Home   Was ist ot ?   Regeln   Mitglieder   Maintainer   Impressum   FAQ/Hilfe  

Freie Software – Gegenökonomie?

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 09.12.2006
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1)

»Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen« (John Holloway)

(2) In der Einladung zum Kongreß zu konkreter Utopie und realpolitischem Eingriff »Die Möglichkeiten einer anderen Welt« wurde ich gebeten, mich mit der Frage auseinander zu setzen, ob es sich bei der Freien Software um eine »Gegenökonomie« handelt. Bevor ich zu der Darstellung der wesentlichen Prinzipien Freier Software komme, um diese dann zu verallgemeinern, möchte ich kurz die aufgegebene Frage beantworten: Nein. Bei Freier Software handelt sich weder um eine »Ökonomie« noch um eine »Gegenökonomie«. Warum?

(3) »Ökonomie« moderner Form - und um nur die geht es hier - ist die verselbstständigte, selbstreferentielle Sphäre der Produktion. Sie wird angetrieben durch den Zwang, in der Konkurrenz die Waren permanent zu »verwohlfeilern« (Marx), um sie auf dem Markt losschlagen, also inkorporierten Wert realisieren zu können. Das ökonomische Kalkül, diese spezifische Rationalitätsform der kybernetischen Wertmaschinerie, bestimmt die »Zeitsparlogik« in dieser Sphäre des Werts. Die notwendige Antithese dazu bildet die »Zeitverausgabungslogik« in der von der Wertsphäre abgespaltenen Sphäre der Reproduktion von Arbeitskraft und Gattung. Diesen Spaltungen lassen sich unschwer geschlechtliche Dominanzen zuordnen: Die Wertsphäre ist »männlich konnotiert«, die abgespaltene Sphäre des »Nichtwerts« ist »weiblich konnotiert«. Diese Spaltung beginnt zwar zu erodieren, dies aber nicht in einem emanzipatorischen Sinne, sondern bloß negativ als »Verwilderung des Patriarchats«[1].

(3.1) 31.12.2006, 21:39, Stefan Merten: Ich finde diese Verengung des Begriffs Ökonomie nur bedingt hilfreich. In der Wikipedia finde ich "alle Einrichtungen und Handlungen von Menschen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse" ganz nützlich, wobei ich allerdings das noch ein bisschen näher qualifizieren würde - ohne das hier ad hoc zu tun. Mit einem solchen weiteren Begriff von Ökonomie halte ich Freie Software dann durchaus für eine solche.

(3.1.1) Wirtschaft, 30.01.2007, 14:10, Stefan Meretz: Ich halte gerade diese Wikipedia-Fassung für unangemessen, ja, irreführend, denn ganz offensichtlich gibt es wesentlich mehr "Einrichtungen und Handlungen von Menschen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse", die normalerweise nicht unter "Wirtschaft" verhandelt werden: Familien, Freundschaften, gut Essen, spazieren gehen etc. pp. Also genaugenommen eigentlich alles -- außer "Wirtschaft" in dem von mir beschriebenen "abgespaltenen" Sinne. Die Verengung kommt also nicht von mir, sondern ich beschreibe sie nur. Und die Freie Software gehört da nicht rein.

(4) Eine »Gegenökonomie« könnte demnach zwei Ausprägungen annehmen. Sie könnte ein alternatives ökonomisches Kalkül setzen. Das wäre der Versuch, das »natürliche Kalkül« staatsregulativ um genuin außerökonomische Kriterien anzureichern. In diese Richtung gehen Versuche, ökologische Folgeschäden der Produktion einzubeziehen, aktuell etwa die Monetarisierung von klimaschädlichen Emissionen, oder aber Forderungen, im engeren Sinne außerökonomische Tätigkeiten zu »entlohnen« (Hausarbeit etc.).

(5) Eine zweite Möglichkeit beinhaltet die Überlegung, die ökonomisch antithetische Logik der Nichtwert-Sphäre zur bestimmenden Logik der Ökonomie selbst zu machen - also schlicht das am Wert orientierte Kalkül abzuschaffen (wie auch immer), um an seine Stelle das Prinzip des »guten Lebens«, der Erholung, des Zeithabens, des Genusses etc. zu setzen. Eine solche »naive« Sichtweise übersieht, daß diese Möglichkeiten nicht »zweckfrei« bestehen, sondern nur durch ihren Bezug zur Wertsphäre: Erholung zur Wiederherstellung der Arbeitskraft, Zeithaben zum Erzeugen und Aufziehen von neuen Arbeitskräften, Genuß zur Konsumtion von Waren etc.

(6) Es geht demnach bei einer Freien Gesellschaft als Verallgemeinerung der Prinzipien Freier Software weder um die Etablierung eines alternativen ökonomischen Kalküls, noch um die Hypostasierung von Elementen der abgespaltenen Nichtwertsphäre. Sondern es geht um eine Überschreitung der gesellschaftlichen Form, in der Ökonomie wie Nicht-Ökonomie eigenständige Sphären ausbilden: Es geht sehr grundsätzlich um eine andere Form der gesellschaftlichen Re-/Produktion des gesellschaftlichen Lebens. Warum ausgerechnet die Freie Software Verweise darauf setzt, sei im Folgenden begründet. Aus der Darstellung der Prinzipien Freier Software gewinne ich im Anschluß Kriterien für eine theoretische Reflexion, die die aus meiner Sicht traditionellen Beschränkungen der linken Theorie überschreitet. Sie werden als Thesen zu einer Theorie der konkreten Utopie zusammengefaßt.

Produktionsweise Freier Software

(7) Die Produktionsweise Freier Software läßt sich durch vier Bestimmungen charakterisieren: Wertfreiheit, Selbstorganisation, Globalität und Selbstentfaltung.

