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Gegenbilder, Kap. 4: Freie Menschen in freien Aktionsgruppen

Maintainer: Gruppe Gegenbilder, Version 1, 18.08.2000
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Provozierende Statements und Vorschläge für die notwendige Debatte innerhalb politischer Bewegung

(1) {Diesem Text liegt ein Manuskript zugrunde, das unter dem Pseudonym "Robin Wut" als Diskussionsgrundlage für das Anarchistische Sommercamp 1999 in der Interim veröffentlicht wurde. Aus ihm entstand ein Text, der Überlegungen zu einer emanzipatorischen Bewegung zusammenfaßt - ein Beitrag zu Debatte und Praxis.} Der 1999 veröffentliche Text "Strategie für die Anarchie?" begann mit folgenden Sätzen:

"Der Grund dieses Textes: Ich habe es satt, immer wieder zudenken: 'Unsere Ideen sind richtig - eine Welt von unten ist das, was ich will', aber dann auch immer wieder einzusehen: 'Wir sind einfach ein Haufen von Leuten in Sturm-und-Drang-Phase oder mit viel Wut, aber ohne Strategie. Die andere Seite, von den Machtzentralen in Regierungen und Konzernen bis zu den akzeptanzbeschaffenden BeraterInnen in den NGOs, ist uns strategisch meilenweit überlegen'. Ich will da raus und möchte, daß wir nicht nur die, wie ich finde, besseren Ideen für eine zukünftige Gesellschaft und konkrete Projekte haben, sondern auch die besseren Strategien.
Der Anlaß dieses Textes: Nie zuvor habe ich die strategische Unterlegenheit politischer Bewegung insgesamt gegenüber der Normalität von Staat, Wirtschaft, Medien usw. so kraß erlebt - nie zuvor aber auch das Desaster selbstorganisierter Politikstrategien gegenüber dem hierarchischen modernisiertem Apparat (modernisiert auch durch viele jüngere, früher selbst in radikaleren Zusammenhängen aktive Leute) der NGOs und sonstiger zentraler Organisationen so deutlich wahrgenommen. Die Vorbereitungen waren in beiden großen Bündnissen von wenigen zentralen Figuren dominiert, die mit Ausgrenzung, finanziellen Androhungen bis hin zur Drohung einer wachsenden Konfrontation mit der Staatsmacht das Geschehen steuerten. In den Demos sammelten sich selbstorganisierte Gruppen freiwillig (!) in abgegrenzten Blöcken und reduzierten so ihre Außenwirkung auf ein Minimum. Die Nische ist nicht nur da, sie wird auch noch nach außen dokumentiert!
Daher fordere ich eine selbstkritische Debatte." {Die Beschreibungen beziehen sich auf die Aktivitäten gegen den EU- und Weltwirtschaftsgipfel in Köln, Juni 1999. Siehe auch Gruppe Landfriedensbruch 1999}

(2) Soweit der benannte Text in der Einleitung. Gedanken zu Arbeitsformen politischer Bewegung gehören zu einem Buch visionärer Ideen. Sonst würde sich dieses Buch einreihen in die Vielzahl theoriebeladener Werke, die die Schränke von Menschen füllen und ihnen Gesprächsstoff bieten, die sich oft schon zur Ruhe gesetzt haben und die Welt nur noch interpretieren statt sie zu verändern.

(3) So wie die Welt nicht dem entspricht, was an emanzipatorischen Ideen dieses und andere Bücher füllt, so stellt auch die aktuelle politische Bewegung nicht das dar, was nötig wäre, um den Visionen näherzukommen. Daher soll dieser Teil mit einigen provozierende Kritiken an der strategischen Schwäche politischer Bewegung beginnen, im zweiten Teil werden dann mögliche Perspektiven benannt. Inzwischen liegen erste Erfahrungen z.B. der Gruppen vor, die den Widerstand gegen die Expo 2000 vorbereiteten und sich zum Ziel gesetzt hatten, emanzipatorische Bewegungsansätze über die bisherigen Themengrenzen hinweg zuentwickeln und umzusetzen. {Der Expo-Widerstand bietet einige Anknüpfungspunkte - wenn auch noch sehr wenige.}

A. Provokationen

(4) {Als Lektüre für Strategien politischer Bewegung sei auch das Sonderheft "März 1998" der Interim empfohlen.}

1. Nischenbildung: Emanzipatorische Gruppen fehlen überall dort, wo es wichtig wäre!

(5) Wo sich selbstorganisierte Gruppen an Aktionen (z.B. von Bündnissen) beteiligten, überlassen sie meist "den anderen" die Vorbereitungsarbeit. {"Den anderen" im Text bezeichnet zum einen Organisationen und Verbände mit Vorständen und zentralen Geschäftsstellen sowie zum anderen radikale Gruppen mit informellen Führungszirkeln.} Damit nehmen sie nur wenig Einfluß auf Inhalte und vor allem die Form einer Aktion. Das hat Wirkung: Solche Organisationen, die ganz gezielt Dominanzen aufbauen, hierarchische Strukturen und/oder Staatsnähe (zwecks Finanzierung u.ä.) wollen, können uneingeschränkt schalten und walten. Sie prägen fast alle bestehenden Bündnisse und Kampagnen. Die einzige Ausnahme entsteht dann, wenn autonome Zusammenhänge spontan, seltener auch als geplantes Vorgehen, während einer Aktion überraschend mit eigenen Aktionen beginnen und die zentralen Organisationszentren damit übergehen.

(6) Ähnlich fatal ist die Neigung, sich mit kritischen Positionen und Strategien aus politischen Debatten herauszuhalten. Mensch ist gerne unter sich und sucht nicht die offene Konfrontation. So laufen z.B. Parlamentssitzungen, Parteitage, Diskussionen zu Themen wie die Expo 2000 oder anderen Großereignissen, Vortragsreihen zur Nachhaltigkeit oder neuen sozialen (Demontage-) Konzepten meist ohne Gegenaktionen oder Beteiligung von Menschen mit emanzipatorischen Politikideen. Dieser Boykott stärkt die andere Seite, weil sie in Ruhe ihre Politik machen und die Köpfe beeinflussen kann. Eigene Veranstaltungen in immer gleicher Runde stellen hierzu kein Gegengewicht dar.

(7) Folge: Emanzipatorische Politik hat nur geringe Wirkung, weil sie auf interne Debatten und Zufallstreffer baut und sich nicht in strategische und organisatorische Debatten einmischt.

2. Desorganisation: Wer immer zwei Stunden zu spät kommt, kann keinen Einfluß nehmen

(8) Der ohnehin vorhandene Unwille emanzipatorischer Gruppen zu einer prägenden Rolle innerhalb politischer Bewegung wird in der Wirkung noch gesteigert durch die Art, wie dann in Ausnahmen doch an zentralen Prozessen teilgenommen wird. Ständiges Zu-spät-Kommen, keinerlei Überblick über Tagesordnungen, Hintergrundinformationen usw. machen selbstorganisierte Gruppen oft zu unorganisierten Einzelpersonen, die in Besprechungen nur wenig einbringen können. Folge: Zentrale Organisationseinheiten teilen die durch Unorganisation willfährigen emanzipatorischen Gruppen nach ihren Vorstellungen oft einfach ein und dominieren die konkreten Aktionsplanungen.

(9) Ähnliches gilt für konkrete Aktionen und Projekte, wo oftmals Vorhaben scheitern oder nur unvollständig laufen, weil Absprachen nicht eingehalten oder Strategien gar nicht erst entwickelt werden. Letztlich zeigt sich, daß es kein Bewußtsein für Selbstorganisationsprozesse gibt. Innerhalb dieser käme den BasisakteurInnen die entscheidende Rolle zu. Politische Aktionen wäre eine Sache, die "von unten" entsteht. Tatsächlich verhalten sich viele aber so, als gäbe es zentrale Geschäftsstellen, die sich auch in Netzwerken um die Dinge kümmern sollen.

3. Ein-Punkt-Bewegungen allein bilden keine Gegenmacht von unten

(10) Häufig wirken nur einfache Feindbilder mobilisierend, für mehr fehlt der Wille zur politischen und strategischen Auseinandersetzung. Als Schlüsselreiz funktionieren vor allem glatzköpfige Faschohorden (während die Auseinandersetzung mit dem faschistoiden Kern der Gesellschaft selten ist) oder gutbewachte Castorbehälter, zum Teil auch die martialisch aufgerüstete "Bullerei" als solches. Aktionen gegen solche Symbole oder offen sichtbare Extreme sind wichtig. Aber sie sind auch vereinfachend, einfach zu inszenieren, gering in der Wirkung auf Gesamtgesellschaft und gefährden den Kern dieser Gesellschaft nicht. Darin dürfte einer der Gründe liegen, warum der Staat bis auf Übergriffe während der Aktionen emanzipatorische Gruppen nicht nur weitgehend in Frieden läßt, sondern ihnen sogar in Jugendzentren oder Infoläden die eigene Infrastruktur zur Verfügung stellt. Zudem schafft er z.B. mit der unterstützenden Jugendarbeit für Faschos das Konfliktfeld und die Beschäftigung für solche Gruppen und kann dann beruhigt sein, nicht selbst das Ziel der Attacken zu werden. {Ein-Punkt-Bewegung}

(11) Der Kern gesellschaftlicher Strukturen bleibt bei Ein-Punkt-Kämpfen unberührt - und zwar sowohl real (z.B. die Machtzentralen in der Politik wie in der Wirtschaft) wie auch in der Wahl der Symbole (wenig oder keine politische Aktionen gegen die sichtbaren Zeichen der Herrschaft wie Militär, Knäste, Wirtschaftsmessen, Wahlen usw.).

4. Fahneschwenken und Vereinsmeierei bringen keine Gesellschaft von unten

(12) Kommt es zu Aktionen, so fehlt oft der Inhalt. Die eigene Ideologie, so sie besteht, wird in Kleidung sowie oftmals nichtssagenden, die eigenen Zusammenhänge bewerbenden Fahnen und Transparenten zum Ausdruck gebracht. Kaum eine Demo oder Aktion findet heute noch als vielfältiges Ereignis mit klaren politischen Aussagen statt - ob es nun eine gemeinsame Aussage ist oder verschiedene nebeneinander, spielt bei dieser Betrachtung keine Rolle, denn meist fehlen sie ganz. Innerhalb selbstorganisierter Gruppen fehlt oft der Wille, sich im Zusammenhang mit den Aktionen intensiv inhaltlich und strategisch auseinanderzusetzen.

(13) Das hat zwei Folgen: Zum einen wird dadurch gefördert, daß in der Öffentlichkeit nur die Aktionsform (sei es nun als Fest oder als Randale) rüberkommt, zum anderen wirkt sich die fehlende politische Tiefe im Werdegang der Menschen aus, die meist nach nur wenigen Jahren Mitarbeit in politischen Gruppen ins Privatleben abtauchen und dann eine beachtliche politische Inhalts- und Prinzipienlosigkeit zeigen. Offenbar hatten sie nie inhaltliche Prinzipien, sondern die politische Arbeit aus einer reinen (wichtigen!) Unzufriedenheit mit den allgemeinen oder persönlichen Verhältnissen zusammen mit einem Geborgenheitsgefühl in der Gruppe durchgeführt.

5. Anarchie und radikale Aktionen sind nur der Bruch zwischen Jugend und Etablierung

(14) Für die meisten Menschen endet der radikalpolitische Abschnitt im Leben so abrupt, wie er begonnen hat. Politisches Engagement hat in der Aktivitätsphase wenig mit tatsächlichem Willen zur gesellschaftlichen Umgestaltung zu tun, meist setzen sich selbstorganisierte Gruppen genauso wenig wie etablierte Organisationen mit alternativen Entwürfen für eine Gesellschaft von unten, der eigenen Gruppenstruktur oder auch dem eigenen Leben auseinander. Folge: Eine klare politische Kritik fehlt oder wird nicht öffentlich genannt (siehe Punkt 3), wodurch der politischen Arbeit eine wichtige Wirkung genommen wird. Innerhalb der Gruppen spiegeln sich meist die klassischen Dominanzstrukturen der "normalen" Gesellschaft wieder: MacherInnen und AbhängerInnen/ MitläuferInnen, Männer über Frauen, Ältere in der Dominanz zu Jüngeren usw. Am schwerwiegendsten macht sich der Mangel im privaten Leben bemerkbar. Meist führen Menschen aus autonomen Zusammenhängen genauso ihr Leben auf der Grundlage der Zerstörung und Ausbeutung an anderen Orten wie die FunktionärInnen etablierter Organisationen - zumindest tritt das mit zunehmendem Alter verstärkt auf, bis der Lebensweg ganz in der bürgerlichen Normalität endet.

