Home   Was ist ot ?   Regeln   Mitglieder   Maintainer   Impressum   FAQ/Hilfe  

Gegenbilder, Kap. 2.3: Freiheit ist die Freiheit aller Menschen

Maintainer: Gruppe Gegenbilder, Version 1, 18.08.2000
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) In diesem Kapitel wollen wir auf dem schwierigen Grad wandern, der zwischen dem illusionistischen Ausmalen einer lichten Zukunft und dem Verweigern jeglicher Angaben perspektivischer Entwicklungen liegt. Was wir leisten können, ist - ausgehend von unser Einschätzung der Lage und Entwicklungstendenzen in den vorigen Kapiteln - Rahmenkriterien und Alternativen zu bestehenden verfehlten Ansätzen zu benennen. Die Zukunft ist vorstellbar, vorausgesagt werden kann sie aber nicht.

(1.1) perspektive "Zeit", 14.03.2003, 05:05, Uwe Berger: Ankunft und Auskunft und Herkunft sind vorstellbar (fern-nun-ft...); verweigern wir der Kausalperspektive des monotheistischen, monetären Monologs die Gültigkeit, dann ist die Einschränkung der Voraussagen aufgehoben und Vorstellungen können durch das Wort geschöpft (ausgesagt) werden. Die jetzige Gegenwart entspringt einer Voraussage; und wir haben auch ein Wörtchen mitzureden. Utopie u-topos WOrt

(2) Es reicht nicht aus, nur ganz allgemein "gegen Herrschaft" und "für Emanzipation" zu sein. Das, wogegen und wofür man sich einsetzt, muß inhaltlich genauer bestimmt und entsprechend der realen Situation benannt werden. Wir haben bereits in Kapitel 2.2 die Herrschaftsformen dargestellt, denen wir uns entgegenstellen. Charakteristisch war die Tatsache des subjektlosen ökonomischen Mechanismus, der unabhängig von konkreten Personen sich-selbstorganisierend reproduziert, deren reibungsloses Laufen die Herrschenden auch mit aller Gewalt sicherstellen. Mit den konkreten Erscheinungsformen und möglichen Gegenstrategien wollen wir uns hier auseinandersetzen.

A. Herrschaft und Gegenstrategien

(3) Die moderne Herrschaft beruht nicht mehr primär auf persönlich ausgeübter Macht, sondern ist - was viel fataler ist - strukturell verankert. {Herrschaftsstrukturen} Zusätzlich bedient sie sich heute Formen, die scheinbar progressiv klingen, wie "Multikulturalismus", "Nachhaltigkeit" usw. Deshalb ist sie so schwer durchschaubar, aber es gibt Möglichkeiten. Christoph Spehr unterscheidet verschiedene Varianten von Herrschaft und die Formen, in denen sie aktuell verpackt werden - und schlägt Gegenstrategien vor (1999, 252ff.):

(3.1) Re: A. Herrschaft und Gegenstrategien, 14.03.2003, 05:27, Uwe Berger: verankert ist sie zum Beispiel im Umschulen von Linkshändern (43% in der westlichen Welt). Das führt unter anderem zu Störungen im emotionalem Verständniss, und in einer Verkehrung des Innen und Außen sowie einer kausal-analytischen Bevorteilung. Gegenstrategie wäre hier: Aufmerksamkeit auf die Gefühle zu richten sooft wie's geht.

(4) A. Direkte Gewalt: Anwendung physischen Zwangs zur Aufrechterhaltung von "Ordnung". Aktuelle Formen: polizeiliche, korrigierende Gewalt, begrenzte Kommandoaktionen, "chirurgische Operationen" und "saubere Interventionen" nach außen und Gefängnisse, Heime und Psychiatrien nach innen. Die "neue Weltordnung" befriedigt anscheinend die alte Sehnsucht nach mehr oder weniger friedlicher Konfliktlösung und die Ablehnung von Diktaturen. Gegenstrategien: Gegenmacht aufbauen, Selbstverteidigung, aktiver Widerstand: "Wer nicht in der Lage ist, der anderen Seite weh zu tun, hat nichts Nennenswertes zu erwarten." (Spehr 1999, 184).

(5) B: Strukturelle Gewalt: einseitige Bestimmungsgewalt durch ungleiche materielle Verfügung in der Produktion. Aktuelle Formen: Die "Globalisierung" setzt unhinterfragt voraus, daß ökonomische Opfer gebracht werden müssen - die Debatte geht nur noch darum, bei wem. ("ökonomischer Rassismus"). Gegenstrategien: Schwächung dessen, was die Gegenseite stark macht z.B. Streik, Boykott, Sabotage - auch wenn es gegen die eigenen unmittelbaren ökonomischen Interessen gerichtet ist!

(6) C: Diskriminierung: "naturgemäße" Vorgaben, wer was zu sagen und zu tun hat. Aktuelle Formen: "Multikulti" dient als diskriminierende Form dazu, die Bedürfnisse der Menschen auf ihre jeweiligen Kulturen zu reduzieren. Politische Probleme werden als Ausdruck von "Kulturen" gedeutet (Ethnisierung von Konflikten). Gegenstrategien: Conciousness-Politik, das eigene Selbstbewußtsein gegen Fremddefinitionen entfalten (was "afrikanisch" ist, haben bisher die kolonialen Eroberer definiert). Solidarität auf Basis der eigenen Stärke entwickeln.

(7) D: Kontrolle der Öffentlichkeit: "repressive Toleranz" - alle dürfen reden, aber die Wirksamkeit aufgrund besserer Möglichkeiten ist für die Herrschenden einfach größer. Aktuelle Formen: "Demokratisierung und Zivilgesellschaft" - wer sich unterwirft, darf "partizipieren". Gegenstrategien: Abgrenzung und Autonomie, sich den Zusammenhängen verweigern, die zur Integration führen.

(8) E: Existentielle Abhängigkeit: Vernichtung der unabhängigen Möglichkeiten zur Reproduktion (Vertreibung der Menschen z.B. bei Staudammbauten), Wege zur Bedürfnisbefriedigung sind sehr umständlich (lange Autofahrten zum Job, Essen nur über vom Konzern hergestellte Mittel etc.) Aktuelle Formen: "Nachhaltigkeit" stärkt die existentielle Abhängigkeit von den Verursachern der Probleme: "Wenn eine soziale Bewegung sich auf die neuen Diskurse einstellt, hat sie schon verloren" (Spehr 1999, 257) Gegenstrategien: Selbstorganisation, Zurückverlagern eines größeren Teils der lebensnotwendigen Interaktionen und Kooperationen in die eigenen Reihen, Kampf und "Wiederaneignung" der Ressourcen, Lebens- und Produktionsmittel.

(9) Von hier aus wird es auch deutlich, daß die Haltung zur EXPO, die Beteiligung an ihr oder der Kampf dagegen, eine Wasserscheide zwischen grundlegend entgegengesetzten Konzepten darstellt. An der EXPO zeigen sich die genannten aktuellen Herrschaftsformen.

(10) Direkte Gewalt durch "neue Weltordnung": Schon in ihrem Anspruch, Lösungen für die globalen Probleme könnten nur von den "hochentwickelten" Ländern entwickelt werden, verdeutlicht sie die "neue Weltordnung":

"Für mich hat die EXPO einen hohen Symbolgehalt. In ihr nimmt der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts Gestalt an, nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze Welt" (Hierlmeier 1999)

(11) Strukturelle Gewalt durch Globalisierung und Totalisierung der Marktwirtschaft:

"Die unsichtbare bzw. hier vielmehr die sichtbare Hand des Marktes ist der Superstar der EXPO" (Hierlmeier 1999).

(12) Diskriminierung über "Multikulti": Die "internationalen Projekte" dienen in keiner Weise dazu, den Menschen der Welt mehr Einfluß auf die globale Zukunft zu geben. An den konkreten Projekten wird deutlich, daß ihnen die Aufgabe zukommt, den Schaden durch die kommerzielle Globalisierung zu begrenzen und dabei bevormundend betreut zu werden.

(13) Kontrolle der Öffentlichkeit wird hergestellt, indem es Partizipation nur bei Unterwerfung gibt: Als AkzeptanzbeschafferInnen werden soziale, ökologische und viele weitere Organisationen und Einzelpersonen gewonnen oder gekauft, die allein mit ihrem Namen dem Neoliberalismus das "menschliche Antlitz" (oder wahlweise ein ökologisches Gütesiegel) umhängen sollen (Bergstedt 1999b).

