Home   Was ist ot ?   Regeln   Mitglieder   Maintainer   Impressum   FAQ/Hilfe  

Gegenbilder, Kap. 2.1: Geschichte ist die Geschichte der Produktivkraftentwicklung

Maintainer: Gruppe Gegenbilder, Version 1, 18.08.2000
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) Menschen finden - im Unterschied zu Tieren - ihre Lebensbedingungen nicht einfach vor, sondern sie stellen sie aktiv gesellschaftlich her. {Tiere verändern zwar auch ihre Umwelt, z.B. der Biber, dies jedoch nicht im Sinne einer gesellschaftlichen Herstellung.} Diese Herstellung geschieht durch Stoffwechsel mit der Natur unter Verwendung von Arbeitsmitteln. Sie ist kumulativ, d.h. hergestellte Dinge, Wissen, Erfahrung und Kultur werden historisch angesammelt. Wie der Zusammenhang von Mensch, Natur und Mitteln, die der Mensch zur Naturbearbeitung einsetzt, historisch jeweils beschaffen ist, faßt der Begriff der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit, oder kurz: Produktivkraftentwicklung. Schematisch können wir den Begriff der Produktivkraftentwicklung als Verhältnis von Mensch, Natur und Mitteln so darstellen:

Mensch
|
PKE
/       \
Natur       Mittel
{PKE = Produktivkraftentwicklung}

(1.1) 05.09.2000, 10:05, Wolf Göhring: Ihr schreibt: "menschen finden ... sie stellen ... gesellschaftlich her." Dann aber: "... der zusammenhang von mensch, natur und mitteln, die der mensch ... einsetzt, ... fasst der begriff der ... produktivkraftentwicklung." In letzterem satz ist doch keinesfalls ein einzelner mensch gemeint, sondern zumindest einige. Daher sollte man auch ganz konsequent die mehrzahl verwenden, wenn sich die angelegenheit auf eine mehrzahl von menschen bezieht und den singular nur, wenn es sich wirklich um die stellung, haltung, taetigkeit eines individuums handelt.

(1.1.1) Mensch und Menschen, 06.09.2000, 12:09, Stefan Meretz: Oops, das haben wir in der Tat nicht deutlich gemacht, allerdings nicht in dem Sinne, den du vorschlägst. Schreiben wir "Mensch", dann ist in der Tat kein einzelner Mensch gemeint, sondern der "Mensch schlechthin", das "Gattungswesen Mensch" (Marx) oder der "Mensch an-sich" - wie's beliebt. "Menschen" meint dann mehrere dieser Gattungswesen. Meinen wir den individuellen Menschen, dann bezeichnen wir diesen auch als "Individuum" oder "Subjekt". Hoffe ich wenigstens...

(1.1.1.1) Mensch & Maus & Meise, 05.05.2003, 10:57, Uwe Berger: Schön klar, als ob der LiebeGottselbst von seinen Geschöpfen spricht.

(1.1.1.2) Re: Mensch und Menschen, 08.05.2003, 01:26, Uwe Berger: vielleicht kann ja der Einzelne "mensch" kleingeschrieben werden. ist ein schönes miteinander bei ot, jetzt brauchen wir nur noch zu ein an d er finden. in dieser multiperonaldisorderZeit

(1.2) 27.10.2000, 14:27, Hans-Gert Gräbe: Ich habe mir das Bild inzwischen lange angeschaut und bin immer unzufriedener damit. Arbeit als Auseiandersetzung zwischen Mensch und Natur braucht eine bipolare, keine tripolare Struktur. Marx spricht davon, dass der Mensch mit dem Industriezeitalter das Arbeitsmittel zwischen sich und die Natur schiebe. Also wäre ein Bild Natur - Mensch für die Agrargesellschaft und Natur - Mittel - Mensch für die Industriegesellschaft logischer. Und nun schiebt der Mensch (als Gattungswesen) noch ein weiteres "Etwas" zwischen sich und die Natur, genauer wohl zwischen sich und das Mittel. Was? Jemand hat es mal als die "numerische Datenwand" bezeichnet. Ich nannte es zur Volksuni in Berlin "Zweck", allerdings war mit da noch nicht so klar, dass die Topologie des Bildes, das Stefan Meretz mit so viel Mühe gemalt hat, falsch ist. Wenn man von einem Arbeitsbegriff wie hier ausgeht (dem weiten Arbeitsbegriff von Marx, was ich angemessen finde), dann ist immer das Verhältis Natur - Mensch das primäre Verhältnis. In der Argargesellschaft ist es ein unmittelbares Verhältnis. In der Industriegesellschaft ein verMITTELt zweistufiges: der Mensch wirkt (nach gewissen Zwecken) auf die Mittel, die Mittel auf die Natur. Arbeit als "zweckmäßige Tätigkeit" - der enge Arbeitsbegriff bei Marx. Mit der algorithmischen Revolution hat der Mensch die Möglichkeit, die Mittel "tanzen" zu lassen, d.h. zu automatisieren und somit (einen Teil der) Zwecke zwischen sich und die Mittel zu schieben: Natur - Mittel - Zweck - Mensch (als Gattungswesen!).

(1.2.1) Entstehunggeschichte der PKE-Theorie, 01.11.2000, 17:06, Stefan Meretz: Bei Marx heisst die PK immer "PK der Arbeit", er schreibt im Kapital, S. 54: "Die Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt, unter anderen durch den Durchschnittsgrad des Geschickes der Arbeiter, die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gesellschaftliche Kombination des Produktionsprozesses, den Umfang und die Wirkungsfähigkeit der Produktionsmittel, und durch Naturverhältnisse." Diese Bestimmungen kategorial verdichtet ergeben das Dreieck: 'Mensch' ist der allgemeine geschickte Arbeiter; 'Mittel' sind Wissenschaft/Technik und Produktionsmittel; 'Natur' sind die Naturverhältnisse. Die genannte "gesellschaftliche Kombination des Produktionsprozesses" ist eine Teilbestimmung der PKE selbst, nämlich ihre Formbestimmung (siehe Abs. (2)). Diese kategoriale Aufschlüsselung stammt von mir, die Historisierung des Marxschen PKE-Begriffes mit den drei "Epochen" stammt von Iris Rudolph (http://www.iris-rudolph.de) und ist etwa 1986 entstanden als theoretischer Reflex auf Gorbatschow und den von ihm popularisierten Begriff der Globalität der Probleme. Was 1996 nur als theoretisch-logisches Abstraktum im Raum stand - nämlich die Notwendigkeit und Möglichkeit einer dritten "Epoche" der PKE als "Entfaltung des Menschen an-und-für-sich" - wurde erstmals durch die Freien Softwarebewegung ansatzweise sinnlich erfahrbar. Das nur zur Entstehungsgeschichte.

(1.2.1.1) Arbeit und PKE, 03.11.2000, 14:50, Hans-Gert Gräbe: Ich sehe, dass wir von leicht unterschiedlichen Dingen reden. Arbeit = "Stoffwechsel mit der Natur unter Verwendung von Arbeitsmitteln" ist ein zweipoliges Verhältnis zwischen Mensch und Natur, das sich heute zum großen Teil verMITTELt realisiert. PKE ist etwas anderes und in der Tat als komplexes Beziehungsgefüge zu verstehen. Allerdings versteht Marx im angegebenen Zitat Arbeit im engen Sinne, denn er blendet die reflektive Komponente aus (wie entwickelt sich Geschick und Wissenschaft im Arbeitsprozess?). Wenn man sie mit rein nimmt (und das ist heute sicher erforderlich), dann wird man aber das Marxsche 7-Eck (mindestens; er schreibt ja "u.a.") nicht mehr auf ein Dreieck reduzieren können. Wenn der Produktion eine umfangreiche und oft eigenständige Planungs- und Projektierungsphase vorangeht, ist wenigstens ein vierter Pol, der Pol der Konzepte (ein hoffentlich brauchbarerer Terminus als "Zweck"), eigenständig zu betrachten. In der Schlußfolgerung laufen wir allerdings auseinander: Ich schließe auf die zunehmende Bedeutung von Konzepten, also eines speziellen Aspekts der PKE (im hier definierten Sinne), Du auf die "Entfaltung des Menschen an-und-für-sich", der so gar nicht im Konzept der PKE vorkommt (Du betonst immer wieder PK der _Arbeit_, oder übersehe ich da was?)

