren. Bleibt die Suche nach Zukunft jedoch gedanklich und sachlich den Wertkategorien verhaftet, liegt selbst im größten individuellen Bewegungsraum keinerlei Keimform einer neuen Gesellschaft und ist eine solche auch nicht erkennbar. Es ist mir schleierhaft, wie Spehr auf dieser Basis überhaupt seinen Gesellschaftsbegriff mit einem Freiheitsbegriff in Verbindung bringt, der doch mehr ausdrücken soll als die Möglichkeit des Lohnarbeiters, sich die Stellen aussuchen oder zu verlassen, in denen er unter äußerer oder nunmehr eigener Kontrolle verwertet wird.

(49) Basierend auf der kapitalistischen Produktionsweise die bürgerliche Gesellschaft potentiell als eine freie Kooperation zu denken, wie Spehr das versucht, das war ein für frühbürgerliche Ideologen charakteristisches Verfahren. Diese frühen Denker hoben allerdings den zivilisatorischen Fortschritt gegenüber den persönlichen feudalen Abhängigkeiten hervor. Ihr Irrtum, das als die Freiheit überhaupt zu preisen, die die höchste allgemeine Wohlfahrt hervorbringe, hatte im Gegensatz zur Gegenwart eine gewisse historische Berechtigung.

(50) Wenn heute unter Bezugnahme auf tatsächliche Oberflächenerscheinungen Praktiken das neoliberalen Kapitalismus zunehmend mit Begriffen wie Sklaverei, Terror angeklagt werden, so ist das zwar auch falsch, doch es offenbaren sich in diesem Irrtum insofern Realitäten, als der Kapitalismus selbst an die Grenze seiner Zivilisationsverträglichkeit gekommen ist und zunehmende Teile der ganzen Gesellschaft sozusagen in Geiselhaft eines zerstörerischen Systems genommen werden. Dagegen mit Gleichheitsforderungen und Regeln über akzeptable Preise des Wechsels zwischen dadurch angeblich freier werdenden Arbeitsstrukturen vorgehen zu wollen, bedeutet nichts weiter, als auf irgendeine Weise doch wieder auf eine neue Stufe zivilisationsverträglicher kapitalistischer Modernisierung zu setzen zu wollen. Modernisierungen kapitalistischer Art wird es weitere geben können, allerdings nur noch solche, die menschliche Katastrophen hervorbringen, ohne wie in der Vergangenheit häufig die menschliche Zivilisation fördern zu können. Wäre es nicht eher an der Zeit, über die Aufhebung der kapitalförmigen Lebens- und Arbeitsweise selbst nachzudenken, und diese nicht wie bei Spehr unhinterfragt den theoretischen Überlegungen zugrunde zu legen?

(50.1) Positiv muß das kein Gegensatz sein..., 26.12.2001, 12:09, Franz Nahrada: ...wie ja auch der Inflationäre Gebrauch des Wortes "frei" in der Oekonux-Szene zeigt. Tatsächlich ist der Systemausweg des Kapitalismus die schrittweise Einführung von Schuld- und Abhängigkeitsverhältnissen und die generalpräventive Kriminalisierung von Autonomie, denen gegenüber das feudale Leben und die vorbürgerliche Subsistenz wahrscheinlich ab und zu doch das Paradies war, als das es von Werlhof bis hin zu Robert Kurz oft genug überzeichnet wird.
Die "Aufhebung der kapitalförmigen Lebens- und Arbeitsweise könnte diese gedoppeltheit von MEHR Autonomie und MEHR Vergesellschaftung durch "Wissenschaft" haben, wie ich an anderer Stelle aufzuzeigen versuchte. Eine Anti (Medien-) feudalistische Rhetorik ist heute durchaus am Platz. Dazu müßten allerdings konkrete Kooperationsformen benannt werden, und hier ist Spehrs Leerstelle.

Ist doch etwas dran?