6. Was sich herrschaftskritisch nennt, ist meist selbst eine Herrschaftsstruktur

(15) {Herrschaft} Ein Blick in die internen Strukturen politischer Bewegung ist abstossend. Nicht nur die verbandlich oder gar betriebswirtschaflich organisierten NGOs und die bewußt zentralisiert arbeitenden kaderlinken Gruppierungen weisen krasse Hierarchien auf, sondern auch in den Gruppen, die eigentlich den Herrschaftsabbau als ihr Ziel proklamieren, finden sich Dominanzverhältnisse alltäglich. Sie fangen bei der kritiklosen Übernahme gesellschaftlicher Verhaltensweisen (Männer dominieren über Frauen, Alte über Junge, Deutsche über Nicht-Deutsche, "AkademikerInnen" über ArbeiterInnen usw.) an und fügen diesen noch spezifische Machstrukturen hinzu wie Definitionsmacht, autonomiebegrenzende Gremien- oder Plenumskompetenz, zwanghafte Einheitlichkeit, massive Abhängigkeit von äußeren Zwängen, z.B. GeldgeberInnen usw. Die Auseinandersetzung über Dominanzstrukturen führt regelmäßig nicht zum Dominanzabbau, sondern zu neuen Machtkonstellationen und -ansprüchen (Beispiel: Sexiismusdebatte der letzten Jahre, bei der es mehr um Verlagerung eigener Verhaltensänderung in Theoriedebatten und Plenumszuständigkeit, Verregelung, neue Machtkonstellationen, Definitionsrechte und etliche Male um Denunziation ging, jedoch kaum um konkretes Verhalten im Sinne einer unmittelbaren Intervention gegen sexistisches Verhalten). {Vorschläge zur antisexistischen und antirassistischen Intervention siehe unter Punkt B., Nummer 9.}

(16) Emanzipatorische Politik besteht aus den drei Teilen:

(17) Die eigene politische Gruppe, das Projekt, die Kommune usw. sind nicht nur AkteurInnen in diesen drei Aktionsfeldern, sondern selbst auch erkämpfter Freiraum. Hier geht es um Autonomie im Sinne einer möglichst großen Unabhängigkeit von äußeren Zwängen, z.B. formaler oder finanzieller Art. Innerhalb dieses Freiraumes gilt das Ziel, emanzipatorische Ansprüche zu verwirklichen. Jeder Quadratmeter Land, jeder Betrieb, jede Gruppe, Familie, Freundschaft, jedes Gebäude oder jede Kommunikationsstruktur, die aus den Herrschaftsverhältnissen herausgekämpft wurde, kann Ort des Experimentierens herrschaftsfreier oder zumindest -armer Verhältnisse sein. Zudem sollte er aber immer Ausgangspunkt von Visionen und Widerstand sein, um nicht eine Insel zu werden, denn eine solche wäre als Rückzugsraum für ehemalige politische AkteurInnen eher stabilisierend als verändernd auf die bestehenden Verhältnisse. Die politische Bewegung ist einer der ersten Orte, an dem die Gesellschaft von unten Wirklichkeit werden muß - von ihren (Macht-)Strukturen her genauso wie von ihren inhaltlichen Positionen und der Strategie, gegen die Welt von oben anzutreten, anstatt nur deren Begleitmusik zu sein.

B. Perspektiven

1. Emanzipatorische Positionen benennen und erkämpfen

(18) Die gesellschaftliche Diskussion ist geprägt von dem Bemühen um Konsens, Zugehörigkeit zur politischen Mitte und Angst vor Radikalität. Politische Forderungen, die vom Status Quo stark abweichen, werden kaum noch benannt. Politik ist oft nur das Ringen um Minimalveränderungen oder Stillstand. Innerhalb reformistischer Gruppen gibt es nicht nur den Hang zu Reformen statt grundlegende Forderungen zu vertreten, sondern eine Vorliebe für ganz kleine Reformen, die niemandem wehtun und daher auch niemanden verprellen.

(19) Ohne radikale Positionen, die gerade wegen ihrer Radikalität faszinieren und provozieren, ist politisch jedoch kaum etwas zu bewegen. Was sich von der Realität oder von den Konzepten derer, die die politische oder wirtschaftliche Macht haben, nur in wenigen Punkten unterscheidet, ist langweilig und demotivierend. Warum sollen sich Menschen für etwas interessieren oder gar engagieren, was ganz ähnlich ohnehin kommt? Daher ist es wichtig, wieder klare Positionen zu benennen, grundlegend "Nein" zu sagen, Widerstand zu organisieren und grundlegend abweichende Vorschläge und Visionen zu benennen. Wer gesellschaftliche Veränderung will, muß sich der Realität kämpferisch stellen, muß unterscheidbar sein von dem, was ist oder seitens derer, die Gesellschaft augenblicklich gestalten, als Zukunft benannt wird. Gesellschaftliche Auseinandersetzung braucht Menschen und Gruppen, die von den aktuell Mächtigen ausgegrenzt, als "Spinner" betitelt oder gar bekämpft werden. Emanzipatorische Politik stellt Herrschaft in Frage, grundlegend. Sie ist nicht integrierbar in Machtspielchen, daher muß sie zwangsläufig auf die Gegenwehr derer treffen, die aktuell Herrschaft ausüben oder vertreten (Medien).

(20) Emanzipatorische Politik will nicht ein bißchen mehr Gerechtigkeit, ein bißchen mehr Gleichberechtigung, ein bißchen mehr Mit- oder Selbstbestimmung, sondern sie will es ganz. Ohne Abstriche. Werden Teilverbesserungen durchgesetzt, sind sie zu kennzeichnen als Schritte auf dem Weg nach mehr. Erfolgsmeldungen sind sinnvoll, wenn das Ganze erreicht ist oder wenn sie sich auf Teilschritte beschränken - als Teilerfolg. Das Ganze wird gefordert, auch in den Debatten um die Teilschritte. Teilschritte sind nie das Ziel, sondern der Weg dahin - als solche aber sinnvoll. {"Das Ganze" ist ein Prozeß. Emanzipation ist nie zuende.}

2. Vielfältige, selbstorganisierte Aktionskonzepte durch- und umsetzen

(21) Horizontale Vernetzung heißt das Zauberwort. Sie bedeutet, daß Kommunikationsstrukturen, Aktionsplanungen usw. nicht mehr in hierarchischen Strukturen erfolgen, sondern aus einem gleichberechtigten Nebeneinander von Ideen und Aktivitäten besteht. Alles, was läuft, wird aus den tatsächlich agierenden Gruppen und Zusammenhängen, aus neu initiierten Arbeitsgruppen usw. heraus entwickelt, ohne daß irgendeine dieser Gruppen wichtiger ist als andere.

(22) Als Beispiel sei die Anti-Atom-Bewegung angeführt. Das beste und wertvollste, was dort entwickelt und dann breit akzeptiert wurde, war das Konzept einer Aktionsvielfalt ("Streckenkonzept"), nach dem verschiedene Gruppen die ihnen liegenden Aktionsformen unabhängig voneinander umsetzen konnten. Niemand plant für alle mit, niemand schwingt sich auf, Führungselite für die Bewegung oder eine Aktion zu sein. Genau das hat die Stärke der Anti-Castor-Aktionen ausgemacht. Die Aktionen in Köln im Sommer 1999 waren genau das Gegenteil: Peinlich genau wurde darauf geachtet, daß alles zentral in der Hand der jeweiligen Organisationsleitung lag. Bei den Anti-Castor-Aktionen gingen vorher genaue Landkarten und Hinweise über Telefonnummern, Anfahrtsmöglichkeiten von allen Seiten und zu allen möglichen Ort rum. Aber in Köln - nichts dergleichen. {In Köln gab es 1999 zwei Bündnisse, eines von NGOs und eines von linksradikalen Gruppen. Beide waren von Führungszirkeln dominiert, z.T. stützten diese sich sogar über die Grenzen der beiden Bündnisse hinweg in ihrem Erhalt der jeweiligen Macht.} Zentralistische Organisation. Die Demo-Teil-nehmerInnen waren nur die Masse, die für den eigenen Medienerfolg (der dann auch noch ausblieb ...) oder als StatistInnen für die zentral ausgewählten Redebeiträge nötig waren.

(23) Ein Konzept der dezentral organisierten, aber dennoch vernetzten Aktionen muß im politischen Raum durchgesetzt werden - es muß möglich werden, solche Aktionsfor- men gegen die zentralistisch agierenden Verbände u. ä. zu verwirklichen oder auch ohne sie.

(24) Beispiel: Im Expo-Widerstand wurde horizontale Vernetzung versucht - mit Teilerfolgen. Zentrale Strukturen wurden gemieden, alle Aktivitäten gingen aus konkreten Gruppen und Projekten hervor. Dadurch entstand eine Vielfalt und Unberechenbarkeit. Allerdings blieben oder entstanden Unterschiede zwischen denen, die viel machten und intensiv an den Kommunikationsstrukturen teilnahmen und denen, die sich nur begrenzt einbrachten. Konflikte zwischen den dominanteren Gruppen um Aktionsformen und Arbeitsstrategien beeinträchtigten den Gesamtzusammenhang.

3. Autonomie aller Teile des Ganzen

(25) {Autonomie} Eine emanzipatorische Bewegung kann nur eine "Bewegung von unten" sein, in der die konkreten Zusammenhänge und in ihnen wiederum die Teilgruppen bis hin zu den einzelnen Menschen die entscheidenden Teile, also die Subjekte politischer Arbeit sind. Alle zentralen Gremien haben Initiativ- und Koordinationsfunktion, aber auch dieses wiederum nur aufgrund der Beteiligung konkreter Personen und autonomer, d.h. unabhängiger, selbstbestimmter Gruppen und Projekte. In der konkreten Arbeit bedeutet das, daß die sich für eine konkrete Aktivität zusammenfindende Gruppe auch die Entscheidungsgewalt über ihre Aktivität hat. Gerade weil sie die hat, vergrößert sich dann auch die Chance, daß sie ihre Handlungen innerhalb von Vernetzungen transparent macht - es geht ja nicht um Machtkampf, Abstimmungen oder ähnliches. Plena und übergeordnete Vernetzungen stimmen nur über das ab, was auch alle zusammen betreiben - und das ist im Idealfall nichts mehr. Die Autonomie der Teilgruppen des Ganzen muß sich auf alle Bereiche beziehen, von der materiellen Selbständigkeit bis zum Auftreten in der Öffentlichkeit. Alle Gruppen sind autonom alle treten folgerichtig aber auch nur für sich selbst auf, nicht für etwas Ganzes, was ohnehin meist konstruiert und von der Existenz von Führungsgremien (gewählt oder informell) abhängig ist.

4. Autonome Strukturen aufbauen

(26) Aktions- und Kommunikationsstrukturen für jede Aktion neu aufzubauen, wäre anstrengend und dumm. Daher ist es sinnvoll, autonome, d.h. selbstorganisierte und unabhängige Struktur zu schaffen, die neben den jeweils zu Aktionen aufgebauten Arbeits- und Vernetzungsstrukturen dauerhaft nutzbar sind.

