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Maintainer: Christoph Spehr, Version 1, 12.02.2001
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Erster Teil: Freiheit und Gleichheit

(1) Morpheus: What is the Matrix? It is the world that has been pulled over your eyes to blind you from the truth.
Neo: What truth?
Morpheus: That you are a slave, Neo. Like everybody else, you were born into bondage ... kept inside a prison that you cannot smell, taste, or touch. A prison for your mind.

Andy und Larry und Wachowski, The Matrix

Text von C. Spehr, als Maintainerin in OT gestellt von A.Schlemm

(1.1) Re: Erster Teil: Freiheit und Gleichheit, 23.02.2001, 13:06, Bertram Köhler: (1) Mein allgemeiner Kommentar steht auf der Seite http://home.t-online.de/home/Bertram.Koehler/frund.htm

Das Putzfrauen-Dilemma

(2) Der heutige bürgerliche Mittelstand ist vertraut mit einem Problem, das als "Putzfrauen-Dilemma" bekannt ist. Es geht etwa so: Nach dem ersten Kind geht die Frau wieder arbeiten. Da sie in konventioneller Weise für den Bereich der familiären Reproduktion verantwortlich ist, kauft sie fremde Dienstleistungen ein, um sich die Zeit zu verschaffen, in der sie arbeiten geht: Sie beschäftigt eine Putzfrau. Die Putzfrau kostet Geld. Nun arbeitet aber die Frau, die die Putzfrau anstellt, selbst in der Regel Teilzeit. Sie wird aufgrund von Babypause, Qualifikationsverlust und allgemeiner patriarchaler Lohnpolitik vergleichsweise schlecht bezahlt. Da überdies die staatliche Steuerpolitik sie benachteiligt bzw. den männlichen "Alleinernährer" besonders fördert, stellt sich heraus: Es lohnt sich nicht. Der Mehrverdienst geht für das drauf, was die Putzfrau kriegt, ja womöglich zahlt man noch drauf, und wenn die Putzfrau dann noch Sozialabgaben kriegen soll, du lieber Himmel. Ohne Putzfrau kann die Frau nicht wieder arbeiten gehen; mit Putzfrau aber auch nicht. Das ist das Putzfrauen-Dilemma.

(3) Das Putzfrauen-Dilemma betrifft verschiedenste Dienstleistungen und Lebensformen. Seine Ökonomie lässt sich in Kategorien von Geld oder von Zeit beschreiben. Was kostet die Tagesmutter? Wieviel Zeit kostet es, die Kinder zur Kita zu schaffen, wieder abzuholen, an Elternabenden teilzunehmen, unter Umständen alle paar Wochen für alle zu kochen usw.? Wieviel Ärger bereitet die Putzfrau, die ständig alles falsch macht? Der stöhnende Ausruf, dass es "sich nicht lohnt", wird von traditionellen patriarchalen Kleinfamilien ebenso erhoben wie von homosexuellen Lebensgemeinschaften oder alternativen WGs, die alle ihre Putzfrau haben wollen. Er wird auch von karriereorientierten Singles ausgestoßen, die feststellen, dass ihre aktuelle Beziehung soviel Beziehungsarbeit oder soviel Geld kostet, dass die emotionalen, zeitlichen und finanziellen Kosten den Gewinn für die Reproduktion der eigenen Arbeitskraft überwiegen. Im Prinzip folgt auch das unternehmerische Jammern über die hohen Lohnnebenkosten und dass Arbeit "zu teuer" ist, dem Muster des Putzfrauen-Dilemmas. "Ohne" geht es nicht, "mit" aber lohnt es sich auch nicht.
Natürlich haben alle ihre Putzfrau. Natürlich lohnt es sich anscheinend doch.

(4) Worum geht es also? Es geht um Ideologie; es geht um die Verteidigung eines Anspruchs; es geht um eine Politik, diesen Anspruch durchzusetzen. Dieser Anspruch lautet: Du musst weniger kosten als ich. Und: Du musst akzeptieren, dass ich den Preis festsetze, so dass du weniger kostest als ich. Und zwar deutlich weniger.
Dies ist das Putzfrauen-Prinzip. Wo immer über das Putzfrauen-Dilemma lamentiert wird, geht es im Kern um die Durchsetzung des Putzfrauen-Prinzips: des Anspruchs, dass jemand anders weniger kosten muss als wir und dass wir die Bedingungen der Kooperation möglichst einseitig diktieren.

(4.1) 23.02.2001, 13:09, Bertram Köhler: (4) Ist das der richtige Ausgangspunkt? Ich sehe das nicht so. Wenn ich eine „Putzfrau“ brauche, dann nicht weil sie weniger kosten muß, als ich, sondern weil ich ihre besonderen Fähigkeiten brauche, die sie gelernt hat und deshalb mit weniger Aufwand an Arbeitszeit das geforderte Ergebnis erzielt als ich. Wenn das nicht so ist, brauche ich sie nicht und mache es lieber selber. Was also soll das „Wir“? Für den „bürgerlichen Mittelstand“ mag das gelten, für mich nicht

(4.1.1) Putzfrauen-Dilemma, 11.11.2001, 11:16, Susanna H: In den meisten Fällen ist es so, dass Menschen Profis mit einer Arbeit beauftragen, weil diese die Arbeit durch besseres Wissen und besseres Werkzeug viel schneller und besser tun können als Laien - oder weil der Mensch, der den Profi engagiert, die Arbeit selbst überhaupt nicht tun kann.
Putzen gehört jedoch nicht zu diesen Arbeiten. Von den "besonderen Fähigkeiten einer Putzfrau, die sie gelernt hat" zu reden, halte ich entweder für Hohn - oder für den Versuch, von diesem einen konkreten Beispiel abzulenken und stattdessen von Arbeitsteilung im allgemeinen zu sprechen.
(Ich gebe gerne zu, dass Putzfrauen mit besserem Werkzeug ausgestattet sind und schneller saubermachen als Menschen, die nur für sich selbst putzen. Aber das ist nicht der Grund, sie einzustellen. Konkret gefragt: Wer würde eine Putzfrau anstellen, die sechzig Mark die Stunde verlangt?)

Kooperationen

(5) Es ist ein äußerst merkwürdiger Anspruch. Unter Menschen, die sich als halbwegs gleich betrachten, wird er nicht erhoben. Nimmst du meine Kinder, nehm ich deine Kinder; leihst du mir eine Stunde dein Ohr, leih ich dir meins; trägst du meinen Umzugskarton, trag ich deinen; trage ich das meine zu unserer Kooperation bei, trägst du etwas anderes bei. All dies können wir (nicht in jedem Fall, aber grundsätzlich) als gewinnbringende Kooperation betrachten; wir erwarten dabei nicht, dass wir etwas geschenkt bekommen. Wir würden es als diskriminierend empfinden, wenn jemand sagt: Hör mal, du kannst doch meine Kinder etwas öfter mit vom Kindergarten nach Hause nehmen als ich deine, meine Arbeitszeit ist nämlich teurer bezahlt als deine! (Was nicht heißt, dass so etwas nicht hin und wieder tatsächlich gesagt wird.)
Das ist genau der Punkt: Zwischen Menschen, die sich als gleich betrachten, sind wir äußerst empfindlich gegenüber dem Ansinnen, die eigene Zeit, Kraft, Leistung, Person sei fühlbar weniger wert als die des anderen. Und wir sind äußerst empfindlich, wenn wir den Eindruck gewinnen, dass sich die konkrete Kooperation für den anderen deutlich mehr lohnt als für uns selbst. Wir erwarten aber nicht (jedenfalls nicht bewusst), dass sie sich für uns deutlich mehr lohnen muss als für den anderen. Unter Gleichen definieren wir "es lohnt sich" als: "Diese Kooperation ist besser für mich, als wenn ich sie nicht hätte." Wir definieren "es lohnt sich" nicht als: "Diese Kooperation lohnt sich, weil ich dir weniger gebe als du mir."

(5.1) Re: Kooperationen, 23.02.2001, 13:12, Bertram Köhler: (5) Wirklich „Gleiche“ kooperieren nicht miteinander, denn sie haben sich nichts zu geben

(5.1.1) Re: Kooperationen, 23.02.2001, 19:15, Rolf Köhne: Gleich meint "gleiche Augenhöhe", Abwesenheit von Über- oder Unterordnung in jeglicher Hinsicht bei Anerkennung der Individualität, also der Verschiedenheit.