(8) 1.) Wertfreiheit. Freie Software kann einen Preis haben, sie wird jedoch nicht als Ware hergestellt, in der Regel auch nicht für Lohn oder Profit[2]. Diese Differenzierung ist für das Verständnis Freier Software zentral. Freie Software ist ein Werk eines oder mehrerer Urheber. Diese nutzen ihr Urheberrecht, um die Verfügung über die Software frei zu stellen: die Verwendung (»use«), der Zugriff auf alle Quellen (»study«), die Möglichkeit zur Veränderung (»modify«) und Weitergabe (»release«). Dies wird durch eine entsprechende Lizenz gewährleistet. Freie Verfügung bedeutet, daß die Software nicht knapp ist. Damit kann Software keine Ware sein, denn nur knappe Güter können Warenform annehmen. Dennoch kann für die Software, genauer gesagt: für den Aufwand, die Software bereitzustellen, eine »Gebühr« verlangt werden - etwa für den Aufwand der CD- oder DVD-Herstellung. Wichtig dabei: Nicht die Software im nichtstofflichen Sinne hat einen Preis, sondern der Träger der Software oder andere begleitende Dienstleistungen.

(9) Freie Software wird durchaus auch gegen Bezahlung hergestellt, dennoch ist das Produkt mit dem Entstehen frei und in der Regel auch kostenlos verfügbar. Der Preis oder die Bezahlung markiert nicht den Unterschied zur unfreien Software, sondern die Verfügung. Der Gegensatz zu Freier Software ist nicht kommerzielle oder kostenlose Software, sondern proprietäre Software, die durchaus auch kostenlos verteilt wird, wie dies auch in anderen Bereichen der Warenwirtschaft üblich ist (Probepackungen etc.). Proprietäre Software ist »Eigentümer-Software«, deren Verfügung eingeschränkt ist, um die Software künstlich zu verknappen, denn nur so läßt sie sich in Warenform bringen.

(10) 2.) Selbstorganisation. Nicht mehr von Markterfordernissen getrieben, können sich Freie Softwareprojekte nach eigenen Maßstäben frei organisieren. Da es keine fremden Vorgaben gibt, werden sehr unterschiedliche soziale Formen ausprobiert. Gute Projekte sind solche, die es schaffen, die ihnen gemäße Form der sozialen Selbstorganisation zu finden. Die Beispiele sind sehr vielfältig. Neben eher traditionellen Formen wie Rotationsmodell oder Wahlmodellen, in denen Leitungspositionen mit Hilfe bekannter demokratischer Verfahren besetzt werden, gibt es sehr häufig das sogenannte »Maintainer-Modell«. Dieses ist besonders interessant, weil mit ihm Regulationsformen ausprobiert werden, die sich jenseits des bürgerlich-demokratischen Denkrahmens bewegen.

(10.1) 31.12.2006, 21:43, Stefan Merten: Ist schon gut, wenn wir das alles immer wieder durchkauen. Der Begiff "Selbstorganisation" erscheint mir nämlich mittlerweile auch nicht besonders treffend: Ein Profitbetrieb ist ja auch nicht fremdorganisiert, sondern da wird auch innerhalb des Betriebes organisiert - wenn auch nicht von jedem. Ein Begriff von Selbstorganisation, in dem jedeR für alles zuständig ist, halte ich aber auch nicht für irgendwie sinnvoll.
Passender erscheint mir hier die Kategorie der Entfremdung und zwar hier hinsichtlich der Produktion in einem weiten Sinne.

(10.1.1) Fremdorganisation, 01.01.2007, 14:56, Stefan Meretz: Ein Profitbetrieb ist dem Marktdiktat unterworfen. Er kann nur entscheiden, womit er Profit produziert (Waschmaschinen, Internetzugänge, Atombomben etc.). Hat er sich entschieden, ist die betriebliche Organisation getrieben durch die Konkurrenz daran auszurichten. Das nenne ich Fremdorganisation. Zwar wird nicht jedes Detail "fremd" bestimmt - ja, es wird innerhalb des Betriebes organisiert -, aber es ist ja gerade die bürgerliche Illusion, dass dieses Organisieren "frei" geschehe und nicht "fremd".

(10.1.2) Bloße Verkehrung der Fremdorganisation, 01.01.2007, 15:01, Stefan Meretz: Genauso ist das Spiegelbild einer "Selbstorganisation, in de(r) jedeR für alles zuständig ist" die spiegelverkehrte Illusion derjenigen, die die reale Fremdorganisation im Betrieb durchaus als unfrei erlebt hatten. So nach dem äußerst dämlichen Slogan "Wirtschaften ohne Chef" - als ob sich damit etwas an der Fremdorganisation änderte. Das bestätigt im Grunde ex negativo das bürgerliche Freiheitskonzept: "Eigentlich könnten wir frei und selbstbestimmt wirtschaften, nur der doofe Chef hindert uns daran".

(10.1.3) Selbstorganisation und Bedürfnisvermittlung, 01.01.2007, 15:07, Stefan Meretz: Wie das Kind genannt wird, ist zweitrangig, nur inhaltlich geht es doch darum, dass jenseits der Verwertungslogik es eine sachliche Anforderung der Organisation von Produktion gibt. Geschieht diese nicht durch Drittes (fremd) vermittelt, so sind es IMHO die Bedürfnisse der Produzierenden, die den Maßstab für die Organisation bilden. - Es gibt also eine doppelte Bedürfnisvermittlung: hinsichtlich der Produkte und hinsichtlich der Produktion. Das ist auch ganz gut kompatibel zu unserer Unterscheidung von "einfach und doppelt Freier Software", wo "einfach" ersteres (Produkt) und "doppelt" auch zweiteres (Produktion) meint.

(10.1.4) Entfremdung oder Fremdorganisation, 01.01.2007, 15:13, Stefan Meretz: Ob du nun "Entfremdung" oder "Fremdorganisation" nimmst, ist doch nicht der Unterschied. Das "fremd" drückt den dritten Zweck aus, und darum geht es.