(1.2.1.2) Mensch, Natur und Arbeit, 03.11.2000, 14:58, Hans-Gert Gräbe: Im anderen Begriffsgefüge - Arbeit = "Stoffwechsel mit der Natur" - schieben sich (nach Marx) die Mittel _zwischen_ Mensch und Natur (im Sinne einer Aufspaltung von Kausalketten als Instrument der Komplexitätsreduktion). Damit ist das von mir vorgeschlagene Bild wohl hier anzuwenden. Ergibt sich die Frage, ob sich in einem ähnlichen Verständnis heute die Konzepte zwischen Mensch und Mittel schieben. Eine solche höhere Kompliziertheit des Wechselverhältnisses Mensch - Natur würde jedenfalls historischer Erfahrung (der ständig zunehmenden Kompliziertheit dieses Wechselverhältnisses) entsprechen. Software ist eine typische Form vergegenständlichter Konzepte, _freie_ Software (frei im Sinne von Stallman) eine Eigenschaft von Software, nicht von Menschen. Ähnliche "ansatzweise sinnliche Erfahrungen" gibt es in der Wissenschaft (ich werde es nicht müde zu betonen) zuhauf (natürlich vorwiegend ab Professor aufwärts).

(1.2.2) Mittel und 'vermittelt' - Naturepoche, 01.11.2000, 17:30, Stefan Meretz: Menschliche (Re-)Produktion des Lebens erfolgt immer _vermittelt_ in einem doppelten Sinn: (1) Der Mensch benutzt Mittel, die er nicht nur vorfindet, sondern herstellt. Intendierte Zwecke vergegenständlicht er damit in diesen Mitteln, ein gegenständlicher und dait kumulativer Speicher gesellschaftlichen Wissens (im Unterschied zu Tieren: die benutzen zwar auch Mittel, doch nur für einen singulären Zweck; die Bedeutung des Mittels erlischt mit der Realisierung des Zweckes, während Menschen ihre Mittel für den allgemeinen Fall der zweckgerechten Nutzung herstellen, weswegen ihre Mittel die Bedeutung behalten. Der "Zweck" ist also nichts Neues, sondern immer schon da, vergegenständlicht in den hergestellten gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen). Das ist immer so, egal wie "einfach" die Mittel sind - auch in Agrargesellschaften. Dennoch ist klar: der Natur kommt in der Beziehung des Menschen der Primat zu, sie ist aber niemals "unmittelbar". (2) Damit sollte auch klar werden, dass die (Re-)Produktion _immer_ gesamtgesellschaftlich vermittelt erfolgt. Aus Sicht des Individuums ist die Gesellschaft das Mittel, dessen es sich bei der individuellen (Re-)Produktion bedient - in welcher Form auch immer. Das ist auch beim einsamen Robinson so, sobald er die angeschwemmte Truhe öffnet.

(1.2.3) Mittel und 'vermittelt' - Mittelepoche, 01.11.2000, 17:53, Stefan Meretz: Mit der algorithmischen Revolution kommt nicht 'Neues' auf die Welt, sondern eine vorhandene Form erfährt einen Funktionswechsel. Die Keimform ist die "ideele Antizipation eines Prozesses", den ich Algorithmus nenne. Hier gehört das Marxsche Biene-Baumeister-Beispiel rein. Hier im Text siehe ab Abs. (16). "Zweck" wäre etwas dünn, eine "Vorstellung über den Ablauf der Zweckrealisierung" könnte ich aber annehmen. Mit der Vergegenständlichung dieser "Zweckantizipationen" in digitaler Datenform, als Software (oder sekundär als Hardware), wird dieser Funktionswechsel vollzogen, wird so etwas wie Automatisierung machbar - Zustimmung. Doch das alles gehört vollständig in die Mittelepoche, es ist an das Mittel gebunden. Der "Zweck" ist keine weitere Instanz, jede Verselbstständigung gegen menschliche Bedürfnisse hat nichts mit der "Selbstständigkeit einer Zweckinstanz" zu tun, sondern ist der irren, selbstbezüglichen Wert-Verwertungslogik des Kapitalismus geschuldet. Es gibt also einen zwischen sich und die Mittel geschobenen (Selbst-)Zweck nur als ver-rückten Selbstzweck der Geldmaschine. Du sitzt IMO damit einem produzierten Schein auf, kategorial ist der Zweck immer an den Menschen gebunden.

(1.2.3.1) Mittel und Zweck, 03.11.2000, 15:23, Hans-Gert Gräbe: Gut, nennen wir es also lieber "Konzept". Das kommt Deinem Angebot "Vorstellung über den Ablauf der Zweckrealisierung" entgegen. Wenn so etwas beginnt ein Eigenleben zu führen, dann sind wir allerdings in einer anderen Gesellschaft. Denn in _dieser_ Gesellschaft wird das Entwickeln von "Vorstellungen über den Ablauf einer Zweckrealisierung" nur belohnt, wenn der Zweck dann auch wirklich realisiert wird (_Das_ ist das Credo der "Wert-Verwertungslogik des Kapitalismus"). Unrealisierte Zwecke (also "nur" Konzepte) läßt diese Verwertungsmaschine eigentlich nicht zu. Der Funktionswechsel einer im Keim bereits vorhandenen Form sprengt also die Rahmen der bestehenden Produktionsverhältnisse (übrigens nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit).

(1.2.3.1.1) an Mittel und Zweck ist nichts mehr heilig, 08.05.2003, 01:46, Uwe Berger: In der Psychologie geht Paul Boeysen bis in die Konzeption für eine Therapie zurück. Ließt sich das Tibetanische Totenbuch rückwärts, ist es gleichsam ein weiterführen Freudscher Analyse in die Vorgeburtlichen Zustände. Begeistert waren die alten Ägypter, ein Kücken aus dem Ei schlüpfen zu sehen: sieh´ nur es kann sogleich auf seinen Füßen stehen. Und Einstein sagte: das Wunder ist, wir können die Welt verstehen. Vielleicht nur aus Vers_ehen.

(1.3) Geschichte nur einseitig = PKE, 15.01.2003, 12:52, Uwe Berger: Die Geschichtsbetrachtung von der PKE Seite aus vernachläßigt den Urgrund des Daseins. Hoffentlich merken das die Geschichtsforscher bald. Alle anderen Lebensformen als verstandlos und unproduktiv aus der eigenen Blickrichtung abzutun, und mit Bedacht und effektiv zu ignorieren oder höchsten als Hefe, Nahrung und Heizung für sich zu "denken", entfernt den ProDucenten (1=ich Du=100) solange von seiner eigenen Natur, bis er sich weg-dezimiert. Weitere Seiten der Geschichtsbetrachtung wären: die Gefühls-geschichte, die Geschichte vom Kontakt zu eineranderen Lebensform, die Geschichte des eigenen Geborgenseins, die Geschichte der Ziele, die sich im Lauf des Individendten aber auch durch Jahrtausende ändern, aber eben auch identisch bleiben können. Ja sogar aufgegeben und wiedergefunden werden können. Natürlich muß einer hierfür den wunsch, alles kausal auf der Zeitachse verfolgen und lenken zu können, beiseite lassen. Und hier versteht sich der Grund der "Geschichte der PKE": Angst. Einer, der seine Angst überwunden hat, läßt sich (von der Masse der Produkttier-ten) an den Hochofen stellen oder in das "Kriegen" schicken. Überwindet einer die Angst vor dem Ausschluß aus der eigenen Gemeinschaft, wird derjenige von dem Produktionsprozeß "PKE" ausgespukt, weil 10 Deutsche sind nicht nur dümmer als Einer, sie haben Summasumarum auch mehr Angst. Gänzlich verzweifeln tun sie, wenn dieser Eine seine Angstlosigkeit auch noch offen zeigen darf. Ergo: die Geschichte der Produktiefkraft ist die Geschichte von Scham, Schuld und Angst mAchen. Folglich kann das Rechnerisch nur heißen: je größer die PKE desto kleiner das Wesen. ?wie klein müßen wir uns noch machen nur, daß wir nur glauben können großartig (weil großarschig) zu sein.