(6) Der Jammer über das Putzfrauen-Dilemma bezieht seine emotionale Kraft und seine scheinbare Plausibilität also daraus, dass wir legitimerweise empfindlich sind gegenüber einer Kooperation, die sich für andere mehr lohnt als für uns, und dass diejenigen, die da jammern, oft sowieso den Verdacht haben, in anderen Kooperationen ausgenommen zu werden (was ja z.B. im Fall der patriarchalen Kleinfamilie oft auch zutrifft für die Kooperation mit dem männlichen "Hauptarbeiter"). Ein Argument und eine Haltung, die unter (dem Anspruch nach) Gleichen gerechtfertigt sein könnten, werden dazu verwendet, eine Struktur der Ungleichheit zu rechtfertigen und einzufordern. Wir merken dies schon daran, dass wir diese Position gar nicht erst einer konkreten Verhandlung aussetzen würden. Jedenfalls hört man selten Gespräche wie: "Hör zu, ich verdiene netto und nach Abzug aller Kosten und Nachteile 1.500 für 100 Stunden im Monat, wenn ich wieder arbeiten gehe. Wenn ich dir pro Woche 25 Mark die Stunde gebe für acht Stunden, sind das 800 Mark im Monat. Du verdienst also mehr dran, dass ich arbeiten gehe, als ich, und kriegst fast doppelt soviel Stundenlohn. Wenn ich dann noch den Kindergarten abziehe, arbeite ich praktisch für umsonst!" - "Ja, aber dir geht es doch gar nicht nur ums Geld. Du willst diese Lösung, weil du wieder deine Arbeit machen willst, weil du deinen Wert auf dem Markt wiederherstellen willst, oder weil du deine Stellung gegenüber deinem Mann behaupten willst. In jedem Fall tauschst du eine Arbeit, die du gerne machst und die dich weiterbringt, gegen eine Arbeit, die du nicht gerne machst und die dich nicht weiterbringt, nämlich Putzen. Es wird dich vielleicht überraschen, aber mich bringt Putzen auch nicht weiter, und ich kann mir auch interessantere und angenehmere Arbeiten vorstellen. Und dass du den Kindergarten geistig von deinem Job abziehst und nicht von dem von deinem Typen, ist nicht mein Bier; willst du die Kinder ewig in deinem Wohnzimmer stapeln? Wenn ichs mir recht überlege, fände ich 30 Mark eigentlich angemessen."
Wir möchten uns so etwas gar nicht anhören. Wenn wir über das Putzfrauen-Dilemma jammern, wollen wir nicht verhandeln. Wir hängen der Vision an, die Bedingungen setzen zu können, nicht verhandeln zu müssen, einfach verfügen zu können. Der Vision von Herrschaft mithin. Wir beschweren uns darüber, dass wir in einem bestimmten Bereich, in einer bestimmten Beziehung, nicht genügend herrschen.

(6.1) 23.02.2001, 13:14, Bertram Köhler: (6) Wer ist „Wir“? (Das stört mich an vielen Stellen, aber ich werde es nicht mehr einzeln benennen)

Was ist Herrschaft?

(7) Was ist Herrschaft? Herrschaft besteht darin, über andere verfügen zu können: ihre Arbeit, ihren Körper, ihre Person. Es spielt dafür keine Rolle, ob das in guter Absicht geschieht, oder unwillkürlich, ob es für die Beherrschten in dieser oder jener Hinsicht vielleicht "nützlich" ist. Es spielt keine Rolle, wer uns dazu ermächtigt hat, ob uns diese Herrschaft zugefallen ist, ob wir hart dafür gearbeitet haben oder ob wir sie einfach beansprucht haben. Es spielt auch keine Rolle, ob sie uns jemand durch demokratische Verfahren zugeteilt hat, ob sie durch Verträge zustandekommt, ob wir sie erkauft haben, ob die Beherrschten sie uns freiwillig geben. All dies sind wichtige Unterschiede, es ist nicht egal für das, was abläuft. Aber all dies ändert nichts daran, dass hier Herrschaft vorliegt.

(8) Von den verschiedenen TheoretikerInnen der verschiedenen sozialen Bewegungen sind unterschiedliche Aspekte von Herrschaft betont worden, oder genauer gesagt, die Betrachtung von Herrschaft wird von unterschiedlichen "Urbildern" geprägt. Die marxistische Theorie geht vom Urbild des Arbeiters aus, dessen Leben darin besteht, dass er für den Mehrwert des Unternehmers verschlissen wird; die feministische Theorie geht vom Urbild der Frau aus, die unbezahlte Reproduktionsarbeit in der Familie leistet und sexueller Gewalt ausgesetzt ist; TheoretikerInnen der schwarzen Emanzipation gehen vom Urbild des Sklaven oder der Sklavin aus, die als Ding gehandelt werden, grundsätzlich völlig schutzlos sind und gewaltsam aus ihrer Welt in eine andere verfrachtet wurden. Schwul-lesbische Theorie geht aus vom Urbild des Menschen, der für seine Sexualität zum Monstrum gemacht wird, um die herrschende Form der familiären Reproduktion und der geschlechtlichen Sozialisation allgemein zu erzwingen; Theorien der antikolonialen Befreiung vom Urbild einer Gesellschaft, die von außen überfallen und zerstört und deren eigene Entwicklung ausgeschaltet wird.

(9) Die Aufzählung ist weder vollständig, noch die Urbilder verpflichtend. Je nach Urbild geraten die einen Aspekte und Formen von Herrschaft schärfer in den Blick und andere weniger. Je schärfer eine Theorie der Befreiung den Fokus auf das eine oder andere Urbild einstellt, je wuchtiger ihre Argumentation die jeweilige Form der Unterdrückung und die entsprechende Notwendigkeit der Befreiung zum Ausdruck bringt, desto unschärfer werden die anderen Formen. Das kann sie nicht nur in Gegensatz zu anderen Befreiungskämpfen bringen, es kann sie auch von der nachfolgenden Generation entfremden, deren Erfahrung durch das bisherige Bemühen um Befreiung bereits verändert ist: sowohl ihre Erfahrung von Herrschaft, als auch ihre Notwendigkeiten von Befreiung sind andere geworden und finden im Urbild nicht mehr ihren adäquaten Ausdruck. Eine Weiterentwicklung der Theorie, weg vom Urbild, wird unumgänglich.

(10) Die Entfernung vom Urbild birgt jedoch ebenfalls Gefahren. Eine allgemeine Theorie von Herrschaft, die sich nicht mehr auf die historischen Urbilder bezieht, wird zu einer leidenschaftslosen Abstraktion, der aus dem Blick gerät, dass hier von Herrschaft die Rede ist und nicht von einer unpersönlichen Fehlentwicklung. Eine solche Haltung ist heute durchaus Mode. Es wird dann etwa leicht hingesagt, "der Kapitalismus kann die Probleme der Welt nicht lösen", wie wenn es sich um eine fehlerhafte Rechenaufgabe handle und nicht um die Vergewaltigung von Menschen durch Menschen. Entsprechend zu kurz greifen dann die Vorstellungen, wie eine solche Situation zu ändern sei.

(11) Die Suche nach einem verallgemeinerten Begriff von Herrschaft rechtfertigt sich aus der Notwendigkeit der Weiterentwicklung und aus der Notwendigkeit von Bündnissen quer zu den verschiedenen Befreiungsbewegungen. Sie muss sich der Gefahr bewusst sein, stets zu kurz zu greifen. Auf den ersten Blick scheint Herrschaft zum Beispiel in zwei Aspekte zu zerfallen: den Aspekt der Ausbeutung, der Aneignung fremder Arbeit und Natur zu eigenem Nutzen, und den Aspekt der Dominanz, der Bestimmungsgewalt über andere. Wenn wir jedoch fragen: "Gibt es ein objektives Kriterium für den Nutzen, den jemand aus fremder Arbeit und Natur zieht, ein quantifizierbares Kriterium für Ausbeutung?" und wenn wir diese Frage verneinen, dann fließen beide Aspekte wieder in Eins zusammen. Herrschaft richtet die Welt so und so ein. Sie schafft eine Welt, wie sie der Herrschende sich erträumt, indem er über den Beherrschten verfügt.

(11.1) Herrschaft und Ausbeutung, 17.02.2001, 00:08, Rolf Köhne: Warum muß es ein objektives Kriterium für Ausbeutung geben, um davon reden zu können? Gibt es ein objektives Kriterium für Herrschaft, das berechtigt, nur noch von Herrschaft zu reden? Schaffen sich die Herrschenden wirklich die Welt so, wie sie sich es erträumen? Was ist mit der Konkurrenz zwischen den Herrschenden und zwischen den Beherrschten? Führt nicht das unkoordinierte Gesamtverhalten aller (=die Verhältnisse) zu einer Situation, die hinterrücks alle beherrscht - nur eben mit dem Unterschied, daß die einen profitieren und die anderen "zahlen"?