(10.1.5) Drei Ebenen, 01.01.2007, 15:14, Stefan Meretz: Entfremdung ist der gegebene Rahmen, das ist richtig, und zwar sowohl für die individuelle Ebene, wie die Ebene der kollektiven Organisation, wie die Ebene der gesamtgesellschaftlichen Vermittlung. Für diese drei Bereiche brauchen wir drei andere, positive Begriffe. Da liegen wir mit "Selbstentfaltung", "Selbstorganisation" und "Freier Gesellschaft" ganz gut, meine ich.

(10.1.5.1) Re: Drei Ebenen, 01.01.2007, 21:31, Stefan Merten: Na ja, die Freie Gesellschaft ist ja durchaus ein extrem besetzter Begriff (Kalter Krieg...). Den würde ich nicht verwenden. Dann lieber eine Chiffre wie GPL-Gesellschaft.
Selbstentfaltung dürften wir inzwischen in der Tat besetzt haben ;-) .
Selbstorganisation ist aber auch relativ stark besetzt und eben auch sehr stark mit dem, was du unter 10.1.2 so treffend charakterisierst. Insbesondere auch bei dem Publikum, das unsere Debatten so anzieht.
Der Bedeutungskern, um den es uns geht, scheint mir zu sein: Selbst- bzw. durch Sachlogik bestimmte Organisation. Das "bzw. durch Sachlogik" lässt sich vielleicht noch argumentativ rauskürzen. Dann bliebe eine selbstbestimmte Organisation übrig.

(10.2) 31.12.2006, 21:46, Stefan Merten: Und auch nochmal zum Maintainer-Modell: Es stimmt zwar, dass das Modell nicht demokratisch ist, aber wenn ich dem nochmal näher nachspüre, dann hat eine MaintainerIn auch viel von einer (bürgerlichen) UnternehmerIn: Eine UnternehmerIn mit freiwilligen MitarbeiterInnen und ohne Entfremdung quasi. Ich könnte mir vorstellen, dass Maintainership genau der Kern von Unternehmertum ist, der emanzipatorisch erhalten werden sollte. Interessanter Gedanke - auch was die Synthese-These betrifft :-) ...

(10.2.1) Maintainer-Modell und Unternehmertum, 01.01.2007, 15:23, Stefan Meretz: Da stimme ich dir zu. Nicht zufällig will das Kapital die Potenzen der Selbstentfaltung (und Selbstorganisation) für sich nutzen - vgl. den Antagonismus zwischen Selbstentfaltung und Selbstverwertung. Nur das mit der Synthese sehe ich kritisch, Aufhebung ist hier die IMHO geeignetere Denkform für die Transformation. Es geht um Abschaffen und Bewahren, wobei das Bewahren nicht in der alten Form geschieht, sondern in einer qualitativ neuen. Nur mit "Synthese" kannst du Neues nicht denken.

(10.2.1.1) Re: Maintainer-Modell und Unternehmertum, 01.01.2007, 21:35, Stefan Merten: Na ja, die Synthese ist für mich die Aufhebung der alten These und Antithese auf erweiterter Stufenleiter - also auch in neuer Form. Abschaffen - oder genauer: Unbrauchbarwerden - und Bewahren von Altem ist da bei mir schon mit gedacht.

(10.2.1.2) Re: Maintainer-Modell und Unternehmertum, 01.01.2007, 21:37, Stefan Merten: Vielleicht auch nochmal, warum es mir so wichtig ist: Ich möchte schon auch die Kontinuitäten aufzeigen, damit wir an den Kern dessen ran kommen, was wirklich wichtig ist an gesellschaftlicher Organisation. Also auch jenseits von Marktmechanismen.
Dass nebenbei vielleicht auch ein paar alte ideologische Zöpfe abgeschnitten werden, halte ich für einen durchaus positiven Nebeneffekt ;-) .

(11) Ein Maintainer kümmert sich selbstbeauftragt um das Projekt. Jede und jeder kann Maintainer werden. Der Erfolg hängt davon ab, ob das Projekt den Maintainer akzeptiert und ihn unterstützt oder nicht. Die Projektmitglieder brauchen den Maintainer wie dieser die Projektmitglieder braucht. Die Beziehung zwischen beiden ist die einer positiven Rückkopplung: Je besser es der Maintainer versteht, die unterschiedlichen Vorstellungen im Projekt zu integrieren, je transparenter die Entscheidungen, je besser die Bedingungen sind, die der Maintainer für die Projektarbeit schafft, desto umfassender die Entfaltungsmöglichkeiten für die einzelnen Projektmitglieder. Durch ihre Mitarbeit stärken diese das Projekt, helfen, die Projektziele zu erreichen - was auch im Sinne des Maintainers ist.

(12) Im Konfliktfall wird die besondere Dynamik der Regulation deutlich. Es wird nicht einfach abgestimmt, wer »Recht hat« (obwohl es durchaus auch Abstimmungen geben kann), sondern der Maintainer entscheidet. Diese Entscheidung kann jedoch nicht willkürlich sein, sondern es muß zwischen den unterschiedlichen Vorstellungen im Projekt abgewogen werden. Stößt der Maintainer Teile im Projekt vor den Kopf, können diese aus dem Projekt austreten und alle bis dahin geschaffenen Produkte mitnehmen, was die Lizenz gewährleistet. Diese Option wird »Fork« (Gabelung) genannt.