(14) Existentielle Abhängigkeit durch "Nachhaltigkeit" wird zementiert:

"Das Konzept behauptet, es wäre möglich, gleichzeitig Wirtschaftswachstum, Ressourcenschonung und den Abbau der weltweiten sozialen Ungleichheiten zu erreichen - selbstverständlich unter Beibehaltung bzw. durch die Ausweitung der bestehenden kapitalistischen Weltordnung. Tatsächlich ist nachhaltige Entwicklung ein von oben betriebenes Programm zur Modernisierung der Herrschaftsverhältnisse" (TIPP-EX 1999).
Die EXPO stellt klar,
"...daß nicht mehr die Menschen, sondern die Konzerne in ihren Forschungsabteilungen über die Zukunft der Gesellschaft bestimmen" (Bergstedt 1999c).

(15) Die Herrschenden sind keine besonderen Menschen. Und es sind auch nicht irgendwelche Menschen fernab von uns. Es sind Menschen, die die selbstmörderische Wertmaschine am Laufen halten, sie rechtfertigen, sie für ihr eigenes Fortkommen auf Kosten anderer benutzen. Dies veranlaßt Spehr, metaphorisch festzustellen, daß die "Aliens", die in so vielen Mystery-Serien und Filmen vorkommen, bereits unter uns sind:

"Die Aliens sind unter uns...Es ist die Erfahrung, daß Leute auf den ersten Blick aussehen wie normale Menschen, wie du und ich, einem fremden Programm folgen, einem feindlichen Programm - der Aneignung fremder Natur und Arbeit - , das sie als Angehörige einer fremden Gattung ausweist; daß ihre Solidarität nicht dir gehört, sondern einem fremden Auftrag. Sie sehen nur so aus wie Menschen. In Wirklichkeit sind es Aliens" (Spehr 1999, 11).

(16) Der fremde Auftrag, dem die "Aliens" folgen sind die kybernetischen Regeln des Wertkreislaufes. Sie sind unter uns, und der Graben, der "sie" von "uns" trennt, ist schmal. Wieviele kleine Betriebe, Selbständige, Alternativklitschen, "Selbstangestellte", kleine Manager gibt es? Wahrscheinlich Hunderttausende. Sie alle wirken direkt als kleine Exekutoren in der "schönen Maschine" mit. Und was ist mit den abhängig Beschäftigten, die in tollen hierarchiearmen Betrieben unmittelbar mit dem Marktdruck konfrontiert sind und ihre "eigene Verwertung" organisieren müssen? Müssen sie sich nicht auch wie "Aliens" verhalten?

(17) Eine Bewegung, die Emanzipation aller Menschen will, kann nicht gleichzeitig repressiv gegenüber anderen Individuen sein. Hier müssen wir klar unterscheiden: Nicht die Menschen sind die "Feinde". Genau das wäre sonst das faschistoide Denkmuster, das uns durch den herrschenden Rassismus nahegelegt wird. Aber es gibt Verhaltensweisen von Menschen, die wir nicht mehr tolerieren, sondern bekämpfen. Wir sprechen dann lieber nicht von "Menschen als Aliens", sondern von Alien-Verhaltensweisen, die Banker, Konzernchefs oder auch ganz normale Leute zeigen können. Diese Verhaltensweise ist Teil der Rollen, die Menschen übernehmen, um im Ganzen mitmachen zu können und die sie so "aufgesetzt" und "unauthentisch" wirken lassen. Ebenso verhalten sich ganze Institutionen in diesem Sinne - wenn sie den Herrschaftscharakter verschweigen, und meinen, deren Macht zu ihren Gunsten nutzen zu können.

Exkurs: Der "NGO-Stil: Mitmachen, Beraten, Modernisieren und Integrieren

(18) Eine besondere Situation liegt bei sogenannten Nichtregierungsorganisationen (NGO) vor. Ursprünglich aus Bewegungen entstanden, die Veränderungen durchsetzen wollten, teilweise mit radikaler Systemkritik verbunden, passen sie sich heute umfassend und effektiv in den herrschenden Apparat ein. Die NGOs haben entscheidend zur Perfektionierung der Herrschaft beigetragen, in dem sie gerade die kritischen Menschen einbinden, die sich systemgefährdend engagieren könnten.

(18.1) Re: Exkurs: Der "NGO-Stil: Mitmachen, Beraten, Modernisieren und Integrieren, 08.03.2003, 18:22, R. F.: Nur die Spontane entscheidung aus tiefster innerer Überzeugung für Gerechtigkeit zu Kämpfen, immer und Überall ist ein gewaltfreier akt der sich in Jahrzehnten entwickeln wird,weil die Menschliche Natur Ihren weg gehen wird, egal ist dabei wer die Herscher sind,denn Sie werden Ihre macht verlieren.

(18.1.1) Re: Exkurs: Der "NGO-Stil: Mitmachen, Beraten, Modernisieren und Integrieren, 14.02.2006, 04:07, Christian MAXEN (d.II.):

Du schreibst : ..zu kämpfen .. ist ein gewaltfreier Akt..

Das ist mir ein Rätsel. Was soll das mit dem "Kampf",.. immer wieder. Wie wäre es mit :"Ich setz mich ein für.."
Sonst bin ich doch so gaanz bei Dir und Deiner Meinung

(19) Wie nahtlos repressive Herrschaftsformen übernommen werden, zeigt z.B. das Projekt "Global 200" des WWF (World Wide Fund for Nature), das auf der EXPO präsentiert wird. Auf einer riesigen Weltkarte sind alle die Gebiete eingezeichnet, die nach Meinung des WWF in "Schutzgebiete" umgewandelt werden müssen. Sie liegen nahezu alle in armen Ländern der südlichen Hemisphäre. Als Hebel, so wird vorgeschlagen, solle die Verschuldungssituation bei Verhandlungen der jeweiligen Länder mit Weltwährungsfonds oder Weltbank angesetzt werden. Das ist modernisierter Imperialismus mit gar nicht sehr samtigen Handschuhen! {Naturschutz} Kein Wunder, wenn die EXPO für dieses Projekt ein prima Forum bietet:

"Wo sonst ..., wenn nicht hier, gibt es zu Beginn des neuen Jahrtausends einen besseren Ort, dem grenzüberschreitenden Naturschutz Gehör zu verschaffen?" (Groth 2000)
Aber auch die ablehnende Haltung von R. Exner (2000) vom BUND wird lediglich mit dem Nichterfüllen der ökologischen "Ansprüche" der EXPO begründet und nicht grundsätzlich, die Machtverhältnisse kritisierend. Im Zweifelsfall, wie zum Beispiel in Konstanz, Dessau und Dresden, wirkt der gleiche Verband in EXPO-Projekten mit.

(20) Auch die Agenda 21, auf die sich die EXPO bezieht und an der sich viele NGOs beteiligen, bestärkt diese Machtverhältnisse noch ausdrücklich. Die Konzerne sollen auf gleiche Ebene wie die Politik gebracht werden. Mit den BürgerInnen soll nur eine Art Dialog geführt werden! Das ist ein weltpolitischer Rückschritt hinter die Anfänge des Kapitalismus bezüglich der Souveränität der Bevölkerung. Jetzt wird dieser Anspruch durch verschiedene Mittel, wie das 1999 vorläufig gescheiterte "Multilaterale Investitionsabkommen" vernichtet. Zwar verlieren die "normalen" demokratischen Institutionen immer mehr Legitimation - ihre Ersetzung durch Konzernlobbies wäre jedoch verhängnisvoll. Die NGOs stellen diesen Prozeß nicht grundsätzlich in Frage, sondern versuchen rechtzeitig, auf diese neue Herrschaftsebene mitgenommen zu werden. Sie gehen Bündnisse mit den Herrschenden ein, um für ihre "Sache" Lobbyismus zu betreiben, die sich von den Interessen der "normalen BürgerInnen" mehr und mehr ablöst. Die deutschen NGOs wären z.B. am liebsten bei den WTO-Verhandlungen in Seattle dabeigewesen. Auf nationaler Ebene fordern sie ihre Beteiligung in Ausschüssen, die Einberufung eines Ökorates oder die Schaffung einer parlamentsähnlichen NGO-Kammer neben Bundestag und Bundesrat. Es entstehen neue elitäre Gremien, für die es nicht einmal die Mindestregeln demokratischer Einflußnahme gibt. Die NGOs haben selbst oft keine aktive Basis mehr, sondern sind darauf angewiesen, Menschen für ihre Zwecke ungefragt zu vereinnahmen. Sie zeigen schon zahlreiche Verhaltensweisen der "Aliens".

(21) Deutlich wurde dies auch beim Widerstand gegen den Weltwirtschaftsgipfel 1999 in Köln. Durch die Vertreter der NGOs wurden zentralistische Aktionen mit recht schwacher Wirkung durchgesetzt. Nichtsdestotrotz wurde dies als "Erfolg" gefeiert. Die Teilnehmer an den Demos wurden vereinnahmt. Ihre Kritik an den "Latschdemos" wurde schließlich auch öffentlich diffamiert und autonome Gegenkonzepte bekämpft und diskreditiert. Typisch für dieses Vorgehen ist der Verzicht auf den Kampf gegen die Herrschaft selbst und die Instrumentalisierung von Menschen für eigene Zwecke, um sich auf Kosten anderer durchzusetzen.