(12) Die Rede ist hier also von einem verallgemeinerten Begriff von Herrschaft, der aus der Konfrontation konkreter Erfahrungen gewonnen wird, nicht von einem allgemeinen, abstrakt hergeleiteten. Wir kommen auch bei der Suche nach einem verallgemeinerten Begriff nicht ohne Urbilder aus, ob wir sie beschreiben oder nur mitklingen lassen, weil allgemeine Begriffe von Herrschaft immer eine Abstraktion bleiben, die ihren Nutzen für konkrete Unterdrückungsverhältnisse beweisen müssen.

Wenn wir uns also auf dem dünnen Eis eines verallgemeinerten Begriffs von Herrschaft bewegen wollen, dann können wir sagen: Herrschaft ist erzwungene soziale Kooperation. Die Kooperation ist erzwungen, weil die eine Seite sich nicht aus ihr lösen kann, weil sie nicht darüber bestimmen kann, was sie einbringt und unter welchen Bedingungen, weil sie keinen oder nur geringen Einfluss auf die Regeln der Kooperation hat.

(13) Die zeitgenössische Sklavenhaltergesellschaft versucht, Herrschaft die Nähe zu den erwähnten Urbildern zu nehmen. Matrix stellt ein anderes Urbild vor, um die postmoderne Realität von Herrschaft sichtbar zu machen. Wir bekommen eine Gesellschaft gezeigt, in der all die hässlichen klassischen Urbilder an den Rand gedrängt sind und wir uns augenscheinlich frei und gleich bewegen. Nur ist das nicht die Wirklichkeit, sondern eine virtuelle Inszenierung. In Wahrheit ist die Struktur der Verfügung und erzwungenen Kooperation total. Wir sehen das aber normalerweise nicht, obwohl es Hinweise gibt und ein unbestimmtes Gefühl.(7) Wir sind Opfer der "Matrix", der Welt, die uns über die Augen gezogen wird: der Selbstinszenierung einer demokratischen Gesellschaft, die von sich behauptet, dass sie gegen die klassischen Urbilder kämpft und dass sie selbst nicht herrschaftsförmig ist. Dieses virtuelle Welt macht uns blind gegenüber der Realität: dass wir Sklaven sind. Verfügbar. Regeln und Kontrollen unterworfen, denen wir uns nicht entziehen und über die wir nicht bestimmen können. Den ganzen Tag, mit all unseren Empfindungen und Fähigkeiten; bis ans Ende unserer Tage und bis in die siebte Generation. Sehen können wir das, wenn wir die oben genannte Definition von Herrschaft anwenden. Fast alles ist erzwungene Kooperation. Auf die Frage "Was ist die Matrix?" lautet die Antwort: die Matrix ist die Inszenierung des Sozialen, aus der die Idee der freien Kooperation vollständig ausgetrieben ist. Dadurch bewirkt sie, dass wir die Stäbe unseres Gefängnisses weder riechen, noch schmecken, noch berühren können. Wir nehmen unser Gefängnis überall hin mit, wohin wir auch gehen, in jedes konkrete Verhältnis. Und das Ausmaß, in dem wir in Wirklichkeit versklavt sind, ist weit totaler als das jeder antiken oder bürgerlichen Sklavenhaltergesellschaft vor uns.

(14) Unserer Putzfrau würden wir auch gerne eine "Matrix" überziehen, eine Betrachtungsweise die ausblendet, dass wir in diesem Verhältnis auf der herrschenden Seite stehen. Was blenden wir dabei aus? All das, was unsere Putzfrau hindert, frei zu verhandeln oder etwas anderes zu machen. Indem wir der Frage nachgehen: "Warum machen Putzfrauen das?" gewinnen wir einen Eindruck, wodurch erzwungene Kooperation erzwungen wird.

(14.1) 23.02.2001, 13:16, Bertram Köhler: Gibt es nur „Herrschende“ und „Putzfrauen“ und wo stehen „Wir“?

(15) Man kann, um es in der Art Tucholskys zu sagen, einen Menschen (oder eine Gruppe von Menschen) auf vielerlei Art versklaven. Es ist nichts darunter, was in unserer heutigen Gesellschaft oder unserer heutigen Weltordnung nicht zur Anwendung käme. Es gibt keine abschließende Beschreibung der Methoden und Instrumente, mit denen Herrschaft ausgeübt, d.h. Ausbeutung und Dominanz erzwungen wird. Für einen pragmatischen Überblick, auf den in der Folge zurückzukommen sein wird, lässt sich folgende Einteilung vornehmen:

  1. Die Ausübung oder Androhung direkter, physischer Gewalt - die "militärische" Ebene von Herrschaft.
  2. Strukturelle Unterordnung, d.h. die Errichtung oder Aufrechterhaltung von Regeln und Verteilungen in einer sozialen Kooperation, die zu einer systematisch unterschiedlichen Anhäufung von Macht führen - die "ökonomische" Ebene von Herrschaft.
  3. Diskriminierung, d.h. ausschließende Solidarität einer Gruppe gegen den "Rest" - die "soziale" Ebene von Herrschaft.
  4. Kontrolle der Öffentlichkeit, d.h. der maßgebliche Einfluss darauf, wie in einer Kooperation geredet und gedacht wird, welche Interpretationen und Normen die vorherrschenden sind - die "institutionelle" Ebene von Herrschaft.
  5. Abhängigkeit, d.h. die Ausschaltung von Alternativen für die jeweils andere Seite in der Kooperation, so dass diese Kooperation für die Gegenseite möglichst alternativlos wird - die "existentielle" Ebene von Herrschaft.

(16) Die Trennschärfe dieser Einteilung ist begrenzt. Es geht hauptsächlich darum, eine Vorstellung zu gewinnen, was in einer Kooperation alles an Herrschaftsinstrumenten zum Einsatz kommt oder kommen kann; wir vergessen leicht ganze Ebenen dabei. Die Spannweite der Instrumente, die auf diesen fünf Ebenen verwendet wird, ist groß. Die "militärische" Ebene, die der direkten Zwangsgewalt, reicht von den Fäusten des Nachbarsjungen, der uns auf dem Schulhof verprügelt um regelmäßig an unser Pausenbrot zu kommen, bis zu militärischen High-Tech-Systemen, mit denen wir fremde Länder überfallen. Strukturelle Unterordnung hat meistens mit Arbeitsteilung zu tun, aber ebenso mit den "terms of trade", den Bedingungen zu denen gehandelt wird. Abhängigkeit kann materiell bewirkt sein, aber auch technisch, psychologisch oder emotional. Die Instrumente reichen von so modernen Instrumenten wie der angestrebten gentechnischen Revolution in der Landwirtschaft bis zu äußerst traditionellen, wie der sozialen Isolierung der Frau in der patriarchalen Gesellschaft.

(17) Herrschaftsbeziehungen "sprechen" auf allen Ebenen. Es ist wichtig für Herrschaft, die einzelnen Ebenen ineinander "übersetzen" zu können - aus militärischer Überlegenheit ökonomische Unterordnung zu machen und umgekehrt, Abhängigkeit in Kontrolle der Öffentlichkeit umsetzen zu können und umgekehrt, usw. Wir unterschätzen meist, wie komplex und weitreichend die Instrumente sind, die in ganz konkreten Beziehungen zum Einsatz kommen oder "im Hintergrund" genutzt werden. Als einzelne Person wenden wir meist keine unmittelbare Gewalt gegen unsere Putzfrau an, um sie zur Arbeit zu zwingen. Dass sie aus Bosnien geflüchtet ist, vor militärischer Gewalt, oder aus Osteuropa eingewandert, auf der Flucht vor den Folgen struktureller Unterordnung, spielt für unser Verhältnis jedoch eine große Rolle; es beeinflusst die Alternativen, die sie hat. Wir diskriminieren die Gruppe unserer eingewanderten Putzfrauen gemeinsam, indem wir z.B. ihre Ausbildung und Abschlüsse nicht anerkennen und dadurch ihre Arbeit verbilligen bzw. auf den Putzsektor hin dirigieren. Dass Putzfrauen schlecht organisiert sind und dadurch wenig Kontrolle der Öffentlichkeit haben, nehmen wir dankend als Vorteil an.

(18) Aufgrund der Komplexität von Herrschaftsinstrumenten ist das Gewaltmonopol übergeordneter Strukturen keine Lösung; es dient denen, die auf den anderen Ebenen (denen außer der "militärischen") Vorteile haben und zur Anwendung bringen. Auch auf den anderen Ebenen von Herrschaftsinstrumenten bringt eine Politik, die der des Gewaltmonopols entspricht, keine Lösung - wir wissen heute, dass die Verstaatlichung von produktivem Eigentum und ökonomischer Verfügung an sich keineswegs bewirkt, dass strukturelle Unterordnung verschwindet. Die Politik der "Zivilisierung", typisch für das demokratische Zeitalter, ist entsprechend ambivalent: sie mag positive Elemente einer Abwicklung von Herrschaftsinstrumenten enthalten, zumeist wirkt sie jedoch negativ im Sinne einer Entwaffnung der Beherrschten, um sie desto reibungsloser den anderen Instrumenten und Ebenen von Herrschaft auszuliefern.

