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Freie Software

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 22.11.2003
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Über die verständliche Unverständlichkeit einer neuen Produktionsweise

(1) Die traditionelle Wirtschaftslehre kommt mit Freier oder Open-Source-Software nicht klar: "Open-Source-Software stellt für die Managementforschung ein Rätsel dar" (Osterloh, 2003). Das ist ein gutes Zeichen. Freie Software ist "unlogisch", denn Freie Software ist weder kapitalistisch noch antikapitalistisch, sondern sie ist transkapitalistisch. Sie ist im begrifflichen Rahmen des "Es muss sich rechnen" nicht verstehbar. Das hält die akademischen Interpreten nicht davon ab, dem Unverstandenen die überkommenen Begriffe überzustülpen.

Entstehung

(2) Der Begriff "Freie Software" entstand erst mit der Exklusivierung gesellschaftlichen Software-Wissens. In heutiger Perspektive kann man natürlich auch sagen: Früher gab es nur freie Software. Damals machte das keinen Sinn. Aus der freien Software wurde Freie Software, weil unfreie, proprietäre Software entstand. Es war ein Akt der Verteidigung gegen die Einfriedung der Software-Allmende (Grassmuck 2002).

(3) AT&T besaß die Rechte am Unix-Betriebssytem. Das fiel der Firma auf, als sie Anfang der 1980er zerschlagen wurde. Der Markt diktierte der Unix-Division: Nutze deine exklusive Verfügungsgewalt auch exklusiv. Wissenschaftler/innen konnten bis dahin den Quellcode verwenden. Nun sollten sie eine Nicht-Weiterverbreitungs-Erklärung (NDA) unterzeichnen, wenn sie den Zugriff behalten wollten. Diese Freiheitseinschränkung erzürnte Richard Stallman am MIT und andere sehr. Sie gründeten das GNU-Projekt. "GNU's Not Unix" lautet die rekursive Abkürzung: GNU ist nicht Unix, sondern frei - und besser. Der erste historische Geniestreich Freier Software bestand in der Schaffung einer Freien Software-Lizenz, der GNU General Public License (GNU GPL). Die GPL basiert auf dem Copyright, dreht dessen Sinn aber subversiv um: Software soll nicht exklusiv sein und nie wieder exklusiviert werden. Die GPL wird deswegen auch als Copyleft bezeichnet.

Durchsetzung

(4) Der zweite historische Geniestreich wurde von Linus Torvalds in die Welt gesetzt. Ganz traditionell organisierte sich Freie Software in ihrer Frühphase tayloristisch: Programmierung in zurückgezogenen Teams, Trennung von Entwicklung und Test, Top-Down-Steuerung. Torvalds stellte diese Logik intuitiv auf den Kopf. Anstatt die Kontrolle über jeden Schritt zu behalten, gab er sie aus der Hand. Neben das gängige Entwicklungsprinzip des "rough consensus - running code" stellte er sein "release early - release often". Grundlage des sogenannten Maintainer-Prinzips ist die individuelle Selbstentfaltung und die kollektive Selbstorganisation. Und natürlich die globale Vernetzung über das Internet auf der Grundlage wertfreier, nicht-tauschförmiger Beziehungen zwischen Menschen. Das Prinzip der Selbstregulation ist bestechend einfach: Was funktioniert, das funktioniert. Die eigenen Bedürfnisse sind der Maßstab und die praktische Erfahrung, dass die Entfaltung der anderen die eigene Entfaltungsbedingung ist. Maintainer und Projekt sind positiv-verstärkend aneinander gebunden.

(4.1) Re: Durchsetzung, 20.03.2004, 21:18, Martin Mucha: Dafür sind aber freie Software-Projekte meistens sehr patriachalisch...

(5) Ein subversiv fixierter rechtlicher Rahmen durch das Copyleft und das Zusammenkommen der vier Faktoren Selbstentfaltung, Selbstorganisation, Vernetzung und Wertfreiheit bilden die Triebkräfte einer ungeheuren Dynamik der Bewegung Freier Software. Nun erst kommen sie dazu: Die ökonomischen Absahner und akademischen Interpreten. Geht damit die Freie Software kaputt? Nein, es ist umgekehrt: Der "Freiheitsvirus" wird weiter verbreitet.