(51) Unter diesem Gesichtspunkt noch einmal zurück zur Entwicklung des spätkapitalistischer Individualität, die Spehr beschreibt. Es geht um die subjektiven Voraussetzungen für ein wirkliches Freimachen von Unterwerfung unter fremde Zwecke. Im Osten war das Proletariat selbst da, wo die alte Kapitalistenklasse vertrieben war, dazu nicht in der Lage. Das westliche Proletariat kam außer in den Jahren 1918ff und eventuell noch in den 1930ern im anarchistischen Katalonien dieser Möglichkeit nicht einmal auch nur nahe. Dies muss auch mit der Subjektivität dieser damaligen, wesentlich von zunehmenden tayloristisch-fordistischen Produktionsformen geprägten Proletarier zusammenhängen. Heute, da die alten Arbeits- und Lebensformen, die diese Subjektivität beförderten, weichen, kann und muss die Frage neu gestellt werden und dies nicht nur in Bezug etwa auf die unmittelbar in der materiellen Produktion tätigen Menschen. Ich frage also: Können sich heute selbst unter den Bedingungen, da alles letztlich nur dem äußeren Zweck der Verwertung von Wert dient, auch im noch isoliert agierenden Individuum emanzipatorische Potenzen akkumulieren? Wachsen hier Möglichkeiten, die zwar im Sinne allgemeinmenschlicher Emanzipation innerhalb der Wertvergesellschaftung (noch) gar nicht zum Tragen kommen können, die aber unverzichtbare subjektive Voraussetzungen für das Entstehen wirklich freier Kooperationen darstellen? Es geht um Gemeinschaften freier Individuen, die sich nicht durch Verwertungszwänge der (Lohn-)Arbeit konstituieren, deren Engagement direkt auf die Bedürfnisbefriedigung der bewusst assoziierten freien Individuen gerichtet ist. Nicht Verzicht, Askese, Beschränkung, sondern eine Bedürfnisbefriedigung auf der Höhe der zivilisatorischen Errungenschaften der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Würden sich in den sich selbst unternehmenden Individuen tatsächlich subjektive Potenzen einer möglichen Aufhebung von Kapitalverhältnissen akkumulieren, dann könnte ich auch in Spehrs Beschreibung des frei agierenden Yuppies eine Zukunftsmöglichkeit entdecken.

(52) Was kann also das durch die postfordistischen Gesellschaftsstrukturen sich herauspressende voll entwickelte bürgerliche Individuum an subjektiven Voraussetzungen für die Aufhebung des Kapitalismus entwickeln? Was ist es in dieser Hinsicht, das den östlichen Gesellschaften mit ihren geringer entwickelten bürgerlicher Subjektivität in einem solchen Maße nur ungenügend zur Verfügung stand, dass diese nun doch den Gang durch das kaudinische Joch des Kapitalismus antreten? Ist heute gerade dasjenige viel weiter entwickelt, dessen Mangel Lenin einst als entscheidendes Hemmnis dafür ansah, überhaupt Wege in Richtung Sozialismus-Kommunismus einschlagen zu können. Er forderte überraschend, die russischen Kommunisten müssten wie die gerade verjagten Bourgeois Handeln und Schachern lernen. Dies war nicht nur eine Frage des unmittelbaren ökonomischen Überlebens. Die Entfaltung wesentlicher Seiten bürgerlicher Subjektivität selbst erschien Lenin offenkundig als eine solche Voraussetzung, ohne die Sowjetrussland keinen Weg in den Sozialismus finden konnte (und denn auch nicht fand).

(53) In der sich heute forcierenden widersprüchlichen und häufig als barbarisch erlebten Selbstvermarktung von Menschen müssen die Akteure im eigen Interesse fähig sein, zielgerichtet Kooperationen zu analysieren, zu beeinflussen, in sie einzutreten und sie wieder zu verlassen. Auch wenn sie dazu nach wie vor von den nicht beherrschten anarchischen Kapitalverhältnis getrieben werden und von wirklicher Freiheit keine Rede sein kann - diese Menschen entwickeln gezwungenermaßen die Fähigkeit, sich bewusst zur ihrer Wirklichkeit zu verhalten, sich selbst darin zu entwerfen, die Interessen der Kooperationspartner (hier = Konkurrenten) möglichst genau zu erfassen und in Relation zu den eigenen Zwecken zu setzen. Ihr Erfolg hängt wesentlich von ihrer sozialen Kooperationsfähigkeit ab - allerdings eben unter dem Diktat eines fremden Zweckes. Die Generation meines Großvaters etwa, der sein ganzes Arbeitsleben neben seinen Klassengenossen vor dem Glasofen stand, konnte solche Fragestellungen und Fähigkeiten überhaupt nicht bzw. nur sehr beschränkt außerhalb der Produktionssphäre entwickeln. Selbstbestimmte Wechsel von einer Kooperation zur anderen lagen in der Regel außerhalb der realen Möglichkeiten und deshalb auch außerhalb des Denkhorizontes. Auch wenn Spehr mitnichten die Verhältnisse von Gesellschaften beschreibt, die als freie Assoziation freier Kooperation bezeichnet werden könnten, auch wenn er mit seinen Begrifflichkeiten gar keine solche Gesellschaft des aufgehobenen Kapitalismus in den Blick bekommt, widerspiegelt er doch Verhaltensweisen, die - große soziale Brüche vorausgesetzt - doch eine neue Gesellschaftlichkeit konstituieren könnten.