(19) Abwicklung von Herrschaftsinstrumenten bildet daher einen wesentlichen Bereich linker Politik, einer, die auf das Ziel von Freiheit und Gleichheit abzielt bzw. auf das Ziel freier Kooperation. Dies kann bereits festgehalten werden, auch wenn Abwicklung keineswegs ausreicht.

2. Zynische Freiheit, ohnmächtige Gleichheit

(20) Freiheit schafft Ungleichheit. Gibt man zwei Menschen Freiheit, wird immer einer erfinderischer und produktiver sein als der andere.
Themba Sono, südafrikanischer Ökonom

(20.1) Re: 2. Zynische Freiheit, ohnmächtige Gleichheit, 23.02.2001, 13:18, Bertram Köhler: Stimmt das etwa nicht ?

Realsozialismus und demokratischer Kapitalismus

(21) Wenn wir dem Anschein nachgehen, es handle sich beim demokratischen Kapitalismus und beim Realsozialismus um zwei Systeme, von denen das eine politische Freiheit auf Kosten von sozialer Gleichheit, das andere soziale Gleichheit auf Kosten von politischer Freiheit verwirklicht hätte, dann begehen wir damit die Ruinen eines politischen Anspruchs. Wir besichtigen die dürftigen Reste, die übriggeblieben sind. Und wenn wir sie antippen, fallen sie um und stürzen zu Staub.

Es ist der Erinnerung wert, dass beide Systeme ursprünglich auf den politischen Anspruch zurückgehen, sowohl Freiheit als auch Gleichheit zu realisieren. Die amerikanische Unabhängigkeitsverfassung enthält nicht umsonst den Passus, wonach die Menschen frei und gleich geboren wären und deshalb unverbrüchliche und unveräußerliche Rechte hätten.(8) (Was weder die Vernichtungskriege gegen die Indianer noch die Versklavung der Schwarzen im Süden verhinderte.) Die realsozialistische Gesellschaft interpretierte sich an ihrem Ausgangspunkt als Form der Befreiung, als Schritt auf dem Weg, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist", wie es bei Marx heißt.(9) (Was weder Massenhinrichtungen noch Zwangsarbeit verhinderte, die nicht erst unter Stalin, sondern bereits in den ersten Jahren der Sowjetunion an der Tagesordnung waren.) Gemessen an diesen Ansprüchen, betrachten wir heute eine Welt des doppelten Scheiterns. Erst in der Ära des Neoliberalismus, also ab den frühen Siebziger Jahren, und parallel dazu in der Ära Breschnew, engte sich die Selbstdarstellung der Systeme ein: der demokratische Kapitalismus stand zunehmend offen zur sozialen Ungleichheit und argumentierte für sich, wenigstens politisch "freier" zu sein; der realexistierende Sozialismus versuchte immer weniger, die politische Unfreiheit zu kaschieren, sondern verteidigte sich damit, wenigstens sozial "gleicher" zu sein. Gemeint war damit im einen Falle das System juristisch verbriefter "Freiheitsrechte" (Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit usw.), im anderen Fall die geringere Schere bei den Einkommen.

(22) Einen solchen Begriff von Freiheit und Gleichheit als reduziert zu bezeichnen, wäre unverdiente Milde. Was ist "frei" an einem Individuum, das sich politisch frei betätigen darf, der strukturellen Unterordnung und der Kontrolle der Öffentlichkeit durch Kapital und große gesellschaftliche Machtblöcke jedoch unverändert ausgesetzt ist? Was ist "gleich" an einem Individuum, dessen Einkommen im Verhältnis zu anderen nicht geringer als ein Drittel oder ein Viertel ausfällt, dessen persönliche Gestaltungsspielräume oder politische Einflussnahme im Verhältnis zur oberen Funktionärsklasse und der ökonomischen Elite jedoch gegen Null gehen? Wir können dem demokratischen Kapitalismus bestenfalls ein Modell der zynischen Freiheit attestieren. Der Mensch ist darin geringeren Beschränkungen ausgesetzt, wenn es ihm gelingt, eine privilegierte ökonomische Stellung zu erreichen; er hat durch die warenförmige Verfügbarkeit von Arbeit und Natur eine gewisse Chance, sich diese ökonomisch privilegierte Stellung auf Kosten anderer zu verschaffen; und er kann sich als politisch frei betrachten, wenn es ihm nichts ausmacht, dass er mit all seinen verbrieften Rechten praktisch nichts verändern kann. Dem realexistierenden Sozialismus können wir entsprechend ein Modell der ohnmächtigen Gleichheit bescheinigen. Der Mensch ist darin in geringerem Maße von vollständiger Armut bedroht, soweit er sich den gesellschaftlichen Konventionen gemäß verhält; er hat über die Möglichkeit affirmativer politischer Betätigung eine gewisse Chance, auf Kosten anderer sozial aufwärts mobil zu sein; und er kann sich als sozial gleich betrachten, wenn er die Tatsache ignoriert, dass sein Einfluss auf die gesellschaftlichen Entscheidungen (politische, ökonomische, soziale) minimal ist.

(23) Viel ist das nicht. Im späten Realsozialismus wie auch im heutigen demokratischen Kapitalismus finden wir die Tendenz, auch noch die verbliebenen Ruinen zu schleifen, sich von sozialer Gleichheit oder von der Unveräußerlichkeit bestimmter Freiheitsrechte ebenfalls zu verabschieden. In gewisser Weise ist das konsequent. Wer erst ein Gärtchen ausweist, innerhalb dessen die Freiheit oder die Gleichheit ein bisschen grasen darf, sofern sie außerhalb dieser speziellen Sphäre nichts anrichtet, der kann irgendwann auch dieses Gärtchen planieren und Freiheit und Gleichheit gleich im Museum ausstellen.

(24) Oder wie sollen wir es nennen, wenn Einzelne sich ganze Stiftungen kaufen können, sich vollelektronische Häuser bauen und mehrere Tausend Mark im Monat nur vertelefonieren, während wir der Sozialhilfeempfängerin für die Woche Kur ihren Leistungsbezug streichen, weil sie dort ja schon zu Essen bekommt? Ist das ein Mangel an Freiheit? An Gleichheit? Wenn Arbeiter, denen ihr Staat angeblich gehört, monatelang keinen Lohn bekommen, während die Manager des militärisch-industriellen Komplexes, bei dem sie arbeiten, auf den internationalen High-Tech-Märkten shoppen gehen, Streik aber als systemfeindlich verboten ist? Fehlende Freiheit? Fehlende Gleichheit? Freiheit und Gleichheit ist es jedenfalls nicht. Es ist, ob in Ost oder West, bestenfalls die Freiheit zu gehorchen und die Gleichheit der optimalen Verwertung. Es ist, schlicht und ergreifend, Herrschaft.

(25) Wenn wir einfache, konkrete Fragen stellen wie: Wie groß ist der Anteil am gesellschaftlichen Leben und am gesellschaftlichen Reichtum, den ich gestalten kann? Welche alten Bären können in mein Leben hineinreden, ohne dass ich sie daran hindern kann? Von welchen hierarchisch übergeordneten Personen, gegen die ich mich nicht wirklich wehren kann, werden schicksalhafte Entscheidungen über mein Leben getroffen? Wieviele Arschlöcher muss ich überzeugen, um eine gute Idee verwirklichen zu können? Wie ist die tatsächliche tägliche Arbeitszeit zwischen Frauen und Männern verteilt? Welchen Preis muss eine Frau, welchen ein Mann für den Luxus bezahlen, Kinder zu haben? Gibt es eine Gruppe von Menschen, die hauptsächlich schwere, körperliche Arbeit oder gesundheitlich belastende Arbeit leistet? Wer ist es? Werden die unangenehmen, monotonen oder schmutzigen Arbeiten am besten bezahlt und erfahren die meiste Anerkennung? Wenn das nicht der Fall ist, wie wird dann erreicht, dass sie jemand macht? Gibt es Schmürze? (10) Wenn ja, wer sind sie? Welches Maß an tatsächlicher Anerkennung und Gleichstellung erhalten Menschen, die aus anderen Ländern stammen oder die aus der Peripherie des eigenen Landes kommen? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, ins Gefängnis oder in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen zu werden? Welchen Preis muss ich bezahlen, wenn ich den Wertvorstellungen und Leitbildern meiner Gesellschaft in der Praxis widerspreche? Zu welchem Leben kann ich von der Gesellschaft schlimmstenfalls gezwungen werden? Kann ich mich gesellen, mit wem ich will? Kann ich hingehen, wohin ich will, und was kostet mich das? Sind die zentralen gesellschaftlichen Entscheidungen und langfristigen Weichenstellungen für mich irgendwie erreichbar, beeinflussbar? - dann werden zwar Unterschiede deutlich, aber auch viele Ähnlichkeiten zwischen der Praxis der beiden großen politischen Systeme des demokratischen Zeitalters. Die Antworten hängen durchweg wesentlich stärker von der Position ab, die jemand in der gesellschaftlichen Hierarchie einnimmt, als von der Frage, ob man in Ost oder West lebte.

