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Soziale Gesellschaft

Maintainer: Birgit Niemann, Version 1, 20.02.2003
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) Claus Peter:# Zunächst einige Vorbemerkungen zu häufiger verwendeten Begriffen oder Worten, die entweder genauer eingeführt oder anders gewählt werden müssten: Der immer wieder gebrauchte Terminus der "sozialen Gesellschaft" ist von der Wortwahl her ein Pleonasmus, von seiner Bedeutung her schillernd.

(1.1) 20.02.2003, 22:14, Birgit Niemann: Was mich veranlasst, von "sozialer Gesellschaft" zu sprechen ist folgendes Problem, das ich auch in Deinem Text "Gesellschaftskritik als Erkenntniskritik" wiedererkenne: Den folgenden Satz: "Die spezifisch kapitalistische Form gesellschaftlicher Beziehungen, die als gesellschaftliche gar nicht mehr erfahren werden ...." würde ich folgendermaßen verändern: "Die spezifisch kapitalistische Form gesellschaftlicher Beziehungen, die als soziale gar nicht mehr erfahren werden ....". In einem anderen Krisis-Text habe ich einmal die Bezeichnung asoziale Sozialität für die kapitalistische Gesellschaft gefunden.

Ich meine in diesen herausgepickten Bemerkungen dieselbe Schwierigkeit zu erkennen, die auch ich habe. Man kann den kapitalistischen, durch den Tauschwert regulierten Beziehungen, die in ihrem Wesen komplett gleichgültig gegenüber den konkreten Beteiligten sind, die Gesellschaftlichkeit mit Sicherheit nicht absprechen. Sozial aber sind sie nicht. Das grundlegende Bindemittel sozialer Beziehungen und Beziehungsgeflechte ist Verantwortung (= geistig verinnerlichte Leistungsverpflichtung gegenüber konkreten Individuen und konkreten Menschengemeinschaften verschiedenster Art), meist verstärkt durch nette Emotionen, die über ihre Funktionalität hinaus zur Freude (oder auch zur Last) der Beteiligten ihren erfahrbaren Eigenwert entwickeln. Ergo finde ich es sinnvoll, solche grundverschiedenen Typen gesellschaftlicher Beziehungen auch begrifflich voneinander abzugrenzen. Praktisch ist das natürlich nicht gerade einfach, denn soziale und "kapitale" Beziehungen überlagern sich in der Realität. Der Krisis - Terminus asoziale Sozialität schließt meines Erachtens die Tauschwertbeziehungen ebenfalls aus der Sozialität aus. Er hat gegenüber meiner Variante den Vorzug, dass er die Begriffsveränderung selbst noch wiederspiegelt. Leider läßt er sich nur negativ verwenden. Der Terminus "soziale Gesellschaft" entspricht dagegen einer positiven Bestimmung, lässt dafür aber seine Genese nicht mehr erkennen.

(1.1.1) Kritik des Reinen Sozius, 20.02.2003, 23:30, Uwe Berger: Stellen sich Fragen, dann finden sich VerAntwortungen. Die "Gesell-Schaf-t" VERantwortet, d.h. sie delegiert die eigene Antwort-losigkeit. Wer kann nun schuld sein, soll sich schämen oder hätte etwas zu befürchten? Durch diese Drei wird das "Individuum" aus der Commune(beschenken) ausgeschloßen, wird delegiert diese freudelosen Gefühle zu tragen und darf sich dann in der Gesellschaft hinten anstellen, um sich täuschen zu lassen. Dies ist eine lange Schlange, komplett gleichgültig beißt sie sich auch noch in den eigenen Schwanz. Gerade gings noch geradeaus, da lauert schon die nächste Krise(Kurve). Die monotheistische Geldwirtschaft ist in einer individualen Entwicklungskrise mit der Möglichkeit zur Selbsterkenntnis. Wird wegen Schuld, Scham und Angst davon abgesehen, geht es so weiter: be-schul-digen, beschämen und beängstigend. Die azsoziale Fesselung der Individuen durch Abhängigmachen von Ersatzbefriedigung (alles was es zu Kaufen gibt) läßt sich mit Liebe lösen. Diese Lösung gilt es zu tradieren; bisher wurde die Fesselung von Generationen in die Familie weitergegeben (Erinnerungen des Veräußerns)

(1.1.2) Eigenverantwortlichkeit des Individuums?oder so!, 21.02.2003, 02:40, reiner hohn: > Sympathie müßte eigentlich in einer Beziehung(Beziehungsgeflecht) im Vordergrund stehen! Ich muß nicht das Tun und Handeln anderer verantworten, es sei denn,das Individuum ist nicht volljährig,oder "zurechnungsfähig",und man selbst befindet sich in einer Aufsichtspflicht! In einem,nicht leistungsorientiertem,nicht primär zweckgebundenem, aufdiktiertem Gruppenzwang,entwickeln sich eher solche Provilierungszwänge. http://hometown.aol.de/todschick38259/homepage/privat.html Eure Meinung würde mich mal interessieren.

(1.2) 20.02.2003, 22:23, Birgit Niemann: Unter den Bedingungen, die ich oben skizziert habe, ist der Terminus "soziale Gesellschaft" also kein Pleonasmus, sondern ein Begriff für einen spezifischen Vergesellschaftungstyp unter anderen. Schon Aristoteles liefert mir für dieses Vorgehen gute Argumente. Er stellte z.B. den für Lohn arbeitenden Freien in ethischer Hinsicht noch tiefer als den Sklaven, denn der Sklave war notwendiger Bestandteil des Oikos, während sich der Lohnarbeiter den Bedingungen der Chrematistik unterwerfen musste. Die Chrematistik, als endloser Kreislauf des Gelderwerbes um des Geldes willen, erkannte Aristoteles als eine die Sozietät Polis zerstörende Kraft. Auch ist aus meiner Sicht die soziale Gesellschaft die einzige Vergesellschaftungsform, die (gerade wegen der Notwendigkeit zur geistigen Verinnerlichung ihrer sinnstiftenden Beziehungsgeflechte) überhaupt die Potenz zur reflektierten Selbstbestimmung besitzt. Schon deshalb finde ich es nicht nur nützlich, sondern sogar notwendig, die "soziale Gesellschaft" von anderen Vergesellschaftungsformen begrifflich abzugrenzen.

(1.2.1) 20.02.2003, 22:24, Birgit Niemann: Claus Peter: Wenn der Begriff "soziale Gesellschaft" verwendet werden soll, ist er, da sicher nicht intuitiv verständlich, einzuführen, und sei es als Fußnote. Ins Englische wäre er mit "social society" zu übersetzen und dann wirklich ein Pleonasmus. Im Deutschen hat "sozial" dagegen eine Bedeutung, die über "gesellschaftlich" hinausgeht, laut Duden Fremdwörterbuch: "menschlich, wohltätig, hilfsbereit", also unmittelbare (und positive) persönliche Beziehungen zwischen Menschen betreffend. Darauf wird hier offenbar abgehoben. In der Krisis-Terminologie handelt es sich dabei um das, was im Wert nicht aufgeht, und daher abgespalten werden muss, weiblich konnotiert ist und ins Private abgedrängt wird. Aber lässt sich dann von "Gesellschaft" reden?

(1.2.1.1) 20.02.2003, 22:25, Birgit Niemann: Hier muss ich noch einmal auf meine eingeklammerte Definition von Verantwortung zurück kommen. Was im Fremdwörterbuch "menschlich, wohltätig, hilfsbereit" heißt, finde ich sachlicher und genauer mit: "geistig verinnerlichte Leistungsverpflichtung gegenüber konkreten menschlichen Individuen und Gemeinschaften" bezeichnet. Denn "menschlich" verstehe ich eher als Konkretisierung für artspezifisch. "Menschlich" ist z.B. auch ein Folterer, denn den gibt es in dieser Ausprägung ausschließlich bei Homo sapiens und nicht bei anderen Arten. Einfach deshalb, weil die Fähigkeit zur Folter und die Fähigkeit zum Mitleid auf ein und derselben geistigen Grundlage beruhen: auf der Fähigkeit, sich ideell (fühlend und denkend) in Andere hineinversetzen zu können.

(1.2.1.2) 20.02.2003, 22:28, Birgit Niemann: Die Adjektive "gemeinnützig, wohltätig und hilfsbereit" artikulieren m. E. ebenfalls im Kern die "geistig verinnerlichte Leistungsverpflichtung", aber weniger klar und der sachliche Inhalt ist durch (positive) Wertungen überlagert (was das Erfassen dessen, was da abbläuft, erschwert). Das Wesen der ursprünglichen sozialen Beziehung besteht aber gerade in der verinnerlichten, gegenseitigen Leistungsverpflichtung, die qualitative (sprich: sinnvolle Inhalte für die Beteiligten) und quantitative Aspekte hat, und eben gerade durch Sozialisation im Geiste (und nicht im Genom und auch nicht automatisiert über den Tauschwert) akzeptiert und angenommen wurde. Manchmal bin ich auch versucht zu sagen, "bewußt angenommene bzw. verinnerlichte" Leistungsverpflichtung. Aber "das Geistige" umfasst auch Unbewußtes und ist auch nicht gleichbedeutend mit freiwillig. Deshalb ziehe ich meist den Geist-Begriff als den umfassenderen vor, obwohl er mitunter Anlass zu Mißverständnissen gibt. Damit das hier nicht passiert, will ich gleich hinzusetzen, dass ich unter dem Begriff "Geist" alle "virtuellen Produkte" von Gehirntätigkeit subsumiere, unabhängig davon, ob sie bewußt oder unbewußt sind und unabhängig davon, ob wir ihr "Wesen" bereits wissenschaftlich bzw. philosophisch definiert haben oder nicht.