(54) Die Tatsache, dass Spehrs Text eine ziemlich große Resonanz erfahren, weist m. E. darauf hin, dass sich heute sozusagen eine zweite Strömung, die über den Kapitalismus hinausweist entfaltet: Es sind heute nicht nur Menschen, die sich etwa in marginalen alternativen Projekten wenigstens teilweise von kapitalistischen Gang der Dinge abzukoppeln versuchen und nichtwarenförmige kooperative Fähigkeiten und Bedürfnisse entwickeln. Auch und gerade in den Kernbereichen der kapitalistischen Produktivität, in seinen erfolgreichsten modernsten neoliberalen Strukturen entwickeln sich, häufig auf barbarische Weise, Eigenschaften, die die Konstitution einer neuen freiheitlichen Gesellschaft tatsächlich denkbar machen. Statt diese Möglichkeit hervorzuheben und nach solchen Praxisfeldern zu fragen, in denen sich die Individuen zu wirklich freien Menschen erheben könnten bzw. in denen dies gerade nicht geht, bleibt Spehr in seinen theoretischen Aussagen der alten Gesellschaft verhaftet.

Jenseits der Warenproduktion

(55) Auf etwa Neues verweisen da viel eher die Formen von Gesellschaftlichkeit, die sich jenseits von Kapital- und Herrschaftsförmigkeit etwa unter den Akteuren der freien Software herausbilden. Hier werden andere Triebkräfte und stabilisierende Faktoren wirksam als die bei Spehr genannten Einflussmöglichkeiten des (bürgerlichen) Individuums gegenüber den jeweiligen Kooperationen. Hier geht es weniger um eine partielle, also bürgerliche, kapitalkonforme Emanzipation durch eine "Dialektik" des Neinsagens, des Aussteigens und des damit verbundenen Verhandelns um Bleibe- oder Ausstiegspreise. Es geht etwa in den Linux-Gemeinschaften nicht um das immer wieder In-Wert-Setzen des einzelnen Individuums bzw. seiner eigenen wertmäßigen Bestimmung durch die Kooperationspartner. Arbeit am nützlichen Produkt bedeutet hier sowohl mittelbare als auch unmittelbare Bedürfnisbefriedigung. Mittelbar bezüglich des Ergebnisses der Tätigkeit weltweit vernetzter Freaks, eben der freien Software, unmittelbar bezüglich des Spaßes an der Tätigkeit selbst, des Selbstgenusses, ein jeweils schwieriges Problem gelöst zu haben.

(56) Neu ist hier für mich: Es kommt hier nicht nur an den Randbereichen der Reproduktion der gesamten bürgerlichen Gesellschaft (etwa in landwirtschaftlichen Kommunen) sondern auf der Höhe der Errungenschaften der bürgerlich-kapitalistischen Epoche erstmalig die Möglichkeit einer Gesellschaft ins Blickfeld, die von der materiellen Seite her auf einer solchen Form von tätiger Bedürfnisbefriedigung beruht, die, sollte sie sich ausweiten, mit einer auf Wert begründeten Gesellschaftlichkeit unverträglich ist. Es handelt sich hier um eine hochqualifizierte, über die ganze Welt hinweg vernetzte nicht-wertförmige, nicht-hierarchisch organisierte Tätigkeit, die selbst ein entscheidendes Lebensbedürfnis ist.

(57) Neu ist nicht, dass es Tätigkeiten unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung gibt. Immer schon, in allen sozialen Formationen waren sie eine unverzichtbare Existenzbedingung menschlichen Lebens überhaupt. Ein wesentlicher Teil der Tätigkeit zur unmittelbaren Reproduktion des menschlichen Lebens - zum größeren Teil von Frauen geleistet - trug und trägt auch in den Metropolen diesen schöpferischen Charakter. Diese Form der Tätigkeiten und der Bedürfnisbefriedigung blieben aber eben meist auf abgeschlossene (familiäre) Bereiche beschränkt ohne Chance wirklich gesellschaftskonstituierend zu werden.