(13) Ein Fork, beziehungsweise die stets vorhandene Option des Forks, ist ein zentrales Regulationsmoment. Es kann sinnvoll sein, einen Fork zu vollziehen, weil ein Projekt eine ungute Entwicklungsrichtung eingeschlagen hat; es kann aber auch sinnvoll sein, den Fork zu unterlassen und statt dessen im Projekt dafür zu streiten, daß die Entwicklungsrichtung geändert wird. In beiden Fällen ist der Fork eine konstruktive Option. Er dient nicht dazu, in negativer Konkurrenz Projektmitglieder von Entwicklungen auszuschließen, sondern dazu, Konflikte austragen zu können - entweder kommunikativ auf Basis des unterbliebenen Forks oder praktisch durch die neue Entwicklungsmöglichkeit auf Basis des vollzogenen Forks. Der Fork ist ein Mittel sozialer Innovation unter Abwesenheit destruktiver Konkurrenz wie wir sie als üblichen Marktmechanismus kennen.

(14) 3.) Globalität. Freie Software existiert genuin als globales Phänomen. Die globale Vernetzung ist Resultat der Möglichkeiten des Internets. Global verfügbare Ressourcen werden in den Projekten genutzt, wobei sich das Englische als lingua franca praktisch etabliert hat. Viele Projekte starten zwar mit lokalsprachlichen Bezügen, wechseln jedoch mit der globalen Etablierung in der Regel in das Englische. Nicht unwesentlicher Grund dafür ist auch, daß nahezu alle Programmiersprachen englische Befehlssätze verwenden.

(15) Eine weitere wichtige Grundlage sind global verfügbare Infrastrukturen. So bieten SourceForge oder Savannah[3] umfangreiche Plattformen für die Projektarbeit - von der Projekt-Website über Versionsverwaltungen für die Programmcodes bis zu Diskussionsforen. Solche Plattformen sind die globalen »Werkstätten« der Freien Softwareentwicklung, in denen jede und jeder sofort mitarbeiten kann. Freie Softwareprojekte sind demnach nicht nur Hightech-Projekte, sondern sie besitzen auch global-gesellschaftlichen Charakter. Das unterscheidet sie wesentlich von agrarisch-handwerklichen und in der Regel lokal orientierten Alternativprojekten wie Landkommunen, Biohöfen etc.

(15.1) global - gesellschaftlicher Charakter lokaler Projekte, 09.12.2006, 18:53, Franz Nahrada: Projekte wie Open Source Ecology http://www.sourceopen.org oder das Global_Ecovillages_Network zeigen, daß auch in diesen Bereichen zunehmend global - gesellschaftlich agiert wird.

(16) 4.) Selbstentfaltung. Selbstentfaltung ist ein zentraler Begriff für das Verständnis Freier Software. Er meint nicht einfach nur »Spaß haben«. Selbstentfaltung hat eine individuelle und eine gesellschaftliche Dimension. Individuell meint Selbstentfaltung das persönliche Entfalten der eigenen Möglichkeiten, mithin das Entwickeln der eigenen Persönlichkeit. So verstandene Entfaltung der Persönlichkeit hat stets verschiedene Formen der Entäußerung: produktive, reproduktive, technische, kulturelle, kommunikative, konsumtive etc. Diese Ausdrucksformen der Entfaltung können für Andere nützlich sein.

(17) Die gesellschaftliche Dimension der Selbstentfaltung betrifft die Abhängigkeit der eigenen Entfaltung von der Entfaltung der Anderen. Ich kann mich nur entfalten, wenn die Anderen es auch tun. Die Anderen - potentiell alle Anderen - sind meine Entfaltungsbedingung, wie ich umgekehrt Entfaltungsbedingung für die Anderen bin. Es entsteht eine positive Rückkopplung: Mein Bestreben richtet sich darauf, daß die Anderen sich entfalten können, damit ich mich entfalten kann. Würde ich mich nur darauf konzentrieren, was ich zu tun wünsche und die Anderen ignorieren oder gar ausgrenzen, dann schadete ich mir selbst.

(18) Diese Dynamik können wir - mehr oder weniger ausgeprägt[4] - bei Freier Software beobachten. Die positive Rückkopplung kommt zustande, weil und wenn es keine dritten, entfremdeten Gründe gibt, tätig zu werden. Da Freie Software nicht für den Verkauf produziert wird, gibt es keine entfremdeten Gründe, sondern nur jeweils meine Gründe, Freie Software zu entwickeln oder zu unterstützen. Proprietäre Software hingegen wird für einen dritten, fremden, der Software äußerlichen Zweck entwickelt. Der Markt entscheidet, ob die Software überlebt und wenn sich zu wenige Käufer finden, verschwindet die Software. Das gibt es bei Freier Software nicht. Solange sich jemand für die Software interessiert, gibt es sie - auch, wenn es keine aktuellen Nutzer mehr gibt.

(19) Im Projekt Oekonux[5] wurde diese Analyse zu dem Satz verdichtet: Die Selbstentfaltung des Einzelnen ist die Bedingung für die Entfaltung Aller - und umgekehrt. Besonders deutlich wird die Unterscheidung, wenn man den gleichen Satz für die entfremdete Warenproduktion formuliert. Dort gilt: Die Entwicklung des Einzelnen ist möglich auf Kosten der Entwicklung der Anderen - und umgekehrt.

(20) Selbstentfaltung darf nicht mit Selbstverwirklichung verwechselt werden. Während Selbstentfaltung die Anderen als Bedingung für die eigene Verwirklichung versteht, blendet Selbstverwirklichung die gesellschaftliche Dimension aus. Andere sind nur instrumenteller Zweck des isolierten eigenen Vorankommens. Selbstverwirklichung ist statisch und begrenzt, sie geht von einer personalen »Anlage« aus, die verwirklicht werden will und endet mit der Verwirklichung. Selbstentfaltung hingegen ist dynamisch. Jede erreichte Entfaltung ist wiederum nur Bedingung und Möglichkeit neuer Formen der Entfaltung. Eine Gesellschaft der Selbstentfaltung wäre eine reiche Gesellschaft.