(27) Orte, Plätze, Zentren: Politische Freiräume braucht das Land! Infoläden, Projektwerkstätten, Wagenplätze, Kommunen usw. sind wichtig - wenn sie sich denn als politische Plattform begreifen und nicht nur als Rückzugsidylle, Fetenraum und/oder als Ort maximaler Anpassung an den Staat oder seine finanziellen Förderstrukturen. Doch die Wirklichkeit ist katastrophal: Selbst die meisten autonomen Zentren gehören dem Staat oder der Stadt. Dieser Zustand spiegelt wieder, wie weit entwickelt das strategische Potential autonomer politischer Bewegung ist. Wo Wagenplätze oder Zentren in Gefahr sind, wird nach "Mami/Papi Staat" gerufen, etwas Neues zu geben. Die Teile politische Bewegung müssen stattdessen eigene, unabhängige Plätze schaffen - durch (kollektives) Eigentum oder durch politisch motivierte Besetzungsaktionen.
Wo solche Plätze bestehen, müssen sie auch Aktionsplattform sein für die politische Arbeit. Rein private Häuser oder Plätze sind privat und damit nicht-politisch - egal ob sie von BänkerInnen oder Anarcha/os bewohnt werden! Das Private ist wichtig, aber es ist nicht politisch!
Es muß das Anliegen sein, an unabhängigen Orten Arbeitsmöglichkeiten für politische Gruppen, selbstorganisierte Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit usw. zu schaffen: Medienwerkstätten, Bibliotheken und Archive, technische Infrastruktur, Werkstätten und mehr in jeden Ort!
Durch geschickte Formen kollektiver Verfügungsgewalt über die politischen Räume müssen diese auf Dauer vor Privatisierung und Kommerzialisierung geschützt sein - also auch vor denen, die ein Projekt aufbauen und zunächst tragen ("uns selbst"), da davon auszugehen ist, daß fast jedeR AkteurIn in politischen Gruppen zu der Mehrheit politisch Aktiver gehört, die sich nach einiger Zeit politischer Arbeit etablieren und dann das mit politischen Zielen Geschaffene für die eigene Lebensidylle bzw. -absicherung nutzen wollen. {Noch im Jahr 2000 soll eine Stiftung mit Namen "FreiRäume" gegründet werden, um unabhängiges Eigentum an Häusern und Plätzen für selbstorganisierte Politik zu sichern. Kontakt: Institut für Ökologie, Turmstr. 14a, 23843 Bad Oldesloe, institut@inihaus.de}

(28) Medien und Veranstaltungen: Der inzwischen fast abgeschlossene Niedergang selbstorganisierter Medien nimmt wichtige Möglichkeiten der Einflußnahme auf das gesellschaftliche Geschehen. Als Alternativen bleiben nur noch die Anbiederung an die bürgerliche Presse (deren Ausrichtung der Krieg gegen Jugoslawien nicht veränderte, wohl aber mal wieder besonders deutlich machte!) oder der Rückzug in eine Nische ohne Wahrnehmung von außen.
Dabei ist unsere Gesellschaft eine Mediengesellschaft. Viele grundlegende Ideen lassen sich nicht auf Spucki oder Plakat unterbringen. {Spucki = Aufkleber zum Anlecken} Daher müssen wir wieder eigene Zeitungen, Radioprojekte (selbstorganisiert und politisch), Internetplattformen (gerade im Sinne einer interaktiven Öffentlichkeitsarbeit) und auch Bildungsarbeit organisieren - von Einzelveranstaltungen bis zu Ideen wie Volkshochschulen von unten u.ä.
Auch bei Aktionen können zeitlich befristete Zeitungen oder ein Piratensender bzw. ein Kanal im vorhandenen Radio sinnvoll sein. Es gibt solche guten Ideen längst - aber viele bekommen es nicht mit!

(29) Betriebe, Verlage usw.: Was für Medien gilt, kann auch für Betriebe im allgemeinen gelten - von Verlagen über Kneipen bis zum Kino. Besonders selbstverwaltete Betriebe sollten als politische Plattform begriffen werden. In vielen Kommunen oder ähnlichen Projekten dienten Betriebe zu Anfang vor allem der finanziellen Absicherung der AkteurInnen und Projekte. Nur wenige Jahre später waren sie kommerzielle Einheiten zum allein privaten Nutzen. Teil einer politischen Bewegung aber sind Betriebe nur dort, wo sie ein politisches Ziel (Bildungs- oder Öffentlichkeitsarbeit, Bau von Aktionsmaterial, Renovierung von Häusern oder Wägen, Kommunikation usw.) verfolgen.

(30) Kommunikation und Vernetzung: Welche Vernetzung existiert? Krampfhaft werden meist einige, bundesweit nur in Teilen der bewegung bedeutsame Zeitungen erwähnt (Infodienste, Interim, früher auch radikal usw.), wenn die Frage darauf kommt. Aber es gibt nur wenige Versuche, solche Magazine breiter anzulegen, viele zu erreichen. Im Antifa-Bereich gibt es einige qualitativ hochwerige Vernetzungsblätter, im Umweltbereich seit kurzem die "Ö-Punkte" mit der Besonderheit einer Rubrik, die über Nicht-Umweltthemen informiert, um einen Austausch zu gewährleisten. In vielen Themen findet sich dagegen nichts. Übergreifende Telefonketten: Fehlanzeige. Vernetzung zwischen Wagenplätzen, Infoläden und anderen Häusern: Schwach. Gegenseitige Hilfe oder Aufbau gemeinsamer Strukturen: Kaum. Übergreifende politisch-strategische Debatte: Null.
Informationsaustausch ist eine wichtige Grundlage strategischer Arbeit. Ihn zu schaffen, ist ein wichtiges Ziel. Dabei wird es, auch hier nach dem Konzept der selbstorganisierten Vielfalt, verschiedene Wege geben. Im Optimalfall ist das Geflecht von Zeitungen, Email-Vernetzung, Telefonketten, Rundbriefen usw. aber durchschaubar und jede Gruppe und Einzelperson kann sich dort einbringen, wo es ihr am sinnvollsten erscheint.
Möglichkeiten der Koordination (auch hier muß es die Vielfalt der Selbstorganisation bringen): Rundbriefe und Magazine, Adreßbüchlein, Kalenderprojekt(e), Treffen, Internetprojekte, Tausch und gegenseitige Besuche u.ä. Einiges gibt es schon und könnte weiterentwickelt werden - aber bislang sind fast alles Nischenprodukte, jede "Szene" {= informeller Zusammenhang zwischen Gruppen z.B. mit ähnlichen Themen oder Aktionsformen.} bedient nur sich selbst. {Etliche "linke" Zeitungsporojekte begreifen sich gar nicht als Teil politischer Bewegung, sondern verhalten sich gegenüber den AkteurInnen arrogant und herablassend. Statt Strategiedebatten mitzuentwickeln, kommentieren sie von außen besserwisserisch die Aktivitäten.}

5. Lebensperspektiven für die Einzelnen entwickeln

(31) Autonome Wohnprojekte sind meist nichts anderes als unverbindliche WGs, die ökonomisch von der Substanz der Orte, vom Überfluß der Gesellschaft oder, am häufigsten, aus ganz normalen Quellen gespeist werden: Eltern, BaFöG, Staatszuschüsse, Maloche oder Sozialamt. {Maloche = niedrigrangige Arbeit ohne eigene Mitbestimmung am Arbeitsprozeß} Solange aber für die einzelnen Menschen keine Perspektive besteht, das eigene Leben selbst zu organisieren, bleiben die Zwänge des Alltags ein wichtiger Grund für das ständige Wegetablieren der ehemals politisch Aktiven.

(32) Stattdessen müssen autonome Wohn- und Lebensformen entstehen, die die einzelnen Menschen herauslösen aus den Zwängen der Normalität und ihnen damit erst die Freiheit geben, gutes Leben, politisches Engagement und das Ausprobieren alternativer, u.a. herrschaftsfreier Zusammenlebensformen zu verbinden. Die bisherigen Versuche (Kommunen, Ökodörfer, Öko-WGs, Wagenplätze usw.) konnten den Prozeß des Etablierens nicht aufhalten, damit zunehmendem Alter von Personen und Gruppen der Hang zu Absicherungen, mehr Luxus und Einnischung in der Normalität nicht durch ein positives Gegenmodell aufgehoben wurde. {Einnischung = Sich einen Platz suchen und dort verharren. Der Begriff stammt aus der Ökologie und meint den Ort und die Rolle, den ein Tier oder eine Pflanze einnimmt.} Hier gilt es, eine strategische Debatte zu führen. Alternative Lebensprojekte müssen Willen und Fähigkeit der Einzelnen zur Auseinandersetzung mit der Gesellschaft erhöhen und selbst Plattform dazu sein. Dumpfe Rückzugsprojekte, legitimiert über "unsere Existenz ist politisch", "echte Veränderung kommt von innen" oder den Glauben an spirituelle bis esoterische Kräfte, sind entpolitisierend und befrieden kritisches Potential. Nötig sind Projekte, die Gegenmodelle darstellen, sich öffentlich zeigen und reiben an der Realität, sich selbst als politische Speerspitze einer Veränderung und Teil politischer Bewegung begreifen - und trotzdem nicht eine unverbindliche WG ohne langfristige Perspektive für die Einzelnen sind, wo es sich für die paar Jahre der Unzufriedenheits- vor der Etablierungsphase aushalten läßt, aber mehr auch nicht.

(33) Hinzukommen muß eine ökonomische Basis, die auch dauerhaft ein Gefühl der Sicherheit verschafft. Sonst werden die vorgegebenen, gesellschaftlichen Sicherungssysteme von vielen Menschen bevorzugt werden. Die konkrete Freiheit, d.h. das Aus- brechen aus den ständigen ökonomischen Zwängen kann nur im Projekt oder als Kooperative (gemeinsame Ökonomie, Gemeinschaftseigentum oder intensives Tausch- und Gemeinschaftsnutzungssystem zwischen Einzelpersonen und/oder Projekten) und nur dann entstehen, wenn diese sich weitgehend aus den Marktlogiken auskoppeln und andere Formen der Reproduktion aufbauen. Dauerhafte Sicherheit kann es in Form der Beteiligung an existenzsichernden Eigentumsaufteilungen, z.B. an Gebäu- den oder Boden geben, aber auch an gemeinsamen Fonds der Geldanlage, die eine langfristige Rendite im herkömmlichen Sinne ermöglichen - bei aller Problematik der Geldwirtschaft. Nähere Infos zu Politk und Kommunen siehe Herrmann, 1999. {Ein Beispiel für Absicherungen ist das Anlegen von Geld in Windkraftanlagen, aus deren Stromverkauf dann auch dauerhaft Erlöse kommen - selbst dann, wenn die eigene Erwerbskraft eingeschränkt ist.}

6. In bestehende politische Bewegung einmischen

(34) Aktionen, Zeitschriften, Veranstaltungen und mehr sind Teil der politischen Arbeit. Emanzipatorische Positionen haben fast überall ein Schattendasein. Nur selten kümmern sich Menschen schon in der Vorbereitungsphase darum, daß Aktionen, Zeitschriften, Veranstaltungen u. ä. emanzipatorisch und nach Autonomiegesichtspunkten (Selbstorganisation, Unabhängigkeit usw.) organisiert werden. Autonome Strategien und emanzipatorische Inhalte sind es wert, prägend zu sein für politische Bewegung und sich als durchsetzungsfähig gegenüber reformistischen bis kapitalismusbefürwortenden Positionen, vor allem aber gegenüber herkömmlich-hierarchischen Organisationsmodellen in Bündnissen zu erweisen. Die Zeit muß vorbei sein, in der sich etablierte Organisationsspitzen von NGOs oder Einzelpersonen, oft mit Parteibüchern in der Tasche, als Bewegung ausgaben und Schröder, Daimler & Co. als ihre GesprächspartnerInnen über die Zukunft der Welt ansahen. Dafür aber müssen sich selbstorganisierte Gruppen offensiv in die politischen Zusammenhänge, Medien, Netzwerke und Aktionen einmischen, um ihre Vorstellungen politischer Organisation dort einzubringen und auch gegenüber Zentralisierungs- und Hierarchisierungsversuchen durchzusetzen.