(58) Auch über die von mir anfangs genannten Formen von Gesellschaftlichkeit im erweiterten Wohn- und Familienkreis und vielen derartigen Gemeinschaften lässt sich Gleiches (schöpferischer Charakter und Begrenztheit) sagen. Und die Frage, wie sich solches Verhalten auf großer Stufenleiter entwickeln und damit zugleich die materielle Existenz der Gesellschaft sichern könnte, ist allein mit dem Blick auf solche begrenzten Gemeinschaften nicht zu beantworten. Neu ist in den Gemeinschaften der freien Software in Bezug auf unsere Frage, wie Kapitalismus als knechtende Gesellschaftsform aufhebbar sein könnte, dass

(58.1) Die individuelle Regelung ist zugleich die Schranke der Entfaltung, 26.12.2001, 12:17, Franz Nahrada: Darüber häufen sich die Debatten in der Szene. Nur wirklich wenige können sich ihre "Repro" so "herrichten", daß sie genügend Zeit und Kraft für die Entwicklung von allgemeiner gesellschaftlicher Arbeit haben, und oft genug geht die Entwicklung dann auch mehr vom Spieltrieb des weißen Mannes aus als von der wirklichen gesellschaftlichen Anforderung.

(58.1.1) Re: Die individuelle Regelung ist zugleich die Schranke der Entfaltung, 22.01.2002, 00:15, Stefan Merten: Wo würdest du denn genau den Unterschied zwischen Spieltrieb und Selbstentfaltung ansiedeln? Leuchtet da nicht doch wieder der von außen gesetzte Zweck - die "wirkliche gesellschaftliche Anforderung" - durch? Wer setzt diesen Zweck eigentlich?

(59) Hier wird also in einem Kernbereich moderner Produktivität und Schöpferkraft das konstituierende Moment der gesamten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die kapitalistische Verwertung selbst, in Frage gestellt und zwar nicht als ein Zerschlagen von irgendetwas (entwickelte Kapitalverhältnisse lassen sich gar nicht zerschlagen), sondern als Aufhebung, also durch die Begründung einer neuen Gesellschaftlichkeit auf der Basis der Errungenschaften des sich dadurch aufhebenden Alten.

(60) Es besteht auch die Möglichkeit, dass weitere Bereiche der geistigen Arbeiten, die bisher als Lohnarbeit geleistet werden, auch gemäß der Prinzipien und Formen freier Software-Produktion getätigt werden können. Gelänge dies, würden gerade die an Bedeutung schnell zunehmenden Produktionsbereiche (Forschungen, Projektierungen, geistige Dienstleistungen) der Verwertung entzogen. Diese Arbeitsergebnisse würden wie die freie Software als Nicht-Waren, als nützliche Produkte zum allgemeinen kostenlosen Gebrauch hergestellt werden, nicht zum Verkauf, nicht zum Tausch.

(60.1) Dazu braucht es ein subsistenzförmiges Verhältnis zu stofflichen Ressourcen, 26.12.2001, 12:20, Franz Nahrada: Das ist hier näher ausgeführt

(61) Die Stellung des Individuum in dieser Produktionsform ist nicht die des Trägers der verkäuflichen Ware Arbeitkraft, der sich unter glücklichen Umständen zur Verbessserung seiner Situation verweigern, also streiken kann. Entziehe ich dagegen einer solchen freien Gemeinschaft, in der ich als Mensch und nicht als Lohnarbeiter teilhabe, die eigene Schöpferkraft, dann heißt das vor allem, ich entziehe mir meinen eigenen Genuss. Erlischt meine Schöpferkraft in einer derartigen Gemeinschaft und ich wähle mir eine andere oder konstituiere selbst eine neue, brauche ich keinerlei Regeln oder Verhandlungen über einen vertretbaren Preis des Ein- oder Ausstieges. Ich kann wie etwa jeder andere Mensch, er sei an Linux beteiligt oder nicht, ohnehin alles mitnehmen. Hier herrscht das gleiche Prinzip, nach der sich zumindest teilweise in unserer Generationen-Hausgemeinschaft die sozialen Beziehungen gestalten. Es geht nicht nach dem Prinzip bürgerlicher Gleichheit: "Betreue ich dein Kind, dann betreust du auch meines oder du gibst mir dafür Geld oder ein anderes Äquivalent in Form irgendeines von mir benötigten Produktes oder irgendeiner Arbeitleistung." Wo dieses Prinzip gilt, kann von allgemeinmenschlicher Emanzipation, vom Freiwerden von knechtender Unterordnung unter fremde Zwecke, etwa denen der Verwertung, von Wegen aus dem Kapitalismus keine Rede sein. Das Betreuen selbst ist hier - und zwar völlig unabhängig vom Geschlecht - die begehrte Tätigkeit, das Bedürfnis des sich frei assoziierenden Individuums.