B. Kritik und Gegenbild

(22) Gegen die "Globalisierung" hilft weder eine kleinere oder größere Umverteilung von oben nach unten (auch wenn das erstmal einige Not unten lindern könnte) und auch keine Verschiebung der Kosten der In-Wert-Setzung von Natur und Vergeudung menschlicher Arbeit in andere Regionen, sondern nur ein Bruch mit der Herrschaft der kapitalistischen Ökonomie über das Leben. {Die Ökosteuer ist die bekannteste Form dieser In-Wert-Setzung von Natur ohne Aufhebung der Verwertungslogik.} Der Ausweg besteht nicht etwa darin, aus immer mehr Menschen auf der Welt LohnarbeiterInnen zu machen (nachdem ihnen die Selbstversorgungsmöglichkeiten entzogen wurden), und auch nicht darin, für uns selber wieder z.B. 40-Wochenstunden-Jobs am Fließband zu verlangen, sondern in der Abschaffung der Lohnarbeit.

"Stellt Euch vor, es gibt (Lohn-) Arbeit und keiner geht hin!" (A. Narcho, 1993)

(23) Nicht der Kauf von noch mehr Naturarealen durch Alien-Vertreter zur angeblichen "nachhaltigen" Nutzung ist angesagt, sondern die Wiederaneignung von Ressourcen, Lebens- und Produktionsmitteln durch die Menschen selbst.

(24) Die spannendste Frage kommt aber erst dann: Wie soll die Produktion des Lebensnotwendigen und mehr denn ohne Organisation der "unsichtbaren ordnenden Hand" des Marktes überhaupt funktionieren? Im realen Sozialismus ist doch genau dieser Versuch gescheitert?! Wie immer ist keine exakte Voraussage der Zukunft möglich. Eine Voraussicht auf Möglichkeiten, die wir ergreifen - oder verpassen - können, aber gibt es.

(25) Die Arbeitsproduktivität hat ein Maß erreicht, bei der es Verschwendung von Lebenszeit ist, 40 Stunden in der Woche zu arbeiten. Die Grundversorgung und sogar die Erzeugung der Güter zur Befriedigung weiter wachsender Bedürfnisse ist möglich, ohne daß alle Menschen ständig arbeiten oder nur wenige von der Arbeit befreit werden.

"In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht von Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden..." (Marx 1983/1857, 600)

(26) Das "Problem" der Arbeitslosigkeit aufgrund der Einführung neuer Technologien ist nur unter Bedingungen der Wertvergesellschaftung eine individuelle Katastrophe, unter anderen Bedingungen wäre es die Befreiung von Mühsal und Plage, Früh-Aufstehn und modernem Streß. Es wurde mit Zahlen von 1988 nachgewiesen, daß für den gleichen Luxus und Lebensstandard wie 1989 nur 5 Stunden Arbeit pro Woche nötig wären (Dante 1992).

"Der Diebstahl an fremder Lebenszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne. Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört auf und muß aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts.
Die Surplus-Arbeit {=Mehrarbeit} der Masse hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift." (Marx 1983/1857, 601)

(27) Was Marx hier beschreibt, ist kein Automatismus. Er nennt nur die Möglichkeiten, die über 100 Jahre nach ihm endgültig gegeben sind. Gerade damit diese Möglichkeiten genutzt werden, sind revolutionäre Prozesse in der Gesellschaft notwendig. Während die Forderung nach "Arbeit für alle" aus dieser Sicht eher konservativ ist, versuchen reformerische Ansätze wie die Forderung nach Existenzgeld, "New Work" oder die "Glücklichen Arbeitslosen" wenigstens etwas Besseres aus dieser Situation zu machen. Sie sind auch berechtigt, insoweit sie das Bewußtsein der Menschen für diese neue historische Situation öffnen und deren Zutrauen stärken, die Befreiung von dem Arbeitszwang als etwas Gutes zu empfinden. Sie werden aber fragwürdig, wenn sie die kapitalistische Wirtschaftsform als Grundlage beibehalten wollen oder "zur Finanzierung" gar benutzen müssen.

(28) Wenn es keinen Druck mehr gibt, hart zu arbeiten (oder so zu tun, als wünsche man sich nichts sehnlicher), woher soll dann das Brot, das Haus, die Kleidung kommen? Legen sich dann alle Menschen faul in die Hängematte? Dies entspräche einem sehr pessimistischen Menschenbild, das historisch jedoch vielfach widerlegt wurde. Unter den jetzigen Bedingungen ist die Faulheit geradezu eine notwendige Folge von Zwang und Streß. Unter anderen Bedingungen zeigen sich andere Möglichkeiten: Spaß an Kreativität und aktivem Tun (das Kindern derzeit leider frühzeitig und mühsam abgewöhnt wird) werden wieder hervorquellen. Auffallend ist, daß eine neue Vergesellschaftung - auch wenn sie moderne Technik als Grundlage nutzt - tatsächlich gleichberechtigte Beziehungen voraussetzt und selbst wieder erzeugt. Es entstehen neue Regeln, die an der Selbstentfaltung des Menschen und nicht an der Selbstverwertung des Werts orientiert sind.

Ein Beispiel: Freie Softwareentwicklung

(29) Die freie Softwareentwicklung ist eine Keimform personal-konkreter Produktivkraftentwicklung im Meer der dominanten wertvermittelten gesellschaftlichen Reproduktion. Als Beispiel sei kurz die "Linux-Story" geschildert (ausführlich in Meretz, 1999b). Linux ist ein freies, extrem leistungsfähiges Computerbetriebssystem, das komplett ohne Verwertungsinteresse in weltweiter Kooperation einiger tausend Menschen "aus eigenem Antrieb" entwickelt wurde (und wird). Eine spezielle Lizenz garantiert die freie, öffentliche Verfügbarkeit und schließt eine Privatisierung und damit Integration in den Verwertungszyklus aus. {GNU General Public License (GPL), auch "Copyleft" genannt, vgl. http://www.gnu.org/copyleft/gpl.html} Damit wurde ein Sonderraum geschaffen, in dem sich Menschen zusammenfanden, die aus Spaß an der eigenen Entfaltung Software schufen, die jedeR nutzen kann. Software gilt als besonders verdichtete Form gesellschaftlichen Wissens, und es schien ausgemacht, daß ihre Herstellung strikter hierarchischer Organisationsformen bedarf, wie sie in kommerziellen Softwarefirmen existieren. Die Praxis bewies das Gegenteil. In den verwertungsfreien Sonderräumen schufen sich die EntwicklerInnen völlig neue Organisationsformen, die auf Vertrauen und anerkannter Leistung basieren. Das Prinzip ist denkbar logisch und einfach: Was funktioniert, das funktioniert. JedeR kann ein neues Projekt gründen und um MitstreiterInnen werben. Erkennen die MitstreiterInnen den/die ProjektkoordinatorIn (MaintainerIn) an, so werden sie ihn/sie unterstützen und Beiträge zum Projekterfolg leisten - und wenn nicht, dann eben nicht. Der/die MaintainerIn wiederum hat ein unmittelbares Interesse, die Projektmitglieder ernst zu nehmen, ihre Beiträge zu würdigen und als guteR ModeratorIn zu fungieren. {Zur Geschichte der Freien Software siehe Kapitel 3.1, Punkt D.} Es gibt keinen abstrakten übergeordneten Mechanismus, der die Ziele der Projekte bestimmt. Die Ziele setzen sich die Projekte selbst, sie richten sich nach den Wünschen der Mitglieder, nach den Bedürfnissen nach Selbstentfaltung, Anerkennung und Spaß: "We just had a good time". Diese personalen, konkreten Vermittlungsformen sind die Voraussetzung für den Erfolg freier Software, sie stellen die abstrakt-wertvermittelten Formen geradezu auf den Kopf - oder vom Kopf auf die Füße, wenn man in Rechnung stellt, daß man sich schlicht den Umweg über die Wertabstraktion "spart". Die Resultate dieser Keimformen neuer Produktivkraftentwicklung "am Rande der Gesellschaft" sind bemerkenswert: anerkannt überlegene Produktqualität und schier unendliche gegenseitige Hilfsbereitschaft in der freien Software-Community. Noch vor zwei Jahren wäre es undenkbar gewesen, daß ein verwertungsfreies Produkt, geschaffen von freien EntwicklerInnen, nur über das Internet miteinander verbunden, zur ernsten Bedrohung des weltgrößten Softwarekonzerns (Microsoft) werden sollte.