7. In gesellschaftliche Prozesse einmischen

(35) Emanzipatorische Politik steht heute sehr stark am Rande der Gesellschaft und ist kaum noch wahrnehmbar. Schuld daran sind die Menschen, die eine solche Politik wollen und vertreten, auch selbst. Sie ziehen sich seit Jahren mehr aus der öffentlichen Debatte zurück und schmoren im eigenen Saft. Der Wille zur inhaltlichen Konsequenz wird nicht so umgesetzt, daß emanzipatorische Ziele immer klar und unmißverständlich formuliert werden, sondern es wird vor allem darauf geachtet, daß der Rahmen und die VeranstalterInnen z.B. von Diskussionen die politisch "richtige" Meinung haben ("pc" sind). {"pc"= Abk. von "political correctness. Ein in politischen Bewegungen gebräuchlicher Begriff und meint eine Verregelung des Alltagsverhaltens in politischen Zusammenhängen aufgrund von Erwartungshaltungen. Der Begriff wird inzwischen auch mit konservativen Ideen genutzt.} Diese Strategie hat zur Folge, daß emanzipatorische Ideen zur Zeit nur innerhalb einer kleinen Szene überzeugter Menschen diskutiert oder verbreitet werden. In dem bedeutend größeren Teil etablierter Bewegungen und Organisationen, erst recht in der Normalität der Gesellschaft, auch in ihren Bildungs- und Diskussionskreisen (Schulen, Hochschulen, Volkshochschulen, Verbänden und Vereinen, Bildungszentren, Medien usw.) gibt es die Themen Herrschaft, Ausbeutung usw. nicht. Es wirkt fast, also hätten Menschen mit emanzipatorischen Ideen Angst, sich der Realität zu stellen und für ihre Ideen zu kämpfen. Oder fürchten sie um ihre sozialen Beziehungen in der "Normalität", in der die meisten von ihnen auch existieren wollen (Freundschaften, Job, Hobbies, NachbarInnenschaft usw.) ?

(36) Emanzipatorische Politik muß aus der Isolation befreit werden. Dafür ist nicht notwendig, daß Inhalte oder Positionen aufgegeben werden. Es ist keine Anbiederung, auf einer Veranstaltung, die nicht selbst emanzipatorische Ziele hat, aber die Formulierung solcher zuläßt, für die eigenen Positionen zu kämpfen. Politischer Verrat geschieht erst dann, wenn Verhaltensweisen oder inhaltliche Positionen zwecks besserer Akzeptanz, Etablierung oder Anbiederung verändert werden. Notwendig ist aber, radikale, emanzipatorische Politikinhalte und Aktionsformen an vielen Orten dieser Gesellschaft offensiv einzubringen - und sich auch offen zu zeigen als Gruppe, Projekt, Kommune o. ä. , die bewußt und sichtbar für eine Welt von unten eintritt. Kein Stammtisch, kein Podium, keine Vorlesung, kein Seminar, kein Betrieb oder Büro, keine Schulstunde, keine WG oder Familie und kein anderer Ort ist zu schade für eine Debatte für eine Welt von unten. Wer anders agiert, isoliert sich im eigenen Saft und hat auch ein falsches Verständnis einer Welt von unten - denn "unten" sind sicher nicht die selbstisolierten, oft beruflich gut gestellten linken Theoriekreise.

(37) Die Menschen, die emanzipatorische Politik vertreten wollen, sollten sich in Veranstaltungen, Kongresse, Diskussionen und auf den Podien einmischen, wo über zukünftige Strategien geredet wird. Diese Plattformen sind gute Gelegenheiten, die Dominanz der kapitalismuskompatiblen Politikkonzepte der Marken Humanität, Nachhaltigkeit, Agenda oder Bündnis für Arbeit zu brechen. Nicht die anderen Personen auf den Podien oder die VeranstalterInnen sind unsere Zielgruppe (Kritik an ihnen kann daher auch kein Grund der Verweigerung von Debatten sein!), sondern die Menschen, die zu solchen Veranstaltungen kommen. Sie der "anderen Seite" zu überlassen, ist schlicht dumm!

8. Modelle und Kristallisationspunkte schaffen

(38) Kaum eine politische Idee wird ohne einen Bezug auf eine Symbolik durchsetzungsfähig sein. Symbole für Unterdrückung, Ausbeutung, Umweltzerstörung usw. können der Aufhänger für die Kritik am Bestehenden sein. Ebenso dienen Symbole für emanzipatorische Ziele und Modelle dem Entwurf neuer Ideen, Konzepte oder Visionen. Im Einzelfall gibt es sogar Symboliken, die beides beinhalten: Widerstand und neue Ziele. Alle Symbole haben vielfache Bedeutung für die politische Arbeit:

(39) Beispiele für solche Modelle und Kristallisationspunkte können die besonderen Symbole von Herrschaft und Ausbeutung sein (Knäste, SpitzenpolitikerInnen-Gipfel, thematisch passende Veranstaltungen, Wahlen, großtechnische Baustellen oder Objekte, Expo 2000). Ebenso können es positive Modelle sein, also Visionen oder alternative Projekte mit politischen Zielen und als ein Kern politischer Bewegung. Solche gemeinsamen Aktionen ersetzen nicht die weiter notwendigen Ein-Punkt-/Ein-Themen-Gruppen und -Initiativen, bieten aber die Chance zum gemeinsamen Agieren - beides zusammen ergibt die sinnvolle Mischung. {Beim Widerstand gegen die Expo 2000 gelang es nicht, das Symbol auch so zu demaskieren, daß die eigentliche politische Stoßrichtung erkennbar wurde. Diese richtete sich gegen den auf der Expo beworbenen Kapitalismus als Ganzes.}

9. Emanzipatorische Verhältnisse durch unmittelbare Intervention schaffen

(40) Der Abbau von Herrschaft und Verwertungslogik muß immer und überall Bestandteil und weitergehendes Gesamtziel politischer Arbeit sein. Die politischen Gruppen, Projekte usw. sind selbst Teil der Gesellschaft - noch dazu ein unmittelbar beeinflußbarer. Konsequente emanzipatorische Binnenverhältnisse herzustellen, ist daher wichtiges Element des politischen Engagements. Hierzu zählen der Abbau aller formalen Dominanzstrukturen von Vorständen bis zu unterschiedlichen Zugriffsrechten auf die gemeinsamen Ressourcen (Wissen, Geld, Materialien, Räume, Kontakte usw.) sowie der Kampf gegen jede Form der Diskriminierung, sei sie sexistischer oder rassistischer Art, der Ausgrenzung von sogenannten Behinderten oder der Bevormundung bis Unterdrückung von Kindern und Jugendlichen. Alle diese Arten von Diskriminierung sind auch in politischen Gruppen überall anzutreffen. Der bisherige Umgang damit war in der Sache bisher meist wirkungslos und vom Ziel her verfehlt. In der Regel ging es nicht um den Abbau der Diskriminierung, sondern nur um Machtverschiebungen, neue Definitionsgewalten oder die Denunziation mißliebiger Personen. Das wird auch darin sichtbar, daß in den meisten politischen Gruppen nur solche Arten von Diskriminierung diskutiert werden, deren Opfer selbst vertreten sind und daher ein reales Interesse an dieser Debatte einbringen. So sind antisexistische und anti- rassistische Diskussionen und Verregelungen inzwischen weit verbreitet, während so- genannte Behinderte und AusländerInnen meist fehlen. Am auffälligsten ist der Um- gang mit Kindern und Jugendlichen, der fast überall ganz durchschnittlichen gesell- schaftlichen Gepflogenheiten entspricht. {Zum Umgang mit Diskriminierungen siehe Kapitel 3.2, Punkt C.}

(41) Ein Ende der Diskriminierung ist über Verregelungen und neue Machtpositionen nicht zu erzielen. Stattdessen müssen auch in diesem Fall die Menschen selbst zu den AkteurInnen werden. Dieses bewußt und jeden Menschen zum Mittelpunkt des Handelns zu machen, ist das Ziel der Debatte. Es gilt, aufmerksam zu werden für die Formen der Unterdrückung und Diskriminierung, zudem ist unmittelbares, d.h. sofortiges und von konkreten Personen durchgeführtes Handeln im Sinne einer Intervention erforderlich. Das Ende der Diskriminierung kann nur dann erreicht werden, wenn alle Menschen als Einzelne begreifen, daß sie es sind, auf die es ankommt. Diese Verantwortung kann nicht auf Gruppenstrukturen, Regeln oder Plena verlagert werden - wie es bislang regelmäßig der Fall ist. Sexistische, rassistische oder sonstige Übergriffe, die ständige Bevormundung und Zurechtweisung von Kindern, die Ausgrenzung von sogenannten Behinderten oder weniger intellektuell auftretender Menschen müssen sofort angegriffen werden. Dieser "Angriff" muß nicht eine Tätlichkeit sein, sondern viel mehr die klare Intervention, das Sich-selbst-Positionieren der einzelnen Menschen gegenüber dem diskriminierenden Verhalten - statt dem Wegsehen, statt dem Verlagern von Verantwortung auf übergeordnete Strukturen als Stellvertreter. Ebenso muß klar sein, daß nicht die Person, sondern das diskriminierende Verhalten Ziel des Angriffs ist.

10. Offene und direkte Streitkultur statt Harmonie und Gruppenidentität

(42) Ohne offene und direkte, d.h. intersubjektive Beziehungen gleichberechtigter PartnerInnen kann eine politische Bewegung oder ein Projekt nicht die Selbstentfaltung der Einzelnen fördern. Streit dient dann, wenn die Menschen und nicht der Selbstzweck der Gruppe im Vordergrund stehen, nicht der Ausgrenzung anderer oder dem Aufbau von Macht, sondern dem gemeinsamen Ringen um das Wohlbefinden und die Gleichberechtigung der Einzelnen, der Vielfalt der Ideen, der Weiterentwicklung von Positionen und der Qualität der eigenen Strategien. So wie die konkreten Aktionsmethoden zwischen den AkteurInnen unterschiedlich sind, gleichzeitig daher zugelassen wie auch offen und kritisch diskutiert werden, sind es auch die Verhaltensweisen im Streit. Gemeinsames Ziel muß sein, Streit als Ringen um Positionen und Strategien zu fördern und so zu gestalten, daß einerseits Dominanzkämpfe und Ausgrenzungen, andererseits aber auch unklare Verhältnisse aufgrund eines harmonisierenden Gruppendrucks vermieden werden. Gegenstand des Streites sind Abläufe, Rahmenbedingungen, Strategien, Verhältnisse, nicht Personen. So lassen sich emanzipatorische Positionen klären, erstreiten, beschreiben, in Veröffentlichungen und Aktionen verdeutlichen, niemals aber durch das Ausgrenzen von Menschen.

(43) Die einzelnen Menschen müssen die Träger der politischen Aktivität und die AkteurInnen in der politischen Arbeit sein - von der Entwicklung der Ideen bis zur Umsetzung und Nachbereitung - und nicht die Gruppe!

11. Die Debatte anzetteln

(44) Eine Debatte um Strategien muß selbstkritisch sein, d.h. schonungslos aus eigenen Erfolgen und Fehlern lernend. Sie kann und sollte aus den Erfahrungen aus den vielen Jahren selbstorganisierter politischer Arbeit schöpfen, aber nicht daran kleben. Die autonome Politik hat zur Zeit nicht nur gegenüber der herrschenden Politik und Normalität das Nachsehen, sondern auch gegenüber der Art nichtautonomer politischer Arbeit, wie sie von den etablierten, meist staats- und oft wirtschaftsnahen Verbänden (neudeutsch: NGOs) betrieben wird.