(26) Es gibt keinen Grund, warum die liberale oder die marxistische Tradition nicht in der Lage sein sollten, einen radikalen Begriff von Freiheit und Gleichheit vorzustellen und zu verfolgen. Sie tun es bloß nicht, von Ausnahmen abgesehen. Gedanken lassen sich in jeder Theoriesprache ausdrücken, wenn auch unterschiedlich gut. Die Gefangenschaft in bestimmten Grundannahmen und Axiomen einer Theoriesprache ist keine zwangsläufige, sondern eine freiwillige, eine Wahl. Aber es ist die Wahl, die vom überwiegenden Mainstream getroffen wurde und heute nach wie vor getroffen wird. Es ist die Wahl einer begrifflichen Einhegung von Freiheit und Gleichheit, eines Entzahnen und Entklauens, einer Domestikation hin zu einem Freiheits- und Gleichheitsbegriff alter Bären.

Was ist Freiheit?

(27) Der marxistische Mainstream bestimmt Freiheit ausschließlich aus dem Verhältnis des Menschen zur objektiven Notwendigkeit; Freiheit ist Ausdruck für den Grad der Erkenntnis und praktischen Beherrschung der äußeren (und inneren) Natur. Engels berühmt-berüchtigte Formulierung aus dem Anti-Dühring, die dabei zustimmend zitiert wird, lautet: "Freiheit des Willens heißt daher nichts anderes als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können. Je freier also das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein. ... Freiheit besteht also in der, auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten begründeten, Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur."(11) Auch Marx lokalisiert im Kapital das "Reich der Freiheit ... erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion."(12) Es gehört zur Schwäche des vorherrschenden Marxismus, dass er über keine Konflikttheorie verfügt.(13) Konflikte und der Umgang damit sind nicht vorgesehen. Konflikte sind immer objektiv entscheidbar, oder sie verschwinden im zukünftigen Kommunismus. Sie können daher nicht Gegenstand einer Politik des Sozialen sein, die auf Freiheit und Gleichheit Bezug nimmt.

(28) Für den liberalen Mainstream ist Freiheit ebenfalls nicht im Bereich der sozialen Interaktion verortet. Freiheit meint hier weitestmögliche Abwesenheit von Einmischungen durch den Staat. Für alle konkreten Kooperationen zielt der liberale Freiheitsbegriff gerade auf die Befreiung von Beschränkungen, die sich aus sozialer Interaktion und Verhandlungen ergeben könnten. Im Prinzip orientiert man sich an der Formulierung aus der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1791: "Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was keinem anderen schadet."(14) Nun müssen Menschen einander aber unter Druck setzen und mitunter schaden, um die Verhältnisse untereinander zu verändern, Herrschaftsverhältnisse zu transformieren, sich zu befreien. Die Freiheit, die niemand anderen kratzt, niemand anders wehtut, ist stattdessen eine "Freiheit", die die gesellschaftlichen Verhältnisse einbalsamiert, konserviert wie sie sind - was das Gegenteil von Freiheit ist. Der feine Unterschied zu einem radikalen Begriff von Freiheit und Gleichheit liegt denn auch darin, dass das Putzfrauen-Prinzip selbstverständlich vorausgesetzt wird, so wie dies Themba Sono in der eingangs zitierten Passage tut: dass die anderen "liefern", ihre Arbeit und Natur nämlich, gilt als ausgemacht. Das Bestreben, dies unter Bedingungen zu stellen, erscheint dann als Beschränkung der Freiheit, weil der "Erfinderischere und Produktivere" (in der Praxis wohl eher der Reichere und Privilegierte) irgendwie nicht so frei schalten und walten kann, wie er das möchte. So wird der liberale Begriff von Freiheit zu einem, der Unfreiheit sanktioniert, ja geradezu einfordert.

(29) Das Verhältnis beider Traditionslinien zur Gleichheit ist im Grunde höchst ähnlich. Für Rawls als Vertreter eines modernen, aufgeklärten Liberalismus, ist soziale Ungleichheit jederzeit gerechtfertigt, sofern sie ökonomisch nützlich ist - so nützlich jedenfalls, dass sie auch den Benachteiligten eine Besserung ihrer Stellung bringen kann.(15) Die ganze Idee der Gleichheit wird weggeworfen für einen diffusen Wechsel auf die Zukunft. Denselben ideologischen Mechanismus finden wir auch in der marxistischen Tradition, die das "Leistungsprinzip" verteidigt und sich reale Gleichheit erst in einer fernen Zukunft kommunistischen Überflusses vorstellen kann.(16) Der ganze Unterschied der Systeme schnurrt an diesem Punkt darauf zusammen, dass wir heute unter der Herrschaft des demokratischen Kapitalismus jungen Leuten, die fragen, wie sie denn frei und gleich werden könnten, sagen: "Werdet reich!", während die klassische Antwort im realexistierenden Sozialismus lautete: "Wartet ab!"

(30) Wie kommen wir zu einem tatsächlichen Begriff von Freiheit und Gleichheit? Einem, der nicht auf eine eng definierte Sphäre "zulässiger politischer Betätigung" oder der "maßvollen Einkommensungleichheit innerhalb einer größeren Gruppe der Bevölkerung" eingehegt ist?

(31) Wir kennen nur eine Wirklichkeit, die des Sozialen. Aus ihr beziehen wir all unsere Maßstäbe, sie macht unser Leben aus. Alles menschliche Leben ist Interaktion, Beziehung, Kooperation. Dies ist auch der Ort, wo Freiheit und Gleichheit stattfinden. Sie finden nicht später statt, sondern hier und jetzt.

(31.1) Interaktion, 17.02.2001, 00:20, Rolf Köhne: CS unterscheidet hier Interaktion, Beziehung, Kooperation. Eine nähere Definition erfolgt leider nicht. Es muß aber deutlich unterschieden werden zwischen konkret-personeller Kooperation wie zum Beispiel in der Familie oder im Betrieb und indirekter, unbewußter Kooperation wie zum Beispiel bei marktvermittelter Warenproduktion.

(32) Jede menschliche Tätigkeit beruht auf der Kollektivität und Historizität von Arbeit und Natur. Was immer wir tun, wir nutzen dabei die Arbeit und Natur anderer. Wenn Freiheit bedeuten sollte, dass wir das möglichst ungehemmt und ohne Beschränkungen tun sollten, dann wäre Freiheit immer nur auf Kosten der Unfreiheit anderer möglich. Eine Freiheit aber, deren Grenzen von einer übergeordneten Instanz "erkannt" und gesetzt würden, wäre totale Unfreiheit dieser Instanz gegenüber. Beides wären überdies blinde, monadische Begriffe von Freiheit, die der lebendigen Auseinandersetzung mit anderen keinen Platz und keinen Wert zuweisen; ich bliebe auf mich zurückgeworfen, die Grenzen meiner Sichtweise wären auch die Grenzen meiner Welt, was auch nichts anderes als eine Form der Gefangenschaft ist.

(32.1) 23.02.2001, 13:20, Bertram Köhler: Deswegen sollte Freiheit auch aus dem Wechselverhältnis von Individuum und Gesellschaft heraus definiert werden. Wenn man nur vom Individuum ausgeht, bleibt es immer Gefangener

(33) Ein radikaler Begriff von Freiheit kann daher nur einer sein, der von Freiheit in der Kooperation handelt: frei bin ich, wenn ich in meiner Verhandlung mit anderen frei bin, d.h. von keiner Instanz behindert und von niemand durch Zwang beschränkt. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass ich anderen in der Kooperation gleich bin: dass meine Kooperation keine erzwungene ist, sondern dass ich darüber mit anderen auf gleicher Ebene verhandeln kann, und dass dabei auch niemand über mir ist, dessen Regeln und Kontrolle ich unterworfen bin. Ein radikaler Begriff von Freiheit und von Gleichheit fallen zusammen.(17)

(33.1) Freiheit in der Warenproduktion?, 17.02.2001, 00:33, Rolf Köhne: Selbst dann, wenn ich im obigen Sinne frei bin, kann ich unmöglich mit allen anderen 6 Milliarden Menschen die Regeln aushandeln. Auch den anderen 6 Milliarden Menschen wird es, wenn sie wirklich irgendwann in obigem Sinne frei sein sollten, nicht anders gehen als mir. 6 Milliarden Menschen werden aber nur dann auf der Erde weiter leben können, wenn sie wirtschaftlich weltweit kooperieren. Wenn sie dies nicht bewußt tun, sondern wie bisher, durch Warenproduktion, dann werden sie hinterrücks durch ihre Unfähigkeit zu besserer Kooperation beherrscht. Der obige Begriff von Freiheit und Gleichheit ist also höchst partiell.