(30) Dieses Beispiel zeigt, daß bereits heute Ansätze entstehen, dennoch wird es kein gemütliches "Hinüberrutschen" in eine neue Lebens- und Wirtschaftsweise geben. Ohne Kampf kein Mampf! Es geht im Übergang um:

{Konkrete Vorschläge zur direkten Ökonomie in Kapitel 3.1, Punkt C.}

(31) Wie aber soll das konkret aussehen, was kann ich tun? Diese Frage ist deswegen schwer zu beantworten, weil es ja gerade die Eigenschaft selbstorganisierter Prozesse ist, daß sie keine übergeordnete Handlungsleitlinie brauchen, um zu funktionieren. Dem Wert sagt auch keiner, was "er" zu tun hat. Nun ist der verselbstständigte Wert eine analytische Denkfigur von Marx, dennoch erfüllt sich die "Fetischfunktion" des Werts in der Praxis, ohne daß die Menschen genau das bewußt wollen - die Wertabstraktion bestimmt ganz einfach ihren subjektiven Möglichkeitsraum. Ein neuer Modus kann nur bewußt gegen das subjektlose Wirken des Werts durchgesetzt werden. Eine Möglichkeit ist der komplette oder teilweise Ausstieg aus Verwertungszusammenhängen und die Etablierung neuer Regeln des Austauschs. Es geht um die

"...Entkoppelung eines sozialen Raums emanzipatorischer Kooperation von Warentausch, Geldbeziehung und abstrakter Leistungsverrechnung." (Kurz, 1997).

(32) Die freie Software-Community zeigt wie es geht: Sie ist aus den Verwertungszyklen ausgestiegen und hat in einem selbstgeschaffenen Sonderraum nach eigenen Regeln das (virtuelle) Zusammenleben und Entwickeln von Software organisiert. Nur so war es ihnen überhaupt möglich, ihren Wunsch nach besserer und freier Software umzusetzen. Es ist nicht verwunderlich, daß diese ersten Keimformen im Softwarebereich entstanden sind. Die notwendigen Produktionsmittel, Computer und das Internet, sind zu mäßigen Kosten oder gänzlich frei (an Universitäten) verfügbar. Software hat zudem den Vorteil, nicht an eine besondere Materialität gebunden zu sein. Identische Kopien entwickelter Software können zu sehr geringen Transaktionskosten verteilt werden. SoftwareentwicklerInnen können außerdem mit begrenztem Einsatz aufgrund hoher Löhne ihr Leben in den klassischen Verwertungszusammenhängen reproduzieren. Hier waren also die Hürden vor dem partiellen Ausstieg aus dem Verwertungszyklus relativ gering, dennoch war und ist es auch hier immer eine Entscheidung, sich (verwertungs-)freie Zeit zu schaffen, um an verwertungsfreier Entwicklung teilhaben zu können.

C. Der Weg zum Neuen

(33) Es reicht nicht aus, die Herrschaft hinwegzufegen - etwas Neues, noch dazu Besseres, setzt sich nicht automatisch an dessen Stelle; eher andere, vielleicht noch brutalere Formen der Herrschaft. Parallel zum Kampf gegen die Herrschaft muß das angestrebte Neue im Verhalten der Menschen und ihrem gesellschaftlichem Zusammenwirken mitentwickelt werden.

Selbstorganisation

(34) Selbstorganisation im positiven Sinne bedeutet eine Ausweitung individueller Wirkmöglichkeiten auf Basis kollektiver Prozesse, die die individuell mögliche Reichweite weit übersteigt. Die Selbstentfaltung des Einzelnen im kollektiven Rahmen ist die Voraussetzung für selbsttragende, selbstorganisierte Prozesse. Eine zentrale Instanz, die über den lokalen Einheiten stehend die selbstorganisierten Prozesse steuert oder organisiert, ist nicht erforderlich, ja wirkt geradezu behindernd. {"Selbstorganisation" in Natur und Gesellschaft wird seit den 80er Jahren gegen eine mechanistische Weltsicht propagiert.} Historisch war die persönliche Herrschaft in den agrarischen Gesellschaften solch eine zentrale Ordnungsform, doch sie konnte nicht überdauern. Die sachliche Herrschaft des "Werts" im Kapitalismus ist hier schon ganz anders beschaffen. Sie stellt sich dezentral in millionenfachen Tauschhandlungen hinter dem Rücken der Menschen immer wieder her. Der "Wert" hat damit auf raffinierte Weise eine solche Ordnungsfunktion.

(35) Wir suchen jedoch nach neuen Formen der Entfaltung und Bewegung, die weder personal-strukturierte noch wertbezogene Herrschaftsformen ausbildet. Das ist nicht einfach, haben wir doch alle schon die Erfahrung gemacht, wie schnell sich selbst in herrschaftskritischen Bewegungen informelle Machtstrukturen bilden, die ihre eigenen Versorgungsansprüche durch persönliche Profilierung sichern wollen. Die GRÜNEN sind nur schillerndes Negativbeispiel, auch in NGOs und vielen anderen Bewegungen können wir diese Tendenzen beobachten.

(36) Wie können sich die Menschen - individuell und kollektiv - entfalten, organisieren und koordinieren, ohne wieder Herrschaftsformen auszubilden? Selbstorganisation beruht vor allem auf der Kraft der von den Einzelnen ausgehenden Aktivitäten - allerdings braucht sie dazu geeignete Rahmen- und Randbedingungen. Das bedeutet: keine Vorschriften für konkretes Tun, aber Kriterien für das individuelle Handeln und Vernetzungen. Sie geben Orientierungen an, wofür und mit welchen Mittel wer wogegen agiert.

(37) Für uns ergeben sich diese Kriterien aus unseren bisherigen Erfahrungen und - ganz allgemein - aus den Erfordernissen des oben (Kap. 2. 2) geschilderten Übergangs von der "Epoche der Mittel" zur "Epoche der Menschen":

(38) Bisher wurden oft gut gemeinte "Utopien" entwickelt, denen die Menschen dann "vernünftig" folgen würden. Heute weigern wir uns sogar, solche festen utopischen Bilder zu entwickeln. Zwar wird uns immer wieder gesagt: "Wir könnten uns erst an der Beseitigung des Vorhandenen beteiligen, wenn wir wüßten, was danach kommt." Die Antwort kann jedoch nicht sein, das "Danach" in den schönsten, überzeugendsten Bildern auszumalen, sondern gemeinsam Bedingungen zu schaffen, unter denen alle Menschen selbst ihre Zukunft in selbstgewählten Kooperationsbeziehungen gestalten können.

(39) Gegen die bisherige Unterordnung unter herrschaftliche Vorgaben in Form des Wert-Verwertungszwanges im Namen von Rentabilität, Profit, Arbeitsplätzen, Sicherheit oder ähnlichem und gegen die Instrumentalisierung von Menschen zu angeblich guten Zwecken, ist die Eigenaktivität der verschiedenen Menschen Träger von Bewegungen und Umwälzungen. Das entspricht auch den vorher allgemein beschriebenen Tendenzen hin zu einer "Epoche der Menschen" (Kap. 2.1).

Intersubjektivität statt Instrumentalisierung

(40) Menschliches Dasein ist immer gesellschaftliches Dasein. Auch ein isolierter, einsa- mer Mensch ist qua Natur ein gesellschaftlicher Mensch, denn Isoliertheit bedeutet das relative Ausgeschlossensein aus gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die gesellschaftliche Natur kommt dem Menschen genetisch zu, und diese Potenz muss der Mensch entfalten, will er sein Leben reproduzieren. Ein ungesellschaftliches Reproduzieren menschlichen Lebens ist nicht möglich. Doch wie funktioniert die Schaffung und Erhaltung menschlichen Lebens auf gesellschaftliche Weise?

(41) Der Mensch produziert und reproduziert sein Leben vermittels der gesellschaftlichen Möglichkeiten, oder anders formuliert: Die individuelle Existenz des Menschen ist gesamtgesellschaftlich vermittelt (vgl. Holzkamp 1985, 192). {Kritische Psychologie} Das Begreifen der Vergesellschaftung, wie wir sie in Kap. 2.2 für die verschiedenen Epochen dargestellt haben, als Vermittlung zwischen Individuen und Gesellschaft schließt zwei immer wieder anzutreffende einseitige Sichtweisen aus: Weder verfügt der Mensch unmittelbar über alle Bedingungen seines Lebens und kann sie direkt bestimmen, noch wird er vollständig von den Bedingungen bestimmt und gesteuert. Dennoch finden sich diese Auffassungen sehr häufig auch unter kritischen Menschen. Die eine zeigt sich als personalisierende Sichtweise auf Beziehungen, etwa so, als ob man alle Dinge in der Kleingruppe schon regeln könne; die andere zeigt sich als Bedingungsfatalismus, etwa so, als ob alle Menschen gleich Spielpuppen durch eine unsichtbare Hand geführt werden und man daher nichts machen könne. {Determinismus} Beide spiegeln zwar Teile von Realität wider, jedoch in einer verqueren Weise.