(45) Autonomie bzw. Selbstorganisation ist aber nicht gleichbedeutend mit dem Wegbleiben von Strategie - genausowenig wie Anarchie nur das Wegfallen des Staates und das Heraufkommen völliger Unorganisiertheit bedeutet. Ganz im Gegenteil: Eine politische Autonomie besteht erst dann, wenn sie sich organisiert, denn "allein machen sie dich ein"! Politischer Widerstand braucht eine wirkliche Qualität, die wehrhaft ist gegen Repression, Abhängigkeiten und Einverleibung, die Alternativen bietet zu den Wegen der Normalität (auch der normal-etablierten politischen Arbeit z.B. der NGOs). Autonome Politik ist nicht nur ein Inhalt, sondern auch eine Strategie. Und sie hat nur dann eine Existenzberechtigung, wenn sie die bessere ist, also der wirksamere Weg, die Von-oben-Gesellschaft in Richtung einer Welt von unten, d.h. mit emanzipatorischen Zielen zu verändern. Die Existenz politischer Gruppen als Selbstzweck kann und darf es nicht geben. Notwendig ist die Entwicklung einer Strategie, die den Aufbau von Infrastruktur, Kommunikationsformen und Aktionsfähigkeit beinhaltet und eigene Wege in die Öffentlichkeit, Modelle und Kristallisationspunkte, ökonomische Absicherungen, Solidarität und Perspektiven für die einzelnen AkteurInnen schafft.

12. Kontinuierliche Diskussionsprozesse schaffen

(46) Politische Aktivität orientiert sich meist an zeitlich beschränkten Anlässen. Strategie- und politische Diskussionen beginnen, wenn sie überhaupt laufen, ständig neu. Auswertungen und Weiterentwicklung unterbleiben so meist. Durch die AkterInnen politischer Gruppen muß ein über Teilbereichsbewegungen hinweg reichender, dauernder [Vernetzung] Diskussionprozeß zu Strategien, Zielen und Positionen politischer Arbeit geschaffen werden. Treffen, Internetprojekte, kontinuierlich weiterentwickelte Positionspapiere und Veröffentlichungen, Austausch über bestehende Magazine, Seminare und mehr können Bausteine dieses Prozesses sein. {Vernetzung}

C. Beispiele

(47) Die folgenden Beispiele sollen aktuelle Bewegungen dokumentieren, die sich um einen emanzipatorischen Stil bemühen - nach außen in ihren Positionen sowie nach innen in ihren Strukturen. Wenig Anlaß gibt es bisher zum Jubel, denn die Umsetzung ist zäh. Sie scheitert nicht nur an den repressiven Rahmenbedingungen, sondern auch an den Menschen, die ihre Erfahrungen und sozialen Verhaltensweisen aus der Verwertungsgesellschaft in die politische Arbeit mitbringen - und an der Erstarrung politischer Bewegung, die oftmals nicht in der Lage ist, sich von alten, überkommenen Strategien und Strukturen zu lösen.

People's Gobal Action: Internationaler Widerstand

(48) PGA ist ein internationales Netzwerk von Aktionsgruppen. Es entstand auf Initiative u.a. der mexikanischen Zapatistas, die einen revolutionären, teilweise auch bewaffneten Kampf führen, um Herrschaftsverhältnisse abzubauen und den Menschen wieder den Freiraum zu erkämpfen, sich selbst zu organisieren. Diese Auseinandersetzung unterscheidet sich daher grundlegend von anderen Aufständen, weil es hier nicht um die Frage "Wer hat die Macht?", sondern "Gibt es Macht?" geht. In den vergangenen Jahren ist von PGA die Initiative für weltweite Aktionstage gegen Neoliberalismus und Herrschaft ausgegangen, z.B. am 18.6.99 zum Weltwirtschaftsgipfel in Köln, am 30.11.99 zur WTO-Sitzung in Seattle und am 26.9.2000 zur IWF-Tagung in Prag. {Mehr Infos zu PGA unter http://www.apg.org}

(49) PGA versucht ein grundlegend dezentrales Konzept umzusetzen, in dem alle Aktivitäten nur von den Basis- und freien Projektzusammenhängen ausgehen, die sich frei bilden können. Die folgenden Texte sind Auszüge aus dem Grundsatzprogramm von People's Global Action. {Infos zur IWF-Tagung in Prag unter http://go.to/prag-2000}

Organisatorische Grundsätze von PGA

(50) Die folgenden Passagen sind Auszüge aus den organisatorischen Grundsätzen von Peoples Global Action, dem weltweiten Netz widerständiger, emanzipatorischer Gruppen. ... 2. Die Organisationsphilosophie von PGA basiert auf Dezentralisation und Autonomie. Aus diesem Grund gibt es nur minimale zentrale Strukturen. 3. Bei PGA gibt es keine Mitgliedschaft. 4. PGA ist keine juristische Person und wird auch keine werden. Sie wird in keinem Land legalisiert oder registriert werden. Keine Organisation und keine Person kann PGA repräsentieren ... 8. PGA besitzt keine eigenen finanziellen Mittel. Die Mittel, die benötigt werden, um die Konferenzen und die Informationsinstrumente zu bezahlen, müssen auf dezentrale Weise beschafft werden ... {Die Grundsätze werden kontinuierlich fortentwickelt.}

Grundsätze von PGA

(51) 1. Eine sehr deutliche Ablehnung der WTO und anderen Abkommen zur Handelsliberalisierung (wie beispielsweise APEC, EU, NAFTA etc.), welche die aktiven Anstifter einer sozial und ökologisch destruktiven Globalisierung verkörpern. 2. Wir lehnen alle Formen und Systeme der Herrschaft und Diskriminierung ab, einschließlich (aber nicht nur) des Patriarchats, des Rassismus, des religiösen Fundamentalismus aller Glaubensrichtungen. Wir achten die volle Würde aller Menschen. 3. Eine konfrontative Grundhaltung, da wir nicht annehmen, daß eine politische Lobbyauf derartig tendenziöse und undemokratische Organisationen, in denen das transnationale Kapital die reale Politik bestimmt, einen wesentlichen Einfluß nehmen kann. 4. Ein Aufruf zu gewaltfreiem zivilen Ungehorsam und dem Aufbau von lokalen Alternativen von ortsansässigen Menschen, als Antwort auf das Handeln von Regierungen und der Wirtschaftsunternehmen. 5. Eine Organisationsphilosophie, die auf Dezentralisation und Autonomie basiert.

Expo-Widerstand: Bewegung von unten

(52) Der Widerstand gegen die Expo 2000 war der Versuch, emanzipatorische Bewegung zu organisieren. Seit Ende 1997 fanden im Raum Hannover und einige Monate später auch in einem bundesweiten Netzwerk Debatten und Versuche statt, am Symbol der Expo, einer gigantischen Schau herrschaftsorientierter Technik und Zukunftsvisionen, emanzipatorische Gegenpositionen zu entwickeln und eigene Aktionsstrategien zu entwickeln, die nicht in die Fehler der Vergangenheit, d.h. in Anpassung und/oder zentralisierte Strukturen verfielen. Die Erfahrungen des Expo-Widerstandes sind es wert, hier analysiert zu werden. Fehler und Fortschritte können geeignet sein, Ausgangspunkt für mehr zu sein. {Auch dieses Buch wurde im Rahmen des Expo-Widerstandes und der Auseinandersetzung um Positionen und Visionen entwickelt.}

1. Anspruch

(53) Ausgangspunkt der Vernetzung verschiedener Gruppen mit dem gemeinsamen Ziel, die Expo anzugreifen, waren Überlegungen, eine widerständige Bewegung aufzubauen, gemeinsame Aktionsformen zu entwickeln und so "interventionsfähig" zu werden. So sollte der aktuellen gesellschaftlichen Situation ein Ende bereitet werden, die dadurch gekennzeichnet ist, daß die existierende Gesellschaftsform sowie die aus den dort herrschenden Kreisen entwickelten Zukunftsmodelle alternativenlos und damit auch unabänderlich erscheinen. {Die Expo wurde ausgewählt, da sie ein sichtbares Symbol für einen Widerstand gegen Herrschaft und Profitorientierung ist.}

Auszüge aus der Eröffnungsrede vom Josef Hierlmaier zum BUKO 22, 28.10.1999 in Hannover

(54) {Die folgenden Zitate stammen aus verschiedenen Gruppen und Zusammenhängen des Expo-Widerstandes und dokumentieren die Ziele und Strategien.} ...Die EXPO will mit diesen technokratischen Entwicklungsvorstellungen suggerieren, dass es hierzu keine Alternative gibt. Das "TINA"-Denken {TINA = There is no alternative} ist ein wesentlicher Bestandteil der EXPO. Die Botschaft lautet: Alles ist machbar, wenn nur alle mitmachen und die Konzepte der EXPO richtig und effektiv umsetzen. Dieses Denken entspricht dem Schröderschen Leitsatz: "Es gibt keine linke und rechte Wirtschaftspolitik, sondern nur eine gute oder schlechte." Alles ist also nur eine Frage des Handlings [Handling: Vorgehensweise], der Vermittlung und der Kommunikation. Die Macht- und Herrschaftsförmigkeit dieser Leitbilder und technokratischen Konzepte und des Marktes werden systematisch ausgeklammert ebenso wie die sozialen und patriarchalen Verhältnisse, die sich in diesen Vorstellungen materialisieren. Für jedes Problem gibt es diesem Denken zufolge eine Lösung. Wenn es keine Lösung gibt, gibt es auch kein Problem. Matthias Greffrath hat dieses "schröderische" Politikverständnis treffend charakterisiert. Wer "schrödert", schreibt er, "muß denken und verkörpern, dass kein Problem ist, wo keine Lösung winkt. Unaufhaltsam der Prozess, in dem eine Wirklichkeit, die zu korrigieren niemand die Macht spürt, nicht mehr gedacht wird." Damit hat er aber treffend ein Problem beschrieben, mit dem es eine herrschaftskritische Linke tagtäglich zu tun hat. Von vielen wird eine Wirklichkeit gar nicht mehr gedacht, weil sie nicht die Macht haben, diese Wirklichkeit zu verändern....

(55) Meines Erachtens besteht derzeit durchaus die Chance, dass unsere Kritik an diesen Leitbildern wieder stärker wahrgenommen und diskutiert wird. Es läßt sich nicht mehr ganz so leicht mit dem bereits erwähnten Argument punkten, man dürfe die NATO nicht dem Imperialismus und Militarismus überlassen. Wir sollten deshalb unsere herrschaftskritischen Aspekte offensiver in die Diskussion einbringen. Gerade die EXPO bietet sich dafür hervorragend an. Diese Kritik, von der ich hoffe, dass sie auf diesem Kongreß ["diesem Kongreß" meint den 22. BUKO, auf dem diese Rede gehalten wurde] noch konkretisiert wird, wird vielen nicht gefallen. Das ist jetzt schon abzusehen. Aber es lohnt sich, denn es gibt bei der EXPO viele Anknüpfungspunkte und Bündnismöglichkeiten. Denn das Unbehagen über den Gigantomanismus der EXPO - für die drei Sekunden Erkennungsmelodie wurden 400.000 DM hinausgepulvert - reicht weit bis in liberale Kreise und Medien hinein.... {Der Bundeskongreß entwicklungspolitischer Aktionsgruppen bot mit dem Kongreß eine Möglichkeit der inhaltlichen Debatte um Ziele des Expo-Widerstandes. Dafür sollte das Einführungsreferat einen Anstoß liefern. Leider setzte sich dieser Anstoß nur ungenügend um, in den Folgetagen entwickelte sich kaum eine Debatte um Strategie, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt im Anti-Expo-Widerstand selbst schon geführt wurde.}

(56) Wer sich in dieser Mikrophysik der Macht verliert, ist nicht mehr in der Lage eine Gegenmacht aufzubauen, die momentan bekanntlich ziemlich ohn- mächtig ist. Nichtsdestotrotz bleibt dieser Anspruch richtig, auch wenn wir wieder von ziemlich vorne anfangen müssen. Joachim Hirsch behauptet ..., dass die "außerparlamentarische Linke in einem Maße marginalisiert ist, wie seit den 50er Jahren nicht mehr." Die fehlenden Proteste gegen den Krieg und die mehr als mangelhafte Beteiligung bei den Demonstrationen gegen den G7-Gipfel bestätigen diese Einschätzung. Trotzdem muß eine herr- schaftskritische und emanzipatorische Linke immer wieder den Versuch star- ten, genau diese Gegenmacht zu organisieren. Denn Emanzipation wurde noch nie geschenkt, sondern sie war und ist immer Ergebnis sozialer Kämpfe...