(61.1) Kinderbetreuung als Selbstentfaltung, 22.01.2002, 00:17, Stefan Merten: Gut, daß du das mal so auf den Punkt gebracht hast mit (z.B.) der Kinderbetreuung!

(62) Spehrs Theorie findet in derartig konstituierten Kooperationen, deren Spezifik nicht in bürgerlich-kapitalistischen Kategorien erfassbar ist, schlicht keinen Gegenstand. Sie kann in wirklich freien Kooperationen auch keinen finden, weil sich hier die Akteure zueinander als Menschen mit offen liegenden reichen Bedürfnissen und nicht als waren- und arbeitskraftbesitzende bzw. warenproduzierende bürgerliche Individuen verhalten. Ihre sozialen Beziehungen können nicht über einem dritten fremden Zweck vermittelt und an dem gemessen werden - etwa dem der Verwertung von Wert. Hier geht es nicht um Gleichheit und Gerechtigkeit, sondern um eine solche Freiheit, deren Maß unter anderem bestimmt wird durch den Reichtum an Unterschieden und Besonderheiten von Individuen, die an der gemeinsamen Tätigkeits- und/oder Lebensgestaltung interessiert sind.

(62.1) 22.01.2002, 00:18, Stefan Merten: Sehr schön formuliert :-) !

(63) Noch einmal: Wenn ich behaupte, dass Spehrs Theorie der freien Kooperation den derartig konstituierten Gemeinschaften etwa ebenso fremd ist wie die gesamte bürgerlich-kapitalistische Lebens- und Arbeitsform einer durch Assoziationen freier Individuen konstituierten Gesellschaft, wie kann ich dann trotzdem in Spehrs Theorie einen Reflex auf praktische Entwicklungen sehen, die die Aufhebung der kapitalistisch formierte Gesellschaft möglich werden lassen? Eben weil in dem von Spehr beschriebenen bürgerlichen Individuum, das in den Kernbereichen der neoliberalen Wirtschaft wie ein Fisch im Wasser von einer Kooperation zur anderen "schwimmt" (wenigstens in jeweiligen Konjunkturphasen), sich auch wie in anderen, alternativen Bereichen solche Eigenschaften entwickeln, die die Konstitution von Assoziationen freier Individuen außerhalb und im Gegensatz zur wertförmigen Vergesellschaftung erst möglich machen.

(63.1) 22.01.2002, 00:20, Stefan Merten: Super Beobachtung! Diesen Zusammenhang von sich entwickelndem Alten und entstehendem Neuen hatte ich noch nicht.

(64) In der Linux-Gemeinde realisiert sich gerade eine solche Möglichkeit. Sie konstituiert sich zum großen Teil durch Menschen, die in ihren individuellen Fähigkeiten entscheidend durch die neoliberale Entwicklung geprägt sind. Das sind unter anderem die Fähigkeiten "Ich" zu sagen, die eigenen Interessen und Möglichkeiten offen reflektieren zu können, bewusst persönliche Lebensentwürfe zu entwickeln, selbstbestimmt wechselnde Kooperationen einzugehen, gestalten und wieder zu verlassen. Die wirklich neue Subjektivität dieser postfordistisch geprägten Individuen entfaltet sich aber eben nicht in den kapitalförmigen Kooperationen. Hier wird nur die Möglichkeit geschaffen. Zur Wirklichkeit kommt diese Subjektivität erst und nur in Gemeinschaften, die nicht auf Warenproduktion gerichtet sind, die keinem äußeren Zweck folgen, sondern auf die unmittelbare und mittelbare Bedürfnisbefriedigung der Akteure selbst gerichtet sind. Hier entsteht sowohl eine neue Wirklichkeit als auch eine neue Individualität.