(33.1.1) Re: Freiheit in der Warenproduktion?, 23.02.2001, 13:24, Bertram Köhler: So ist es. Eine Freiheit, die sich nur aus der Freiheit des Einzelnen ableitet, nützt dem Einzelnen letztendlich nichts. Der Mensch hat sich erst durch Kooperation und soziale Zusammenarbeit zu dem entwickelt, was er ist. Seine Freiheit besteht in der Gestaltungsmöglichkeit dieser Zusammenarbeit und ihrer Umgestaltung. Das schließt immer ein, dass Regeln dieser Zusammenarbeit zu finden sind, die sicher ganz anders aussehen müssen als die der heutigen Gesellschaft, aber es bleiben Regeln, welche die Handlungsfreiheit des Individuums einschränken, wenn sich diese Freiheit lediglich als Freiheit des Individuums versteht. Die Gesellschaft als umfassenderes Systems bleibt immer Außenwelt des Individuums, an die es sich anpassen muß, auch wenn es diese mitgestalten kann. Die Unabhängigkeit von einer übergeordneten Institution ist eine Illusion.

(33.1.1.1) Re: Freiheit in der Warenproduktion?, 30.05.2002, 15:07, Benni Bärmann: Du sagst völlig zu Recht, dass es immer Regeln geben wird und kommst dann davon ohne weitere Begründung, dass es deswegen auch immer eine "übergeordnete Institution" geben muss. Warum? Die Freie Kooperation ist doch eben gerade ein Versuch einen Weg aufzuzeigen, wie es allgemein akzeptierte Regeln geben kann ohne dass man sich eine Organisation überordnet.

(34) Freie Kooperation, wie sie hier definiert wird, hat drei Bestimmungen. Freie Kooperation liegt vor, wenn

(34.1) Freiheit und Notwendigkeit, 20.02.2001, 14:28, Rolf Köhne: Bezüglich der Freiheit sind die drei Bestimmungen unzureichend. Nehmen wir an, 100 Individuen kooperieren. Das Individuum X ist nun mit den Regeln unzufrieden, die 99 übrigen finden die Regeln gut. Der "Preis", den X beim Verlassen der Kooperation zu zahlen hätte, wird in vielen Fällen gößer sein als der "Preis", den die übrigen 99 zu zahlen haben, wenn X die Kooperation verlässt. Denn X verliert schließlich alle Vorzuge der Kooperation, während die übrigen 99 nur den Vorzug verlieren, der mit der zusätzlichen Kooperation von X entstanden ist. X ist also nicht völlig frei, in vielen Fällen wird er sich den Regeln der übrigen 99 unterordnen. (X ist allerdings dann gleich, wenn jedes andere Individuum den gleichen "Preis" zahlen müßte, wollte es gegen 99 übrige handeln) Freiheit ist nur dann vollständig gegeben, wenn der "Preis" Null ist. Dies ist zum einen dann der Fall, wenn X auch dann von der Kooperation profitiert, wenn er nicht kooperiert. Die Linux-Entwicklung ist ein gutes Beispiel dafür. Immer dann, wenn der Gegenstand der Kooperation immateriell ist, wie bei der Entwicklung freier Information, dann ist diese Bedingung erfüllt. Der "Preis" kann aber auch dann Null sein, wenn X zahlreiche Alternativen und Substitutionsmöglichkeiten hat, den Verlust aus der einen Kooperation durch den Gewinn einer anderen kompensieren kann. Nun gibt es aber mindestens eine Kooperation, in der der "Preis" niemals Null sein kann - die Weltwirtschaft. Es gibt also ganz real ein "Reich der Notwendigkeit", das vor dem "Reich der Freiheit" liegt. Diese Feststellung heißt nun nicht, daß wir uns einer Diktatur unterwerfen müssten. Auch in der Organisation der materiellen Produktion muß das Organisationsmuster der freien Kooperation zur Anwendung kommen. Aber es wird eben nicht zu völliger Freiheit führen. Erst wenn größere Gruppen nit den Regeln unzufrieden sind, wir es andere geben. Es werden sich deshalb auf natürliche Weise demokratische Regeln herausbilden und das einzelne Individuum wird sich diesen Regeln unterwerfen - seine Freiheit besteht in der Einsicht in die Notwendigkeit. Und das ist gut so! Um nochmals klarzustellen, worum es mir geht, verlasse ich jetzt die Ebene der Abstraktion und begebe mich in die Niederungen der Realität. Bereits meine Freiheit, diese Zeilen zu schreiben, beruht auf zahlreichen Voraussetzungen: Internet, Computer, elektrische Energie, meine Nahrungsmittel, Kaffee, Zigarillos, meine Lehrer, die mich schreiben lehrten etc. Nur unter diesen Voraussetzungen bin ich überhaupt frei. Aus Einsicht in diese Notwendigkeit bin ich auch bereit, meinen Teil beizutragen. Wenn es notwendig ist, werde ich auch im Kraftwerk Kohlen schaufeln - auch wenn ich überhaupt keine Lust dazu habe. Aber ich erwarte, daß auch andere ihren Teil beitragen. Ich würde mich höchst unfrei fühlen, wenn jetzt gleich der Strom ausfällt. -- Wirkliche Freiheit beginnt also erst jenseits der materiellen Produktion - und wir sollten sie nutzen, daß Reich der Notwendigkeit zu minimieren.

(34.2) Neudefinition, 20.02.2001, 18:22, Rolf Köhne: Freie Kooperation liegt vor, wenn die Beteiligten insofern gleich sind, daß sie vergleichbare Nachteile haben, wenn die Kooperation nicht erfolgt und daß sie deshalb die Bedinngungen der Kooperation sowie Art und Umfang ihrer Kooperationsleistung frei aushandeln können, wozu auch gehören kann (und sollte), wie die Kooperation ihre Regeln selbst schützt, wie die Kooperation ihre Regeln ändern kann, wie die Kooperation aufgelöst wird und wie Einzelne die Kooperation einschränken oder aufkündigen können. -- Warum diese Änderung? Kooperation braucht ein bestimmtes Maß an gegenseitiger Verlässlichkeit, sonst ist es keine Kooperation. Ich kann zu Beginn eines Doppelkopfspieles die Regeln aushandeln, ich kann meine Mitspieler auffordern, nach der nächsten Runde die Regeln noch mals zu überdenken - aber ich kann nicht mitten im Spiel sagen:"Wenn jetzt nicht der Pik-Bube die Kreuz-Dame sticht, dann spiel ich nicht mehr mit", ohne die Kooperation zu zerstören.

(34.2.1) Re: Neudefinition, 30.05.2002, 15:12, Benni Bärmann: Wenn es jemandem wirklich wichtiger ist, dass der Pik-Bube die Kreuz-Dame spielt, als weiter Doko zu spielen, dann muss im Zweifel die Kooperation scheitern. Kooperationen sind nicht sakrosankt. Ausnahme: existentielle Bedingungen.

(34.3) 23.02.2001, 13:27, Bertram Köhler: Diese 3 Bestimmungen kann man auf alle Kooperationen anwenden, außer auf die Beziehung Mensch-Gesellschaft. Aus letzterer kann der Mensch nicht aussteigen. Diese Beziehung erfordert deshalb eine gesonderte Behandlung

(35) Vereinfacht gesagt: In einer freien Kooperation kann über alles verhandelt werden; es dürfen alle verhandeln; und es können auch alle verhandeln, weil sie es sich in ähnlicher Weise leisten können, ihren Einsatz in Frage zu stellen.

(36) Die Freiheit zu verhandeln schließt die Freiheit ein, Verhandlungen scheitern zu lassen und zu gehen - "den Baum zu wechseln", um es mit Rousseau zu sagen. Die Gleichheit der Beteiligten schließt dabei ein, dass sie nicht mit leeren Händen gehen, sondern einen Anteil an den bisherigen Früchten der Kooperation aus dieser herauslösen und in ihre eigene Verfügung zurückführen können. Auch dieser Anteil bemisst sich nicht mathematisch, sondern nach dem Prinzip der Gleichheit: Es soll für die einen nicht wesentlich schlimmer sein, die Kooperation zu verlassen oder sie scheitern zu lassen, als für die anderen.