(1.2.1.3) 20.02.2003, 22:30, Birgit Niemann: Der Vollständigkeit halber möchte ich noch kurz verdeutlichen, was ich unter "gesellschaftlich" verstehe. Unter einer menschlichen Gesellschaft im allgemeinsten Sinne verstehe ich eine abhängig-kooperative (Re)Produktionsgemeinschaft menschlicher Individuen, wobei der Organisationstyp der abhängig-kooperativ erfolgenden (Re)Produktion dann durch die historische Spezifik bestimmt ist. Dabei schließt jede menschliche (Re)Produktion selbstverständlich die geistige Reproduktion, sowie auch die Reproduktion der dafür notwendigen Beziehungsgeflechte und deren Strukturen ein und endet nicht beim individuell "Stofflichen" (Ernährung, Vermehrung, Werkzeugproduktion etc.). Das Wesen des "Gesellschaftlichen" sehe ich also unabhängig vom Typ der abhängig-kooperativen Beziehungen, die beim Menschen sowohl über geistig verinnerlichte Leistungsverpflichtungen als auch über Tauschwertbeziehungen laufen können. In Wahrheit überlagert sich sowieso beides (doch in in jeweils historisch spezifischem Ausmaß). Die auf dem (zeit- und ortsidentischen, sowie wertäquivalent realisiertem) Tausch beruhende Beziehung ist ausserdem die historisch jüngere von beiden. Und daher sind selbstverständlich auch die "weiblich konnotierten Rest-Nischen" Bestandteil der Gesellschaft. Denn Du kannst doch die Individuen-Reproduktion, die der "Urgrund" jedes Vergesellschaftungsprozesses ist, aus der Gesellschaft nicht einfach herausdefinieren. Auch "das Private" ist nichts als ein abgegrenzter Raum innerhalb der Gesellschaft, der über zahllose Interaktionen und Abhängigkeiten mit dem "Rest" vernetzt ist. Es ist einfach eine der letzten Nischen, in denen sich die Dominanz der Sozialität, wenn auch in deformierter Form, bis heute erhalten hat.

(1.2.2) "Soz"-xx, 24.02.2003, 14:26, Bernd vd Brincken:
Die Frage kann doch hier nicht sein "Was ist richtig?", sondern "Welche Sprache macht Sinn als Basis für Gespräche, die dann wieder 'richtiges' markieren können?" - Wenn ich "Gesellschaft" von vornherein unterscheide in "kapital" und "sozial", dann kann ich anschliessend das Zusammenspiel von beidem in Teilsystemen der Gesellschaft nicht mehr beschreiben, ohne mir zu widersprechen.
Andersherum wird ein Schuh daraus:
Der Rückgriff auf Individualität funktioniert immer, allein dadurch, dass jeder lebende Mensch sich unmittelbar seiner körperlichen Identität vergewissern kann. Auch Politik funktioniert immer, sei es nur als Verweis auf Felder, die sich immer wieder einer Verantwortung entziehen können.
Aber das "Dazwischen", wo also mehr-als-Individualität und weniger-als-das-Ganze stattfinden, wo irgendwie Verantwortung ins Spiel kommt, das Bedarf offenbar einer besonderen (kommunikativen) Anstrengung. Kann man nicht die Herausforderung annehmen, das "soziale" genau so verstehen, als Treffpunkt, auf dem man mit allen über alles sprechen kann? Notfalls sogar mit "Kapitalisten" über "Gesellschaft".

(1.2.2.1) Re: "Soz"-xx, 25.02.2003, 18:13, Birgit Niemann: "Die Frage kann doch hier nicht sein "Was ist richtig?", sondern "Welche Sprache macht Sinn als Basis für Gespräche, die dann wieder 'richtiges' markieren können?" Eben, genau darum geht es ja bei der unterscheidenden Kennzeichnung der verschiedenen, aber im Zusammenspiel menschliche Gesellschaft organisierenden Beziehungstypen. Allerdings ist mir unklar, wieso Du davon ausgehst, dass bei klarer Unterscheidung der Typen deren Zusammenspiel und deren Wechselwirkung nicht mehr untersuchbar sein soll. Aus meiner Sicht ist gerade das Gegenteil der Fall. Erst die klare Identifizierung der verschiedenen Beziehungstypen ermöglicht überhaupt die Analyse ihrer Zusammenhänge. Denn die eindeutige und unterscheidende Kennzeichnung macht die Beziehungen, ihre inneren Zusammenhänge und ihre Wechselwirkung erst einmal sichtbar und damit viel leichter verfolgbar. Was das Ganze allerdings mit "Vergewisserung von körperlicher Identität" zu tun hat, bleibt mir verborgen. Und "sozial" allein auf einen (Gesprächs)Raum zu beziehen, in welchem man mit Allen über Alles sprechen kann, scheint mir auch etwas beliebig und fern von den bisher tradierten Bedeutungen von "sozial" zu sein. So einen (Gesprächs)Raum würde ich vielleicht als Therapiegruppe bezeichnen.

(1.2.4) 20.02.2003, 22:32, Birgit Niemann: Claus Peter: "Soziale Gesellschaft" ließe sich als Kontrapunkt zum Begriff der "ungesellschaftlichen Gesellschaftlichkeit" einführen, den Krisis-Autoren manchmal verwenden ("asoziale Sozialität" ist mir dagegen nicht geläufig). "Ungesellschaftlich" kann hier unterschiedliche Bedeutung haben: Zum einen (und hierzu wäre "soziale Gesellschaft" der Kontrapunkt) als spezifisch kapitalistische Form der gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den vereinzelten Einzelnen, die dann in der Tat sozial (im Sinne von: "menschlich, wohltätig, hilfsbereit") nicht mehr sind; zum anderen (so gemeint in "Gesellschaftskritik als Erkenntniskritik") als gesellschaftliche Beziehungen, die nicht als gesellschaftliche, also durch menschliches Handeln hervorgebrachte, sondern als quasi-natürliche, immer schon vorhandene, transhistorische erfahren werden.

(1.2.4.1) 20.02.2003, 22:33, Birgit Niemann: Der Kontrapunkt erfasst, worauf ich hinaus will. Den Unterschied zwischen den "vereinzelten Einzelnen" und den "quasi-natürlichen" Beziehungen kann ich allerdings nicht so genau erkennen. Aus meiner Sicht werden damit nur differente Aspekte ein- und derselben Realität des asozialen kapitalistischen Vergesellschaftungstyps erfasst. Für "vereinzelte Einzelne" sind die "quasi-natürlichen Beziehungen" m.E. wirklich nicht aufbrechbar, obwohl sie durch menschliches Handeln reproduziert werden. Das kann nur "sozial vergesellschafteten" Individuen gelingen.

(1.2.4.1.1) 24.10.2004, 20:29, Hans-Gert Gräbe: Das lässt sich, glaube ich, erst aus der Perspektive des "Korngrößendilemmas" (siehe mein mawi-Paper) genauer verstehen. Alle vorkapitalistischen Gesellschaftsformen beruhen zentral auf Kommandostrukturen, so dass Menschen das Befehle-Empfangen, Autorität etc. wohl sehr tief verinnerlicht haben. In dem Zusammenhang traten ihnen komplexe soziale Phänomene immer als äußerliche entgegen und die Reproduktion von Kommandostrukturen hat viel dazu getan, sie gerade in einer solchen Wahrnahme zu bestärken. Dieser "quasi-natürliche" Charakter findet seinen Widerhall auch auf theoretischer Ebene (in Hegels konstruktivistischer Staatstheorie etwa, die Marx "vom Kopf auf die Füße" stellt und damit prompt ins andere Extrem verfällt). In solchen Theorien sind die Beziehungen zwischen den Menschen "von oben nach unten" gebaut, am besten noch ausgehend von einem "absoluten Prinzip", deine "soziale Gesellschaft" soll sich aber (nicht in der Theorie, sondern der Praxis!) umgekehrt von unten nach oben strukturieren. Das ist ein zentraler Bifurkationspunkt gesellschaftlicher Formiertheit, wo es nicht verwundert, dass es mehrerer Jahrhunderte bedarf, ihn gesellschaftsmächtig zu machen.

(1.2.4.1.1.1) 28.10.2004, 12:09, Benni Bärmann: Die Kommandostrukturen waren in den meisten vorgeschichtlichen Gesellschaften wohl nicht sehr ausgeprägt. Das Kommando kam erst mit Schrift und Geld in die Welt. Unsere Wahrnehmung ist da glaube ich etwas verzerrt, weil das was wir meistens über alte Geschichte wissen vor allem auf "Hochkulturen" fixiert ist. Diese sind uns eben gerade über ihre großen Bauwerke überliefert, große Bauwerke kann ich aber so ohne weiteres ohne Kommandostrukturen nicht bauen, weil ich Kooperation massenhaft erzwingen können muß um so was wie die Pyramiden bauen zu können. Interessant ist z.B. die Etruskische Geschichte, da kann man nämlich schön verfolgen, wie eine eher egalitäre Gesellschaft nach und nach in eine Kommando-Gesellschaft umgeformt wird. Wobei die Hinweise da eben sehr dünn sind.