(1.4) so da hab´ich meine produktkr. entwickelt, 15.01.2003, 15:24, Uwe Berger: Betreff: From: "Uwe Berger" Stoffwechseln mit dem cyberspace... Verwendung von Arbeitsmitteln... Sie ist kumulativ, d.h. Naturbearbeitung... Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit, oder kurz: > Produktivkraftentwicklung. Schematisch können wir den Begriff als Verhältnis von Mensch, Natur und Mitteln... (wobei eins von den dreien anscheinen vernachläßigt werden kann???} (1.3) Die Geschichtsbetrachtung von der PKE Seite aus vernachläßigt den Urgrund des Daseins. Hoffentlich merken das die Geschichtsforscher bald. dromos_thromos_cosmos

(1.4.1) dromos Link, 08.05.2003, 01:55, Uwe Berger: Inzwischen war eine Versammlung, daß die OderBruchTrasse in den nächsten 15 Jahren nicht gebaut wird. Und eine Woche später dann eine kleine Meldung einer Zeitung, das der Schiffahrtsweg"Oder" aber ausgebaut werden möchte. Kann da http://www.volksabstimmung.org noch ein Stück Natur retten?

(2) Den aktiven Stoffwechsel des Menschen mit der Natur unter Verwendung von Mitteln nennen wir "Arbeit". Damit faßt der Begriff der Produktivkraftentwicklung auch die historische Veränderung der Arbeit, ist aber nicht mit dieser identisch. Dies wird deutlich, wenn man sich die drei Dimensionen des Begriffs der Produktivkraftentwicklung ansieht:

(2.1) 27.10.2000, 14:43, Hans-Gert Gräbe: Nun werdet ihr euch untreu, denn das ist Arbeit als Einbahnstraße, als Einwirkung auf die Natur, also Arbeit im engeren Sinne. Es fehlt die reflektive Komponente, das m.E. zentrale Element, um die VerMITTELung überhaupt zu verstehen. In der Agrargesellschaft ist der Reflexionszusammenhang unmittelbar, Wissenschaft hat ein ganzheitliches Verständnis (Faust!). Mit der Industriegesellschaft fällt Reflexion in zwei Teile auseinander, die Reflexion über das Zusammenspiel Natur - Mittel (die Natur- und Technikwissenschaften) und Reflexion über das Zusammenspiel Mittel - Mensch (die Geisteswissenschaften). Das ist zwar nicht so 1-1 wie hier auf die Schnelle geschrieben, aber der Fork passierte historisch genau an der Stelle! In der dreistufigen (postindustriellen? Der Begriff ist allerdings anders besetzt) spaltet sich Reflexion über das Verhältnis Mittel - Mensch auf in das Studium der Wirkungen des Verhältnisses Mittel - Zweck und des Verhältnisses Zweck - Mensch. Ist aber vielleicht schon ein anderes Buch. Deshalb erst mal genug.

(2.1.1) Produktivkraft(entwicklung), 28.10.2000, 09:35, Petra Haarmann: M.E. werden in diesem Kommentar Produktivkraft(-entwicklung) und Produktionsmittel gleichgesetzt. Produktionsmittel sind aber die im Kapitalverhältnis zwischenzeitlich tatsächlich realisierte Technologien, wohingegen Produktivkraft die zwischenzeitlich entwickelten Potenzen von Naturwissenschaft, Technik und gesellschaftlichen Beziehungen begrifflich faßt. Die Naturwissenschaft im heutigen Sinne basiert auf der Idee das regellos erscheinende Naturgeschehen in beherrschbare und beliebig zusammensetzbare Einzelfaktoren zu zerlegen; deren Synthese zu Produktionsmitteln- und Systemen erfolgt sodann unter dem Wertgesetz, welches seinerseits auf der bürgerlichen Subjektform basiert. Mit anderen Worten: Schon das Bild von "der Natur" ist ein gsellschaftlich konstituiertes, besteht nämlich in dem Weltbild, daß die von objektiver Erkenntnisform produzierte Gesetzmäßigkeit Natureigenschaft und Natur abschließend und für alle Zeiten verbindlich beschreibt. Insofern sind "Geisteswissenschaft" und "Naturwissenschaft" gerade nicht von einander getrennte Sphähren, deren Berührungspunkt die (Produktions-)Mittelreflektion in zwei verschiedene Richtungen, nämlich einmal Mensch, einmal Natur, ist. Vielmehr basieren beide auf der Grundannahme des Vorhandenseins von abstrakt-allgemeinen Gesetzen, welche zum einen "die Natur" mathematisch abschließend beschreibar macht (1. Natur), und den Menschen den angeblich ehernen und ewigen Gesetzen einer durch diese Grundannahme induzierten 2. Natur (Geldvergesellschaftung über "wertige" Arbeit) unterwirft.

(2.1.2) Wissenschaftsspaltungen, 01.11.2000, 18:14, Stefan Meretz: Ich stimme Petras Kommentar in Abs. (2.1.1) zu und möchte ergänzen (weil mir das verschiedlich auf die Füsse fällt): Auch der Mensch _ist_ Natur, seine Natur ist seine Gesellschaftlichkeit. Schon von daher ist die Spaltung in Natur- und "Geistes"wissenschaften ein grottenbürgerliches (eines meiner Lieblingsempörungswörter - sorry) Konzept - das muss aber so sein, weil bürgerliche Wissenschaft zu keinem wissenschaftlich haltbaren Gesellschaftsbegriff fähig ist. Das hat mit den gesellschaftlich produzierten "vereinzelten Einzelnen" (Marx) zu tun, deren Existenzform naturalisiert wird und somit Gesellschaft bestenfalls als Summation selbiger denkbar ist. Diese "Spaltung" ist nur aufzuheben und nicht sinnvoll "weiterzuspalten". Mit der "Weiterspaltung" affirmierst Du bloss ein überholtes, völlig inadäquates Konzept. Wirklich ein anderes Buch.

(2.1.3) Wissenschaftsspaltungen, 03.11.2000, 15:51, Hans-Gert Gräbe: Ich beziehe mein Wissen zu dem Thema aus dem [Brockhaus], Stichwort "Wissenschaft", wo "wissenschaftliche Rationalität" als Grundparadigma der Natur- und Technikwissenschaften bezeichnet wird, den Geisteswissenschaften dagegen das (bis dahin prägende) Wissenschaftsverständnis als "die Welt in ihrer Ganzheit erklären" (eben Faust!) zugeschrieben wird. Letzteres ist historisch älter und der Ast der N+T hat sich zu Beginn des Industriezeitalters (!) vom "Stamm der Wissenschaft" abgezweigt: "Dieses begann mit der Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, genauer gesagt mit der Abspaltung der letzteren, die sich, statt ganzheitlicher Beschreibungen, stärker auf funktionale und kausale Erklärungen von Phänomenen ausrichten. Ein solches Verständnis ist die Basis und ermöglicht erst das `Eingreifenkönnen und Beherrschen natürlicher Prozesse und Dinge' (ebenda, S.278). Ursache für diese veränderte Stellung von Wissenschaft sind zweifelsohne die gewachsenen Anforderungen, die ein industriell organisierter Arbeitsprozess sowohl an die beteiligten Akteure als auch an die geistige Durchdringung der Prozesse selbst stellt. Diese Art wissenschaftlicher Rationalität wird im Folgenden zum beherrschenden Wissenstypus im Bereich der Natur- und Technikwissenschaften ... " Jedenfalls ist die sowohl zeitliche als auch kausale Nähe dieses "grottenbürgerlichen" Fakts zum Bedeutungszuwachs des Mittelaspekts auffällig.