(42) In der deterministischen Sicht zeigt sich die reale subjektlose selbstlaufende Verwertungsmaschine, in der sich die Menschen gleich Rädchen im Getriebe als den Bedingungen vollständig unterworfen empfinden. Die personalisierende Sicht ist die andere Seite der gleichen Medaille: Da den Menschen die Verfügung über ihre Bedingungen entzogen ist, scheinen alle beeinflussbaren Umstände ausschließlich im nahen persönlichen Bereich zu liegen. Viele Konflikte sind hier jedoch nicht lösbar, da ihre Ursachen im scheinbar unverfügbaren gesellschaftlichen Bereich liegen. Dieser Widerspruch provoziert Unsicherheit, Aggressionen und gegenseitige Schuldzuweisungen. Ein Teufelskreis, denn das Schwanken zwischen Ohnmachts- und Ausgeliefertheitsgefühlen auf der einen und Aggression im persönlichen Umfeld als Resultat der Personalisierung von Konflikten auf der anderen Seite hängen eng zusammen.

(43) Aus der Vermittlungsbeziehung des Menschen zur gesellschaftlichen Realität folgt jedoch zwingend: Menschliches Handeln ist nicht "bedingungsgetrieben", sondern "möglichkeitsoffen". {Die Menschen haben eine besondere Möglichkeitsbeziehung gegenüber der Welt (siehe Kritische Psychologie).} Die gesellschaftlichen Bedingungen stellen niemals bloße Determinanten des Handelns dar, sondern bilden einen Möglichkeitsraum, in dem wir uns bewegen. Sonst wäre, nebenbei bemerkt, jede Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse prinzipiell ausgeschlossen - und das ist nicht so, wie wir aus der Geschichte wissen. In welcher Weise die grundsätzlich vorhandenen Möglichkeiten individuell genutzt werden, ist jedoch keineswegs festgelegt. Es ist eben auch eine menschliche Möglichkeit, sich als bedingungsgetrieben zu erleben und danach in selbstbeschränkender Weise zu handeln. Aber hier kommt es uns auf die zweite Alternative an, die wir stark machen wollen, und das ist die Alternative der Erweiterung der individuellen Handlungsfähigkeit in einer für alle nützlichen Form. Um diese Alternative deutlich herauszuarbeiten, kontrastieren wir die beiden Formen menschlicher Beziehungen, um die es uns hier geht.

(44) Die einschränkende und selbst beschränkende Beziehungsform ist die der Instrumentalbeziehungen. Ich betrachte andere Menschen als Instrument meiner Ziele, Interessen und Bedürfnisse, die ich auf ihre Kosten durchsetze. Diese Form ist nicht nur für andere einschränkend, sondern auch für mich selbst beschränkend, weil die anderen Menschen in umgekehrter Weise genauso mich zum Instrument ihrer Interessenerreichung machen, wie ich umgekehrt sie. Es ist leicht vorstellbar, daß ich mein Bestreben, die anderen zu instrumentalisieren, nur durchsetzen kann, wenn ich stets etwas "besser" bin als diese. Doch da die anderen in der Abstiegsspirale der Zersetzung menschlicher Beziehungen ebenfalls reagieren, schlagen meine "Anstrengungen" wieder auf mich zurück, oder anders formuliert: Ich werde mir selbst zum Feinde! Diese Handlungsweise darf jedoch keinesfalls zum individuellen Defekt erklärt werden, der einem selbst "nicht passieren könne": Instrumentelle Beziehungen sind die in der kapitalistischen Gesellschaft nahegelegte Beziehungsform, da sie den Konkurrenzkampf innerhalb der ökonomischen Wertmaschine widerspiegelt. Der Kapitalismus kennt nur instrumentelle Beziehungen und die dazugehörigen Partialinteressen und kann auch nur solche hervorbringen. Der Kampf der einen Partialinteressen gegen die anderen wird dann "Demokratie" genannt.

(45) Die Alternative von Beziehungen, die auf allgemeinen Interessen beruhen, kann der Kapitalismus nicht hervorbringen: Er kennt keine allgemeinen Interessen. Subjektbeziehungen, wie wir die Alternative nennen (Holzkamp 1985, 370), basieren auf verallgemeinerbaren Interessen. Verallgemeinerbare Interessen sind solche, die nicht auf Kosten anderer, sondern nur im Interesse aller erreicht werden können. Subjektbeziehungen müssen aktiv gegen die nahegelegten Tendenzen zur Instrumentalisierung durchgesetzt werden - und das ist nicht einfach. Auch wohlmeinende Worte wie "Freiheit "und "Emanzipation" schützen vor Instrumentalisierung nicht:

"Die meisten von uns haben gelernt..., daß Emanzipation die Freiheit bedeute, den Anderen und die dingliche Welt auf deren Nützlichkeit für die Befriedigung der eigenen Interessen zu reduzieren" (Baumann 1992, 247)

(46) Es gäbe kaum Hoffnung, wenn die Instrumentalisierung tatsächlich einem "natürlichen menschlichen Wesen" entspräche. Zur radikalen Veränderung der Gesellschaft, wie wir sie anstreben, gehört unbedingt eine Entfaltung der Subjektivität des Einzelnen, die die Entfaltung der Subjektivität der anderen notwendig mit einschließt. Subjektbeziehungen sind in allgemeinen Interessen gegründet:

"Subjektbeziehungen sind Beziehungen zwischen Menschen, in denen das gemeinsame Ziel der Beteiligten prinzipiell mit allgemeinen gesellschaftlichen Zielen zusammenfällt" (Rudolph 1996, 45).

(47) Allgemeine Ziele sind dabei nicht inhaltlich bestimmt, sondern dadurch, "daß sie sich nicht gegen die Interessen bestimmter Personen oder Gruppen richten können" (Holzkamp 1980, 210). Dabei muß sich der Einzelne keinem Ganzen unterordnen, sondern sein ganz individuelles Sein - wie das der anderen - schafft die Gesellschaft. Wenn er sich ganz für sich und seine Interessen einsetzt, setzt er genau damit das Stückchen Gesellschaftlichkeit in die Welt, das seiner Individualität entspricht. Die individuelle Subjektivität ist die

"...Gewinnung der bewußten Bestimmung der eigenen Lebensumstände in gleichzeitiger Überschreitung der Individualität, da durch Zusammenschluß mit anderen unter den gleichen Zielen die Möglichkeiten der Einflußnahme auf die eigenen Lebensbedingungen sich potenzieren" (Rudolph 1996, 45).

(48) Subjektbeziehungen und Instrumentalbeziehungen können wir dementsprechend wie folgt skizzieren (nach Rudolph 1996, 46):

(49) Die konkrete Utopie intersubjektiver Beziehungen beschreibt Iris Rudolph so:

"Ich möchte eine Welt, in der die Menschen sich nicht gegenseitig benötigen, in der sie einfach durch das, was sie tun und alles lassen, für sich tun und lassen, gleichzeitig auch das Beste für alle anderen tun" (Rudolph 1998, 78).

(50) Es ist einsichtig, daß das Ziel der Erringung der "Epoche der Menschen" auf Grundlage intersubjektiver Beziehungen niemals auf dem Wege instrumenteller Ausnutzung erreicht werden kann. Kein noch so "positives Ziel" rechtfertigt die Durchsetzung individueller Interessen auf Kosten anderer. Ein Ziel, das auf Kosten anderer erreicht oder angestrebt wird, ist kein allgemeines, sondern es ist in Partialinteressen begründet, und die Durchsetzung von Partialinteressen ist immer mit Instrumentalbeziehungen verbunden. Die Übereinstimmung von Weg und Ziel ist damit keine moralische Forderung, sondern eine immanent logische! Verstoße ich dagegen, ist das kein Grund für ein schlechtes Gewissen oder moralische Verdammnis, sondern ein Anlaß, die Gründe für das Durchschlagen partieller Interessendurchsetzung auf Kosten anderer anzusprechen. {subjektive Funktionalität} Dabei ist der selbstschädigende Charakter solcher Handlungen offenzulegen. Daß hierbei Angstlosigkeit, Freiheit und Offenheit eine Voraussetzung für die Klärung von Konflikten bilden, ist deutlich. Es wird klar: Subjektbeziehungen kann man nicht erzwingen, sie sind dennoch unhintergehbar die Voraussetzung auf dem Weg in eine herrschaftsfreie Gesellschaft.

(51) Grundsätzlich können wir kaum vorschreiben, wie diese neue Gesellschaft ihre Kooperation zu organisieren hat. Eins jedoch muß gewährleistet sein: die Einzelnen müssen die Möglichkeit haben, wählen und neu schaffen zu können. Sie müssen aus dem jeweils Gegebenen auch "herausgehen" können. Dies ist die einfachste und grundlegendste Voraussetzung für Freiheit:

"Nur das macht freie Kooperation aus: daß man sie aufkündigen oder einschränken kann, um Einfluß auf ihre Regeln zu nehmen..." (Spehr 1999, 236).