Inklusion versus Exklusion

(21) Die beschriebenen vier Charakteristika begründen eine sozial-produktive Dynamik, die Inklusionsmodell genannt wird. Es basiert auf Transparenz aller Prozesse und Produkte und auf gemeinschaftlicher Verfügung über das Wissen. Die Kooperation ist aufgrund der positiven Rückkopplung sowohl individuell wie kollektiv nützlich. Diese positive Dynamik führt zu einer Art »Ansaugeffekt«: Eine erfolgreiche Dynamik verspricht Erfolg und bewirkt, daß weitere Beteiligte ihre Energie und Kreativität einbringen. Wissen wird weiter akkumuliert.

(22) Dem gegenüber steht das bekannte Exklusionsmodell, das die Leistungen belohnt, die Andere ausschließt. Betriebsgeheimnisse, Patente, Markenrecht und andere rechtliche Hebel sind dabei entscheidende Mittel der Exklusion. Damit entsteht ein negativ rückgekoppelter Bezug auf Andere, die ihrerseits die Mittel zum Ausschluß und zur Behauptung in Stellung bringen müssen. Das führt dazu, daß entweder alle Leistungen selbst erbracht oder aber eingekauft werden müssen. In der bürgerlichen Gedankenform gibt es keine Ansätze, das Modell auch nur denkend zu überschreiten. Daher dient das Exklusionsmodell auch als Beurteilungsfolie für das genuin gegensätzliche Modell der Inklusionslogik. Durch Einführung zusätzlicher »Exklusionsparameter« wie »Aufmerksamkeit« wird das Inklusionsmodell geradezu zwanghaft warenförmig »rückinterpretiert«: Unter der Sonne des Kapitals kann nichts anderes geben.

Mythos Knappheit

(23) Eine zentrale Auseinandersetzung dreht sich um die Frage der Verallgemeinerbarkeit der Prinzipien Freier Software. Ein Gegenargument besagt, daß Software digitale Form habe und damit nahezu aufwandslos kopierbar sei, was sie - ohne aufgeherrschte Rechtsregimes - genuin unknapp mache. Dies sei bei stofflichen Gütern grundsätzlich anders, da diese »natürlicherweise« knapp wären. - Das ist ein Mythos. Knappheit ist keine natürliche Eigenschaft der Dinge, sondern eine gesellschaftliche Form. Für eine adäquate Diskussion sind drei Begriffe zu differenzieren: 1.) Vorkommen, 2.) Begrenztheit und 3.) Knappheit.

(24) 1.) Vorkommen. Ein Gut kommt vor - oder nicht. Sein Vorkommen hat ein absolutes und ein zeitliches Maß. Das absolute Maß bestimmt die potentiell verfügbare Gesamtmenge eines Gutes. Ein Beispiel ist das Rohstoffvorkommen. Das zeitliche Maß bestimmt die real verfügbare Menge eines Gutes oder Produktes in einem gegebenen Zeitraum an einem bestimmten Ort. Denn daß ein Rohstoff grundsätzlich ausreichend vorhanden ist, nutzt nicht viel, wenn er nicht real verfügbar ist - etwa weil seine Förderung nicht möglich ist. Ebenso nutzt das Wissen um das grundsätzliche Vorhandensein eines Produktes nicht viel, wenn es im gegebenen Zeitraum nicht zum Ort des Bedarfs transportiert werden kann.

(25) 2.) Begrenztheit. Der Begriff der Begrenztheit faßt das Verhältnis zwischen der Verfügbarkeit eines Gutes, mithin seines Vorkommens, und den Bedürfnissen der Menschen. Begrenzungen können durch gesellschaftliches Handeln überwunden werden. Es können neue Explorationsmethoden für schwer zugängliche Rohstoffe erfunden oder schlicht mehr Güter hergestellt werden, weil sie gebraucht werden. Produktion ist der gesellschaftliche Umgang mit Begrenzungen.

(26) 3.) Knappheit. Eine besondere Form des Umgangs mit Begrenzungen ist die »Knappheit«. Knappheit ist eine geschaffene soziale Form der Warenproduktion beim Umgang mit Begrenzungen. Eine Ware muß begrenzt und darf nicht frei verfügbar sein, will sie Ware sein. Dies gilt gerade auch dann, wenn das Vorkommen ausreichend oder gar überreich ist. »Knappheit« produziert damit die Paradoxie des Mangels im Überfluß. »Knappheit« ist eine Realabstraktion, sie abstrahiert von realen Bedingungen, ist aber real regulativ wirksam: Nur wer Geld hat, hat Zugriff auf eine Ware. Sie ist die Bewegungsform der Warenproduktion. Daraus folgt zwingend, daß die gesellschaftliche Form »Knappheit« nicht nachhaltig sein kann.

(27) Eine Besonderheit unter dem Regime der »Knappheit« stellen digitale Güter dar. Begrenzungen können hier sehr leicht individuell überwunden werden - einfach durch Kopie des Guts. Die »Knappheit« kann sich bei digitalen Gütern mithin nicht auf eine absolute oder zeitliche Vorkommensschranke stützen. Sie muß künstlich, das heißt rechtsförmig hergestellt werden. Mittel dazu sind Urheberrecht, Patente, Markenrecht etc.

Politik

(28) Die Warenproduktion als soziale Bewegungsform des gesellschaftlichen Umgangs mit Begrenzungen produziert Ungleichheit und Unfreiheit. Politik ist der Versuch, mit den Ergebnissen der Warenproduktion regulierend umzugehen. Politische Regulation der Warenproduktion als sozialer Form ist Management von Ungleichheit und Unfreiheit. Ungleichheit und Unfreiheit lassen sich unter Bedingungen der Prosperität besser managen als unter Bedingungen des Niedergangs. Gegenwärtig erleben wir jedoch eine Epoche des Niedergangs, da die wertproduktive Arbeit als Antriebsmotor und Kern der Warenproduktion zurückgeht. Damit verliert Politik ihre Regulationsmöglichkeiten in der warenproduzierenden Gesellschaft.