(3) Oft wird die Produktivkraft der Arbeit mit Produktivität der Arbeit verwechselt. Damit werden jedoch die qualitativen Aspekte des Inhalts und der Form der Arbeit in ihren historischen Entwicklungen ausgeblendet. Auch Karl Marx, von dem der Begriff ursprünglich stammt, war nicht frei von solchen Verkürzungen.

(4) Noch einmal zusammengefaßt: Produktivkraftentwicklung faßt das Dreiecksverhältnis des arbeitenden Menschen, der unter Verwendung von Mitteln Stoffwechsel mit der Natur betreibt und auf diese Weise sein Leben produziert. Historisch verändert sich die Produktivkraftentwicklung mit ihren drei Dimensionen nicht kontinuierlich, sondern in qualitativen Sprüngen. Im Schnelldurchlauf durch die Geschichte sollen diese Sprünge nun nachgezeichnet werden.

(4.1) 05.09.2000, 10:13, Wolf Göhring: Entsprechend meinem obigen kommentar formuliere ich um: "Produktivkraftentwicklung fasst das dreiecksverhaeltnis arbeitender menschen, die unter verwendung von mitteln stoffwechsel mit der natur betreiben und auf diese weise (evtl. noch einfuegen: gemeinschaftlich) ihr leben produzieren."

(4.1.1) Mensch und Menschen, 06.09.2000, 12:20, Stefan Meretz: Hm, ja, auch wenn wir mit "Mensch" den allgemeinen Menschen und nicht einen einzelnen Menschen meinen, gebe ich dir hier Recht, denn die Produktion des Lebens bewerkstelligt nun mal nicht "der allgemeine Mensch", sondern notwendig immer eine Mehrzahl davon. Mein Vorschlag also: "Produktivkraftentwicklung faßt das Dreiecksverhältnis arbeitender Menschen, der unter Verwendung von Mitteln Stoffwechsel mit der Natur betreiben und auf diese Weise gesellschaftlich(!) ihr Leben produzieren." Ich merke hier selbstkritisch an, dass unklar ist, ob "Arbeit" (wie traditionell üblich) als anthropologische Konstante angesehen werden kann, oder ob "Arbeit" nur die spezifische abgespaltene Sondersphäre abstrakten Tuns ist, die unter Verwertungsbedingungen den Stoffwechsel realisiert (mithin an den Kapitalismus gebunden ist). Da gibt es einen Streit drum, in dem ich unentschieden bin.

(5) Man kann die Geschichte auf Grundlage des Begriffs der Produktivkraftentwicklung in drei große Epochen einteilen. In jeder dieser Epochen steht ein Aspekt des Dreiecksverhältnisses von Mensch, Natur und Mitteln im Brennpunkt der Entwicklung. In den agrarischen Gesellschaften wurde die Produktivkraftentwicklung vor allem hinsichtlich des Naturaspekts entfaltet, in den Industriegesellschaften steht die Revolutionierung des Mittels im Zentrum, und was mit dem Menschen als dem dritten Aspekt passiert, ist die spannende Frage, auf die wir weiter unten eingehen werden.

A. Die 'Natur-Epoche': Entfaltung des Naturaspekts der Produktivkraftentwicklung

(6) Alle Gesellschaften bis zum Kapitalismus waren von ihrer Grundstruktur her agrarische Gesellschaften. Ob matrilineare Gartenbaugesellschaft, patriarchalische Ausbeutergesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft oder Feudalismus - in allen Gesellschaften stand die Bodenbewirtschaftung in der Landwirtschaft und bei der Gewinnung von Brenn- und Rohstoffen unter Nutzung von einfachen Mitteln sowie menschlicher und tierischer Antriebskraft im Mittelpunkt der Anstrengungen. Mit Hilfe der hergestellten Arbeitsmittel - vom Grabstock bis zum Pflug und zur Bergbautechnik - holten die Menschen immer mehr aus dem Boden heraus, während die Art und Weise der Weiterverarbeitung der Bodenprodukte bis zum Nutzer relativ konstant blieb. Die eigenständige Fortentwicklung der Arbeitsmittel und Werkzeuge war durch Zünfte und andere Beschränkungen begrenzt.

(7) Qualitative Veränderungen innerhalb der "Natur-Epoche" zeigten sich vor allen bei der Form der Arbeit. Die landwirtschaftlichen Produzenten im Feudalismus waren mehrheitlich Leibeigene ihrer Feudalherren, waren so im Unterschied zum Sklaven also nicht personaler Besitz. Trotz Abgabenzwang und Frondiensten war der relative Spielraum der Fronbauern zur Entfaltung der Produktivkraft der Arbeit größer als bei den Sklaven, die - da personaler Besitz - gänzlich kein Interesse an der Verbesserung der Produktion hatten. Der Natur angepasste Fruchtfolgen und die Mehrfelderwirtschaft waren wichtige Errungenschaften in dieser Zeit. Aufgrund des höheren Mehrprodukts konnten sich Handwerk und Gewerbe, die von der Bodenbewirtschaftung mitversorgt werden mußten, rasch entwickeln.

Exkurs: Wie entwickelt sich Entwicklung?

(8) Diese Frage ist nicht nur wichtig, um die Vergangenheit zu verstehen, sondern auch, um selbst in den Lauf der Geschichte eingreifen zu können. Wer versteht, wie Entwicklung "funktioniert", kann die Hebel zielgerichtet ansetzen.

Keimformen des Neuen entwickeln sich immer schon im Alten. Sie werden stärker, werden zu einer nicht mehr zu übersehenden Funktion im noch alten System, übernehmen dann die bestimmende Rolle und transformieren schließlich das alte Gesamtsystem in ein Neues, in dem sich alles nun nach der neuen dominanten Funktion ausrichtet. Dieser beschriebene Prozeßablauf ist typisch für dialektische Entwicklungsprozesse {Dialektik}. In allgemeiner Form kann man fünf Stufen für qualitative Entwicklungssprünge so beschreiben (Holzkamp 1985):

{Eine Anwendung der 5 Stufen findet sich unter Kapitel 2.4.} Da die fünf Stufen bzw. Schritte hier allgemein beschrieben sind, klingen sie naturgemäß etwas abstrakt. Anschaulicher wird die Fünfschrittlogik, wenn man reale Entwicklungsprozesse danach befragt. Wir wenden sie im Folgenden auf die Abfolge der Epochen der Produktivkraftentwicklung an.

B. Die 'Mittel-Epoche': Entfaltung des Mittelaspekts der Produktivkraftentwicklung

(9) Die agrarische Produktion bestimmte zwar die gesellschaftliche Struktur, dennoch gab es in den Städten Lebens- und Produktionsformen, die dem unmittelbaren feudalen Zugriff entzogen waren: "Stadtluft macht frei" (Stufe 1: Keimformen). Die Städte wurden nun immer wichtiger für die steigenden repräsentativen und militärischen Bedürfnisse der herrschenden Feudalklasse (Stufe 2: veränderte Rahmenbedingungen). Ausgehend von gesicherten bürgerlichen Zonen inmitten des Feudalismus, den Städten, entfalteten Handwerker und vor allem Kaufleute ihre ökonomischen Aktivitäten (Stufe 3: Funktionswechsel). Der Einsatz geraubten und erhandelten Kapitals der Kaufleute sowie die Entwicklung von kombinierten Einzelarbeiten der Handwerker in der Manufaktur zum "kombinierten Gesamtarbeiter" (Marx 1976/1890, 359) in der Fabrik ermöglichten eine Übernahme der ökonomischen Basis durch die neue bürgerliche Klasse. Mit der Manufakturperiode, auch als Frühkapitalismus bezeichnet, begann die Umstrukturierung des alten feudalen zum neuen bürgerlichen ökonomischen System, das sich schließlich durchsetzte (Stufe 4: Dominanzwechsel). Die Industrielle Revolution sorgte endgültig dafür, daß sich der umgreifende gesamtgesellschaftliche Prozess nach den Maßgaben der kapitalistischen Wertverwertung ausgerichtet wurde (Stufe 5: Umstrukturierung des Gesamtprozesses).