Anti-Ökonomie

(6) Die neue Produktionsweise braucht die strukturelle Wertfreiheit von Prozess und Produkt. Für die Produktfreiheit sorgt die GPL, für die des Prozesses das Maintainer-Prinzip. Was woanders Hobby heißt, ist hier Spitze der Produktivkraftentwicklung. Freie Software ist unknapp und damit wertlos. Es muss schon Knappheit der Freien Software hinzugefügt werden, um mit ihr Geld zu machen: Karton, Buch, Service, Hardware etc. Auf die Freie Software geguckt wird klar: Der Antagonismus besteht nicht zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen Selbstentfaltung und Selbstverwertung. Nur außerhalb der kybernetischen Wertmaschine kann sich die Freie Software entwickeln. Will Selbstentfaltung unbeschränkt sein, braucht sie einen wertfreien Kontext. Das ist die Unlogik Freier Software, sie ist "unökonomisch", nein, mehr noch: anti-ökonomisch - und gerade deswegen überlegen (Meretz 2002).

(6.1) Re: Anti-Ökonomie, 20.03.2004, 21:34, Martin Mucha: Auch freie Software ist ein knappes Gut. Das zeigen tausende Projekte, wo zwar eine Version 0.1 veröffentlicht aber nie eine Weiterentwicklung oder -Diskussion stattgefunden hat. Man darf hier nicht immer nur auf die Stars blicken. Und die "Selbstentfaltung" besteht oft darin, daß sich Entwickler untereinander verkrachen oder eigene Wege gehen wollen und "unproduktive" Parallelentwicklungen und/oder später der mehrfache Tot eintritt.

(7) Die Herausbildung der Produktionsweise Freier Software ist kein Zufall. Sie ist auch nicht bloß eine kapitalistische "Anomalie" wie kritische Verwertungslogiker meinen (Nuss, Heinrich 2002). Die Freie Produktionsweise musste sich notwendig herausbilden, sie ist gleichzeitig Resultat und Ende kapitalistischer Entwicklung. Dazu ein kurzer Blick in die Geschichte der Produktivkraftentwicklung.

Produktivkraftentwicklung

(8) Obwohl oft behauptet: Produktivkraftentwicklung ist nicht Technikentwicklung. Die "Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt" erklärt uns Marx. Solcherlei Umstände entdeckte er viele: Naturbedingungen, technische Entwicklungen, die Kooperation der Arbeitenden, die Qualifikation, die Organisation der Arbeit, allgemeines Wissen etc. Statt eines dinglichen ist also ein Verhältnisbegriff erforderlich: Produktivkraftentwicklung fasst das historisch sich ändernde Verhältnis von Natur, Mittel und Mensch bei der (Re-) Produktion des gesellschaftlichen Lebens. Dieser Begriff der Produktivkraftentwicklung hilft, die Freie Software zu verstehen (Meretz 2001, 2003a).

(9) Jeder der drei Aspekte der Produktivkraftentwicklung ist in einer historischen Epoche dominant und bestimmt sie. Alle agrarischen Gesellschaften vor dem Kapitalismus gehören demnach zur naturalen Epoche. Die Bearbeitung des Bodens steht im Zentrum der (Re-) Produktion, Werkzeuge werden dabei nur mitentwickelt. Die Vergesellschaftung ist personal-konkret und herrschaftsförmig organisiert. Das bedeutet, dass die gesellschaftlichen Regulations-, Vermittlungs- und Verteilungsformen durch personale Herrschaft von Menschen über Menschen bestimmt sind.

(10) Die Arbeitsmittel-Revolution - auch industrielle Revolution genannt - bringt den Kapitalismus hervor. Güter werden hier von getrennten Privatproduzenten hergestellt. Erst der Markt vermittelt ihren Austausch. Sekundär kommt es zu den bedeutenden Umwälzungen in der Landwirtschaft oder der Gewinnung von Bodenschätzen, die jedoch erst mit der Entwicklung der industriellen Produktion und der Naturwissenschaften möglich wurden. Die Vergesellschaftung wird nun durch die abstrakt-entfremdete Herrschaft der gesellschaftlichen Wertmaschine strukturiert. Die Ironie der Geschichte: Der Kampf der Arbeiterbewegung gegen die Herrschaft des Menschen über den Menschen hilft bei der Durchsetzung der Verwertungslogik. Solidarität war das Mittel. Heute ist jeder seines eigenen Glückes Schmied in allgemeiner Entfremdung, eine Gesellschaft von Warenmonaden.