(1.2.4.1.1.1.1) 01.11.2004, 13:31, Hans-Gert Gräbe: Vielleicht muss man da in der Tat genauer hinschauen und ich sehe das zu sehr aus der Sicht der unmittelbar dem Kapitalismus vorausgehenden historischen Perioden. Aber wenn Kommando mit "Schrift und Geld" in die Welt kam, dann hat es eine deutlich längere Tradition als die mit der Wertabstraktion einhergehenden Marktmechanismen moderner Prägung. Die Zeithorizonte (bis etwa zur Antike) sind auffallend dieselben, die auch Popper mit seiner "geschlossenen/offenen Gesellschaft" anspricht.
Vielleicht gibt es eine mehrtausendjährige Geschichte solcher Kommandostrukturen und davor ging es deutlich anders zu? Allerdings sind heutige clanartige Strukturen auch sehr autoritär strukturiert, und die hatte ich bisher als Prototyp vorkapitalistischer verstanden.
Wie dem auch sei, es scheint mir eine interessante Perspektive zu sein, aus der man auch auf kapitalistische Mechanismen schauen sollte.

(1.2.4.1.1.1.1.1) Kommando, 02.11.2004, 21:24, Birgit Niemann: "Aber wenn Kommando mit "Schrift und Geld" in die Welt kam, dann hat es eine deutlich längere Tradition als die mit der Wertabstraktion einhergehenden Marktmechanismen moderner Prägung." Zweifellos. Letztere aber stellen ein ältere Gleichheit unter neuen Bedingungen zumindestens auf der abstrakten Ebene im wechselseitigen Käufer und Verkäufer wieder her. Neben der Tatsache, dass Marktmechanismen eine Vielzahl an funktionsteilig spezialisierten Menschen blind zu organisieren vermögen, ist das sicherlich eine ihrer Durchsetzungsbedingungen. Was aber ist nun in Deinen Augen der Vorläufer des Kapitalzyklus? Das Kommando doch sicher nicht, denn das hat ja gerade in konkreter und abstrakter (legaler) Beziehung die Gleichheit negiert.

(1.2.4.1.1.1.1.2) 03.11.2004, 09:51, Hans-Gert Gräbe: Ich bleib mal auf derselben Nummerierungsebene, da die Kommunikation stärker dialogisch wird.
Ich habe mehrfach betont, dass nach meinem Verstädnis die im Wertmechanismus inhärent verwobenen Aspekte der Mühe und des Nutzens analytisch genauer auseinanderzuhalten sind. Ich betone das immer, weil ich überzeugt bin, dass der Müheaspekt überleben wird. Du beschreibst hier, dass der Müheaspekt auch historisch tiefere Wurzeln hat, also vielleicht (und jetzt kommt der Systemtheoretiker durch, der Hierarchie-Ebenen an Eigenzeiten festmacht) ein Aspekt der "Popper-Dimension" ist.

(1.2.4.1.1.1.1.2.1) Mühe und Nutzen, 04.11.2004, 21:53, Birgit Niemann: Du sprichst in Rätseln. Ich sprach nicht über historische Würzeln des Mühe-Aspektes (von dem ich nicht genau weiß, was du damit meinst, denn die sonst so beschworene Notwendigkeit muss nicht unbedingt mühevoll sein), sondern über eine "ältere Gleichheit". Wobei "Gleichheit" nicht als "identischer psychosozialer Phänotyp" mißverstanden werden darf, sondern etwas meint, was vielleicht am Besten mit der Metapher "gleiche Augenhöhe" umschrieben werden kann. Ich könnte auch sagen "gleicher Grad an gegenseitiger Abhängigkeit" oder auch "einigermaßen symmetrische gegenseitige Abhängigkeit" im Gegensatz zur "unsymmetrischen" zwischen Feudalherr und Leibeigenen, griechischen Partriarchen und Sklaven oder auch Kapitaleigner und Arbeitskraftverkäufer. Wobei letztere ja wieder eine symmetrische gegenseitige Abhängigkeit aufweisen. Beide sind gleichberechtigte Vertragspartner beim Kauf bzw. Verkauf der Arbeitskraft und die enorme Asymmetrie in der Verfügung über bereits akkumulierte kollektive menschliche Leistung (in Form von Geldkapital und Produktionsmitteln) wird einfach ignoriert. Eine Dimension, die ich übrigens auch in Deinem Mawi-Projekt vermisse. Aber natürlich nicht nur dort. Wobei ich sie angesichts der Erfahrungen im FS-Bereich hier wirklich nicht diskutieren will, zumal die wachsenden Zahl der "Überschüssigen" von ganz alleine dafür sorgt, dass dieser Aspekt wieder wirkungsmächtig in den Mittelpunkt aller gesellschaftlichen Auseindersetzung rückt.

(1.2.4.1.1.1.1.2.2) 05.11.2004, 19:56, Hans-Gert Gräbe: Da habe ich dich in der Tat missverstanden. Aber der Gleichheitsbegriff ist ja auch hochgradig mit Bedeutungen überladen. Den Gleichheitsbegriff im Sinne "gleiche Augenhöhe" findest du (sogar mit diesen Worten) auch im Mawi-Paper, aber erst relativ weit hinten als Konsequenz des Kompetenz-Vorteils-Ansatzes. Allerdings kann ich die zwischen Kapitaleigner (KE) und Arbeitskraftverkäufer (AV) so global nicht erkennen, denn die einzige Gleichheit zwischen beiden Seiten resultiert aus der (formalen) Vertragsfreiheit. Die ans Eigentum gebundene Zwecksetzungsvollmacht des KE, die (fast unbeschränkten) Verfügungsrechte über sein Eigentum, machen die Asymmetrie der Beziehung aus und zwingen den AV die A zu v. Gleichheit in diesem Verhältnis ist maximal der Abglanz einer zukünftigen wirklichen Gleichheit. Diesen Abglanz, so verstehe ich deine Argumentation, siehst du auch. Ich möchte theoretisch besser verstehen, wo dieser Glanz herkommt.

(1.2.4.1.1.1.1.2.3) 05.11.2004, 19:57, Hans-Gert Gräbe: Deine Kritik richtet sich dagegen, dass ich das ganze Elend um diesen Abglanz nicht wahrnehme. Dem halte ich entgegen, dass ich zunächst einzelne Aspekte besser verstehen und ihnen nachspüren will, was Reduktion von Komplexität erfordert. Ich verweise dich auf andere meiner Aufsätze, in denen ich diese Dimension (so hoffe ich) stärker einbezogen habe. Im Mawi-Paper habe ich sie bewusst draußen gelassen, um über dem heutigen Elend die Dynamik der Prozesse nicht aus dem Auge zu verlieren. Und komme ja wenigstens bis zum Clinch der beiden Leitsozialisationen.

(1.2.4.1.1.1.1.2.4) Asymmetrie der Beziehung zwischen KE und AV, 05.11.2004, 19:58, Hans-Gert Gräbe: Die Asymmetrie der Beziehung zwischen KE und AV kommt primär aus dem Nutzen-Aspekt der Wertform: der KE bestimmt, welche dinglichen Logiken in Gang gesetzt werden, um den Wert der A in Kapital zu verwandeln. Die Gleichheit ist primär Ausdruck des Mühe-Aspekts: Der Preis der Ware A bestimmt sich (wenigstens theoretisch und in grober Näherung) als der "multiplizierte durchschnittliche Aufwand einfacher Arbeit", der für die konkrete individuelle Arbeit erforderlich ist. Gleichheit ist in diesem Sinne (jenseits konkreter praktischer Fähigkeiten, die aber jedes Zeitmaß ignorieren wird) Austauschbarkeit der AV (jeder "dressierte Gorilla" geht durch) und übrigens auch der KE (jeder würde dem AV etwa denselben Preis anbieten) untereinander, nicht aber die zwischen KE und AV. Letzteres wird erst anders, wenn KE und AV in diesen jeweiligen Rollen verschmelzen, was wir derzeit massenweise beobachten ("macht, was ihr wollt, aber seid profitabel"). Der Druck zur Ich-AG, was man unter den gegenwärtigen Bedingungen sicher niemandem wirklich raten kann, ist ein Aspekt dieser Entwicklungen, enthält also sehr viel progressives Potenzial.

(1.2.4.1.1.1.1.2.5) Ältere Gleichheit, 05.11.2004, 20:00, Hans-Gert Gräbe: Da müsste man genauer hinschauen, aber ich nehme an, sie spielte sich immer innerhalb der Klassen ab, was im Lichte der vorigen Bemerkung plausibel wäre. Aber da müsstest du etwas genauer beschreiben, was du im Auge hast.