Kapitalismus - Gesellschaft der Verwertung von Wert

(10) Im Kapitalismus werden ungeheure Warenmengen hergestellt. Dennoch ist das, was uns so bunt und vielfältig entgegenglitzert nicht der Zweck des Kapitalismus, sondern eher eine Nebeneffekt. Zweck ist etwas anderes: die Verwertung von Wert.

(11) In der Produktion wird abstrakte Arbeit verrichtet. Sie heißt abstrakt, weil es unerheblich ist, was produziert wird, Hauptsache es wird Wert geschaffen. Der Wert ist die Menge an Arbeitszeit, die in ein Produkt gesteckt wird. Werden auf dem Markt Produkte getauscht, dann werden diese Werte, also Arbeitszeiten miteinander verglichen. Zwischen den direkten Produktentausch tritt in aller Regel das Geld, das keinen anderen Sinn besitzt, außer Wert darzustellen.

(12) Was ist, wenn beim Tausch im einen Produkt weniger Arbeitszeit als im anderen steckt? Dann geht der Hersteller des "höherwertigen" Produkts auf Dauer Pleite, denn er erhält für sein Produkt nicht den "vollen Wert", sondern weniger. Wer fünf Stunden gegen drei Stunden tauscht, verschenkt zwei. Das geht auf Dauer nicht gut, denn die Konstrukteure der Produkte, die Arbeiter und Angestellten, wollen für die volle Arbeitszeit bezahlt werden. Also muß der Tauschorganisator, der Kapitalist, zu- sehen, daß die für die Herstellung des Produkts notwendige Arbeitszeit sinkt. Das wird in aller Regel auf dem Wege der Rationalisierung vollzogen, dem Ersatz von lebendiger durch tote Arbeit (=Maschinen).

(13) Was der eine kann, kann der Konkurrent auch. Wichtig und entscheidend ist dabei: Es hängt nicht vom Wollen der Konkurrenten ab, ob sie Produktwerte permanent senken, sondern es ist das Wertgesetz des Kapitalismus, das sie ausführen. Das Wertgesetz der Produktion besteht im Kern darin, Wert zu verwerten, aus Geld mehr Geld zu machen. Die Personen sind so unwichtig wie die Produkte, das Wertgesetz gibt den Takt an.

(14) Vom Wertgesetz werden auch jene bestimmt, die nur ihre Arbeitskraft verkaufen können, um an das notwendige Geld zu kommen. Ohne Moos nix los. Auch die Arbeitskraft besitzt Wert, nämlich soviel wie für ihre Wiederherstellung erforderlich ist. {Der hier genannte Wert meint nicht die Wertschätzung.} Diese Wiederherstellung erfolgt zu großen Teilen über den Konsum, wofür Geld erforderlich ist, was wiederum den Verkauf der Arbeitskraft voraussetzt. Auch dieser Regelkreis hat sich verselbständigt, denn in unserer Gesellschaft gibt es kaum die Möglichkeit, außerhalb des Lohnarbeit-Konsum-Regelkreises zu existieren.

(15) Beide Regelkreise, der Produktionskreis und Konsumkreis, greifen ineinander, sie bedingen einander. Es ist auch nicht mehr so selten, daß sie in einer Person vereint auftreten. Das universelle Schmiermittel und Ziel jeglichen Tuns ist das Geld. Die Notwendigkeit, Geld zu erwerben zum Zwecke des Konsums oder aus Geld mehr Geld zu machen in der Konkurrenz, ist kein persönlicher Defekt oder eine Großtat, sondern nichts weiter als das individuelle Befolgen eines sachlichen Gesetzes, des Wertgesetzes. Eine wichtige Konsequenz dieser Entdeckung ist die Tatsache, daß unser gesellschaftliches Leben nicht von den Individuen nach sozialen Kriterien organisiert wird, sondern durch einen sachlichen Mechanismus strukturiert wird. Das bedeutet nicht, daß die Menschen nicht nach individuellem Wollen handeln, aber sie tun dies objektiv nach den Vorgaben des sachlichen Zusammenhangs. Wie Rädchen im Getriebe.

(16) Bei der Entstehung des Kapitalismus wird sichtbar, wie Keimformen des Neuen - bei den Handwerkern stand die Mittelbearbeitung schon im Mittelpunkt ihrer Arbeit - in einem neuen Kontext eine neue Funktion bekamen und schließlich von allen Schranken befreit die gesamte Gesellschaft umstülpten. Um das genauer zu verstehen, lohnt es sich, den neuen dominanten Gesamtprozess genauer zu betrachten (vgl. auch Meretz 1999a). Im Fokus des neuen dominanten Gesamtprozesses steht die Revolutionierung des Mittelaspekts der Produktivkraftentwicklung. Dies wird deutlich, wenn man die drei Bestandteile des industriellen Prozesses genau untersucht und auf ihre früheren Keimformen zurückführt:

(17) Die drei Bestandteile konnten vor der Übertragung auf einen industriellen Prozeß in einer Person vereint sein. Die große Industrie trennte und entsubjetivierte diese Bestandteile nach und nach und machte sie damit einer eigenständigen wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich. Die modernen Natur- und Technikwissenschaften entstanden.

(18) Die Prozeßmaschine war der Ausgangspunkt der industriellen Revolution - und nicht, wie heute noch fälschlich angenommen wird, die Energiemaschine ("Dampfmaschine"). Die Prozeßmaschine war der Kern der "Mittelrevolution". Erst die Übertragung des Werkzeuges des Handwerkers auf eine Maschine erforderte die Dampfmaschine, um den gewaltig steigenden Energiebedarf der Industrie zu befriedigen.

(19) Prozeß- und Algorithmusmaschine waren zunächst noch gegenständlich in einer Maschine vereint. Der sachliche und zeitliche Ablauf war damit in die Maschine fest eingeschrieben. Sollte ein neuer Ablauf etwa für ein neues Produkt realisiert werden, mußte eine neue Maschine gebaut werden. Lagen die Wurzeln der Algorithmusmaschine in der industriellen Revolution, so sollte jedoch noch Jahrzehnte bis zur Entwicklung der separaten und universellen Algorithmusmaschine, des Computers, vergehen. Diese Entwicklung vollzog sich über zwei Schritte (in der Regel mit "Fordismus" und "Toyotismus" bezeichnet), die wir nachzeichnen wollen.

Fordismus: Die erste algorithmische Revolution

(20) {Algorithmische Revolutionen} Anfänge der Algorithmisierung der Produktion gibt es mit den ersten komplizierten oder kombinierten Werkzeugmaschinen. {Algorithmisierung: Übertragung von Wissen und Erfahrung auf eine Maschine} Die Übertragung der Werkzeugführung des Handwerkers auf eine Maschine vergegenständlichte sein algorithmisches Prozeßwissen. Aus der bloßen Vergegenständlichung handwerklicher Einzelprozesse wird schließlich die wissenschaftliche Bearbeitung des gesamten Produktionsprozesses, die die historische handwerkliche Arbeitsteilung vollends aufhebt:

"Dies subjektive Prinzip der Teilung fällt weg für die maschinenartige Produktion. Der Gesamtprozeß wird hier objektiv, an und für sich betrachtet, in seine konstituierenden Phasen analysiert, und das Problem, jeden Teilprozeß auszuführen und die verschiednen Teilprozesse zu verbinden, durch technische Anwendung der Mechanik, Chemie usw. gelöst..." (Marx, 1976/1890, 401).