(11) Die Geschichte ist nicht am Ende angelangt. In den Falten der Gesellschaft entsteht Neues. Der Mensch ist immer die Hauptproduktivkraft, meint Marx. - "an sich". Die Entfaltung der Hauptproduktivkraft Mensch, die Selbstentfaltung des Menschen, steht aus. Sie kündigt sich aber bereits an, nicht zuletzt in Gestalt der Freien Software. Die Durchsetzung der Selbstentfaltung des Menschen als Hauptproduktivkraft wird die abstrakt-entfremdete Vergesellschaftung aufheben und wieder personal-konkrete Vermittlungsformen etablieren - herrschaftsfrei und global vernetzt. Dann regeln die Menschen ihre Angelegenheiten wieder selbst: Freie Menschen in freien Vereinbarungen (Gruppe Gegenbilder 2000). Die Voraussetzungen dazu sind entwickelt: stofflicher Reichtum, kommunikative Mittel, globales Wissen.

Widersprüche

(12) Die Kapitalfunktionäre haben die menschliche Individualität als ultimative Produktivkraft-Ressource entdeckt. Und auch die Arbeitsfunktionierer, die abhängig Beschäftigten, finden neue Möglichkeiten der Entfaltung. Die zum Zerreißen gespannte Gemengelage hat Wilfried Glißmann (1999) auf den Punkt gebracht: "Tut was ihr wollt, aber ihr müßt profitabel sein". Kapital- und Arbeitsfunktion, Wertschaffung und Wertrealisierung rutschen zusammen, fallen in eine Person: "Die beiden Aspekte zerreißen mich geradezu, und ich erlebe dies als eine persönlich-sachliche Verstrickung". Es gibt keine Auflösung: "Herrscher über die neue Welt ist nicht ein Mensch, sondern der Markt. ... Wer seine Gesetze nicht befolgt, wird vernichtet." Treffender als Olaf Henkel (1996) hätte auch Marx die abstrakt-entfremdete totalitäre Herrschaft der Verwertungslogik nicht formulieren können.

(13) Freie Software passt hier nicht hinein, sie ist komplett "wert-unlogisch". Warum aber machen die Leute Freie Software, wenn sie doch in der Regel kein Geld dafür bekommen? Wer so fragt, hat den Homo economicus als Menschenbild verinnerlicht. Der hat gedanklich das abstrakte Tun für ein entfremdetes Drittes zu einer Naturform erhoben. Der vermutet das Tauschen als Urtrieb wahrscheinlich in den Genen. Doch Freie Software funktioniert einfach so, weil ganz normale Menschen ihre produktiven Bedürfnisse befriedigen. Befreit von scheinbar allmächtigen Realabstraktionen wie Geld, Markt, Tausch schaffen sie die Produkte, die sie brauchen, und die organisatorische Struktur, die je ihren Anforderungen angemessen ist. Die Freie Software erreicht in ihrem Bereich gesellschaftliche Größenordnung - ohne Zentralplanung und im Unterschied zu jedem Alternativ-Projekt. Sie ist eine Keimform einer freien Gesellschaft (Meretz 2003b, 2003c).

(13.1) Ohne Göd ka Musi., 20.03.2004, 21:24, Martin Mucha: Auch alle erfolgreichen "freie Software-Entwickler" erhalten Geld und fahren dann halt auch BMW Z3 "just for fun". Der Marktwert von Entwicklern, die sich in "freier Wildbahn" behauptet haben, ist sehr hoch. Viele Schüler und Studenten können sich hier bereits einen Namen machen. Klein(st)e Software-Firmen und Einzelkämpfer können sich durch weltweite Partnerschaften behaupten. Und verdienen am Consulting, Installation, Wartung und Service, Weiterentwicklung und Anpassung im Kundenauftrag sehr gut daran. Also ein sehr logisches Geschäftsmodell. Die wenigsten "freie Software-Entwickler" betrachten ihre Arbeit als Hobby, sondern leben davon. Und Kunden - sowohl im Privatbereich, KMUs als auch Großbetriebe - greifen zu Open Source Software, da sie keine Lizenzkosten hat und sich in der Praxis bewährt und durch die Praxis ständig verbessert. (Also meistens halt: es gibt auch tausende Projekte, die nie zum Fliegen kommen.)