(1.2.4.1.1.1.1.3) 03.11.2004, 09:57, Hans-Gert Gräbe: Mit dem "blind zu organisieren" habe ich dagegen meine Schwierigkeiten, denn die Beziehungen sind ja nicht chaotisch, sondern es werden dingliche Logiken vermittelt. In meinem mawi-Paper spreche ich deshalb lieber von "hinter dem Rücken des Marktes" (Marx paraphrasierend, für den ja der Markt "hinter dem Rücken der Menschen" letzterem unbewusste Beziehungen herstellt). Wenn Markt dann auf einmal in diesem Sinne "transparent" wird (die Menschen also beginn, über die dinglichen Logiken zu kommunizieren) ...
Hier sehe ich auch die zivilisatorische Rolle der Wertform: Sie hat das eine Weile lang (gemessen in der Popper-Dimension) auf unbewusster Ebene vermittelt, eben "dem Kind gesagt, wo es langgeht".

(1.2.4.1.1.1.1.3.1) Blindheit, 04.11.2004, 22:10, Birgit Niemann: ".... denn die Beziehungen sind ja nicht chaotisch, sondern es werden dingliche Logiken vermittelt." Sind für Dich denn "blind" und "chaotisch" Synonyme? Der genetisch programmierten Stoffwechsel läuft auch nicht chaotisch, sondern es werden hochkomplexe "stoffliche Logiken" vermittelt, was an seiner Blindheit nichts ändert. Deine Metapher vom "hinter dem Rücken des Marktes" fiel mir natürlich auf und dazu ist mir sofort die Preisabsprache von Hoffmann LaRoche und anderen Chemie-Firmen zu den Vitamin-Präparaten eingefallen, die ja nach Bekanntwerden einen großen europäischen Prozess mit enormen Geldstrafen nach sich zog. Diese Absprachen waren ja nun ganz eindeutig "hinter dem Rücken des Marktes" und erst recht "hinter dem Rücken der Menschen" aber keineswegs "hinter dem Rücken der Kapitale".

(1.2.4.1.1.1.1.3.2) 05.11.2004, 20:01, Hans-Gert Gräbe: Hier müssten wir wahrscheinlich erst mal Begriffe schärfen. Z.B., inwieweit Mechanismen "blind" sein können. Es sind ja nicht die Mechanismen, sondern die theoretische Reflexion derselben, die einzelne Aspekte ausblendet. Auf dem Markt z.B. (Nutzen-Aspekt) findet ja nur das zusammen, "was zusammen gehört", d.h. hier werden durchaus dingliche Logiken transportiert. Und nur die (allerdings handlungsbestimmenden) Erklärungsmuster rücken die monetäre Form in den Vordergrund zu einem "egal ob es zusammengehört" und "was nicht passt, wird passend gemacht". Dein Beispiel zeigt nur, dass es auch dingliche nicht-stoffliche Logiken gibt und dass auch die KE "hinter dem Rücken des Marktes" zu agieren vermögen. Dass es also Aspekte der Kapitallogik jenseits der Marktlogik gibt. Aber das ist natürlich weder neu noch aufregend.

(1.2.4.1.1.1.1.4) 03.11.2004, 10:07, Hans-Gert Gräbe: Mit "Gleichheit" habe ich ebenfalls meine Schwierigkeiten, besonders in einer Welt hochgradig (unterschiedlich) spezialisierter Individuen. Gleichheit (im Sinne etwa der "Assoziation freier Produzenten") kann ihre Wurzel eigentlich nur in dieser Verschiedenheit haben, die aber eine auf Respekt statt Kommando basierende Beziehung voraussetzt. Hier sehe ich einen fundamentalen Bruch mit einer vieltausendjährigen Tradition menschlicher Vergesellschaftungsformen, den ich mit dem "Kommando-Thema" in den Blick bekommen möchte.
Zentrale Quelle dieses Wechsels sind nach meinem Verständnis die spezifischen Bedingungen, unter denen Wissenssozialisation stattfindet (und schon immer stattfand).

(1.2.4.1.1.1.1.4.1) noch einmal Kommando, 04.11.2004, 22:22, Birgit Niemann: ".... die aber eine auf Respekt statt Kommando basierende Beziehung voraussetzt..." Dies aber hat Vorraussetzungen und dazu gehört m.E. ganz wesentlich das, was ich "gleiche Augenhöhe" nenne, die nur bei einigermaßen gleichen faktischen Zugriffsmöglichkeiten auf bisher akkumulierte, kollektive menschliche Leistung zu erreichen ist. Was die vieltausendjährige Tradition betrifft kann ich nur sagen, dass es kontinuierlich in allen Gesellschaften mehr oder weniger weite Räume gegeben hat, in welchen die oben beschriebene Kooperativität lebendig konserviert wurde.

(1.2.4.1.1.1.1.4.2) 05.11.2004, 20:03, Hans-Gert Gräbe: Mit der "gleichen Augenhöhe" sind wir d'accord, wobei ich allerdings die freizügigen Zugriffsmöglichkeiten auf das kulturelle Erbe, also auf das Denken im weitesten Sinne, auf die vita contemplativa, beschränken würde. Jenseits dessen, die vita activa, ist nur noch als Kooperativität im Sinne abgestimmten Handelns denkbar. Ich habe gerade bei Walter Benjamin den wichtigen Gedanken gelesen, dass man die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht wirklich abschaffen könne, wenn man nicht auch die Ausbeutung der Natur durch den Menschen abschafft. Oder anders herum: Respekt des Menschen vor dem Menschen ist ohne Respekt des Menschen vor der Natur nicht zu haben. Das hat er im Kontext des neuen kategorischen Imperativs "... dass sich Auschwitz nicht wiederhole" so formuliert.

(1.2.4.1.1.2) Korngrößendilemma, 29.10.2004, 20:20, Birgit Niemann: Also Dein "Korngrößendilemma" habe ich mir ziemlich gründlich angeschaut, weshalb ich erst einmal ein paar Fragen habe. Eine gesellschaftliche Entwicklungsinstanz mit Zwecksetzungsvollmacht - was ist das? Eine Ratsversammlung in ursprünglichen Gesellschaften? Ein Oberpriester in der Tempelwirtschaft? Das germanische Thing? Der Pharao in Ägypten? Der Senat in Rom oder Kaiser Augustus? Oder meinst Du hier die Größe von Produktionseinheiten, die ihre eigenen Zwecke setzen? Und das Korn, welches durch die "Macht der Agenzien" erreicht wird? Diese kausale Wirkreichweite von Entscheidungen auf die Lebensumstände Dritter. Also wenn ich mir das praktisch vorstelle, dann sehe ich eine Ratsversammlung mit vielleicht 10-20 Leuten, deren Entscheidungen eine Reichweite im eigenen Stamm von einigen Hunderten, in Ausnahmefällen (z.B. wenn Stammübergreifende Bündnisse geschlossen wurden) auch einigen tausenden Menschen erreichen. Wenn aber z.B. Alexander mit seiner Entscheidungskorngröße von einer Person (zumindestens in seiner Spätzeit) ganze Kontinente mit Krieg überzieht, dann kann ich keinen linearen Zusammenhang zwischen dem Schrumpfen des Entscheidungskornes und der enormen Ausweitung des von den Agenzien betroffenem Korns zwischen beiden Prozessen entdecken. Oder meinst Du etwas ganz anderes, z.B. den Grad der ökonomischen Vernetzung, die z.B. die heute mögliche Erschütterung des europäischen Rindfleischmarktes durch eine einfache Temperatursenkung im Sterilisationsprozess bei Futtermitteln (BSE-Skandal) möglich macht? Beide Sorten Entscheidungen setzen Agenzien in Bewegung, die eine Reichweite zur Beeinflussung Dritter haben. Nur lineare Zusammenhänge sich ich weder bei dem einen noch bei dem anderen.

(1.2.4.1.1.2.1) 01.11.2004, 13:44, Hans-Gert Gräbe: Letzteres ist ein Beispiel für die "Reichweite der Macht der Agenzien", die eben durch eine solche Temperaturabsenkung in Bewegung gesetzt werden und die in diesem Fall besonders eindrucksvoll um Größenordnung den mit der Temperaturabsenkung verfolgten Zweck, nämlich Energie zu sparen oder sonst was Kurzsichtiges, übersteigt. Die konkrete Entscheidung zur Temperaturabsenkung mit den praktisch genannten (und vom Entscheider nicht vorausgesehenen - unterstelle ich mal) Folgen ist von jemandem getroffen worden, der also - in meiner Terminologie - die (z.B. aus einem Eigentumsrecht legitimierte) Vollmacht hatte, diese Entscheidung zu treffen.
Das (nach meiner Meinung) immer weitere Auseinanderfallen dieser beiden Pole in den letzten 2000 Jahren meine ich. Kapitalismus ist, nach meinem Verständnis, eine bestimmte intermediäre Form der Bewältigung dieses Dilemmas.

(1.2.4.1.1.2.1.1) Macht der Agenzien, 02.11.2004, 21:39, Birgit Niemann: Mir ist schon klar, dass Dein Begriff "Korngröße" ein Zwischenstadium beim Formulieren eines Problems ist. Die hier thematisierte "Macht der Agentien" sehe ich als Amplifikation einzelner Aktivitäten durch Rückkopplung. Also als das, was in der Chaostheorie als "Schmetterlingseffekt" bekannt wurde. Und durch das globale Interaktionsnetzwerk wandert so etwas natürlich durch, ohne an Grenzen zu stoßen, die es zum Erliegen bringen könnten. Daher tendiere ich dazu die "Korngröße", die von der "Macht der Agentien" erreicht wird, als Ausdehnung des von einer Handlung betroffenen und zusammenhängenden Interaktionsnetzwerkes zu begreifen? Wäre das in dem von Dir gemeinten Sinne?