Auszug aus einem Papier des Anti-Expo-Bündnisses TIPP-EX, 1998 in Hannover

(57) Die EXPO ist nicht "verantwortlich" für die beschriebenen Formen modernisierter Herrschaftssicherung. Die EXPO hat lediglich die Funktion, für diese 'neue Weltordnung' zu werben, Akzeptanz zu schaffen, die Weltsicht der Mächtigen in Millionen Hirnen zu verankern - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Großkonzerne und Regierungen präsentieren uns mit immensem Aufwand einen kompletten Zukunftsentwurf, der die verschiedenen Aspekte der herrschenden Politik in Zusammenhang setzt - einen Entwurf, der sämtliche gesellschaftliche Bereiche umfaßt. {Mehr Infos unter http://www.anti-expo-ag.de}

(58) Wir gehen davon aus, daß die EXPO nicht mehr zu verhindern ist, wie dies noch vor einigen Jahren als Ziel des radikalen EXPO-Widerstands formuliert worden ist. Es kann aber - in Anlehnung an eine Parole des Widerstandes gegen die EXPO ' 92 in Sevilla - darum gehen, die EXPO zu "demaskieren", ihre Herrschaftsfunktion deutlich zu machen und zu kritisieren.

(59) Über den Prozeß der Demaskierung erhoffen wir, zu einer neuen Orientierungen der Linken zu kommen. Ohne den Eindruck zu erwecken, daß die EXPO eine langersehnte Gelegenheit ist, denken wir doch, daß sich die EXPO aufgrund ihres allumfaßenden Anspruchs anbietet, daran eine Neuorientierung festzumachen, die über das Ereignis der Weltausstellung hinaus reicht. Direkte Angriffe auf die EXPO, allein um die Kosten dieser Veranstaltung in die Höhe zu treiben, scheinen angesichts des ohnehin vorprogrammierten Finanzdesasters eher wirkungslos zu sein. Aktionen sollten also vor allem zum Ziel haben, inhaltliche Positionen zu verdeutlichen.

(60) Die EXPO hat mit ihrem "Weltrettungsanspruch" und ihrer "Nachhaltigkeit" sehr viele Menschen einbeziehen können, nicht zuletzt aus dem Bereich der Umweltgruppen. Demaskieren der EXPO heißt dementsprechend, die Vereinnahmung deutlich zu machen. Wir lehnen die EXPO ohne "wenn" und "aber" ab. Wir sehen unsere Aufgabe u.a. darin, uns mit den sogenannten "Kritischen MitarbeiterInnen" auseinanderzusetzen und deutlich zu machen, daß jegliche noch so kritische Mitarbeit an der EXPO letztlich zur Akzeptanzschaffung der dort präsentierten Weltsicht führt.

(61) Diesem Spektakel inhaltlich etwas entgegenzusetzen, wird sicherlich nicht leicht werden. Es muß darum gehen, den gesellschaftlichen Gesamtentwurf mit seinen patriarchialen, rassistischen und kapitalistischen Verhältnissen grundlegend zu kritisieren, politisch aufzugreifen und anzugreifen. Dazu müssen u.E. Diskussionen beginnen, die den Vereinzelungstendenzen linker Gruppen und der mitunter mangelnden Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen entgegenwirken. Die EXPO bietet sich als gemeinsamer Anknüpfungspunkt für linke Gruppen aus völlig unterschiedlichen Teilbereichen an: feministische Gruppen, Initiativen gegen Gen- und Reproduktionstechnologie, Menschen aus der Internationalismusbewegung, antirassistische Gruppen, Umweltgruppen, Anti-AKW-Bewegung, AntiFa, antimilitaristische Zusammenhänge, Anti-Repressions-Gruppen u.v.a.m. Themen für gemeinsame Diskussionen hätten wir genug: Wie sind die zentralen Elemente des Herrschaftsmodells der Zukunft? Welche gemeinsamen Ursachen haben aktuelle Tendenzen, die sich in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen abzeichnen? Wo liegen die Gemeinsamkeiten unserer Kritik, was ist das gemeinsame "Linke" daran? Was unterscheidet unsere "linke" Weltsicht von der auf der EXPO präsentierten? Welche gemeinsame Perspektive linker Politik können wir in der Auseinandersetzung mit den Konzepten der Herrschenden entwickeln? Wie kommen wir aus der augenblicklichen Situation gesellschaftlicher Isolierung heraus, wie machen wir unsere Kritik am auf der EXPO präsentierten Zukunftsentwurf und unsere eigenen Vorstellungen eines anderen Gesellschaftssystems sichtbar? Welche Aktionsformen können wir uns konkret während der EXPO vorstellen, um unsere Kritik und unsere Positionen deutlich zu machen?

(62) Wir sind an einem solchen Prozeß gemeinsamer linker "Organisierung", der auch über das Jahr 2000 hinaus reicht, sehr interessiert. Organisierung soll auf keinen Fall heißen, daß wir irgendeine bundesweite Anti-EXPO-Organisation gründen wollen. Viel mehr schweben uns Formen der Zusammenarbeit vor, wie sie sich in den letzten Jahren für einzelne Bereiche z.B. im Rahmen der Kampagne "kein mensch ist illegal" oder der "Innen!Stadt! Aktion!" ergeben haben. {TIPP-EX war ein Bündnis von Gruppen aus Hannover und Umgebung mit dem Ziel, eine inhaltliche Position und sinnvolle Strategie für den Expo-Widerstand zu entwerfen, um nicht eine Einzelaktion durchzuführen ohne gesellschaftliche Bezüge. Das Papier schuf eine wichtige Grundlage für die überregionalen Anti-Expo-Aktivitäten und Diskussionen. Das hannoversche Bündnis selbst schaffte es aber nicht, aus dem formulierten Anspruch heraus selbst die Umsetzung wirksam voranzutreiben. Die Verknüpfung von Anspruch, Strategie und konkreter Praxis scheiterte - wie so oft in politischer Bewegung.}

Auszug aus dem Flugblatt "Kurzübersicht zum Expo-Widerstand"

(63) ...Die Expo ist aber nicht nur etwas abstossend Ekliges, sondern aus verschiedenen Gründen die wahrscheinlich beste Gelegenheit, einen Aufbau gesellschaftlicher Gegenbewegung an diesem Symbol zu versuchen, denn...

(64) Ziel des Expo-Widerstandes ist, die neoliberale Show zu einem Kristallisationspunkt emanzipatorischeren Widerstandes zu machen. Die Expo bildet dabei nur einen Anlaß, da sich dort die Ziele und Methoden kapitalistischer Herrschaftslogik deutlich zeigen - und angreifbar sind. Zusammen mit den globalen Aktionstagen, der 10-Jahre-Großdeutschland-Feier und anderen Anlässen rufen Gruppen aus verschiedenen Zusammenhängen dazu auf, an diesen Symbolen den Widerstand in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Aus den unterschiedlichen Blickwinkeln, bisher oft nur auf Ein-Punkt-Bezug beschränkt, soll die Expo dazu dienen, die Frage um die zukünftigen Gesellschaftsmodelle neu zu stellen. Die Durchökonomisieurng des Alltags, die Herrschaftsstrukturen - sie brauchen wieder eineN GegnerIn. Uns. Gegenmacht von unten.... {Das Flugblatt stammte aus der Projektwerkstatt in Reiskirchen-Saasen und faßte verschiedene andere zusammen. Es diente als Begleittext bei Anfragen, für VeranstalterInnen von Vorträgen und Diskussionen sowie für die Pressearbeit.}

(65) Insgesamt kursierte eine Vielzahl von Aufrufen, die Expo zu einem Symbol für den Widerstand insgesamt gegen die herrschenden Verhältnisse zu machen. Sie erreichten aber nur teilweise die politischen Zusammenhängen, vor allem die unorganisierten, radikalen Gruppen. Von den Verbänden wurde die Expo-Kritik gezielt unterdrückt, in der allgemeinen Öffentlichkeit wurde die Kritik an der Expo und die damit verbundene Kritik an den herrschenden Verhältnissen gar nicht thematisiert.

2. Der Weg

(66) Die in den zitierten Texten und Reden formulierten Ziele für den Expo-Widerstand wurden auf verschiedenen Wegen verfolgt. Neben der bundesweiten Vernetzung mit den am Schluß ca. monatlichen Treffen entstanden in ca. 20 Regionen eigenständige Zusammenhänge, die überwiegend ebenfalls zum einen die Expo als konkreten Bezugspunkt von Widerstand, zum anderen aber auch allgemein Bewegungsstrategien und Projekte auch in den Regionen diskutierten. Die folgenden Auszüge aus einem Kritikpapier zum ersten Nachbereitungstreffen nach der Anti-Expo-Aktionswoche dokumentieren schlaglichtartig gelungene und mißlungene Entwicklungen:

(67) 1. Ziel: Antikapitalistische Kritik, Alternativen usw. thematisieren

Perspektive: Über Thementage und weitere Aktionen kann eine Thematisierung vielleicht noch in Teilfragen ermöglicht werden. Allderings fehlt nach dem Mißerfolg der Aktionswoche zu Beginn der Expo die Entschlossenheit. Fazit daher: Es hat viele Versuche gegeben, die auch umgesetzt wurden (Zeitung, Reader, Veranstaltungen usw.). Jedoch ist eine breite Thematisierung nicht gelungen. {Zur Auswertung der Anti-Expo-Aktionswoche erschien ein Sonderrundbrief, zu beziehen über das Büro für mentale Randale, Postfach 100136, 45601 Recklinghausen (gegen 5 DM).}

(68) 2. Ziel: Expo lahmlegen!

Fazit: Die Aktionsform war richtig, aber eingeengt umgesetzt und nicht ausreichend vorbereitet in den Basiszusammenhängen.

(69) 3. Ziel: Neue Aktions- und Vernetzungsformen finden

Fazit: Der 1. 6. kann als wichtiger Anschauungstag für die Weiterentwicklung von Selbstorganisation, Kreativität und direkter Aktionsmethodik dienen, wenn er als Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung dient.

(70) 4. Ziel: Interner Dominanzabbau

Fazit: Der interne Dominanzabbbau ist sehr unzureichend gelungen. Zwar teilten sich die Aufgaben auf, tatsächlich gab es aber klare Dominanzen.

(71) 5. "Unten" als tragende Säule
{Der Text trug den Titel "Stichworte zum Expo-Widerstand: Aktionen, Pannen, Fehler und Perspektiven" und stammte von Anti-Expo-Aktivisten aus der Projektwerkstatt in Saasen.}

Fazit: Die Idee einer "Bewegung von unten" steht erst am Anfang und muß, soll sie durchsetzungsstark werden, intensiv weiterentwickelt werden. Hier kommt es auf die Selbstorganisationsprozesse vor Ort und in den Regionen an. Folgende, überregionale Kampagnen müssen die Anfänge stärken. {Die Mobilisierung zum IWF-Gipfel nach Prag setzte an der Idee der "Bewegung von unten" an (siehe folgender Abschnitt).}

(72) 6. Politisch-inhaltliche und strategische Dimension

(73) 7. Technisch-organisatorische Ebene

3. Die Anfänge der Verwirklichung

(74) Die Aktionswoche gegen die Expo-Eröffnung sollte einen spürbaren Auftakt für einen emanzipatorischen Widerstand bieten. Dieses ist nur sehr begrenzt gelungen. Ein erster Resümee-Text dokumentiert aus der Sicht einer AkteurInnengruppe die Abläufe und Perspektiven. Dieser Text kann nur als sehr vorläufig gewertet werden, da eine umfangreichere Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen AkteurInnen des Expo-Widerstandes zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Buches erst am Beginn steht.