(37) Die Definition gibt keine formalisierten Verfahren des Verhandelns oder der Entscheidungsfindung vor. Für solche Verfahren gilt dasselbe wie für alle anderen Regeln auch: Sie genießen kein höheres Recht, sie sind der Verhandlung nicht entzogen. Verhandeln meint hier den realen Prozess, auf den alles immer wieder zurückgeht: "Nein, wenn nicht ..."

(38) Machen wir uns noch einmal den Unterschied klar zwischen einem solchen Begriff von Freiheit und Gleichheit, und dem liberalen und marxistischen Mainstream. Der liberale Freiheitsbegriff impliziert die freie Verfügung über fremde Natur und Arbeit. Er definiert Freiheitsrechte, die vor allem in der Abwesenheit von Beschränkungen liegen; zu diesen Freiheitsrechten gehört dabei aber gleichzeitig, dass die überkommene Verteilung von Eigentum ein unantastbares Recht der Besitzenden darstellt und nicht verhandelt werden kann, sondern "Schutz" genießt. Diese Freiheit ist mit freier Kooperation definitiv nicht gemeint. Die Individuen sind darin frei, jedwede Verteilung zur Disposition zu stellen, und sie sind frei, ihre Kooperation unter Bedingungen zu stellen, sowohl individuell als auch kollektiv. Es gibt keine Freiheit von diesem Anspruch und auch keinen Schutz dagegen. Allerdings steht es auch jedem frei, die Bedingungen der Kooperation abzulehnen und "sein eigenes Ding zu machen". Das Individuum kann also tatsächlich gern "erfinderischer und produktiver" sein als andere, wie Sono das nennt, es leitet sich daraus aber kein privilegierter Zugriff auf die Arbeit und Natur anderer ab. Die Freiheit der anderen, über die Regeln und Bedingungen jedweder Kooperation zu verhandeln, bleibt unberührt.

(39) Der marxistische Freiheitsbegriff impliziert die objektive Erkennbarkeit der Welt und bindet sich an die "optimale Entfaltung" der allgemeinen Produktivkräfte, von der letztendlich die Freiheit des Einzelnen (und aller) sich herleitet. Auch dieser Freiheitsbegriff beinhaltet die freie Verfügung über fremde Arbeit und Natur. Es ist keine individuelle Verfügung im Sinne der "wirtschaftlichen Freiheit" des Einzelnen, wie in der liberalen Tradition, es eine kollektive Verfügung, als berechtigter Zugriff der Gesellschaft auf die Arbeit und Natur des Einzelnen, um das Ziel der Entwicklung zu erreichen. Auch dieser Freiheitsbegriff ist mit freier Kooperation definitiv nicht gemeint. Das Recht der Individuen (und Gruppen), Einfluss auf die Regeln zu nehmen, ihre Kooperationsleistung unter Bedingungen zu stellen, oder Kooperationen abzulehnen, die ihnen nicht zusagen, kann durch keine objektivierende Betrachtung oder angebliche Entwicklungsnotwendigkeit außer Kraft gesetzt werden, zu keinem Zeitpunkt. Ein Mechanismus "jetzt kann nicht verhandelt werden, aber später werdet ihr frei sein" steht in vollständigem Gegensatz zum Konzept der freien Kooperation.

(39.1) Marx?, 20.02.2001, 14:42, Rolf Köhne: "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." Marx/Engels-Kommunistisches Maifest. Da gibt es keine Verfügung über fremde Arbeit und Natur.

(39.2) 23.02.2001, 13:29, Bertram Köhler: Das stimmt zwar, aber die Gesellschaft ist eben keine „Freie Kooperation“ und kann es auch nicht sein. Das Konzept „Freie Kooperation“ ist auf die Gesellschaft als Ganzes nicht anwendbar. Hier muß ein anderes Konzept her.

(40) Während in der liberalen und in der marxistischen Tradition der Gleichheitsbegriff schwach betont und eher negativ besetzt ist, kommt Gleichheit im Konzept der freien Kooperation zentrale Bedeutung zu. Der liberale Begriff ist der einer formalen Gleichheit, d.h. der abstrakten Gleichbehandlung der Individuen unabhängig von ihrer tatsächlichen sozialen Situation, oder bestenfalls ein Begriff der "Chancengleichheit". Die Gleichheit liegt dann darin, dass man auch Glück haben kann - Monopoly plus Lotto sozusagen. Eine tatsächliche Gleichheit der Individuen an sozialer Macht, Verfügung, Eigentum, die immer wieder neu hergestellt werden müsste, gilt als Unfreiheit, weil das findige Individuum nicht "frei" ist, die angeblichen Früchte seiner Arbeit zu behalten. Dieser Einwand wird von der Konzeption der freien Kooperation nicht geteilt. Freie Kooperation maßt sich allerdings nicht an, die Individuen (oder Gruppen) anhand irgendwelcher Parameter vollständig "gleich" zu machen oder die Verhältnisse zwischen ihnen "gerecht" zu regeln; ihr Kriterium von sozialer Gleichheit ist die gleiche Verhandlungsmacht. Den Rest regeln die Individuen (oder Gruppen) in ihrer Kooperation selbst. Wenn sie dabei Druck ausüben und Umverteilungen erstreiten, ist das ein Ausdruck ihrer Freiheit und kein Mangel an Freiheit.

(40.1) 23.02.2001, 13:31, Bertram Köhler: Dieser „Druck“ ist aber nichts anderes als der in Absatz (33) abgelehnte Zwang zur Unterwerfung unter die Regeln und die Kontrolle einer übergeordneten transpersonalen Instanz.

(41) Der marxistische Begriff von Gleichheit ist noch negativer, er sieht in der Gleichheit eine kleinbürgerliche Idee der Gleichmacherei, einen falschen Unmittelbarkeitsanspruch, der nicht den angeblich notwendigen Weg über die proletarische Revolution und die sozialistische Gesellschaft akzeptiert. Tatsächlich "gleich" sind die Menschen bestenfalls im Kommunismus, wo der allgemeine Überfluss Fragen von Verteilung und Verhandlung buchstäblich überflüssig macht.(17) Das Konzept der freien Kooperation beharrt jedoch darauf, dass die Individuen real gleich sein sollen in ihrer Macht, Einfluss auf die Regeln zu nehmen und ihre Kooperation aufzukündigen oder unter Bedingungen zu stellen, und zwar jederzeit. Freie Kooperation beinhaltet nicht, dass die Beteiligten einer Kooperation homogen oder identisch sind. Sie beinhaltet aber, dass die Beteiligten einander in einer sozialen Position der Gleichheit gegenübertreten. Die Kooperation ist nur frei, wenn sie gleich ist; und die Individuen können nur frei sein in einer Kooperation, wo sie gleich sind. Die beiden Begriffe bezeichnen denselben Sachverhalt.

(41.1) Partielle Freiheit und Gleichheit, 20.02.2001, 15:14, Rolf Köhne: An dieser Stelle wird nochmals deutlich, daß die Spehr'sche Vorstellung von Freiheit und Gleichheit höchst partiell ist. Er ignoriert schlicht die mittlerweile weltweite wechselseitige ökonomische Abhängigkeit der Individuen voneinander.

(41.2) 23.02.2001, 13:34, Bertram Köhler: Das stimmt wiederum nur im Verhältnis von Subjekten, die auf gleicher Ebene stehen. Im Verhältnis Individuum Gruppe sind Freiheit und Gleichheit sehr wohl etwas Verschiedenes.

(41.2.1) 30.05.2002, 15:15, Benni Bärmann: Gruppen können weder frei noch gleich sein. Sowohl Freiheit und Gleichheit sind also Eigenschaften in der Beziehung von Individuen. Gruppen können jedoch die Eigenschaft haben, Freiheit oder Gleichheit ihrer Mitglieder zu ermöglichen. Kannst Du soweit mitgehen? Wenn ja: Was genau ist dann in Deinem Kommentar mit "Freiheit und Gleichheit im Verhältnis Individuum-Gruppe" gemeint?