(1.2.4.1.1.2.1.2) 03.11.2004, 10:15, Hans-Gert Gräbe: "Macht der Agentien" bezieht sich zunächst einmal auf das Marx-Zitat aus den "Grundrissen", das du etwa im Punkt (25) meiner d-thesen auszugsweise zitiert findest.
Mit dem "Schmetterlingseffekt" habe ich meine Probleme, weil er ein Relikt monokausalen Denkens ist. Eine der zentralen Errungenschaften der Chaostheorie ist für mich, dass der Begriff der "Trajektorie" ad absurdum geführt wird.
Insofern möchte ich die "Macht der Agentien" jenseits der Definition als "durchschnittliche Reichweite der Wirkmächtigkeit individuellen Handelns" gern noch eine Weile so nebulös lassen. Wir verwenden den Begriff damit sicher etwa in der gleichen Bedeutung. Also: Ja.

(1.2.4.1.1.2.1.3) Grenzen, 03.11.2004, 10:22, Hans-Gert Gräbe: Dein Versuch des Abgrenzens bereitet mir auch deshalb Probleme, weil sich (deutlich sichtbare) Grenzen erst ab einem gewissen Reife- und Konsolidierungszustand eines Systems herausbilden und dann auch immer gewisse funktionale Eigenschaften einer Schnittstelle haben, über welche Reduktion von (Kommunikations)-Komplexität mit der Außenwelt erfolgt. So weit ist das theoretische Verständnis der Phänomene noch lange nicht.

(1.2.4.1.1.2.1.3.1) Re: Grenzen, 04.11.2004, 22:43, Birgit Niemann: Das mag damit zusammenhängen, dass für mich der Systembegriff automatisch mit autopoietischen Systemen assoziiert, die mit ihrer Abgrenzung ihre Existenz aufgeben. Mit den Schnittstellen zur Aussenwelt dagegen habe ich weniger Problems.

(1.2.4.1.1.2.2) 01.11.2004, 13:50, Hans-Gert Gräbe: Das mit Alexander ist noch ein Effekt, der da drüber liegt. Ich hoffe, ich habe immer von der durchschnittlichen Reichweite von Zwecksetzungs- (oder sollte ich besser schreiben Entscheidungs?)-Vollmacht geschrieben. Individuell gibt es da sicher Schwankungen, aus denen die Dynamik des Durchschnittswerts erst zu extrahieren ist. Was ich im Übrigen selbst soziologisch fundiert nicht leisten kann, denn mein dafür verfügbarer Zeitfonds ist zu gering.

(1.2.4.1.1.3) Kommandostrukturen, 29.10.2004, 20:31, Birgit Niemann: "Alle vorkapitalistischen Gesellschaftsformen beruhen zentral auf Kommandostrukturen, so dass Menschen das Befehle-Empfangen, Autorität etc. wohl sehr tief verinnerlicht haben." Wie schon Benni, würde auch ich dies bezweifeln. Die weit überwiegende Zeit in der Anthropogenese haben die Menschen und ihre Vorläufer gerade nicht in Kommandostrukturen gelebt. Und genau in dieser Zeit hat sich der Homo sapiens mitsamt der ihm eigenen Psyche herausgebildet. Und zwar so gründlich, dass die paar tausend Jahre Klassengesellschaft uns die treibende Sehnsucht nach "gleicher Augenhöhe" nicht haben austreiben können, obwohl sie natürlich Spuren hinterlassen haben, aber wohl mehr an der Oberfläche, die wir sofort abstreifen, wenn wir die Chance dazu kriegen.

(1.2.4.1.2) 24.10.2004, 20:31, Hans-Gert Gräbe: Es ist ähnlich wie die Entwicklung eines Kindes: Zunächst besteht eine natürliche Autoritätshörigkeit (auf Eltern, Lehrer, ...), wobei die eigenen Vorstellungen stark fremdbestimmt sind. In der Pubertät ändert sich das und intrinsische Antriebe beginnen zu überwiegen. Dabei wird gern über die Stränge geschlagen, weil das neue Gefühl ausprobiert und austariert werden muss. Irgendwann merkt man (manche allerdings nie), dass diese eigenen inneren Antriebe nur im Konzert mit anderen einigermaßen reibungsfrei zur Entfaltung gebracht werden können. In dem Sinne würde ich den Kapitalismus als frühes Stadium der Pubertät der Menschheit charakterisieren. Den quälenden Charakter und die (relativ) hohe Selbstmordrate einer solchen Zeit nicht verkennend.

(1.2.4.1.2.1) natürliche Autoritätshörigkeit, 29.10.2004, 20:45, Birgit Niemann: Wenn ich so richtig überlege, habe ich noch kein Kleinkind mit natürlicher (sprich: angeborener) Autoritätshörigkeit erlebt. Alle mussten erst lernen, dass es nicht nur nach ihrem Kopf geht, bevor sie dann "autoritätshörig" wurden. Du hast hier ein paar angebliche "Selbstverständlichkeiten" drauf, die sich nicht belegen lassen. Und gesellschaftliche Entwicklungen mit individueller Ontogenese zu vergleichen, hat auch seine Tücken. Kapitalismus ist kein ziemlich frühes Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern das späteste, das wir kennen. Und wenn man die innere Dynamik von Vergesellschaftungsprozessen daran misst, wer über wen dominiert, die Reproduktionsinteressen der Individuen über das selbstzweckhafte Reproduktionsinteresse des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhanges oder eben umgekehrt, dann ist Kapitalismus bereits ein verdammt spätes Stadium. Um nicht zu sagen, beinahe ein zu spätes.

(1.2.4.1.2.1.1) 01.11.2004, 13:58, Hans-Gert Gräbe: Das mit der "natürlichen Autoritätshörigkeit" nehme ich zurück, denn es ging mir nur um den Umschwenk von externer auf intrinsische Antriebe in der Pubertät. Ich hoffe, dem kannst du zustimmen.
Ob es eine andere Zeit in der Persönlichkeitsentwicklung gibt, in der ein Schwenk in die andere Richtung erfolgte, ist aber eine interessante Frage. Im Lichte des Leitsatzes "Phylogenese als kurze Form der Ontogenese", den wir in der Schule im Bio-Unterricht eingetrichtert bekommen haben, auch für Bennis Anmerkung.
Allerdings möchte ich schon gern erst mal einen Gedanken ausloten, nämlich Gründe finden, ob heute Autoritätshörigkeit auf dem absteigenden Ast ist und welche Auswirkungen das auf ein tehoretisches Verständnis der heutigen Umbruchprozesse hat.

(1.2.4.1.2.1.1.1) Autoritätshörigkeit, 02.11.2004, 21:45, Birgit Niemann: Die Frage scheint mir wichtiger, inwieweit Autoritätshörigkeit noch eine echte Rolle spielt. Denn das Problem liegt doch heute nicht in der Unterwerfung unter eine Autorität, sondern in der Funktionalisierung unter einen Reproduktionsprozess, dessen Selbstzweck darin besteht, Tätigkeitspotenzen von Menschen zu akkumulieren. Und zwar um der Potenz willen, nicht um der Menschen. Ob die Menschen in ihrer Funktionalisierung dann kooperativ oder autoritativ miteinander umgehen, scheint mir für die Betroffenen zwar wichtig, aber ansonsten eher zweitrangig, zumindestens dann, wenn der organisierende Prozess mehr Opfer fordert, als er Kooperativitäten möglich macht.

(1.2.4.1.2.1.1.1.1) 03.11.2004, 10:30, Hans-Gert Gräbe: Das hat C. Spehr in seinem "Alien-Buch" ziemlich gut expliziert. Wie die früher personal gebundenen Kommandostrukturen nun, im (in seiner Terminologie) "demokratischen Zeitalter", das etwa 1945 beginnt und durch entpersonalisierte Herrschaftsformen charakterisiert ist, so daherkommen, als wären sie im Nichts verankert, als ob es "nach einem Plan der Aliens" gehen würde. Du nennst das "Funktionalisierung unter einen Reproduktionsprozess", aber die Spehrsche Beschreibung als "entpersonalisierte Herrschaftsformen" halte ich für angemessener.
Das habe ich versucht, in meinem glob-Paper etwas weiter zu diskutieren. Deshalb vielleicht zunächst nur dieser Verweis.
Deinen Aufsatz hier finde ich vor allem deshalb interessant, weil - so habe ich dich jedenfalls verstanden - du (auch) versuchst, das vage Gefühl der Umkehr von Vergesellschaftungsprozessen von einem "von oben nach unten" zu einem "von unten nach oben" theoretisch zu fassen. Für mich wird im Laufe der Zeit immer deutlicher, dass es sich dabei wohl um einen Effekt auf der "Popper-Ebene" handelt.