(14) Natürlich ist die Freie Software nicht widerspruchsfrei. Es handelt sich jedoch um eine betriebswirtschaftlich verzerrte Sicht, "gleichzeitig kommerzielle Anbieter und von der Sache begeisterte Programmierer" (Osterloh 2003) zum Kern der Freien Software zu erklären. Hier ringen zwei unvereinbare Produktionsweisen miteinander. Die Freie Software würde ein Aufsaugen in den globalen Verwertungsapparat nicht überleben. Doch da der "Freiheitsvirus" dem einzelnen Kapital einen Konkurrenzvorteil verschafft, muss es ihn auch pflegen. Der Ausgang ist offen.

Oekonux

(15) Das international interessanteste Reflexionsprojekt Freier Software ist Oekonux - Ökonomie und GNU/Linux. Eine Erfahrung im Projekt Oekonux ist, dass fast alle traditionelle Theorie bei der Erklärung des "Phänomens" versagt. So nimmt die Bewegung Freier Software nicht nur die Produktion selbst in die Hand, sondern auch die theoretische Reflexion. Die Freie Software ist schon dabei, die Welt zu verändern, jetzt kommt es auch noch darauf an, sie - durchaus unterschiedlich - zu interpretieren. Leitfrage ist: Können Prinzipien Freier Software gesellschaftlich verallgemeinert werden, und wo geschieht das schon?

(16) So wie Freie Software von normalen Menschen gemacht wird, so kennt Oekonux keine ideologischen Eintrittsvoraussetzungen. So wie die Freie Software transkapitalistisch, so ist Oekonux als Teil der Freien Softwarebewegung "trans-links" - wurde doch die Erfahrung gemacht, dass "linke Theorie" sich bei aller moralischen Aufladung doch auch nur innerhalb der Tauschlogik bewegt. Und Oekonux ist schließlich auch "trans-identitär". Die in diesem Text formulierten Thesen wurden im Oekonux-Kontext entwickelt, doch sie "sind" nicht Oekonux-Theorie. Ein wichtiger Ort des Zusammentreffens unterschiedlicher Denkströmungen sind die Oekonux-Konferenzen. Die nächste findet vom 19.-21.5.2004 am Philosophischen Institut in Wien statt unter dem Motto "Reichtum durch Copyleft - Kreativität im digitalen Zeitalter".

Copyleft-Notiz

(17) Dieser Text erscheint unter den Bedingungen der GNU Free Documentation License, Version 1.2 (www.gnu.org/copyleft/fdl.html) und darf frei verwendet, kopiert, verändert und verbreitet werden, sofern diese Lizenznotiz erscheint sowie Quelle und ursprünglicher Autor genannt werden.

Literatur

(18) Glißmann, Wilfried, 1999: Die neue Selbständigkeit in der Arbeit und Mechanismen sozialer Ausgrenzung. In: Sebastian Herkommer (Hg.), Soziale Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus. Hamburg.
Grassmuck, Volker, 2002: Freie Software zwischen Privat- und Gemeineigentum. Bonn.
Gruppe Gegenbilder, 2000: Freie Menschen in freien Vereinbarungen. Saasen.
Henkel, Hans-Olaf, 1996. In: Süddeutsche Zeitung, 30.05.1996. München
Meretz, Stefan, 2001: Produktivkraftentwicklung und Aufhebung. In: Streifzüge, Heft 2/2001. Wien
Meretz, Stefan, 2002: "GNU/Linux ist nichts wert - und das ist gut so!" In:
Ingrid Lohmann / Rainer Rilling (Hg.): Die verkaufte Bildung. Opladen.
Meretz, Stefan, 2003a: Freie Software - Ideen für eine andere Gesellschaft. In: Anja Ebersbach / Richard Heigl / Thomas Schnakenberg (Hg.): Missing Link - Fragen an die Informationsgesellschaft. Regensburg.
Meretz, Stefan, 2003b: Zur Theorie des Informationskapitalismus. In: Streifzüge, Hefte 1/2003 und 2/2003. Wien
Meretz, Stefan, 2003c: Der wilde Dschungel der Kooperation. In: Christoph
Spehr: Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation. Berlin.
Nuss, Sabine / Heinrich, Michael, 2002: Freie Software und Kapitalismus. In: Streifzüge, Heft 2/2002. Wien
Osterloh, Margit, 2003: Zur Ökonomie von Gratissoftware. In: NZZ, 23.09.2003. Zürich


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