(52) Wenn dies unserem grundlegenden Ziel entspricht, entsteht eine Übereinstimmung mit den Wegen, auf denen wir nur dahin gelangen können. Die Forderung, daß der Weg dem Ziel entsprechen müsse, ist also hochaktuell. Es ist jedoch nicht damit getan, die bisherigen Herrschaftsmittel fortzuräumen. Damit die geschaffenen Freiräume auch wirklich durch die Menschen im emanzipatorischen Sinne genutzt werden, müssen Erfahrungen von Subjektbeziehungen in den Freiräumen möglich sein. Die Möglichkeit intersubjektiver Beziehungen muss praktisch als real besser, angenehmer, herausfordernder und perspektivreicher erlebt werden als die alltäglichen Erfahrungen mit instrumentellen Beziehungen, die wir alle immer wieder machen. Dabei gilt, daß Subjektbeziehungen nicht aufgrund einer neuen "political correctness" den neuen moralischen Anpassungsmaßstab für individuelles Handeln bilden - das wäre absurd, ja geradezu kontraproduktiv: Subjektbeziehungen sind niemals vorstellbar als Resultat einer Anpassung an den "Gruppendruck" oder was auch immer. Subjektbeziehungen sind das Gegenteil der Übernahme des Nahegelegten, ob im Verhältnis zur gesellschaftlichen Wertmaschine oder zu einer Initiative, Gruppe etc. Jede Kritik, die im vorgeblichen Interesse der Gruppenharmonie unterbleibt, ist eine verlorene Chance - für die Gruppe und für mich.

(53) Fähigkeiten und Bedürfnisse entwickeln sich permanent, das gilt auch für intersubjektive Beziehungen. Die praktischen Erfahrungen in der Kooperation mit anderen, bei der Aktion, beim Streik, bei der Blockade oder beim Flugblatt schreiben bilden eine wichtige Grundlage. Widerstand ist deshalb auch Subjektwerdung wie sie z.B. Peter Weiss im Roman "Ästhetik des Widerstands" (1983) ausführlich beschreibt. Hier haben auch so begrenzte Formen wie Zukunftswerkstätten, das Konzept "New Work" (nur das tun, was ich "wirklich, wirklich" tun will) oder Tauschringe, die Fixierungen auf Lohnarbeit und Geld aufbrechen, ihren berechtigten Platz (Zu "New Work" siehe Kapitel 3.1, Punkt C.). Voraussetzung ist, daß sie nicht die Integration in den gegebenen Kapitalismus befördern, sondern Widersprüche hervorrufen, die zu weiteren Auseinandersetzungen beitragen. "Soziale Erfindungen" sind unverzichtbar, doch die Inhalte dürfen dahinter nicht zurückbleiben.

Gegen Herrschaft - für neue menschliche, intersubjektive Beziehungen

(54) Der Kampf für neue Verhältnisse erfolgt an zwei Fronten. Einerseits muß gesellschaftlicher Freiraum gegen die MachthaberInnen, und jene, die die "Zukunft zubetonieren", erstritten werden. Andererseits muß der Freiraum mit wirklich Neuem gefüllt werden können. Das bloße Austauschen der MachthaberInnen kann genauso wenig das Ziel sein wie die Schaffung von Lohnarbeitsplätzen bei der weiteren In-Wert-Setzung von Natur und Mensch.

(55) Natürlich beißt sich dabei die Katze gewissermaßen in ihren eigenen Schwanz. Ei- nerseits brauchen wir neue intersubjektive Beziehungen, um uns selbstorganisiert und erfolgreich gegen die herrschenden Verhältnisse wehren zu können. Andererseits sind auch wir immer noch und immer wieder in den alten instrumentellen Beziehungsformen befangen. Das Problem des gleichzeitigen Änderns der Umstände und der Selbstveränderung der Menschen erkannte schon Marx in seiner 3. These über Feuerbach. {"Das Zusammenfallen des Ändern(s) der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden." (Marx 1969/1845, 6).} Trotzdem zielten die Revolutionen bisher primär darauf ab, die Umstände zu verändern und dann zu hoffen, daß die "neuen Menschen" auf ihrer Grundlage entstehen - oder mit Propaganda, Erziehung und Ideologie "herangezogen" werden. Es bildete sich eine Art Avantgarde heraus, die meinte, im Namen und für jene, die sich noch nicht genügend selbst verändern konnten, die Umstände zu verändern und dann auf den "neuen Menschen" zu hoffen oder ihn zu erziehen. {Erziehung} In der Gegenwart ist diese Praxis nicht nur in den realsozialistischen Ländern gescheitert und theoretisch widerlegt. Ein Blick auf die aktuellen Kultur-, Umwelt-, Friedens- und Trikontbefreiungs- und Frauenbewegungen zeigt an vielen Stellen sogar Stagnation und Abbau. Aber an den Stellen, wo sie nennenswert bleiben, haben sie neue Formen entwickelt. So will die EZLN in Mexiko gar keinen "Sieg neuer Führer", sondern strebt eine Veränderung der Gesellschaft selbst an. Emanzipation bedeutet heute nicht nur Befreiung von der alten Herrschaft, sondern das Verhindern des Aufbaus neuer Herrschaftsstrukturen in der eigenen Bewegung. {Siehe auch Kapitel 4, Punkt C.}

(56) Was das bedeutet, wollen wir für verschiedene Ebenen deutlich machen: das "Binnenverhältnis" in emanzipatorischen Bewegungen und deren Verhältnis zu den anderen Menschen in der Gesellschaft. {Emanzipatorische Gruppen und Projekte}

Emanzipatorische Bewegungen und Projekte

(57) Es gab und gibt es in der Realität Gruppen von Menschen, die sich organisieren, um gemeinsam weitreichende emanzipatorische Ziele umzusetzen - auch ohne daß alle Menschen dies bereits tun. Die emanzipatorischen Gruppen der Gegenwart teilen im wesentlichen die oben für die Gesellschaft gegebene Zielbestimmung. Sie wollen eine Gesellschaft, in der die Menschen wirklich konkret, ohne durch persönliche oder sachliche Herrschaft eingeschränkt, selbstbestimmt handeln können. Dieser Anspruch besteht in der Regel auch für die Binnenverhältnisse in den Gruppen und Vernetzungen. Paslak (1990) hat sich die Dynamik selbstorganisierter Bewegungen angesehen und für positive Fälle folgende typische Entwicklungen beschrieben:

(58) Löst sich die Aktivität der "Gruppe" von diesen Zielen, wird sie zum Selbstzweck, und dies ist die akuteste und häufigste Gefahr, der Gruppen und Bewegungen unterliegen. Das kommt leider - aber auch nachvollziehbarerweise - bei vielen Projekten vor, sobald sie sich "etabliert" und "etwas zu verlieren" haben. Auch die "sozialen Erfindungen" können sich mit einer "Spielwiese" innerhalb der gesellschaftlichen Bedingungen zufriedengeben - Zukunftswerkstätten verloren z.B. den politisch-alternativen Anspruch ihres "Erfinders", Robert Jungk, weitestgehend.

(59) Kippt die innere Dynamik in Richtung auf den bloßen Selbsterhalt als Selbstzweck um, dann ist die Integration in die herrschende Verwertungs- und Geldmaschinerie nur noch ein kleiner Schritt. Schnell gewinnt die Notwendigkeit, den kapitalistischen Geldzyklen einige Tropfen für den Selbsterhalt abzuringen, die Oberhand. Sobald einige Einzelne oder Teile der Bewegung sich so wichtig finden, daß sie vor allem um ihre eigene Existenz kämpfen, entwickeln sich auch untereinander neue Verhältnisse. Es geht dann nicht mehr darum, die anderen Beteiligten als autonome Subjekte zu betrachten, sondern sie werden instrumentalisiert, um nur noch dem vorgeblich "Ganzen" zu dienen. Die Verfolgung individueller Interessen, die einst Motor der Bewegung waren, wird für den Gelderwerb und Machterhalt anderer eingespannt - die Bewegung wird zersetzt, integriert, bürokratisiert.