(1.2.4.1.2.1.1.2) Phylogenese und Ontogenese, 02.11.2004, 21:59, Birgit Niemann: Zu den Eintrichterungen in der Schule gehörte aber auch, dass die Wiederholung der Phylogenese durch die Ontogenese immer verzerrt ist. Denn in der Ontogenese wird von der Phylogenese nur das konserviert, was das Indidividuum in seiner ontogenetischen Entfaltung gebrauchen kann. Alles andere degeneriert in verschiedenen Stadien bis zum Verschwinden vor sich hin und in der Ontogenese erscheinen dann seltsame "Sprünge", die in der Phylogenese gar keine waren.

(1.2.4.1.2.1.1.2.1) 03.11.2004, 10:42, Hans-Gert Gräbe: Das kennst du als Biologin sicher besser. Aber ich werfe ein, dass auch hier Monokausalität fehl am Platze ist. Es wird kein Programm abgespult, sondern Entwicklungs_potenzen_ entfalten sich (oder auch nicht), und zwar in konkreten Zeitfenstern und (nur) unter konkreten Bedingungen. In diesem Sinne wird schon die Hauptlinie der Ontogenese knapp nachgezeichnet. Die Irrwege sind auch deshalb nicht erforderlich, weil alle bisherigen Generationen die Bedingungen weitgehend "kultiviert" haben. Insofern hat Dawkins mit seinem "egoistischen Gen" schon ein Stück weit recht, auch wenn er in das andere Extrem verfällt (vielleicht aber auch nicht - habe das Buch nicht gelesen).

(1.2.4.1.2.1.1.2.1.1) sondern Entwicklungs_potenzen_ entfalten sich, 04.11.2004, 22:52, Birgit Niemann: Eben genau die Entwicklungspotenzen können sich entfalten (oder auch nicht), die im genetischen Programm vorweggenommen sind. Ein genetisches Programm ist eben nicht so eindimensional strukturiert, wie das bei den Software-Programmen heute noch zu sein scheint (was ich aber nicht genau weiß). Es enthält immer schon programmierte Alternativen in Sich. Im übrigen fällt Dawkins nicht in ein Extrem, sondern er versucht die Welt konsequent vom Standpunkt der Gene zu betrachten, obwohl er selbst Verhaltensbiologe ist. Was bedeutet, dass er durchaus souverän den Betrachtungsstandpunkt wechseln kann. Das Lesen lohnt sich übrigens, denn originelles Querdenken in unterhaltsamer Schreibweise ist m.E. von jedem Standpunkt aus lohnenswert.

(1.2.4.1.2.1.2) 01.11.2004, 14:05, Hans-Gert Gräbe: "Kapitalismus ist kein ziemlich frühes Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern das späteste, das wir kennen". Es gibt verschiedene Leute, die einen "Sprung" in der menschlichen Vergesellschaftung prophezeien, von der geschlossenen zu offenen Gesellschaft (Popper), vom Reich des Zwangs zum Reich der Freiheit (Engels), von der dritten Welle (Toffler), von der Biosphäre zur Noosphäre (Wernadski, de Jardin) und selbst im chritlichen Messias steckt ein solches Motiv. Und der Zeitpunkt liegt irgendwann jetzt. Für mich ist die Frage, ob der Kapitalismus die letzte Stufe des Alten oder die erste Stufe des Neuen in einer solchen Vision ist. Hier setzt mein Bild mit der Pubertät an.

(1.2.4.1.2.1.2.1) Visionen, 02.11.2004, 21:54, Birgit Niemann: Klar, nicht alle, aber einige kenn ich davon. Aber nicht selten redest Du von Bifurkationspunkten. Das ist etwas, was im Leben allgegenwärtig ist. An einer Gabelung aber realisieren sich mindestens zwei Alternativen. Rosa Luxemburg erfasste das damals ziemlich gut, als sie sagte: Sozialismus oder Barbarei. Und alle oben genannten Visionen vergessen die Alternativen, die die Richtung der Zukunft unvorhersehbar machen. Das Endpunkte gleichzeitig Ausgangspunkte für Neuentwicklungen sind, ist keine Frage. Aber für den obigen Geschichtsoptimismus sehe ich nirgends Veranlassung. Obwohl ich von meiner individuellen psychischen Struktur her ein unverbesserlicher Optimist bin.

(1.2.4.1.2.1.2.2) Visionen, 03.11.2004, 10:49, Hans-Gert Gräbe: Lass uns - im Sinne kritischer Theorie - zunächst mal Theorie machen. Die Visionen können wir ja im Hinterkopf haben. Und fehlender Optimismus wäre nach meinem Verständnis schon ein deutliches Symptom für Depression, also eher ein individuell-psychologisches Phänomen.
Obwohl die "kritischen Theoretiker" um Adorno und Horkheimer - sicher nicht ohne Grund - gerade solche psychischen Phänomene in ihre theoretischen Betrachtungen einbezogen haben. Aber vielleich machen wir diese Dimension - zugunsten einer Schärfung unseres eigentlichen Themas - hier mal nicht auf.

(1.2.4.2) 20.02.2003, 22:34, Birgit Niemann: Ganz nebenbei und am Rande bemerkt, komme ich auch mit dem intendierten Gegensatz von "natürlichen Beziehungen" und "durch menschliches Handeln hervorgebrachten Beziehungen" nicht so richtig zurecht. Weil einfach alle lebendigen Beziehungen durch das Handeln der beteiligten Individuen hervorgebracht werden. Auch nichtmenschliche ("natürliche") Handlungen sind nicht unveränderlich transhistorisch, zwangsläufig und schon immer vorhanden, sondern (genauso wie menschliche, nur mit wesentlich weniger Freiheitsgraden) an die historisch veränderlichen Strukturen, Fähigkeiten und variablen Möglichkeiten der im Kontext ihrer Welt handelnden Individuen gebunden. Handlungsvariation steht z.B. bei den meisten Trägern respektabler Gehirne (insbesondere bei Vögeln und Säugetieren) in der Regel am Anfang von historisch neuen Situationen und zieht erst über die Generationen stoffliche Veränderungen nach sich (Der Gegensatz zwischen "Darwinismus" und "Lamarckismus" ist nicht so starr, wie er "vergrundsätzlicht" in den Schulen gelehrt wird und in der Einzeller-Welt gibt es ihn nicht einmal). An welcher Stelle genau hört also die "Natur" auf ?

(1.2.4.3) 20.02.2003, 22:36, Birgit Niemann: Ich differenziere lieber zwischen der wirklichen Welt und der virtuellen Welt der Reflexion, in der es sowohl Interaktionen zwischen nichtlebenden Weltbestandteilen, als auch Reproduktionsverhältnisse "geistfreier" Lebewesen, sowie (Re)Produktionsverhältnisse "geisterzeugender" (menschlicher) Lebewesen gibt. Deshalb unterscheide ich auch eher zwischen blinden (unbewußten) Handlungen und bewußten Handlungen oder orientiere mich an den realen stofflichen Strukturen (Genom bzw. Gehirn), durch deren Aktivität im Kontext eines stofflichen Organismus und seiner jeweiligen historisch spezifischen Welt das konkrete Handeln entweder stofflich oder virtuell (bzw. durch einen artspezifischen Mix von Beidem) vorweggenommen wird, als dass ich "natürliche" oder "menschliche" Handlungen scheingegensätzlich gegenüberstelle.

(1.2.4.3.1) wir wirken virtuell, 21.02.2003, 00:36, Uwe Berger: Im gegensatz zur Materie, die sich gegenseitig verdrängt, kann Geist/Seele sich miteinander durchdringen. Nichts und niemand hat in dieser Welt Materie oder Geist erzeugt. Leider müssen sich die Individualkörper mit Geist/Seele ein wenig aufplustern. Würde hierbei mehr Wert auf Durchdringung statt Verdrängung gelegt (Revierkonflikte sind endlich) ließe sich erkennen: Lebewesen sind nicht "geistfrei" (menschlicher Individualgeist verdrängt das gern) und Gedanken sind wie Wasser oder Luft, wir können sie haben, aber wir sind es nicht; wir können sie (mit)teilen, aber sie gehören uns nicht.

(2) Claus Peter:# Es wird mit dem Begriff der "sozialen Gesellschaft" das Bild eines gesellschaftlichen Teilbereichs an die Wand gemalt, der von der Kapitalverwertung noch nicht angefressen bzw. vereinnahmt wurde und der von deren Druck gewissermaßen nur "befreit" werden müsste.

(2.1) 20.02.2003, 22:36, Birgit Niemann: So könnte man es auffassen. Gemeint ist es aber genau anders herum: Es existieren in der von der Kapitalverwertung weitgehend aufgefressenen Gesellschaft unter und neben den Tauschwertbeziehungen noch immer soziale Rudimente. (Ein Rudiment ist in der Biologie eine Struktur, die auf Grund veränderter Lebensraumanforderungen ihre ehemals sinnvolle Funktion verloren hat und deshalb von Generation zu Generation vor sich hin degeneriert).

(3) Claus Peter:# Einen solchen gesellschaftlichen Teilbereich aber gibt es nicht (mehr), wie der Text selbst ja eindrucksvoll belegt.