(21) Der Fordismus, benannt nach dem Autohersteller Ford, führte die Algorithmisierung der Produktion konsequent durch. Augenfälligstes Resultat dieser Algorithmisierung war das Fließband, das bald alle Wirtschaftsbereiche als "Leitbild" bestimmte. Die Entfernung jeglicher Reste von Subjektivität der arbeitenden Menschen aus der Produktion war das Programm der Arbeitswissenschaft von Frederick W. Taylor (1911). Robert Kurz formuliert diesen Prozess in drastischer Weise so:

"Hatte die Erste industrielle Revolution das Handwerkszeug durch ein maschinelles Aggregat ersetzt, das den fremden Selbstzweck des Kapitals an den Produzenten exekutierte und ihnen jede Gemütlichkeit austrieb, so begann nun die Zweite industrielle Revolution in Gestalt der 'Arbeitswissenschaft' damit, den gesamten Raum zwischen Maschinenaggregat und Produzententätigkeit mit der grellen Verhörlampe der Aufklärungsvernunft auszuleuchten, um auch noch die letzten Poren und Nischen des Produktionsprozesses zu erfassen, den 'gläsernen Arbeiter' zu schaffen und ihm jede Abweichung von seiner objektiv 'möglichen' Leistung vorzurechnen - mit einem Wort, ihn endgültig zum Roboter zu verwandeln." (Kurz, 1999, 372).

(22) Der Mensch wurde zum vollständigen Anhängsel der Maschine, in der der von Ingenieuren vorgedachte Algorithmus des Produktionsprozesses vergegenständlicht war. Diese Produktionsweise basierte auf der massenhaften Herstellung gleichartiger Güter. Dem entsprachen auf der Seite der Administration die Betriebshierarchien und das Lohnsystem sowie gesamtgesellschaftlich der Sozialstaat. {Dieser Art Organisation entsprang auch die Organisation der Arbeiterbewegung: Zentral, ohne Beachtung der Individualität.} Dies war auch die hohe Zeit der organisierten Arbeiterbewegung. Ihr Bemühen um straffe Organisation, besonders in den kommunistischen Parteien, hing mit ihren Erfahrungen in der Arbeitsrealität zusammen. Eine zentrale Organisation zur Bündelung von Massen war ihr Ideal. Die einzelnen Menschen waren in der Arbeit und der politischen Organisation lediglich "Rädchen im Getriebe".

(23) Marx hebt den Aspekt der Kooperation in der industriellen Produktion positiv hervor:

"...unter allen Umständen ist die spezifische Produktivkraft des kombinierten Arbeitstags gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit oder Produktivkraft gesellschaftlicher Arbeit. Sie entspringt aus der Kooperation selbst. Im planmäßigen Zusammenwirken mit andern streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen." (Marx, 1976/1890, 349).

(24) Aus der Vorstellung, daß es nicht die Arbeiter seien, die das Zusammenwirken der Arbeiter planen, sondern die Kapitalisten einzig zum Zwecke der Profitmaximierung, schlossen die kommunistischen Parteien, daß die Kapitalisten zu entmachten seien. Im positiven Marxschen Sinne stünde dann der vollen Entfaltung des Gattungsvermögens nichts mehr im Wege - ein Kurzschluss, wie sich zeigen wird. {(vgl. Kapitel 2.2)}

Die Krise des Fordismus

(25) Wenn mit der fordistischen Durchstrukturierung der Gesellschaft die algorithmische Revolution vollendet wurde, wie sind dann die inzwischen gar nicht mehr so neuen Tendenzen der flexibilisierten Produktion und der "Informationsgesellschaft" zu bewerten? Zunächst einmal ist festzuhalten, daß nach einem qualitativen Entwicklungsschritt, also nachdem der umgreifende Gesamtprozess auf die Erfordernisse der neu- en bestimmenden Entwicklungsdimension (hier: der Algorithmisierung der Produktion) hin umstrukturiert wurde, die Entwicklung nicht stehen bleibt. Die letzte Stufe als innere Ausfaltung des neuen Systems, als Vordringen der gegebenen Entwicklungsweise in die letzten Winkel der Gesellschaft, ist erst abgeschlossen, wenn sich die inneren Entfaltungsmöglichkeiten des Systems erschöpft haben, wenn Änderungen der Rahmenbedingungen nicht mehr durch Integration und innere Entfaltung aufgefangen werden können, wenn die Systemressourcen aufgebraucht sind (vgl. Schlemm 1996).

(25.1) Die letzte Stufe als innere Ausfaltung des neuen Systems, 01.10.2001, 03:40, the element:
Nur wann ist das der Fall, dass die Systemressourcen aufgebraucht sind?
Was kommt noch davor?
Erst stand die Natur im Zentrum der Arbeit und der Wertschöpfung,
dann kam die Technik,
und nun müsste doch der Mensch kommen.
Was würde dies bedeuten:
Eine Veränderung/Anpassung der Menschen,wie könnte das aussehen?
Menschen die an das vorherrschende Wertesystem perfekt angepasst sind;
nur noch funktionieren, nicht mehr kritisch nachdenken;
Menschen die verändert werden;
durch Sehnsüchte, Träume, Ängste oder Gentechnologie.

Die Algorithmisierung des Menschens?

(25.1.1) Re: Die letzte Stufe als innere Ausfaltung des neuen Systems, 05.10.2001, 15:16, Stefan Meretz: Das "System" ist hier nicht der Mensch! Deswegen gibt es auch sowas wie die Algorithmisierung "des Menschen" nicht - genauso wenig wie "nur funktionierende Menschen". Jeder Mensch, auch der noch so angepassteste, hat Handlungsmöglichkeiten. Ob er/sie die auch sieht oder sehen will, ist eine andere Frage.

(25.1.2) Re: Die letzte Stufe als innere Ausfaltung des neuen Systems, 07.10.2001, 18:50, Annette Schlemm: Daß die Systemressourcen aufgebraucht sind, ist wirklich eine sehr technizistische Schreibweise. Sie soll u.a. verdeutlichen, daß mit den üblichen Mitteln des Systems keine Verbesserung der Funktionsweise und auf Dauer auch keine Aufrechterhaltung mehr möglich ist. D.h. mit noch mehr Ausbeutung, mit noch mehr Lohnarbeit oder mit noch mehr unbezahlter Arbeit ist auch der Kapitalismus nicht mehr unendlich lange aufrecht erhaltbar. Sondern er muß Quellen anzapfen, die eigentlich nicht zu ihm gehören: und das sind genau jene menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse, die über ihn hinausweisen: jene der menschlichen Selbstentfaltung. Damit ist auch gemeint, daß die Menschen sich dem kapitalistischen Wertesystem GERADE NICHT perfekt anpassen lassen. Da der Kapitalismus doch bei den Menschen, die arbeiten, immer mehr Kreativität, Teamfähigkeit, Subjektivität usw. braucht, befördert er auch die Entstehung von Kreativität, Teamfähigkeit, Subjektivität – Selbstentfaltung. Er fördert damit gleichzeitig etwas, was über seine Begrenzungen notwendigerweise hinausweist. Ob diese Tendenzen mehr als abstrakte Möglichkeiten, den Kapitalismus zu überwinden bleiben, oder ob wir es nicht schaffen, daraus Wirklichkeiten zu machen, ist nicht automatisch gegeben. Da müssen wir noch einiges dazu tun. Aber wir machen darauf aufmerksam, daß der Kapitalismus eben nicht nur automatisch funktionierende Maschinewesen aus den Menschen macht, oder Konsumidioten, sondern – ohne daß er es bewusst will – gleichermaßen Möglichkeiten für seine Überwindung zumindest noch offen lässt und zum Teil auch fördern muß. Er macht das nicht freiwillig und es wird nicht automatisch zu seiner Überwindung führen. Aber wir müssen die Möglichkeiten überhaupt erst einmal kennen, damit wir sie nicht übersehen.