Text "Expo 2000 - nichts zum Lahmlegen da"

(75) {Der Text wurde verfaßt für Contraste Juli/August 2000. Siehe auch unter http://go.to/umwelt}
"London - Seattle - Hannover" hieß ein Slogan der Anti-Expo-Gruppen. Das war eine hohe Meßlatte. Rund um die Expo-Eröffnung sollte deren Beginn massiv gestört werden, um eine kritische Thematisierung der Expo-Ideologie zu erreichen. Was ist aus diesem Ziel geworden - und wie geht es weiter? Kurz und gut: "Expo lahmlegen" ist nicht gelungen. Die Expo konnte unter Störungen eröffnet werden. Die Infrastruktur brach nicht zusammen. Straßen und Kreuzungen, Bahnlinien und Züge wurden zwar blockiert oder gestoppt, doch es hatte alles wenig Wirkung. Inzwischen wird immer klarer, warum das so war: Die Expo fand und findet nicht statt. Die sensationellen Berichterstattungen vom ersten Tag, der so gelungen sein sollte, lassen sich schnell widerlegen. Die Zahl der BesucherInnen von 150.000 ist eine Lüge, die über Anzeigenaufträge gleichgeschalteten Printmedien brachten die Jubelmeldungen von den riesigen Menschenmengen aber groß heraus. Offenbar haben die Redaktionen aus den vergangenen Monaten (z.B. die Kriegsbelügung im Frühjahr 1999) nichts gelernt. Was von oben kommt, wird übernommen.

(76) Selbst wenn die Zahl stimmen würde, ist sie kein Erfolg, sondern ein Desaster. Ursprüngliche Erwartungen lagen bei 400.000 BesucherInnen am ersten Tag. Erst wenige Woche vor Beginn der Expo wurde die Zahl auf 250.000 gesenkt. Das lag schon unter dem notwendigen Durchschnitt von 260.000, der erreicht werden muß, damit die Expo nicht noch mehr Milliarden-Minus einfährt. Wenige Tage vor dem Start wurde dann erneut korrigiert: 150.000 sei das Ziel. Panikartig verteilte die Expo ca. 50.000 Freikarten. Daher wären es selbst dann, wenn die 150.000 stimmen, nur 100.000 zahlende Gäste. Wahrscheinlich sogar weniger, weil etliche tausend geladene Gäste mitzuzählen sind. {Teil des Berichtes war noch ein Kasten zu den BesucherInnenzahlen am 1.6., der hier nicht dokumentiert ist.}

(77) Die Expo findet nicht statt. Das am ersten Juniwochenende stattfindende Stadtteilfest in der Lister Meile von Hannover hatte mehr BesucherInnen als die Expo 2000. Bereits am Sonntag kündigte der Expo-Jobservice Adecco erste Massenentlassungen an. Dabei hatte selbst der DGB deren Arbeitsverträge hochgelobt. Die Realität holte das aber schnell ein Hingucken reicht, um die Lügen zu entlarven. Der Widerstand am 1. 6. mußte bei dieser Situation wirkungslos bleiben in Bezug auf ein Lahmlegen der Infrastruktur. Dabei war es gar nicht schlecht, was lief ...

Einblicke

(78) Um 9 Uhr wurde die Expo eröffnet. Da hatten schon die Züge von Norden und Süden Verspätungen: Brennende Reifen auf den Schienen. Als Johannes Rau das rote Band durchschnitt, begannen laute Sprechchöre "Expo No". Schilder wurden hochgehalten. Die Polizei griff ein. Kurz danach die nächsten Schilder und so fort. Kanzler Schröder schimpfe auf die DemonstrantInnen. Ein ICE mußte geräumt werden wegen eines bombenverdächtigen Paketes. Blockaden auf der Hildesheimer Straße - aber kaum ein Auto mußte bremsen, es fuhren keine. Kurz vor zehn Uhr kletterten ca. 12 Personen auf eine Verkehrsschilderbrücke direkt am Expo-Gelände. Zwei Personen seilten sich ab. Der Messeschnellweg, wichtigster Autobahnzubringer zur Expo, mußte gesperrt werden. Aber wieder: Kein Stau, weil es keinen Verkehr gab. Nach einer Stunde war die Blockade geräumt und die AkteurInnen verhaftet. Weitere Blockaden entstanden in anderen Stadtteilen, Aktionen gegen Straßenbahnen, aber das Dilemma blieb: Wenn niemand zur Expo geht, nützen auch Blockaden nicht.

(79) Im Verlauf des Nachmittags kam es zu Aktionen in der Innenstadt. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits ca. 60 Personen aus den Blockadegruppen verhaftet. Die Polizei log mit ihrer Zahl 14. Am Aegidientorplatz lief eine Kissenschlacht mit politischem Motto. Nervöse Polizei. Am Steintor begann wenig später eine Demonstration. Ausrastende Polizei. Kessel, Massenverhaftungen. 400 Leute saßen schließlich in Gefangenschaft, überwiegend in kleinen, dafür in Baracken aufgestellten Käfigen. Der Höhepunkt: In einem Käfig von 6x6 Metern 78 Menschen. Das macht mehr als zwei Personen pro Quadratmeter. Aber diese Bilder hat niemand außen gesehen. Auf der Expo feierte sich Deutschland als offenes Land ab. Die Realität blieb verborgen. Die Käfige mit den eingesperrten Menschen wären ein realistischerer Deutschlandpavillon gewesen ...

(80) Zusammenfassend: Am 1.6. waren viele selbstorganisierte Kleingruppen unterwegs. Das Aktionskonzept war verwirklicht worden. Koordinations- und Unterstützungsgruppen agierten, angefangen vom EA mit RechtsanwältInnen über Handykoordination, Fahrradkuriere zum Infoaustausch bis zum aktuellen Internet-Nachrichtendienst www.expo-calypse. de. Das Stör- und Blockadekonzept scheiterte an der "Strategie" der Expo, einfach nicht stattzufinden. Schade.

Analysen

(81) Die Tage nach dem 1. 6. zeigten, welche Wirkung direkte Aktionen und Bewegung von unten entfalten können. Ständig liefen Aktionen, von kreativ-direkten auf der Straße (z.B. die Reclaim-the-Streets-Partyam 3. 6. , die wieder hart von der Polizei angegriffen wurde, aber zweimal abtauchte und in anderen Stadtteilen wieder entstand) bis zur Kommunikationsguerilla, z.B. der Verteilung von gefälschten Eintrittskarten usw. Obwohl einige hundert AkteurInnen in Haft waren oder wegen Platzverweisen die Stadt verlassen mußten, obwohl das eigentliche Ziel des 1. 6. nicht erreicht wurde und die gleichgeschaltete Presse einen Erfolg der Expo konstruierte, gab es viel Druck und Kreativität für Aktionen. Gleichzeitig lief eine Öffentlichkeitsarbeit: Vier Zeitungsausgaben mit Berichten, Ankündigungen und inhaltlichen Texten, ständige Pressearbeit und mehr. Vor allem in Rundfunk und Fernsehen sowie in ausländischen Medien wurden die Proteste auch deutlich gezeigt. Als die Aktionswoche zuende war, gingen die Aktionen weiter: Hakenkrallen auf der Bahnlinie Hannover-Hamburg, eine Gleisblockade Richtung Westen usw.

(82) Daher bleibt trotz des Verfehlens von "Expo lahmlegen" vieles übrig, was als Schritt hin zu neuer politischer Aktionsfähigkeit genutzt werden kann. Es ist gelungen, viele Basisgruppen nicht nur zu einem Mitmachen zu bewegen, sondern dazu, eigene Ideen umzusetzen. Die Aktionswoche gegen die Expo 2000 war nicht nur ein Event. Es gab sehr, sehr viele Gruppen und Menschen, die nicht nur zum Mitmachen gekommen waren, sondern mit eigenen Ideen. Im Aktionscamp gab es Koordinations- und Planungstreffen, an den Computern wurden Freikarten gefälscht oder Aufkleber produziert. Das alles ist sicherlich noch um vieles steigerungsfähig, aber es war das Ende politischer Phantasielosigkeit. Und sichtbar wurde auch: Die Polizei war ziemlich hilflos. Sie hätte die Blockaden gar nicht oder nur mit härtester Gewalt verhindern können. Nun aber wird die Expo nicht in erster Linie am Widerstand scheitern, sondern an sich selbst. Immerhin das aber dürfte sicher sein. Für einen kreativen Widerstand von unten entstehen neue Perspektiven.

Ausblicke

(83) Der gegen die Expo gerichtete und dort entstandene Widerstand ist nicht am Ende, sondern steht am Anfang. Die Aktionsform des kreativen, direkten und von unten organisierten Widerstandes ist richtig. In den nächsten Monaten bieten sich viele Möglichkeiten, ihn weiterzuentwickeln und die Punkte zu finden, wo er die Wirkung zeigt, die er haben kann:

(84) Weiterer Widerstand gegen die Expo: Die Weltausstellungen ist zwar am Ende, aber nicht zu Ende. Sie wirbt weiter für ein Deutschland als zentrale Führungsmacht der Welt, für Vertreibung und innere Sicherheit, für Technik als Lösung von Hunger und Umweltzerstörung, für Atom- und Gentechnik, für eine Bevölkerungskontrolle usw. Verschiedene Gruppen bereiten Aktionstage vor, z.B. zum Tag der Weltenwanderung am 19. Juli oder die Chaostage vom 6.-8. August. Die Werbeschau für den Turbokapitalismus kann von allen Menschen und mit allen Aktionsformen angegriffen werden: Streiks, Blockaden, Öffentlichkeitsarbeit usw. Der Expo-Knast wird anschließend zum Abschiebeknast, die Arbeitsverhältnisse auf der Expo sind unabgesichert, weitere Entlassungen sind angekündigt. Gewerkschaften, Kirchen, NGOs, Parteien usw. werden erklären müssen, warum sie bei dieser Weltausstellung mitgemacht haben. Ansätze gibt es genug, einen heißen Anti-Expo-Sommer zu organisieren. {Internetseite des Expo-Widerstandes (leider schlecht betreut): http://www.expo-no.de}

(85) Widerstand überall: Direkte Aktionen von unten, das Überwindungen von Ein-Punkt-Bezügen und den vielen Grenzen in der politischen Bewegung, Kreativität und Visionen sowie radikale Positionen - all das ist überall wichtig. In Städten, Dörfern und Regionen können solche Aktionskonzepte verwirklicht werden, sei es gegen Parlamente, Institutionen, Parteitage, Aufmärsche, Großbaustellen, Abschiebeflughäfen, Firmen oder andere Orte von Herrschaft und Profitmaximierung.

(86) Tag der Deutschen Einheit: Dieses Jahr wird Groß-Deutschland 10 Jahre alt. Einigen Ewig-Gestrigen ist das Deutschland zwar noch zu klein, aber an zwei Orten soll groß gefeiert werden: Offiziell in Dresden, der Hauptstadt des Bundesratspräsidenten Biedenkopf, und zudem auf der Expo 2000, denn am 3. 10. ist dort auch der Deutschland-Tag. In beiden Fällen kann das, was schon in der Aktionswoche als Strategie des Blockierens, Störens und Sabotierens geplant und nur teilweise umgesetzt wurde, wieder eine Chance haben.

(87) Der weltweite Höhepunkt direkter Aktion und antikapitalistischen Widerstandes dieses Jahres wird Ende September in Prag stattfinden. Dort steht das Treffen des Internationalen Währungsfonds an. Am 26. 9. soll aus diesem Anlaß der nächste globale Aktionstag steigen. Für Aktionsgruppen aus Mitteleuropa ergibt sich die Chance, direkt dort mitzukämpfen mit den Widerstandsgruppen aus Prag und Umgebung, aus osteuropäischen und vielen anderen Ländern. Prag ist für viele Städte Deutschlands dichter als Hannover. Der Widerstand wird international sein.