(60) Dem Umkippen der Dynamik kann mit klarem Kopf und Bewußtsein der Gefahr begegnet werden. Es gibt niemals unhintergehbare Notwendigkeiten, auch Gruppen unterliegen nicht der Determination durch die Bedingungen: Es handelt sich immer um Entscheidungen. Und Entscheidungen lassen sich so oder anders fällen. Im Ernstfall muß ggf. sogar die Existenz der Gruppe oder z.B. ihr wirtschaftlicher Erfolg in Frage gestellt und aufgegeben werden, wenn die Weiterexistenz den realen Interessen der Beteiligten zuwiderläuft. Ein Beispiel: In der "Sozialistischen Selbsthilfe Mühlheim" (SSM) entwickelte sich aus der Jugendarbeit ein recht erfolgreicher "alternativer Betrieb", der Entrümpelungen usw. durchführte. "Arbeit" wurde definiert als "alle Tätigkeiten, deren Ausführung die Gemeinschaft für wichtig hält" (Baumaßnahme am eigenen Haus, Abfassen eines Briefes, Flugblattes, eine politische Aktion, Essen kochen für die Gemeinschaft usw.). Dann entstand ein "richtiger" Baubetrieb - mit Anforderung an "möglichst hohe Leistung in möglichst kurzer Zeit ausgedrückt durch möglichst viel Geld". Es zeigte sich, daß das nur funktioniert, wenn die eigentlichen Ziele, nämlich die realen Bedürfnisse der Menschen (z.B. nach streßfreier Arbeit!) aufgegeben werden und der Betrieb normal-kapitalistisch durchgezogen wird. Die SSM verzichtete auf den möglichen wirtschaftlichen "Erfolg" und ließ lieber ein "Scheitern" dieser Möglichkeit zu, als den Interessen der Menschen zuwider zu handeln (Kippe 1998, 9f).

(61) Wichtige Kriterien für das Binnenverhältnis emanzipatorischer Bewegungen sind also:

(62) Dazu gehört aber auch der offene Umgang mit Dissens. Das Streben nach Konsens und Harmonie kann dazu führen, daß inhaltliche Positionen unterdrückt werden, die sich diesen "Bauchgefühlen" nicht unterordnen. So entstand auf den Jugend-Umwelt-Kongressen (Jukß) bis zum Jahreswechsel 1999/2000 eine Situation, in der die geforderte Unterwerfung unter "Konsens & Harmonie" zu einer Entpolitisierung führte. Die Position "Kein Streit, wir lieben uns doch alle..." führte zur "Machtergreifung von Kreisen, die politisch nichts oder wenig wollen, die aber Umweltbewegung als Familienersatz und Nestwärme wollen" (Bergstedt, 2000b). Demgegenüber fordert Bergstedt: {Gleichberechtigung}

"Mein Ziel ist, Verhältnisse zu schaffen, die Gleichberechtigung schaffen, bei denen die Menschen aber auch authentisch sein können und nicht in dieser beklemmenden Atmosphäre des 'Ich darf niemandem zu nahe treten' agieren. Das ist zu erreichen u.a. durch
- Dezentralisierung weg vom Plenum
- offene, sich ständig verändernde Strukturen
- Platz für Streit und kreative Prozesse
- Autonomie für Menschen und Gruppen
- Klärung in den Diskussionsrunden, auf was ALLE achten (nicht die Verantwortung einer Moderation abschieben) - somit Einleitung eines Lernprozesses aller" (Bergstedt 2000c)

(63) Spehr (1999) kennzeichnet die gegen die Herrschaft kämpfenden und sich deren Handlungslogik entziehenden Gruppen als "Maquis". {In der französischen Résistance bezeichnete der Maquis (der "Busch") jene Gegend, die nicht von Nazis oder Kollaborateuren beherrscht wurde. Auch in der StarTrek-Serie "Voyager" gibt es mit dem Maquis eine Zone des Widerstands. Mehr zur Frage der realen Lage im "Maquis" (widerständige politische Bewegung) siehe {Kapitel 4, Punkt A.} Mit ihren oben genannten Eigenschaften, dem Verwerfen von Führung und Avantgardeanspruch und dem Durchsetzen von Emanzipation und freier Kooperation auch in den eigenen Reihen, stellen sie eine völlig neue Qualität dar, was den Beteiligten oft gar nicht so deutlich bewußt ist.

(64) Praktisch ergeben sich aus den Erfahrungen bisheriger alternativer Bewegungen weitergehende Aufgaben (Bergstedt, Hartje, Schmidt 1999):

(65) Da die Menschen und die in Bewegungen Aktiven so unterschiedlich sind wie Menschen überall anders auch, haben sie auch unterschiedliche Fähigkeiten, und auch das Maß des Engagements wird verschieden groß sein. Es ist oft so, daß einige Menschen eine Art "Kraftfeld" um sich herum entwickeln. Sie rücken aufgrund ihres Wissens, ihrer Organisationsfähigkeit, ihres menschlichen Verhaltens ins Zentrum des Geschehens, auch wenn sie dies vielleicht vermeiden wollen. Manchmal ist es jedoch für die anderen einfach bequemer, die "ExpertInnen" machen zu lassen. Eine "informelle Elite" entsteht. {Das Problem der "informellen Eliten" wurde zuerst in der amerikanischen Frauenbewegung diskutiert. Der Verzicht auf formale Strukturen reicht noch nicht aus zur Verhinderung von Hierarchien.} Eliten "an sich" stellen kein Problem dar. Es ist ja gerade das Ziel der neuen Gesellschaft, daß sich jeder Einzelne maximal entfaltet, daß - wenn man so will - alle an irgendeiner Stelle zur Elite gehören. Doch wenn alle dazu gehören, ist die "Elite" im bürgerlichen Sinne schon keine mehr. "Eliten" kommen aus den Gesellschaften, in denen die Entfaltungsmöglichkeiten nur für wenige und nur auf Kosten anderer vorhanden sind. Das ist auch das größte Problem für emanzipatorische Bewegungen. Sobald Einzelne ihren Wissensvorsprung und die entwickelten Fähigkeiten dazu verwenden, eigene partielle Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen, kippt die individuelle Genialität in Elitarismus um. "Informelle Eliten" bilden sich leicht in Gruppen heraus, in denen der Selbsterhalt der Gruppe zum Selbstzweck geworden ist. Beide Aspekte bedingen einander, denn sie sind Resultat der schrittweisen Integration der Gruppe in die subjektlosen Selbsterhaltungsstrukturen der Wertmaschine. Auch das ist wiederum kein "persönlicher Mangel" der Aktiven, sondern nachvollziehbares Resultat der Tatsache, das die Menschen - auch die Aktiven in Bewegungen - zuerst ihre individuelle Reproduktion absichern müssen. Verschränken sich individuelle Reproduktion und Selbsterhalt der Gruppe, so etwa bei "bezahlten Angestellten" der Bewegung von Projekten, dann liegen die Interessenkonflikte schnell nahe.

Was kann man hier tun?

(66) 1. Rausgehen aus Verwertungsstrukturen: Wenn wir erkennen, daß die subjektlose Verwertungsmaschine des Kapitalismus unsere Lebensbedingungen zerstört, können wir nicht die politische Arbeit gegen den Kapitalismus auf seinen Verwertungsstrukturen aufbauen. Ein Beispiel aus dem realen Leben: Zunächst sollte der Verkauf politischer Bücher die politische Arbeit finanzieren, dann sollte der Verkauf politischer Bücher den Verlag finanzieren und schließlich wurden die Krimis entdeckt, die viel mehr Geld brachten als die politischen Bücher. Nun muß jedes Buch selbst seine Kosten "erwirtschaften", denn auch die (Selbst-) Angestellten wollten "bezahlt" sein, und die politischen Bücher starben aus. - Andere Beispiele sind Abhängigkeit von Spenden oder gar staatlichen Subventionen, um "den Laden am Laufen" zu halten. Natürlich kostet politische Arbeit auch Geld, und Geld zu nehmen ist nichts Verwerfliches. Doch der Rubikon wird überschritten, wenn die eigene, individuelle Existenz von der Existenz der Gruppe abhängig wird, was bedeutet, den Erhalt der Gruppe im eigenen partialen Überlebensinteresse als Selbstzweck zu betreiben. Politische Gruppen müssen ohne existenziellen Schaden ihrer Mitglieder untergehen können, und Mitglieder müssen Gruppen verlassen können, ohne daß ihre Existenz infrage steht. Das geht nur in autonomen Strukturen, die nicht nach Verwertungsprinzipien funktionieren.

(67) 2. Individuelle Selbstentfaltung als Grundlage der Bewegung: Das Dominant-werden von partiellen Individualinteressen auf Kosten anderer und das Entstehen "informeller Eliten" können weder durch bürokratische Verfahren (" Wahlen") noch moralische Appelle (" Du sollst nicht instrumentalisieren") verhindert werden. Die einzige funktionierende Grundlage ist die Selbstentfaltung der beteiligten Individuen, die Durchsetzung ihrer allgemeinen Interessen. Das schließt ein, allen auch die Chance, den Raum, die Möglichkeit zur Selbstentfaltung zu lassen, denn wer weiß schon von vornherein, wie das geht! Das "Möglichkeiten ... lassen" ist jedoch nicht die "Verantwortung" bestimmter Personen - etwa, der "Schlaueren". Gerade eine solche "Verantwortungshaltung" Weniger festigt die personalisierten Strukturen, die sie zu bekämpfen meint: Es gibt niemanden, der das "Recht" hat, anderen "Möglichkeiten zu lassen" - genauso wie niemand das Recht hat "Möglichkeiten zu nehmen". Das eine schließt das andere logisch mit ein! Es ist die "Verantwortung" aller und jedes Einzelnen, Strukturen zu schaffen, in denen das Lassen und Nehmen von Möglichkeiten keine Frage mehr ist! Dort, so sich Menschen unbeschränkt entfalten, ist für "Eliten" kein Platz mehr.