(26) Gleichzeitig entstehen Keimformen neuer Möglichkeiten, und die Veränderung der Rahmenbedingungen, die das System selbst erzeugt, wird zusehends zur Bedrohung für das System selbst. Das alte System erzeugt selbst die Widersprüche, die es auf vorhandenem Entwicklungsniveau nicht mehr integrieren kann. Entfaltung in alter Systemlogik (Stufe 5), Herausbildung neuer Keimformen (Stufe 1) und Widerspruchszuspitzung durch selbst erzeugte systemgefährdende Widersprüche (Stufe 2) verschränken sich also. In einer solchen Situation befinden wir uns gegenwärtig, und von hier aus kann man auch die Integrationsversuche der Widersprüche in alter Systemlogik bewerten.

(27) Das System "totaler Algorithmisierung", die Massenproduktion, die gleichartige Mas- senbedürfnisse befriedigt, wurde von Marcuse (1967) zutreffend als "eindimensionale Gesellschaft" bezeichnet, die den "eindimensionalen Menschen" hervorbringt. Der Kapitalismus ist mit dem Herausdrängen der Subjektivität aus der Produktion, mit der algorithmischen Vorwegnahme jedes Handgriffes vom Anfang bis zum Ende der Produktion in eine Sackgasse geraten. Fordistische Produktion ist zu starr. Als sich die Zyklen von Massenproduktion und Massenkonsum erschöpft hatten und ab Mitte der Siebziger Jahre zyklisch Verwertungskrisen einsetzten, begann die innere gesellschaftliche Differenzierung. Nur wer die Produktion flexibel auf sich rasch ändernde Bedürfnisse einstellen konnte, bestand in den immer kürzeren Verwertungszyklen. Die flexible Produktion vergrößerte den individuellen Möglichkeitsraum und trieb so die Individualisierung voran. {Die Arbeitswelt verändert sich rapide. Hier liegen auch Quellen und Hintergründe für kulturelle Veränderungen: Bunte Haare statt Eindimensionalität sind heute angesagt!} Gleichzeitig werden fordistische Errungenschaften wie die sozialstaatlichen Absicherungen abgebaut und immer mehr Menschen aus den Verwertungszyklen ausgegrenzt ("Arbeitslosigkeit"). Nicht nur ökologisch gesehen zehrt das Verwertungssystem seine eigenen Grundlagen langsam auf.

(28) Zwei Auswege werden versucht, und beide Versuche werden uns auf der EXPO als große Lösungen der Menschheitsprobleme präsentiert. Die erste Variante ist ein technologischer Ansatz, mit dem versucht werden soll, die Starrheit der fordistisch durchalgorithmisierten Produktion aufzulösen. Die zweite Variante besteht aus der Re-Integration der menschlichen Subjektivität in die Produktion. Beide Ansätze bedingen einander und werden im folgenden dargestellt. Beginnen wollen wir mit dem technologischen Ansatz, dem Toyotismus. Anschließend geht es im nächsten Teilkapitel um die versuchte Wiedereinbindung menschlicher Subjektivität in die Produktion, die in unser "Epochen"-Abfolge schon zu den möglichen Keimformen des Neuen gehört.

Toyotismus: Die zweite algorithmische Revolution

(29) Beim Toyotismus wird anders als zur Zeit des Fordismus nicht bloß der gedachte Produktionsablauf exakt festgelegt und in Formen von Maschinen, starrer Arbeitsorganisation und Hierarchien "gegossen", sondern es wird die Möglichkeit der Änderbarkeit des Ablaufes, die Mannigfaltigkeit der möglichen Einsätze der Werkzeugmaschinen, die Modularität der Einheiten in der Fließfertigung bereits vorweggenommen und als Merkmal in der Produktion realisiert. Die festen Algorithmen des Fordismus werden flexibilisiert, wobei das Ausmaß der Änderbarkeit nicht unendlich ist, sondern wiederum fest liegt.

(30) Diese Algorithmisierung in neuer Größenordnung ist eng verbunden mit der Trennung von Prozeßmaschine und Algorithmusmaschine, mit der Herausbildung des Computers, wie wir ihn heute kennen. Diese Trennung ging einher mit zwei Übergängen, die unmittelbar zusammenhängen:

(31) Die separierte Algorithmusmaschine, die digitale Universalmaschine ist der Computer. Die Algorithmen steuern als Software die flexiblen Prozeßmaschinen. Die Bedeutung des informationellen Anteils in der Produktion wächst beständig, Computer dringen in alle Bereiche vor, die der Produktion vor- und nachgelagert sind. Die informationelle Integration von der Bestellung über das Internet bis zur Auslieferung und Abrechnung der Ware ist das große Ideal. {Durch diese Prozesse erhielt die Informatik ihre zentrale Bedeutung.}

(32) Auslöser dieses Entwicklungsschubes sind die veränderten Marktanforderungen. Den Profit können nur mehr diejenigen sicherstellen, die in kurzer Zeit auf geänderte Marktanforderungen reagieren können. Nicht die Fähigkeit zur massenhaften Produktion eines nachgefragten Produkts überhaupt entscheidet (wie im Fordismus), sondern die Fähigkeit zur Umsetzung dieser Anforderung innerhalb kürzester Zeit. Dieser technologische Ausweg ist sehr begrenzt, er nimmt jedoch auf der EXPO breiten Raum ein. Mit dem Postulat des Entstehens einer Informationsgesellschaft werden Lösungen versprochen, die zahlreiche globale Probleme endlich beseitigen sollen. Doch dieses Postulat ist weder neu noch real, sondern entlarvt sich inzwischen auch in der Praxis als ideologische Konstruktion (vgl. Meretz 1996).

(33) Der zweite Ansatz der Wiedereinbindung menschlicher Subjektivität in die Produktion ist besonders interessant, denn er steht für die generelle Möglichkeit einer neuen Qualität der Produktivkraftentwicklung. Die Vertreter des Kapitals haben das erkannt - und versuchen die darin liegenden Potenzen im kapitalistischen Sinne der Verwertungslogik unterzuordnen. Das wird im nächsten Teilkapitel behandelt.

C. Die 'Menschen-Epoche': Entfaltung des Menschen an und für sich

(34) Nach agrarischer und industriell-technischer Produktivkraftentwicklung bleibt eine Dimension im Verhältnis von Mensch, Natur und Mitteln, die noch nicht Hauptgegenstand der Entfaltung war, und das ist der Mensch selbst. Doch der Mensch ist definitionsgemäß bereits "Hauptproduktivkraft", soll er sich nun "selbst entfalten" wie er die Nutzung von Natur und Technik entfaltet hat? Ja, genau das! Bisher richtete der Mensch seine Anstrengungen auf Natur und Mittel außerhalb seiner selbst und übersah dabei, daß in seiner gesellschaftlichen Natur unausgeschöpfte Potenzen schlummern. Diese Potenzen waren bisher durch Not und Mangel beschränkt oder die Einordnung in die abstrakte Verwertungsmaschinerie kanalisiert. Sie freizusetzen, geht nur auf dem Wege der unbeschränkten Selbstentfaltung jedes einzelnen Menschen.

(35) "Selbstentfaltung" kann man fassen als individuelles Entwickeln und Leben der eigenen Subjektivität, der eigenen Persönlichkeit. Selbstentfaltung bedeutet die schrittweise und zunehmende Realisierung menschlicher Möglichkeiten auf dem jeweils aktuell erreichten Niveau. Selbstentfaltung ist also unbegrenzt und geht nur im gesellschaftlichen Kontext, denn Realisierung menschlicher Möglichkeiten ist in einer freien Gesellschaft gleichbedeutend mit der Realisierung gesellschaftlicher Möglichkeiten. Selbstentfaltung geht niemals auf Kosten anderer, sondern setzt die Entfaltung der anderen notwendig voraus, da sonst die eigene Selbstentfaltung begrenzt wird. Im Interesse meiner Selbstentfaltung habe ich also ein unmittelbares Interesse an der Selbstentfaltung der anderen. Diese sich selbst verstärkende gesellschaftliche Potenz läuft unseren heutigen Bedingungen, unter denen man sich beschränkt nur auf Kosten anderer durchsetzen kann, total zuwider.