(88) Euphorie ist fehl am Platze. Doch die Unkenrufe aus verschiedenen Richtungen, die wieder mal alles zerreden wollten und selbst dann oft in der konkreten Praxis gefehlt haben, haben sich nicht bewahrheitet. Die politische Bewegung ist Deutschland war und ist nicht in bester Verfassung. Nirgendwo gibt es soviele AnhängerInnen des Lobbyismus, gehört es fast immer zur typischen politischen Karriere, mit 25 oder spätestens 30 Jahren die Seite zu wechseln und bei den Herrschenden mitzumachen bzw. diese beraten zu wollen. Filz, finanzielle Abhängigkeiten - all das ist in Deutschland stark ausgeprägt. Die Teilnahme vieler Gruppen und Verbände an der Expo (und nicht am Widerstand) bezeugt das eindrucksvoll. Zudem dominieren oft die verkrusteten Strukturen altlinker Zusammenhänge (Gruppen, Einrichtungen, Organisationen, Medien, Verlage) und krasse Ein-Punkt-Bezüge ohne jeglichen Blick über den eigenen Tellerrand. Aus solchen Runden gab es Desinteresse bis zu Distanzierungen und Boykottaufrufen gegen den Expo-Widerstand. Unter diesen Umständen ist festzustellen: Es war kein Durchbruch, das Hauptziel konnte nicht erreicht werden, aber es ist ein Schritt gemacht worden. Der war sogar groß und besonders wichtig - denn es war der erste, der herausführte aus der Resignation und der selbstverschuldeten Phantasielosigkeit politischer Bewegung der letzten zehn oder sogar mehr Jahre. Insofern wird sich der Sinn des 1. 6. erst in den nächsten Auseinandersetzungen zeigen. Zu einer handlungsfähigen, widerständigen Bewegung führen jetzt viele weitere Schritte. Der große Durchbruch ist nicht geschehen, aber ein Anfang kann es gewesen sein. "Turn Prague to Seattle" ist auf T-Shirts zu lesen ... Visionen können das Konkrete voranbringen! {Im Laufe der Vorbereitung zu Prag wurde beschlossen, den Bezug zu Seattle nicht mehr zu nennen, um neue Aktionsformen und Ansätze entwickeln zu können.}

Prag selbst organisieren!

(89) Im Juli 2000 erschien aus einer Vorbereitungsgruppe zu den Aktionen gegen den IWF- und Weltbankgipfel in Prag (September 2000) ein Text, der an der Idee von "Bewegung von unten" anknüpft. {Weitere Infos zu Prag: http://go.to/prag-2000}

(90) {Termine: ab 10.09. Karawane "Geld oder Leben" von Hannover nach Prag; 22.-28.09. Aktionswoche in Prag und Festival "art and resistance"; 22.-24.09. Gegengipfel; 24.09. Demonstration gegen IWF/Weltbank-Gipfel; 26.09. GLOBAL ACTION DAY; 26.-28.09. offizieller IWF/ Weltbank-Gipfel} Fern der reformistischen und bürokratischen Praxis, bei der es um das Streben nach Macht geht, entsteht ein Kampf, dessen Stärke aus der Vielfalt kommt. Die Unzufriedenen richten ihr Augenmerk auf die Wege der Selbstorganisation, der Selbstverwaltung, der direkten Demokratie und der Autonomie als roter Faden, der sie zur Befreiung von den kapitalistischen Zwängen führt. Sie lassen hinter sich die alten klassischen, vertikalen und autoritären Strukturen, deren Zweck nur die Herrschaft von Menschen über andere Menschen und Naturzerstörung sind. Ziel ist der Aufbau einer Bewegung ohne Chefs, Avantgarde und Hegemonie, und die Idee einer Einheit in der Vielfalt und einer Stärke im Pluralismus." (aus einem brasilianischen Aufruf zum S26, globaler Aktionstag gegen Kapitalismus)

(91) Die Proteste gegen IWF und Weltbank in Prag werden aus den Zusammenhängen einer weltweiten Basisbewegung organisiert. Basisbewegung bedeutet eine Bewegung, in der es keine autoritären Strukturen von Chefs, Kadern und Hierarchien gibt. Wir denken, dass dieser Gedanke der Bewegung von unten, der horizontalen hierarchiefreien Vernetzung, für die deutsche Mobilisierung nach Prag der Anspruch sein sollte. Darum lehnen wir die Bildung eines bundesweiten Bündnisses ab, sondern setzen auf die horizontale Vernetzung von Menschen und Basisgruppen, die sich untereinander koordinieren. Wir sehen Prag als einen weiteren Schritt im Prozess des Aufbaues einer horizontal vernetzten Bewegung von unten in der BRD und international.

(92) Basisbewegung heißt, als erstes sich selbst mit dem Thema inhaltlich auseinander zu setzen und die eigenen lokalen Zusammenhänge anzusprechen. Der Prozess fängt an der Graswurzel an und nicht in Prag. Dazu bieten sich Infoveranstaltungen, Teach-Ins und Formen von inhaltlicher Vermittlung, bei der Menschen sich selbst Wissen aneignen, an. Bildet gemeinsame Infopools, macht Informationen anderen zugänglich und stellt eure Konzepte, Materialien, mögliche ReferentInnen etc. auf die deutschsprachige Vernetzungswebseite für Prag (Beiträge an: neolib@angelfire.com). Dort können sie dann von allen Menschen mit Internet-Zugang abgerufen werden (http://go.to/prag-2000). Ideen für weitere nicht-virtuelle Medien sind: Videos, Radiobeiträge, Comics, Infopakete für Teach Ins, Zeitungen, Plakate. Falls ihr Material erstellt/ausfindig macht, das interessant sein könnte, stellt es auf die Webseite! Ein Instrument der bundesweiten Koordination der lokalen und regionalen Vernetzung von Basisgruppen kann die Mailingliste prag2000-de@egroups.com sein (zum Eintragen eine leere Mail an prag2000-de-subscribe@egroups.com schicken). Menschen mit Internet-Zugang sollten die Informationen ausdrucken und in ihren lokalen und regionalen Zusammenhängen verbreiten. Für eine Welt, in der viele Welten Platz haben! {Unterzeichner des Aufrufs war der AK Internat des fzs, Treffen in Konstanz vom 30. 6-2.7.00}

Umweltschutz von unten

(93) Seit Ende 1998 besteht ein Netzwerk aus gleichberechtigten Basisgruppen und Einzelpersonen in verschiedenen Städten, mit oder ohne Verbandszugehörigkeit, an Unis, Schulen oder ohne jegliches Umfeld. Grundidee ist der Versuch, intern hierarchiefrei zu agieren sowie zudem Umweltschutzkonzepte zu entwickeln und umzusetzen, die Selbstbestimmung und Umweltschutz verbinden. Die Menschen sollen zu den AkteurInnen und Entscheidungspersonen werden - dazu müssen sie den Zugriff auf Flächen, Gebäude und Rohstoffe wieder erhalten. Teil des als "emanzipatorischer Umweltschutz" bezeichneten Ansatzes ist die Befreiung der Menschen aus den äußeren Zwängen, denn solange diese bestehen, sind freie Entscheidungen nicht möglich, auch nicht für den Erhalt der eigenen Lebensgrundlagen. Die Menschen würden sonst auch dann, wenn sie entscheiden dürften, vor allem die gesellschaftlichen Zwänge und Scheinzwänge als verinnerlichte Ängste und Erwartungen zum Ausdruck bringen - also z.B. Arbeitsplatzängste, öffentliches Ansehen usw. {Informationen zum Umweltschutz von unten: http://go.to/umwelt. Infopaket mit Positionspapieren usw. gegen 6 DM bei der Projektwerkstatt, Ludwigstr. 11, 35447 Reiskirchen}

(94) Da das Netzwerk "Umweltschutz von unten" keinerlei eigenständig handlungsfähigen Teile hat (Verzicht auf jegliche Organisationsformen), ist alles, was geschieht, abhängig von der Initiative der Einzelnen, der Basisgruppen oder auch jeweils spontaner Zusammenschlüsse für ein Projekt oder eine Aktivität. Aus dieser Situation heraus sind bereits etliche konkrete Handlungen entstehen, unter anderem:

(95) Die Diskussion um den Umweltschutz von unten steht erst ganz am Anfang. Ziel ist es, grundlegend neue Umweltschutzpositionen zu bestimmen und anpasserische bis ökoneoliberale Ökokonzepte als falsch zu demaskieren. Umweltschutz soll wieder Teil eines politischen Wirkens für eine emanzipatorische Gesellschaft werden.

D. Resumee

(96) Politische Bewegung steckt in einer schweren Krise. Sie kann zur Zeit der scheinbaren Alternativlosigkeit von totaler Verwertungslogik, "Anbetung" von Markt und Profit kaum etwas entgegensetzen. Dabei stehen einige Zeichen ohnehin auf Veränderung, der Kapitalismus ist krisengeschüttelt. Doch die Niederlagen der Vergangenheit haben viele Menschen in die Resignation oder gar Anpassung getrieben. Andere halten dogmatisch an veralteten Aktionsformen fest oder verlegen sich ganz auf die außenwirkungslose Theoriediskussion.

(97) Es werden neue Kreise sein, die diese Verkrustung durchbrechen können - aber nicht mit reinem Aktionismus, sondern in einer kreativen, einem ständigen Prozeß der Weiterentwicklung unterzogenen Arbeitsstil, in dem Vielfalt, Offenheit, direkte Aktion und direkte Kommunikation gelten - Bewegung von unten. Nur sie ist eine Alternative zum Bestehenden. Nur sie kann sich ständig so fortentwickeln, daß ihre Ideen und Aktionen zu einer Gefahr für die herrschenden Verhältnisse werden. Einige Diskussionen der letzten Zeit, z.B. rund um den Expo-Widerstand und noch stärker international, zeigen Möglichkeiten auf. Der Blick "über den Tellerrand" in andere Länder zeigt, daß die politischen Organisationen in Deutschland eher zurückliegen. Nirgendwo sonst setzen soviele politische AkteurInnen auf die Heilungskräfte des Marktes oder das Gute in den Regierungen - und entwickeln ihre Vorschläge entsprechend vor allem marktgängig und als Vorschlag an die jeweils Herrschenden. Ebenso gibt nur in wenigen Ländern unter denen, die Politik als Aktionsform gegen Herrschaft und Kapitalismus begreifen, eine so klare Dominanz derer, die an alten Strukturen festhalten, Praxisfeindlichkeit zeigen oder auf Neuerungen derart ablehnend reagieren.

(98) Dabei ist nichts gut, bloß weil es neu ist. Aber Neues ist es immer wert, offen diskutiert und, wenn sinnvoll, auch ausprobiert zu werden. Politische Bewegung braucht mehr Mut, mehr Ideenreichtum, mehr Experimente, mehr Risikofreude, mehr direkte Aktion, Durchsetzungsvermögen und selbstbestimmte Kommunikationsformen.

(99) Die Diskussion hat erst begonnen. Die Umsetzung beginnt gleichzeitig zu ihr. Die Praxis ist nicht nur Teil der Veränderung, sondern auch eine Grundlage der Diskussion um Strategien und Positionen. Kein gesellschaftlicher Wandel entsteht nur aus Aktionismus oder nur aus der Debatte um Theorien. Die Verknüpfung wird die Kunst sein. Die spannendsten Politikformen entstehen dort, wo inhaltlich-strategische Debatten geführt werden und eine politische Praxis der direkten Aktion und Öffentlichkeitsarbeit gefunden wird.

(100) In diesem Sinne sollte dieses Kapitel einen Beitrag liefern zu der nötigen Diskussion. Und ebenfalls in diesem Sinne soll es auch selbst Gegenstand der Diskussion sein. Wir brauchen mehr Streit, richtigen Streit, dessen Ziel es ist, uns weiterzuentwickeln - in Theorie, Strategie und Praxis. {Zur weiteren Diskussion siehe unter Kapitel 5.1.}

Fortsetzung

(101) Weiter geht es mit Kapitel 5, Anhang: 5.1 Wie es weiter geht.


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