(3.1) 20.02.2003, 22:36, Birgit Niemann: Doch. Noch immer läuft die Reproduktion der menschlichen Individuen biologisch-sozial. Bei euch Krisisleuten heißt das (glaub ich): "das abgespaltene Weibliche, das nicht kapitalisierbar ist". Bisher nicht, setze ich mit meinem Text hinzu. Die Übernahme dieses nunmehr wirklich letzten Teilbereiches des menschlichen Lebens steht ja gerade auf der aktuellen Tagesordnung des Kapitals. Auch haben so einige gesellschaftliche Institutionen noch soziale Rest-Anteile, die aber gerade im o.g. Okkupations-Prozess vom Kapital komplett übernommen werden. Ganz eindrucksvoll ist das an der Instrumentalisierung der Ethik zu beobachten. Nicht das die Ethik nicht schon immer ein soziales Instrument war, aber mit der "Bio-Ethik", die in Wahrheit eine "numerische Ethik" ist, werden ihre letzten echten Sozialfunktionen komplett vom Kapital vereinnahmt. Das ist ein Thema, dass ich in diesem Artikel gar nicht anspreche, weil das die linken Soziologen viel besser können als ich.

(4) Claus Peter:# Was es tatsächlich gibt, sind Illusionen darüber ("Zivilgesellschaft", "demokratische Öffentlichkeit" etc.), die aber von positiven Vorstellungen über eine emanzipatorische Gesellschaft sauber zu trennen ist. Mit dem Begriff "soziale Gesellschaft" wird die Assoziation hervorgerufen, es gebe so etwas wie einen autonomen Bereich, der nach anderen Regeln funktioniert als den warenförmigen. Tatsächlich gelten, wo immer heute Menschen miteinander umgehen, beide Regelsysteme, das warenförmige und das "soziale", letzteres in der Öffentlichkeit aber allenfalls rudimentär.

(4.1) 20.02.2003, 22:37, Birgit Niemann: Letzteres sehe ich ganz genauso. Ersteres etwas anders. Die sozialen Rest-Beziehungen sind zwar schon lange nicht mehr autonom, haben aber durchaus immer noch eine sichtbar eigene Qualität. Wenn ich mir (mit meinem hauptsächlich anschaulich funktionierendem Verstand) versuche vorzustellen, wie das Ganze praktisch aussieht, dann sehe ich vor meinem inneren Auge zwei differente und eigengesetzliche, aber sich überlagernde Interaktionsnetzwerke. Das heute zerreissend dünn gewordene Interaktionsnetzwerk der sozialen Beziehungen und das heute die ReProduktionsprozesse bestimmende Interaktionsnetzwerk der Tauschwertbeziehungen. Individuelle Menschen sind eigenaktive, identische Knotenpunkte in beiden Netzwerken. Wenn diese dann konkrete (Inter)Aktionen vom einen oder anderen Typ tätigen, geraten meist beide Netzwerke gleichzeitig aber nicht unbedingt parallel und gleichstark in Bewegung. Der uns vertraute Menschentyp (dem auch wir angehören) ist aber mit seinen kommunikativen und kooperativen Strukturen und Fähigkeiten vor allem für die Verwendung des sozialen Interaktionsnetzwerkes eingerichtet. Deswegen überschätzt er es unbedacht so leicht, wenn er sich nicht den bewußten Anstrengungen einer Gesellschaftsanalyse unterzieht. (In Wahrheit liegt natürlich noch ein drittes Netzwerk darunter: das stofflich-biologische, aber das ist hier nicht Thema). Das war jetzt vielleicht keine tolle theoretische Begründung, aber seit ich begriffen habe, dass Sinnbilder keine Märchen sind, sondern die ältere und ganzheitliche Form der menschlichen Erkenntnis, die komplexe Prozesse sehr genau und adäquat wiederzuspiegeln vermag, übersetze ich meine sequentiellen Gedanken gern in komplexe Bilder, ohne gleich zu befürchten, nicht intelligent genug für Abstraktionen zu erscheinen.

(4.2) 24.02.2003, 14:29, Bernd vd Brincken: Richtig - und auch die Assoziation, der Kapitalismus könne ohne soziale Regelsysteme funktionieren, wäre falsch.

(5) Claus Peter:# Problematisch ist es, eine Ethik-Kommission oder eine (persönlich noch so integre) grüne Ministerin als Vertreterin der "sozialen Gesellschaft" auftreten zu lassen, das kann sie ihrer Rolle nach überhaupt nicht sein. Das sind "zivilgesellschaftliche" Illusionen, die ja gerade in der Annahme bestehen, der Kapitalismus ließe sich von der (so verstandenen) "sozialen Gesellschaft" nach außerkapitalistischen Kriterien steuern, obwohl er sie doch längst in den Privatbereich abgedrängt hat.

(5.1) 20.02.2003, 22:37, Birgit Niemann: Von "zivilgesellschaftlichen Illusionen" bin ich eigentlich ziemlich frei, vor allem weil ich in der "Zivilisation" den über "Tauschwertbeziehungen" organisierten menschlichen Vergesellschaftungstyp sehe. Soweit sind wir uns durchaus einig: nicht die soziale Gesellschaft steuert den Kapitalismus, sondern Letzterer instrumentalisiert Erstere. Die permanente Reproduktion der Einbildung von sozialer Steuerung ist allerdings eine seiner notwendigen Stabilisierungsmechanismen. Notwendig zumindestens solange, wie noch Reste der sozialen Gesellschaft existieren.

(5.2) 20.02.2003, 22:38, Birgit Niemann: Das ändert aber nichts daran, dass der soziale Vergesellschaftungstypus tatsächlich die einzige Art von Vergesellschaftung ist, die sich auf Grund ihrer inneren Eigengesetzlichkeiten überhaupt selbstbewußt regulieren kann. Das bleibt auch so, wenn diese ihr inhärente Potenz kapitalistisch stranguliert wird und deshalb objektiv keine Chance für die Entfaltung dieser Potenz besteht. Wenn Andrea Fischer im Rahmen ihrer ministeriellen Möglichkeiten eine öffentliche Diskussion um gesetzliche Regelungen organisiert, in deren Rahmen sie kapitale Freiheiten einschränken will, dann zieht sie tatsächlich an den "Fäden des sozialen Interaktionsnetzwerkes" und das "kapitale Interaktionsnetzwerk" hat darauf schlagkräftig reagiert. Gerade ihr Scheitern und ihre Entlassung zeigen ja deutlich, dass sich die soziale Gesellschaft heute nicht mehr wagen kann, kapitale Interessen auch nur vorsichtig anzutasten. Pikanterweise musste gerade eine aus den Tauschwertbeziehungen hervorgehende Instabilität wie BSE (im Blickwinkel der sozialen Beziehungen nicht zufällig auch als "Verantwortungslosigkeit" bzw. "Skandal" reflektiert) dafür herhalten, um ihr den Einsatz der ministeriellen Möglichkeiten für den (in der Tat aussichtslosen) Durchsetzungsversuch ihrer sozialen Absichten zu entziehen. Wirklich "bewundernswert", wie geschickt "das Kapital" das wieder hingekriegt hat. Außerdem zeigt das, dass Andrea Fischer die für sie "zulässigen ministeriellen Möglichkeiten" offensichtlich nicht richtig interpretiert hatte. Daher war sie sowieso "untauglich" als Ministerin in der kapitalistischen Gesellschaft. Gerade diese Schwäche der sozialen Gesellschaft, die Andrea Fischer da so unbewußt und naiv aufgedeckt hat, wollte ich in meinem Text verdeutlichen.

(5.3) 20.02.2003, 22:38, Birgit Niemann: Ausserdem sind es in der Tat die armseligen Rudimente der sozialen Gesellschaft, die die Kapitalverhältnisse notdürftig zu überdecken suchen, die in der Frage der Embryonenverwertung ihrem entgültigen Untergang unmittelbar in's Gesicht schauen müssen. Das dies selbst die "demokratischen Parlamentarier" und deren Unterbau erschreckt, wird besonders an der Tatsache deutlich, dass ausgerechnet von CDU und CSU - Leuten so massive Gegenpositionen zur Embryonenverwertung kommen. Das sind meines Erachtens diesmal nicht allein die altvertrauten "christlichen" Stereotypen, obwohl diese Tradition ihnen den Widerspruch besonders leicht machen. Die schwarzen Stimmen begeben sich hier zum erstem Mal in einen echten Konflikt mit dem Kapital, weil sie etwas teilkonsequent ablehnen, worauf das Kapital gar nicht verzichten kann. Das hat es meines Wissens bisher in dieser Form noch nicht gegeben.

(6) Claus Peter:# Indem auch noch die Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft via Stammzellen- und Embryonenforschung warenförmig und unabhängig von direkten menschlichen Beziehungen organisiert und kapitalistisch optimiert wird, scheint die "soziale Gesellschaft" (respektive das "abgespaltene Weibliche") für den Kapitalismus überflüssig zu werden.

(6.1) 20.02.2003, 22:39, Birgit Niemann: Genau das ist meine Aussage unter der letzten Überschrift: Abgesang.