(29) Die politische Strategie der Machteroberung als Erringung von Regulationsmacht ist damit sinnlos geworden. Im Gegenteil: Die Fokussierung auf Politik reproduziert die Illusion der Regulierbarkeit innerhalb der sozialen Form der Warenproduktion. Es gilt nicht die Regulationsmacht zu erobern, sondern die Regulationsform selbst qualitativ zu verändern. Dieser paradigmatisch andere Ansatz impliziert, daß eine neue Regulationsform nicht als veränderte alte Form, sondern nur als neue Vergesellschaftungsform auf die Welt kommen kann.

Entwicklung

(30) Mit der damit aufgeworfenen Frage qualitativer gesellschaftlicher Entwicklungssprünge hat sich auch Karl Marx befaßt. Berühmt geworden ist folgendes Zitat, das immer noch einen wichtigen Referenzpunkt innerhalb der Linken darstellt: »Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt haben. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein.« (Marx, 1859, Zur Kritik der politischen Ökonomie)

(31) Dieses Zitat enthält eine Reihe von Verkürzungen, die bis heute fortgeschrieben werden: 1.) Die Produktivkräfte werden verdinglicht und auf Technikentwicklung reduziert. 2.) Die Produktionsverhältnisse werden auf die Eigentumsfrage reduziert. 3.) Aus dem Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen wird ein Revolutionsautomatismus abgeleitet.

(32) Diese Verkürzungen sind als Vereinfachungen aus der damaligen Situation der Arbeiterbewegung heraus verständlich. Sie heute jedoch im Kern in gleicher Weise weiterzutragen, ist nicht angemessen. Eine angemessene Sichtweise kann demgegenüber wie folgt skizziert werden: Statt Produktivkraft auf das Mittel, also die Technikentwicklung zu begrenzen, ist Produktivkraft als das Verhältnis von Mensch, Mittel und (äußerer) Natur zu konzeptualisieren, mithin Produktivkraftentwicklung allgemeiner als die Art und Weise wie Menschen ihr Leben herstellen aufzufassen. Statt nur die Produktionsverhältnisse reduziert als Eigentumsverhältnis zu betrachten, ist die durch die Warenproduktion bestimmte Vergesellschaftungsform, also die soziale Form, in der Menschen ihr Leben herstellen, insgesamt in den Begriff zu nehmen. Damit ist Entwicklung inklusive qualitativer Entwicklungssprünge aus den Widersprüchen von Produktivkraftentwicklung und Vergesellschaftungsform zu begreifen.

Historisch bestimmende Momente der Produktivkraftentwicklung

(33) Entlang der drei Aspekte der Produktivkraftentwicklung, des Verhältnisses von Mensch, Mittel und Natur, lassen sich generell drei historische Phasen bestimmen, in denen jeweils ein Aspekt bestimmend war, beziehungsweise ist oder sein wird.

(34) Aspekt Natur: Die agrarischen Gesellschaften waren bis an die Grenze der Neuzeit dominiert durch die unmittelbare Auseinandersetzung des Menschen mit Naturgegebenheiten. Direkte Bodenbearbeitung, Gewinnung von Bodenschätzen und Verarbeitung von Naturprodukten bestimmten den Stoffwechsel mit der Natur. Hierbei wurden durchaus Mittel eingesetzt, der Fokus der gesellschaftlichen Entwicklung lag jedoch nicht auf der Mittelseite, sondern war durch die Frage bestimmt, auf welche Weise dem Boden Nahrungsmittel abgerungen werden können. Dabei entwickelten die Menschen unterschiedliche soziale Regulationsformen, die nahezu durchgängig durch die personale Herrschaft von Menschen über Menschen gekennzeichnet waren.

(35) Aspekt Mittel: Mit dem Beginn der modernen Warenproduktion rückte die Entwicklung des Mittelaspekts in den Fokus. Das Hand-Mittel als Handwerkzeug wurde personell enteignet und zur großen Industrie entwickelt. Unter den Bedingungen der Warenform und dem verselbständigten Mittel entwickelten sich die Industriegesellschaften gleichsam zu »kybernetischen Maschinen«, in denen der Selbstzweck der Verwertung von Wert das Handeln der Menschen bestimmt. Die Herrschaft hat sich entpersonalisiert, sie hat entfremdete sachliche Form angenommen - auch wenn die Tatsache, daß Funktionäre die Verwertung organisieren und davon durchaus auch individuell profitieren, als personale Herrschaft mystifiziert wird. Die entfremdete warenproduzierende gesellschaftliche Form hat sich heute global totalisiert.

(36) Aspekt Mensch: Sehr allgemein können Freie Gesellschaften als solche bestimmt werden, in denen sich die »Hauptproduktivkraft Mensch« selbstzweckhaft entfaltet. Danach ist die heutige Epoche bestimmt durch den Übergang der zweckhaften Selbstverwertung unter den Bedingungen der Warenform, die zu einer unregulierbaren Ausweitung der »Mittelseite« führt (Wachstumszwang), zu einen qualitativ völlig neuen »Selbstzweckform«, in der jedoch die Menschen ihre Zwecke als bestimmende Zwecke selbst setzen. Heute erleben wir keimförmig einen Aufschein dieser neuen Vergesellschaftungsform.

Fünfschrittmodell der Entwicklung

(37) Der Begriff »Keimform« hat eine wichtige Bedeutung im Oekonux-Diskurs. Mit »Keimform« wird ein Phänomen erfaßt, daß in den Rahmen eines bestehenden Gesamtsystems eingebettet ist, gleichzeitig aber Eigenschaften hat, die über die Logik des umgebenden Gesamtsystems hinaus gehen und eine mögliche neue Entwicklungsrichtung aufzeigen. Eine Keimform ist dabei aber nicht bereits die neue, entfaltete Form selbst. Sie sind also insbesondere nicht fertiger »Keim«, der dem Bild nach bereits alles enthält.