(65) Die Linux-Freaks sind zwar mehrheitlich insofern privilegiert, als sie es sich leisten können, nur einen beschränkten Teil ihrer Arbeitsfähigkeit auf Lohnarbeit zu richten und sich ansonsten in faktischer Gegensetzung zu dieser sich Freiräume für ihre eigentliche große Leidenschaft zu schaffen. Diese Tatsache macht zwar auch die derzeitige Begrenztheit solcher Gemeinschaften hinsichtlich der Möglichkeiten deutlich, gegenüber den heute dominierenden Lebens- und Arbeitsformen tatsächlich hegemonial zu werden. Trotzdem sehe ich in der Bewegung der freien Software (und in der Interpretation durch Oekonux#) erstmals einen lebendigen Hinweis darauf, wie es denkbar ist, dass gerade von den durch die modernste bürgerlich-kapitalistischen Arbeits- und Lebensweise herausgepressten bürgerlichen Individualitäten ausgehend sich eine neue Gesellschaftlichkeit konstituieren könnte.

(66) In den Spehrschen Subjekten stecken sozusagen Möglichkeit für Entwicklungen in geradezu entgegengesetzte Richtungen: Beim Verbleib in der bürgerlich-kapitalistischen Welt - die Entfaltung des neoliberalen Horrors. Bei der Entwicklung von nichtwaren- und lohnförmigen Kooperationen - die mögliche Begründung einer anderen Gesellschaft. Mit Spehrs Theorie, den Kategorien der bürgerlichen Welt verhaftet, ist diese zweite Möglichkeit nicht erkennbar.

Die Gleichzeitigkeit von Alternativen

(67) Angeregt durch Marx' Antwort auf die Frage nach dem möglichen Schicksal der russischen Dorfgemeinde und der russischen Bauern (der "geborenen Sozialisten") erscheint mir ein Blick auf die heutige Gleichzeitigkeiten sehr unterschiedlicher Erscheinungen bedeutsam für die Frage nach den tatsächlichen Chancen zur Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft.

(68) Erstens zeigen sich im hochmodernen Bereich wie in der Arbeit an Software Keimformen nichtwarenförmiger Vergesellschaftung.

(69) Zweitens entstehen gerade in den kapitalistischen Metropolen immer wieder von neuem alternative Projekte, in denen sich Menschen in ihrer Lebens- und Arbeitsweise den Zumutungen der kapitalistischen Welt entziehen wollen. Sie versuchen häufig an den Randbereichen des gesamten kapitalistischen Reproduktionsprozesses zur (teilweisen) Selbstversorgung bzw. zum direkten (vorkapitalistischen) Produktentausch mit vergleichbaren Projekten überzugehen. Das geschieht häufig im Bereich der landwirtschaftlichen Lebensmittelproduktion, in der Arbeit nicht für den Markt, sondern für die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung am leichtesten möglich erscheint.

(70) Drittens findet weiterhin die Verteidigung von nichtkapitalförmigen Lebensformen in manchen Bereichen der dritten Welt statt. Auch wenn es sich teilweise um die Existenzsicherung durch Beibehaltung vorkapitalistischer Strukturen wie in Chiapas handelt, kann von hier aus ein großer Impuls ausgehen für die Menschen in den kapitalistischen Metropolen in ihrer Suche nach postkapitalistischen, zivilisationsverträglichen Lebens- und Arbeitsformen. Auch diese Bewegungen orientieren nicht auf die reine Zerstörung kapitalistischer Strukturen. Sie agieren nicht nach den Prinzipien der alten revolutionären Arbeiterbewegung, die darauf setzte, dass erst nachdem "die letzte Schlacht geschlagen, Waffen aus der Hand ... munter dann die Sicheln rauschen ..."), der Staat zerschlagen, die eigene Staatsmacht errichtet, Arbeitspflicht für alle durchgesetzt usw. usf. die ganz neue Gesellschaft beginnt. Diese hier gemeinten Bewegungen in der dritten Welt präsentieren Arbeits- und Lebensweisen, die als bereits lebensfähige Gemeinschaften, obgleich selbst auf sehr niedrigem materiellem Niveau, die Aufhebung von Kapitalstrukturen auch auf ganz anderen Entwicklungsniveaus denkbar machen.