(68) 3. Kritik und Reflexion der Bedingungen, nicht der Personen: Wir schreiben immer wieder gegen die Moralisierung in emanzipatorischen Bewegungen an. Wie aber sollen sich Subjektbeziehungen durchsetzen, wenn es keine moralischen Leitlinien gibt, an die sich die Menschen halten können? Subjektbeziehungen setzen sich nur dann durch, wenn ich es will. Will ich die Selbstentfaltung, dann geht das nur in intersubjektiven kooperativen Beziehungen. Was aber ist, wenn diese theoretische Erkenntnis sich praktisch nicht durchsetzt? Dann gibt es keine andere Chance, als die Gründe für das Unterlaufen anzusprechen, und die strukturellen Ursachen, die das Unterlaufen nahelegen, aufzudecken. Das geht nur in offener Kritik und Reflexion des eigenen Tuns. Jedes Zurückhalten und Unterlassen von Kritik um der "Harmonie willen" ist kontraproduktiv - jede Unterdrückung erst Recht. Eine unterbliebene Kritik ist eine vertane Chance - für mich und alle. Problematisch ist jedoch personalisierende Kritik. Es geht niemals um "Schuld", sondern immer um die Gründe für mein Handeln. Es gibt kein unbegründetes Verhalten, seies auch noch so daneben. Es gibt immer nur das Noch-nicht-Kennen der Gründe für das Handeln des anderen. Über das Kennenlernen der Gründe können wir die individuellen Prämissen für das Handeln verstehen, die auf die Bedingungen verweisen. Um diese Bedingungen geht es, ihre Rolle als strukturelle Handlungsvoraussetzung ist aufzudecken. Gerade die Offenheit und Kritikfähigkeit entlastet mich von der Notwendigkeit, die anderen auch zu "mögen". Dort, wo Gruppen nur noch über Sympathien funktionieren, wo sich verschiedene sympathiegetragene Klüngel bilden, ist etwas faul.

(69) 4. Kollektivierung von Entscheidungen: Die Beteiligung an oder Gründung von Gruppen auf der Grundlage der individuellen Interessen ist die eine Sache. Eine andere ist es, Entscheidungen für das gemeinsame Handeln zu fällen. Nicht immer liegt auf der Hand, ob diese oder jene Entscheidung im allgemeinen oder nur partiellen Interesse liegt. Dennoch muss entschieden werden, will die Gruppe nicht zur einer "Gruppe auf dem Papier" mutieren. Spehr schlägt ein "collective leadership" vor: "Es reicht nicht, daß alle ihre Interessen formulieren und in ihrer Unterschiedlichkeit einbringen; irgend jemand muß den jeweils nächsten Schritt formulieren, der daraus folgt, und in einer freien Kooperation sollte diese Fähigkeit soweit wie möglich kollektiviert sein" (Spehr 1999, 302). Kollektivierte Entscheidungsformen kann es viele geben, wichtig ist, daß sie der Lage angemessen und leicht veränderbar sind: Delegationen mit Mandat, Rotationen in Entscheidungspositionen, zeitliche Befristungen für bestimmte Aufgaben etc. Wichtiges Merkmal ist hierbei, daß nicht immer "alle alles" entscheiden, das wäre viel zu uneffektiv, sondern das es ein transparentes Verfahren für gemeinsame Entscheidungen gibt.

Emanzipatorische Bewegungen und Projekte in einer "zivilen" Gesellschaft

(70) Herrschaft ist heutzutage nicht mehr offensichtlich, sondern versteckt sich in den scheinbar normalen und natürlichen alltäglichen Lebenszwängen. Diese Wirkungsweise führt dazu, daß es in den kapitalistischen Kernländern auch in Krisensituationen, bei ansteigender Erwerbslosigkeit und sogar Verelendung selten zu spontanen Aktionen oder Befreiungsschlägen kommt. Spehr kennzeichnet die Mehrheit der "normalen Leute" als "Zivilisten", die

"...einfach vor sich hin (machen), ohne zu überblicken, was vor sich geht" (Spehr 1999, 167).

(71) Sie haben auch "kein Problem damit, daß die Entscheidung von anderen getroffen werden" (ebd. , 168). Wer kennt diese Leute nicht und hat sich nicht schon oft über sie geärgert. Das Problem für emanzipatorische Bewegungen sind neben den Machtzentren jene, die diese Macht nicht hinterfragen, sondern akzeptieren, keine Fragen stellen und die herrschenden Verhältnisse rechtfertigen:

"Sie tun einem gar nicht so viel; sie lassen einen nur an der Welt und ihrer Zukunft zweifeln" (Spehr 1999, 171).

(72) Politische Bewegungen werden deshalb leicht "überheblich" und meinen, "für die anderen" denken und entscheiden zu können. Dann werden sie auch schnell zu Stellvertretern, die nach Gutdünken ihre eigenen partialen Interessen im vorgeblichen "Interesse der Mehrheit" durchsetzen. Aber

"... es gehört zu den Grausamkeiten im Maquis, daß sein Fortschritt sich daran festmacht, ob er in der Lage ist, Zivilisten abzuwerben" (Spehr 1999, 265).

(73) Doch was heißt "abwerben"? Es gibt keinen anderen Grund sich "abwerben" zu lassen, als die individuelle Vorstellung von einem besseren Leben. Warum sonst sollte sonst jemand in den Maquis, den "Busch", gehen, als aufgrund der Vorstellung, daß dort bessere Möglichkeiten der eigenen Entfaltung warten und die Risiken nicht so groß sind wie das Elend des kümmerlichen Lebens in der "zivilen" Gesellschaft. Keiner will missioniert werden, es gibt keine objektive Richtigkeit irgendeiner Vision, es gibt keine Garantie, sondern nur die Möglichkeit eines besseren Lebens im "Maquis". Der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, massenhaft Leute in den "Maquis" abzuwerben und der realen geringen Ausstrahlung des "Maquis" besteht (noch). Das müssen wir aushalten, es gibt dennoch keine Berechtigung andere für ihr Handeln zu geißeln - auch nicht die "Zivilisten". Sich "abwerben" lassen geht nur auf der Basis eigener Entscheidungen, und das muss jede/r selbst tun. Wer nicht will, will nicht, hat seine Gründe dafür und ist in Ruhe zu lassen. Will ich, das meine Gründe für mein Handeln akzeptiert werden, so muss ich die Begründetheit anderen Handelns auch akzeptieren - ich muss die Gründe ja nicht teilen. Die Autonomie des Handelns gilt nicht nur im Binnenverhältnis, sondern auch gegenüber den "Zivilisten".

(74) Die "Maquis" können schwer unmittelbar in der Welt der "Zivilisten" überzeugend wirksam werden. Vermittelnd wirken hier punktuelle soziale Bewegungen, in denen sich Aliens, Zivilisten und Maquis vermischen - Spehr verwendet dafür das Bild ei- nes "Erlenmeyerkolbens". {Erlenmeyerkolben: Ein Reagenzglas mit einem schmalen Hals und einem breiten Fuß, das man zum Mischen gut herumschwenken kann} In und mit diesen Bewegungen sind die gesellschaftlichen Eingriffsmöglichkeiten größer als im Rahmen der bürgerlichen "Demokratieformen". Sie setzen Neues in die Welt, sind aber aus der Sicht des "Maquis" begrenzt:

"Eine Friedensbewegung ist zunächst eine Bewegung für Frieden, nicht für Emanzipation" (Spehr 1999, 247).

(75) Das Bild der Unterscheidung zwischen "Maquis" und "Erlenmeyerkolben" kann bei der Orientierung nützlich sein. Wenn sich der "Maquis" isoliert, hat er keine Chance - wenn im "Erlenmeyerkolben" zu wenige "Marquis" sind, verlieren sie ihre potentielle Dynamik. Konsequenter Widerstand und soziale/ökologische Bewegungen werden sich immer in einem Spannungsverhältnis bewegen - aber bewegen müssen sie sich! Zur Orientierung, welche konkreten Konzepte und Aktivitäten diese Bewegung in die Richtung führen, die wir brauchen, können die oben genannten Kriterien dienen: Kein Zurück in die Wertvergesellschaftung, kein Streben unser Projekte nach "ökonomischem Erfolg" innerhalb des Systems und Verhinderung instrumenteller Beziehungen untereinander und gegenüber anderen Menschen. Für eine "Politik der Autonomie" (Spehr 1999, 261)!

Fortsetzung

(76) Weiter geht es mit Kapitel 2.4: Zusammenfassung - Revolution im Fünfschritt.


Valid HTML 4.01 Transitional