(38) Qualitative Entwicklungsübergänge vollziehen sich nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft. Aus der Dialektik ist der Begriff der Negation der Negation bekannt, der eine Aufhebung als Verhältnis von Abschaffung und Bewahrung in neuer Qualität fassen kann. Innerhalb der von Klaus Holzkamp begründeten Kritischen Psychologie wurde dieser Begriff am historischen Material der evolutionären Entwicklung zu einem von mir so genannten »Fünfschrittmodell« verfeinert[6]. Die fünf Schritte sind:

(39) 1.) Entstehung der Keimform: Alles, was es selbstverständlich und allgegenwärtig gibt, ist irgendwann einmal etwas Neues, ganz und gar nicht Selbstverständliches gewesen. Über mehrere Schritte hat sich das Neue schließlich durchgesetzt. Dieses Neue, das später einmal Altes sein wird, nennt man Keimform. Keimformen können in Nischen und Sonderbereichen entstehen. Sie leben vom und im Alten, besitzen aber schon Formen des Neuen.

(40) 2.) Krise der alten Form: Keimformen erlangen nur Bedeutung, wenn das Alte in die Krise gerät. Das Alte kann im Wesentlichen aus zwei Gründen in die Krise geraten. Zum einen können sich äußere Bedingungen so dramatisch oder so schnell verändern, daß das alte Prinzip darauf nicht mehr angemessen reagieren kann. Zum anderen kann sich das Alte selbst erschöpft haben, wenn alle Entwicklungspotenzen ausgereizt sind. Stagnation wäre eine Reaktionsweise, Zerfall eine andere.

(41) 3.) Keimform wird zur wichtigen Entwicklungsdimension: Unter den Bedingungen der Krise des Alten kann die Keimform die Nischen verlassen und sich quantitativ ausbreiten. Sie wird zu einer wichtigen Entwicklungsdimension innerhalb der noch dominanten alten Form. Diese Etablierung der Keimform kann zwei Richtungen einschlagen: Sie führt zur Integration in das Alte und zur Übernahme der alten Prinzipien, oder die Keimform behauptet sich auf Grund der neuen Prinzipien immer besser im und neben dem Alten. Im ersten Fall geht der Keimform-Charakter verloren, im zweiten Fall wird das Neue gestärkt. Das Alte kann in beiden Fällen von einer integrierten oder gestärkten Keimform profitieren und Krisenerscheinungen abmildern.

(42) 4.) Keimform wird zur dominanten Größe: Die frühere minoritäre Keimform wird zur dominanten Form der Entwicklung. Das Neue setzt sich durch, weil es hinsichtlich einer wichtigen Dimension des Gesamtprozesses besser ist. Damit endet der Keimform-Charakter des Neuen. Nun sind seine Prinzipien bestimmend und verdrängen nach und nach oder auch schlagartig die überkommenen, nicht mehr funktionalen Prinzipien des Alten. Das Neue wird das selbstverständliche Allgegenwärtige.

(43) 5.) Umstrukturierung des Gesamtprozesses: Schließlich strukturieren sich alle Aspekte des Gesamtprozesses in Bezug auf das bestimmende, jetzt selbstverständliche Neue hin um. Das betrifft vor allem auch solche Prozesse, die im Gesamtprozeß nicht bestimmend, sondern nur abgeleitet sind. Mit diesem Schritt ist nun potentiell wieder der erste Schritt eines neuen Fünfschrittes erreicht: Keimformen können auftreten, das dann alte Neue gerät in die Krise usw.

(44) Alle Phasen können über kürzere oder längere Zeiträume andauern und es kann jederzeit Rückschritte geben. Nichts ist vorgegeben oder determiniert. Vollständig begriffen kann ein Fünfschritt der Entwicklung erst werden, wenn er vollzogen wurde, und erst im Nachhinein kann man die frühere Keimform sicher identifizieren. Mitten im Entwicklungsprozeß begriffen kann das Fünfschrittmodell helfen, die Sinne zu schärfen, um handlungsfähiger zu werden.

Keimform Freie Software

(45) Eine im Projekt Oekonux entwickelte These lautet: Bei Freier Software haben wir es mit einer Keimform einer neuen Gesellschaft zu tun. Für die These sprechen eine Reihe von Gründen: Freie Software funktioniert in ihrem Kern nach einem qualitativ anderen Regulationsmodell als das warenförmig strukturierte Vergesellschaftungsmodell des Kapitalismus. Freie Software kann sich aufgrund ihrer wertfreien Dynamik mittels eines Inklusionsmodells entfalten; sie basiert auf Selbstentfaltung statt Selbstverwertung. Als neue soziale Regulationsform negiert Freie Software das Knappheitsprinzip der Warengesellschaft praktisch und kennt mithin keine Verwertungskrisen, weil sie jenseits der Warenform abläuft. Freie Software verwendet die weitest entwickelten Produktionsmittel und ist in der Lage, sie mit der individuellen Entfaltung zu verbinden; sie ist genuin global und überschreitet die Nationalstaaten; ferner überwindet sie die schwindende Arbeitsgesellschaft und produziert Reichtum jenseits der Verwertung von Arbeitskraft.

Schlußfolgerungen

(46) Die vorgestellte Skizze erlaubt eine Reihe von Schlußfolgerungen, die aus meiner Sicht weitreichende Konsequenzen für eine Theorie der konkreten Utopie hat. Diese seien abschließend thesenartig zusammengefaßt.