(6.2) 24.02.2003, 13:49, Bernd vd Brincken: Sorry, aber durch die Forschung wird die Reproduktion ja keinesfalls organisierbar, sondern allenfalls durch die Anwendung dieser Forschung.
Dies setzte aber voraus, dass die Ergebnisse der Forschung zu "Erfolgen" führen, dass da "Arbeitskraft" irgendwie mit geringerem Kapitaleinsatz "produzierbar" wäre als mit natürlichen Menschen. Das kann aus verschiedenen Gründen überhaupt nicht funktionieren.
Alles andere sind, mit Verlaub, Projektionen.

(6.2.1) Alles andere sind, mit Verlaub, Projektionen., 25.02.2003, 18:38, Birgit Niemann: Ja natürlich sind es Projektionen. Jedes Projekt, jede Prognose, jeder Handlungsplan, ergo jegliche vorausgedachte menschliche Tätigkeit lebt von Projektionen. Wir Menschen sind unter allen existierenden Lebewesen geradezu die "Meister der Projektion" und Denken besteht u.a. aus der ideellen Vorwegnahme zukünftiger Realität. Wo also liegt das Problem? Es geht in der Diskussion ja eben gerade darum, die heute schon vorhandene Realität anhand einer Analyse der erkennbaren Entwicklungsmotoren auf zukünftige Realität zu befragen. Herausgearbeitet wird dabei eine realistische Möglichkeit. Ob sie sich tatsächlich verwirklichen wird, ist eine andere Frage. Denn die Summe der realistischen Möglichkeiten (Potenzen) ist insbesondere in der lebendigen Welt grundsätzlich immer größer, als die Summe der späteren Wirklichkeiten. Und diese Art von Projektion einer konkreten Zukunft anhand heutiger Realitäten und erkennbarer Triebkräfte hat geradezu den Zweck, diese Verwirklichung zu hintertreiben. Forschung aber ist nicht mehr nur eine ideelle, sondern auch eine experimentelle Vorwegnahme von Zukunft. Auch zeugt es von mangelhafter Informiertheit über diese Materie, artifizielle menschliche Reproduktion vor allem als Forschungsgegenstand zu begreifen. Forschungsgegenstand war das bisher am allerwenigsten, weil mit Embryonen bisher nicht geforscht werden durfte. Das ist es ja, was sich gerade ändert. Wie die Sache mit dem Kapitaleinsatz aussieht, dass wird sich noch erweisen. An der IVF zumindestens wird privat verdient, denn bezahlt wird sie von der Allgemeinheit. Auch die Embryonenverbrauchende Forschung, die sich weltweit in statu naszendi befindet und die gegenwärtige Einrichtung der englischen Stammzellbank, die zur Produktion von menschlichen Embryonen nach Industrienormen führt, wird zunächst aus öffentlichen Geldern bezahlt, bevor die Ergebnisse privatisiert werden. Hinzu kommt, dass es hier nicht allein um Reproduktionskosten geht, sondern auch um Bevölkerungsökonomie.

(7) Claus Peter:# Dass dahinter stehende Ziel einer Gesellschaft von im Sinne der Kapitalverwertung perfekten "menschenähnlichen Wesen" (lebendigen Werkzeugen) ist Bedrohung genug. Ob es erreicht werden kann oder auf andere Weise apokalyptisch endet, scheint fast zweitrangig. Von der Kritik der mathematisch- naturwissenschaftlichen Methode herkommend, halte ich aber das Ziel nicht für wesentlich verrückter als den Glauben, es ließe sich erreichen. Leider ist das kein Grund zur Beruhigung. Um es in den hier diskutierten Termini auszudrücken: Der Kapitalismus bedarf der "sozialen Gesellschaft" eben nicht nur für die Reproduktion der Arbeitskraft, sondern auch der Aufrechterhaltung eines Mindestmaßes an psychischer Stabilität, und wird, indem er sie okkupiert, sich selbst und vermutlich auch die Menschheit zerstören.

(7.1) 20.02.2003, 22:40, Birgit Niemann: Der von dir als verrückt bezeichnete "Glaube" wird täglich umgesetzt. Scheibchen für Scheibchen und das Tempo eskaliert.

Deinen letzten Satz würde ich ein wenig herumdrehen, was aber zum selben Ergebnis führt. Der Kapitalismus bedarf der sozialen Gesellschaft bald überhaupt nicht mehr. Deren innere Schranken erweisen sich vielmehr als Bremsklotz für die weitere Entwicklung (die der Evolution ähnlicher ist, als der Geschichte) Er kann seine handelnden Funktionselemente jetzt bald an seine eigenen Bedingungen auch stofflich anpassen und muss dann keine falschen Rücksichten mehr nehmen. Bis dahin ersetzt er alles, was einmal verantwortlicher Entscheidung bedurfte, komplett durch seelenlose, numerische Prozesse (numerische Ethik, numerische Risikoabschätzung, Risikomanagment und solange noch soziale Restbestände existieren auch noch Risikokommunikation, sprich Akzeptanzherstellung). Philosophie, Theorie, Politik, Recht, Ethik, Religion und Kultur werden dabei überflüssig und lösen sich durch Aushöhlung und Leerlauf flächendeckend in postmoderner Beliebigkeit auf. Die Psyche und die Reste der sozialen Gesellschaft gehen dabei d'rauf. Nicht umsonst haben Depressionen mittlerweile den Charakter einer Volkskrankheit angenommen und Psychiater übernehmen persönlich unbeteiligt und bezahlt die Entsorgung der letzten sozialen Beziehungen. Der soziale Mensch wird dabei vollständig in ein instrumentelles Funktionselement transformiert. Der Witz daran ist, dass das Kapital letztendlich in innerem Zusammenhang mit der sozialen Gesellschaft, dem Geist und dessen Arbeitsfähigkeiten steht, weil es dessen abgespaltener verselbständigter und fetischisierter Anteil ist. Sterben erstere, stirbt auch das Kapital.

(7.2) 20.02.2003, 22:40, Birgit Niemann: Was übrig bleibt, ist eine neuartige Form von Superorganismen, die sich nicht über genetische, sondern primär über elektronische Programme, die in genetische umgesetzt werden, organisieren. Vom geistigen Menschen werden dann vor allem noch zwei funktionale und instrumentelle Fähigkeiten gebraucht: Erstens: die Virtualisierung partieller instrumenteller stofflicher Zusammenhänge ("Natur"wissenschaftler) und zweitens: deren Umsetzung in stoffliche und elektronische Algorithmen (Techniker und Programmierer bzw. Technikprogrammierer). Was vom Rest der menschlichen Psyche und des menschlichen Körpers für diese Zwecke noch gebraucht wird, oder als "Ballast der Evolution und Geschichte" wegfallen kann, wird sich Stück für Stück herausstellen. Auf das Verständnis von Zusammenhängen (die Synthese des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhanges im Geiste, was Vorraussetzung für dessen bewußte Beeinflussung ist) kann verzichtet werden, weil dies in Computernetzwerken externalisiert wird. Denn so, wie die Manufaktur die Negation des Handwerkes war, scheint die Informatik die Negation der Philosophie.

(7.3) 24.02.2003, 13:58, Bernd vd Brincken: Also wenn man den Glauben an die Bedrohung der Gentechnologie für "verrückt" hält - dann ist das sehr wohl beruhigend, nachdem man sie vorher für bedrohlich hielt.
Und richtig, "der Kapitalismus" wird die Gesellschaft auch nicht via Gentechnologie okkupieren, denn er wird rechtzeitig "merken", dass da für ihn nichts zu holen ist.
"Soziale Gesellschaft" bleibt spannend, aber die Science-Fiction Themen führen da schlicht ins Phantasialand.

(7.3.1) 25.02.2003, 18:51, Birgit Niemann: Das Kapital hat so gut wie alle Gesellschaften längst okkupiert, wir leben im Kapitalismus. Weit und breit ist nichts anderes mehr auszumachen. Mit Hilfe der Gentechnik okkupiert das Kapital also nicht die Gesellschaft, sondern es kapitalisiert nunmehr die Baupläne lebendiger Organismen, einschließlich des Menschen. Und die grandiosen und durchschlagenden Fähigkeiten des Kapitals zur Kapitalisierung von Lebensprozessen sind ja wohl nach 500 Jahren menschlicher Erfahrung mit dem Kapital kaum zu bestreiten.

(8) Claus Peter:# An einigen Stellen des Textes werden "allgemein menschliche" Kennzeichnungen gewählt, die aber genau besehen nur für die bürgerliche Gesellschaft zutreffen.

(8.1) 20.02.2003, 22:41, Birgit Niemann: Das liegt daran, dass ich die bürgerliche Gesellschaft zur menschlichen Geschichte dazuzähle und auch in den Zeiten vor der bürgerlichen Gesellschaft einige dynamische Prozesse am Werk sehe, die der Logik der Verwertung des Wertes entsprechen bzw. ihr analog sind, obwohl sich der Wert noch nicht von seinen stofflichen Grundlagen (Land, Menschen) losgerissen und verselbständigt hatte und auch noch nicht die Gesellschaften dominierte. Es handelt sich in Wahrheit also nicht um "allgemein menschliche", sondern eher um "proto-kapitalistische" Kennzeichnungen. In euren Texten vermisse ich oft ein wenig das historische Band. Aus meiner Sicht verliert die historische Spezifik kein bischen an Gehalt, wenn man sie in den geschichtlichen Gesamtkontext stellt.


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