(36) Manche sprechen statt von Selbstentfaltung auch von "Selbstverwirklichung" und meinen damit inhaltlich das Gleiche. Es gibt aber auch eine sehr eingeschränkte Auffassung von "Selbstverwirklichung", die hier nicht gemeint ist. Es geht nicht darum, eine persönliche "Anlage" oder "Neigung" in die Wirklichkeit zu bringen, sie wirklich werden zu lassen. Diese Vorstellung individualisiert und begrenzt die eigentlichen Möglichkeiten des gesellschaftlichen Menschen: Wenn es "wirklich" geworden ist, dann war's das. Eine individualisierte Auffassung von "Selbstverwirklichung" reproduziert den ideologischen Schein eines Gegensatzes von Individuum und Gesellschaft unter bürgerlichen Verhältnissen. Sie bedeutet im Kern ein Abfinden mit und sich Einrichten in diesen beschissenen Bedingungen. Die unbeschränkte Selbstentfaltung freier Menschen gibt es jedoch nur in einer freien Gesellschaft. Auf dem Weg dorthin ist die Selbstentfaltung Quelle von Veränderung - der Bedingungen und von sich selbst. {vgl. Kap. 2.3)}

(37) Die Sachverwalter des Kapitals als Exekutoren (Ausführer) der Gesetze der Wertverwertungsmaschine haben erkannt, daß der Mensch selbst die letzte Ressource ist, die noch qualitativ unentfaltete Potenzen der Produktivkraftentwicklung birgt. In seiner maßlosen Tendenz, alles dem Verwertungsmechanismus einzuverleiben, versuchen Kapitalmanager auch diese letzte Ressource auszuschöpfen. Die Methode ist einfach: Die alte unmittelbare Befehlsgewalt über die Arbeitenden, die dem Kapitalisten durch die Verfügung über die Produktionsmittel zukam, wird ersetzt durch den unmittelbaren Marktdruck, der direkt auf die Produktionsgruppen und Individuen weitergeleitet wird. Sollen doch die Individuen selbst die Verwertung von Wert exekutieren und ihre Kreativität dafür mobilisieren - bei Gefahr des Untergangs und mit der Chance der Entfaltung. Wilfried Glißmann, Betriebsrat bei IBM in Düsseldorf, beschreibt den Mechanismus so:

"Die neue Dynamik im Unternehmen ist sehr schwer zu verstehen. Es geht einerseits um 'sich-selbst-organisierende Prozesse', die aber andererseits durch die neue Kunst einer indirekten Steuerung vom Top-Management gelenkt werden können, obwohl sich diese Prozesse doch von selbst organisieren. Der eigentliche Kern des Neuen ist darin zu sehen, daß ich als Beschäftigter nicht nur wie bisher für den Gebrauchswert-Aspekt, sondern auch für den Verwertungs-Aspekt meiner Arbeit zuständig bin. Der sich-selbst-organisierende Prozeß ist nicht anderes als das Prozessieren dieser beiden Momente von Arbeit in meinem praktischen Tun. Das bedeutet aber, daß ich als Person in meiner täglichen Arbeit mit beiden Aspekten von Notwendigkeit oder Gesetzmäßigkeit unmittelbar konfrontiert bin. Einerseits mit den Gesetzmäßigkeiten im technischen Sinne (hinsichtlich der Schaffung von Gebrauchswerten) und andererseits mit den Gesetzmäßigkeiten der Verwertung. Ich bin als Person immer wieder vor Entscheidungen gestellt. Die beiden Aspekte zerreißen mich geradezu, und ich erlebe dies eine persönlich-sachliche Verstrickung." (Glißmann 1999, 152)
{Die modernen Bildungsanforderungen Teamfähigkeit, Kreativität und Flexibilität wachsen genau aus diesen Erfordernissen. So schlecht sie auch realisiert sein mögen: Sie legen unbeabsichtigt auch Keime der Überwindung des Gegebenen!}

(38) Nun verschleiert die Aussage, vor dem toyotistischen Umbruch nichts mit der Verwertung zu tun gehabt zu haben, sicher die realen Verhältnisse. Richtig ist aber, daß nach dem Umbruch die bisher nur mittelbare Marktkonfrontation einer unmittelbaren gewichen ist. So wie sich die Wertverwertung gesamtgesellschaftlich "hinter dem Rücken" der Individuen selbst organisiert, ausgeführt durch das "personifizierte Kapital", die Kapitalisten (Manager etc.), so werden nun die Lohnabhängigen selbst in diesen Mechanismus eingebunden. {"Der objektive Inhalt jener Zirkulation - die Verwertung des Werts - ist sein subjektiver Zweck, und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen, funktioniert er als ... personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital." (Marx 1976/1890, 167f)} Resultate dieser unmittelbaren Konfrontation mit dem Verwertungsdruck sind annähernd die gleichen wie zu Zeiten der alten Kommandoorganisation über mehrere Hierarchieebenen: Ausgrenzung vorgeblich Leistungsschwacher, Kranker, sozial Unangepasster, Konkurrenz untereinander, Mobbing, Diskriminierung von Frauen etc. - mit einem wesentlichen Unterschied: Wurde vorher dieser Druck qua Kapitalverfügungsgewalt über die Kommandostrukturen im Unternehmen auf die Beschäftigten aufgebaut, so entwickeln sich die neuen Ausgrenzungsformen nahezu "von selbst", d.h. die Beschäftigen kämpfen "jeder gegen jeden". In der alten hierarchischen Kommandostruktur war damit der "Gegner" nicht nur theoretisch benennbar, sondern auch unmittelbar erfahrbar. Gegen das Kapital und seine Aufseher konnten Gewerkschaften Gegenmacht durch Solidarität und Zusammenschluß organisieren, denn die Interessen der abhängig Beschäftigten waren objektiv wie subjektiv relativ homogen. In der neuen Situation, in der die Wertverwertung unmittelbar und jeden Tag an die Bürotür klopft, sind Solidarität und Zusammenschluß untergraben - gegen wen soll sich der Zusammenschluß richten? Gewerkschaften und MarxistInnen ist der Kapitalist abhanden gekommen! War die alte personifizierende Denkweise und entsprechende Agitationsform schon immer unangemessen, schlägt sie heute erbarmungslos zurück. Nicht mehr "der Kapitalist", "das Kapital" oder "der Boss" erscheint als Gegner, sondern "der Kollege" oder "die Kollegin" nebenan. IBM- Betriebsräte nennen das "peer-to-peer-pressure-Mechanismus" (Glißmann 1999, 150).

D. Zusammenfassung

(39) Menschliches Leben basiert auf dem Stoffwechsel mit der Natur. Durch Arbeit unter Nutzung von Mitteln betreibt der Mensch diesen Stoffwechsel. Historisch verläuft diese Stoffwechselbeziehung des Menschen zur Welt in qualitativ unterscheidbaren Epochen. Jeweils ein Aspekt des Mensch-Natur-Mittel-Verhältnisses steht in den Epochen im Mittelpunkt der Entfaltung, jede nachfolgende Epoche baut auf dem Entwicklungsgrad der vorhergehenden Epoche auf. In den agrarischen Gesellschaften dominiert der Naturaspekt, in den Industriegesellschaften steht das Mittel im Zentrum, und die zukünftige Gesellschaft kann durch die volle Entfaltung der menschlichen Subjektivität, wird durch die Selbstentfaltung des Menschen bestimmt sein. Diese Tendenz der Selbstentfaltung des Menschen wird von den Kapitalvertretern gesehen. Sie versuchen, die "Ressource Mensch" unter die Bedingung der kapitalistischen Vergesellschaftung zu stellen. Das Thema der Vergesellschaftung spielt im nächsten Kapitel die Hauptrolle.

Fortsetzung

(40) Weiter geht es mit Kapitel 2.2: Vergesellschaftung und Herrschaft.


Valid HTML 4.01 Transitional