(47) Produktivkraftentwicklung als logisch-historischer Begriff, der das Mensch-Mittel-Natur-Verhältnis faßt, entgeht verdinglichenden Vorstellungen von Produktivkräften als bloß technisch-wissenschaftlichen Mitteln. Der Begriff Produktivkraftentwicklung ontologisiert keine warengesellschaftlichen Bewegungsformen (Arbeit, Ware, Geld, Staat etc.), sondern expliziert die Tatsache, daß Menschen ihre Lebensbedingungen in gesellschaftlicher Vermittlung herstellen und ihnen gleichzeitig unterworfen sind. Geschichte wird damit als Geschichte der Produktivkraftentwicklung begreifbar, als historische Bewegung des Mensch-Welt-Zusammenhangs - der Begriff entzieht sich jeder (techno-) deterministischen Geschichtsbetrachtung. Der Begriff der Vergesellschaftungsform faßt den Formaspekt der Vermittlungsverhältnisse, den Menschen bei der gesellschaftlichen Produktion des Lebens eingehen und entgeht damit der gängigen personalisierenden Denkform, die mit dem Begriff der Eigentumsverhältnisse nahegelegt ist (»Wer verfügt...«). Der Begriff der Vergesellschaftungsform umfaßt dabei alle gesellschaftlichen Vermittlungsbeziehungen und nicht nur die ökonomischen Verhältnisse - die traditionelle Trennung von »Basis« und »Überbau« wie auch die Trennung von »Ökonomie« und »Nicht-Ökonomie« ist obsolet. Vergesellschaftungsform als Vermittlungsbegriff ist in der Lage, das Handeln der Menschen im Medium der gesellschaftlichen Verhältnisse zu begreifen, anstatt es deterministisch als bloße Resultante ökonomischer Verhältnisse oder idealistisch als Ausdruck »freier« Willenssubjekte zu vereinseitigen. Der Begriff Keimform schließlich kann als zeitlicher Vermittlungsbegriff gesellschaftliche Transformationen als widersprüchlich vermittelten Prozeß analytisch zugänglich machen, was sowohl das »Missionsdenken« des traditionellen Marxismus wie die idealistische Vorstellung einer »total-unmittelbaren« Transformation aufhebt. Der Keimform-Begriff akzentuiert die Potentialitäten gegenüber den Faktizitäten und gewinnt dadurch erkenntnisleitenden Charakter für diejenigen, die endlich Schluß machen wollen mit (abstrakter) Arbeit, Ware, Geld und Staat.

(48) Das Neue entstand und entsteht nie aus einer Modifikation des Alten. Konkrete Utopie ist damit nicht über eine Vorstellung gewinnbar, den »Laden zu übernehmen«, sondern nur darüber, daß ein neuer »Laden« an die Stelle des alten tritt. Eine Theorie der konkreten Utopie hat sich mit den sozialen Übergangsbedingungen zu befassen. Das Neue entsteht vor unseren Augen, es ist zu begreifen. Im Sonderbereich der Freien Software entwickeln sich Keimformen einer neuen Art und Weise der gesellschaftlichen Re-/Produktion. Die Durchsetzung des Neuen erfolgt »praktisch« und nicht »politisch«. Politik und mithin auch Moral können nur Ausdruck eines praktischen Übergangs sein, nicht aber den Übergang selbst herbeiführen. Die Welt kann nur verändert werden, ohne die Macht (Herrschaft) zu übernehmen.

(48.1) Welt oder Erde, 31.12.2006, 12:24, Christian Maxen: "Welten ändern (s|D|m)ich" - ich schlage vor, in einer möglichen "Theorie der konkreten Utopie", den Begriff "Welt" für (individuelle) Sichten von (lebenden) Systemen zu benutzen und den Begriff "die Erde" zu rekultivieren. Über reine Begriffsklärung hinaus wirkt das frühzeitige Verwenden von "Erde" -der existierenden Entfremdung im Denken voraus, über sie hinaus- "wieder-verbindend" auf den Menschen und die Natur.

(48.2) Neue Macht, 31.12.2006, 13:54, Christian Maxen: Ich protestiere, weil Du schreibst(1):"Das Neue entstand und entsteht nie aus einer Modifikation des Alten." Ich behaupte, Deine thesenhafte Aussage ist falsch, denn es gibt Gegenbeispiele, ich nenne "chemische Reaktionen" und die fließenden Übergänge Weimarer-Republik -> Dritte Reich -> BundesRepublik. Wir müssten "neu"(wirklich neu) definieren, um zum gemeinsamen Punkt.. Ich protestiere, weil Du schreibst(2):"Die Welt kann nur verändert werden, ohne die Macht (Herrschaft) zu übernehmen.", Dein "nur" im Satz impliziert:"dann, und nur dann" das wäre falsch. Richtig ist:"Man kann die Welt verändern, wenn man die Macht(Herrschaft) übernimmt." UND frau kann »Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen« (John Holloway). Bitte verstehe meine Kritik klärend.. ich steh echt auf Deine Worte ;-) christian

Anmerkungen

(49)
[1] Roswitha Scholz: Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef 2000.
[2] Stefan Meretz: »"GNU/Linux ist nichts wert - und das ist gut so!" - Kampf ums Eigentum im Computerzeitalter«, in: Ingrid Lohmann / Rainer Rilling (Hg.): Die verkaufte Bildung, Opladen 2002.
[3] Quelle Internet: <http://www.sourceforge.net> bzw. <http://www.savannah.gnu.org>.
[4] Bei allen Beschreibungen handelt es sich um idealtypische Verdichtungen, die reale Projekte in unterschiedlicher Weise mehr oder weniger kennzeichnen.
[5] Das Projekt Oekonux - von Oekonomie & GNU/Linux - befaßt sich mit der Frage der gesellschaftlichen Verallgemeinerbarkeit der Prinzipien Freier Software. - Vgl. Internet: <http://www.oekonux.de>.
[6] Vgl. Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie, Frankfurt am Main 1983.


Valid HTML 4.01 Transitional