(71) Gerade die Unterschiedlichkeit und eben die Gleichzeitigkeit dieser hier genannten Strömungen und die Chance ihrer gegenseitigen Förderung ist es, worauf ich Hoffnungen setzte. Das ist mehr als genug Stoff zum Weiterstreiten. Es dürfte hochinteressant werden, wenn Christoph Spehr bezogen auf die historisch-konkreten Qualitäten der heutige dominierenden kapitalistischen Gesellschaften und der realen Ausbruchsversuche seine Theorie freier Kooperationen noch einmal präsentiert und wir dann darüber erneut diskutieren.

Anmerkungen und weitere Stichworte

(72) Christoph Spehr, Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der Freien Kooperation. Computer-Ausdruck der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, 2001
Deutsche Ideologie, Scheiße
Brecht; Andere, offenkundig weitsichtigere Menschen als ich, sind daran kaputt gegangen, dass sie gerade mit dem Voranschreiten der DDR-Entwicklung die Mittel, deren zivilisatorischen Sinn sie begriffen, als mit dem angenommenen sozialistisch-kommunistischen Zweck des Ganzen, nicht mehr in irgendeinen inneren Zusammenhang mehr bringen konnten. Siehe L. Kühn#
Eine alte Frage, als Tagesproblem klassisch aufgeworfen von E. Bernstein. Diese Frage konnte seinerzeit praktisch noch nicht in einem sozialistischen Sinne beantworten werden. Die Konsequenz: Die Transformation der Sozialdemokratie zu einer prokapitalistische Bewegung ; die Entwicklung der Bolschewiki zu einer (auch terroristischen) Kraft nachholender kapitalistischer Entwicklung auf stalinistischem Wege. Hierzu mehr unter Weiß: Der unmögliche sozialistischen Fordismus und Marx und der mögliche Sozialismus
Hegel über Herrschaft/Knechtschaft
1997 sah das bei Kurz in Antiökonomie und Antipolitik noch anders aus. Hier sprach er von Keimformen, der Schaffung sozialer Räume, in denen sich die Akteure vom Kapitalismus entkoppeln. #
Gruppe Krisis#: Manifest gegen die Arbeit #
Der unmögliche Fordismus
Deutsche Ideologie und Helmut Seidel, Vom theoretischen und praktischen Verhältnis der Menschen zur Wirklichkeit, In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 10/66.#
Marx Das menschliche Wesen ...#
Agnoli#
Sintflut#
Ich bin übrigens sehr dafür, dass das Ankommen von demokratischen Sozialisten im kapitalistischen Westen so weit und so schnell wie möglich in Richtung Regierungsbeteiligung voranschreitet. Wenn es stimmt, wovon ich ausgehe, dass in den Grundstrukturen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft (und ihren entsprechenden politischen Formen) keine emanzipatorischen Potenzen mehr liegen, dann wird dieses Fortschreiten für den Großteil der (Ost- )Deutschen in der nächsten bitteren Lektion enden. Wenn nicht, dann müsste ich begreifen, dass ich mich seit mindestens einem Jahrzehnt nur von einem Irrtum zum nächsten bewegte und doch noch einmal Rettung von höheren Wesen zu erwarten wäre - vom Staat als letzter Rettung des kleinen Mannes. Alle meine an anderer Stelle dargestellten Ursachen dafür, warum ich annehme, dass die kapitalistische Gesellschaft ihre Zivilisationsverträglichkeit ver- liert, es auch keine Kraft mehr geben kann (wie die frühere Arbeiterbewegung), die diese wieder in sie hineinzwingen vermag, sich aber stattdessen ganz andere Wege aus dem Kapitalismus eröffnen, als die des Kampfes um (Staats-)Macht, wären sich damit nachgewiesenermaßen Schrott - ein zu vernachlässigendes Übel. Leider habe ich Gründe für meiner Thesen, dass in dieser Richtung nichts Zivilisationsverträgliches mehr zu holen ist. Gründe gibt es allerdings auch für den Optimismus, dass sich inzwischen andere Wege eröffnen.
Heimsuchung, Selbstmord#
Meretz, selbstähnlich#
Jens Hermann#
Marx' Antwort auf W. Sasulitsch siehe aber auch R. Kurz, Konstitution neuer Gesellschaft bereits jetzt auf den Brachen der alten.

(72.1) Re: Anmerkungen und weitere Stichworte, 21.12.2001, 17:20, Ano Nym: Also teihabe an der Macht, die falsche Lösung, die nicht zur Transformation, zur Katalyse der (sozialen) widersprüche in einer führt.


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