(42) Trotz der beschriebenen Unterschiede zur heutigen liberalen und marxistischen Traditionslinie weist die Idee der freien Kooperation allerdings eine gewisse Verwandtschaft zu Vorstellungen auf, mit denen in der Frühzeit der liberalen und marxistischen Tradition ein radikalerer Begriff von Freiheit und Gleichheit begründet wurde. Es besteht eine Verwandtschaft zu der liberalen Idee, dass niemand einem vorschreiben kann, welche Wertvorstellungen man zu haben hat und wie man glücklich wird (nur gilt dies im Konzept der freien Kooperation für alle und nicht nur für eine Elite der wirtschaftlich "Freien"). Dass das Individuum Schutz braucht vor staatlichem Zugriff und gesellschaftlichem Zwang (allerdings nicht nur das männlich-weiße Besitzindividuum, sondern jedes). Dass es keine transzendenten Grundlagen des Staates und der Gesellschaft gibt, die für alle verpflichtend wären, so dass die Menschen frei sind, sich jedwede gesellschaftliche Ordnung zu geben, ohne Einschränkung (die Theorie der freien Kooperation sagt nur, was Voraussetzungen für Freiheit und Gleichheit sind, und verteidigt das Recht aller, für ihre Freiheit und Gleichheit einzutreten und sich gegen erzwungene Kooperation zu wehren, notfalls mit Gewalt). Auch die freie Kooperation bejaht die liberale Idee, dass die Menschen frei sind, ihre Verhältnisse untereinander vollständig selbst zu regeln; nur geschieht dies nicht in Form einklagbarer Verträge, sondern in Form von Vereinbarungen, die jederzeit zur Disposition gestellt werden können.

(43) Eine Verwandtschaft besteht auch zur marxistischen Anschauung, dass es im Grunde nur eine einzige, unteilbare Freiheit gibt, die nicht in kodifizierbaren Freiheitsrechten aufgeht. Allerdings wird diese grundlegende, unteilbare Freiheit in der Theorie der freien Kooperation anders definiert: nicht als Freiheit zur optimalen Entfaltung des geschichtlich möglichen Grades an Naturbeherrschung und gesellschaftlicher Rationalität, sondern als die Freiheit, sich seine sozialen Kooperationen zu wählen und sie selbst zu gestalten - die Freiheit, nicht in erzwungenen Kooperationen zu leben. Ganz offensichtlich besteht eine Verwandtschaft zur marxistischen Anschauung, dass den historisch überkommenen Verteilungen von Eigentum keine höheren Weihen zukommen und sie in der Regel auf Diebstahl durch Regeln beruhen (oft auch auf direktem Raub). Die Konzeption der freien Konzeption lehnt es jedoch ab, dass diese Anschauung zu irgendeinem Zeitpunkt oder in irgendeiner gesellschaftlichen Ordnung aufgegeben werden sollte, weil die Zustände jetzt angeblich die richtigen sind und Verfügungsgewalt und Regeln jetzt angeblich dem guten Zweck dienen. Und schließlich besteht eine Verwandtschaft zur marxistischen Auffassung, dass Individuum und Gesellschaft keine für sich bestehenden Einheiten sind (wie in der liberalen Auffassung). Die Gesellschaft ist nichts anderes als die gesellschaftliche Praxis der gesellschaftlichen Individuen. Befreiung heißt nicht, Modelle zu entwerfen, sondern diese gesellschaftliche Praxis zu verändern.

(43.1) ???, 20.02.2001, 15:30, Rolf Köhne: Ich verweise nochmals auf die Marx'sche "freie Assoziation der Produzenten" und stelle fest, daß es hier ebenfalls um Freiheit geht, nicht in erzwungenen Kooperationen leben zu müssen. Aber ohne einen möglichst hohen Grad an Naturbeherrschung unterliegen wir schlichten ökonomischen Zwängen und sind nicht frei. Und ohne rationale Gestaltung des materiellen Produktionsprozesses befinden wir uns in einer Zwangskooperation namens Weltmarkt, die uns hinterrücks beherrscht.

(44) Warum gibt es keine Alternative zu diesem Begriff von Freiheit und Gleichheit in der Kooperation, vom Zusammenfallen beider in der Idee der freien Kooperation? Weil die fünf großen Revisionen im Nachdenken über Emanzipation, die von den sozialen Bewegungen der letzten dreißig Jahre eingefordert und vorgenommen wurden, uns keine andere Wahl lassen. Die Revisionen betreffen das Verhältnis zu Macht/Staat, Fortschritt/Entwicklung, Objektivität/Homogenität, Demokratie, sowie zu Vergesellschaftung/rationaler Bedürfnisbefriedigung.

(44.1) 23.02.2001, 13:36, Bertram Köhler: siehe den Kommentar zu Absatz (41)

(45) Kritisiert und verworfen wurde die Idee, durch Übernahme der zentralen Staatsmacht ließe sich die Gesellschaft von oben neu einrichten, was gleichzeitig eine Entmachtung aller Individuen und aller gesellschaftlicher Kooperationen bedeuten würde (und tatsächlich bedeutet hat). Kritisiert wurde die Auffassung, es gebe in der Menschheitsgeschichte eine lineare Entwicklung, die zwangsläufig und für alle Gesellschaften verpflichtend sei (wer anders lebt, als ein leitender Angestellter in Toronto oder Stockholm, erscheint in einer solchen Auffassung einfach als rückschrittlich - "er ist noch nicht soweit"). Abgelehnt wurde die Vorstellung, man könne für andere "objektiv" urteilen, was sie brauchen, wollen, wann ihre Kooperationen gut oder gerecht sind (was nichts anderes heißt, als dass man ihre angeblichen "objektiven Interessen" gegen ihre tatsächlichen Forderungen ausspielt und dass man alle einem vorgegebenen Bild angleichen will, die Menschen zur sozialen Homogenität zwingt).

Demokratie und "Demokratisierung"

(46) Einer kritischen Revision unterzogen wurde auch das Ideal von Demokratie und "Demokratisierung". Wenn fünf Leute einen sechsten verprügeln, wird die Sache dadurch nicht besser, dass sie vorher mit 5:1 eine demokratische Abstimmung durchgeführt haben. Demokratisierung bedeutet meistens, dass die soziale Eingriffstiefe herrschender Strategien vorangetrieben wird - Partizipation begrenzt hier nicht Macht, sondern wird ihr Transmissionsriemen nach unten, zu den einzelnen Menschen, zum Alltag, zur konkreten "Mikropolitik". Demokratie verbürgt also keineswegs Emanzipation, und Emanzipation im demokratischen Zeitalter bedeutet immer auch Schutz vor "Demokratisierung", d.h. vor dem Anspruch anderer, im eigenen Leben herumzupfuschen. Einer kritischen Revision unterzogen wurde schließlich auch das Ideal von Vergesellschaftung, gesellschaftlicher Rationalität und rational geplanter Bedürfnisbefriedigung. Eine komplette Vergesellschaftung von Reproduktion z.B. ist weder möglich noch wünschenswert; sie wäre genauso wie die gesellschaftlich geplante Bedürfnisbefriedigung eine massive Entmachtung der Individuen (bzw. konkreten Kooperationen). Die Kritik geht also über den Punkt, dass Verstaatlichung der Produktionsmittel allein noch keine Vergesellschaftung bedeutet, weit hinaus und zieht das dahinterliegende Ideal einer rational geordneten, von allen Partikularinteressen gereinigten, wundervoll funktionierenden gesellschaftlichen Maschine selbst in Frage.

(46.1) Re: Demokratie und "Demokratisierung", 23.02.2001, 13:38, Bertram Köhler: Freie Kooperation könnte ein Instrument zur Lösung aller dieser Probleme sein, aber sie löst sie nicht a priori, weil siehe Anmerkung (39).

(47) Keine Auslieferung, keine "Gerechtigkeit"; keine Vertagung, keine Rechtfertigung von "entwicklungsbedingter" Gewalt; keine Objektivierbarkeit, kein Zwang zur Homogenität; keine "demokratische" Unterwerfung und Kontrolle; keine verordnete Befreiung nach männlich-weißem Vorbild: das sind die Kriterien, die eine zeitgenössische emanzipatorische Utopie, ein zeitgemäßer Begriff von Freiheit und Gleichheit, erfüllen muss. Sonos Zitat zeigt an allen diesen Punkten, wie man es nicht macht.

3. Freie Kooperation oder To Be Someone

(48) And I
got a feeling that I belonged
I
got a feeling that I
could be someone,
be someone.

Tracy Chapman, Fast Car

(49)

Freiheit und Gleichheit werden verwirklicht (und sind vereinbar, ja identisch) in der Freien Kooperation. In einer freien Kooperation werden keine überkommenen Rechte und Regeln anerkannt (außer als vorläufiger Ausgangspunkt). In einer freien Kooperation sind die Beteiligten frei, sich der Kooperation zu entziehen, d.h. sie zu verlassen; sie sind frei, ihre Kooperationsleistungen einzuschränken oder unter Bedingungen zu stellen, um dadurch Einfluss auf die Regeln zu nehmen. Freie Kooperation hat zur Voraussetzung, dass alle Beteiligten diese Form der Einflussnahme (oder der Aufkündigung) auch praktizieren können, und zwar zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis. Diese Voraussetzung muss immer wieder neu hergestellt und durchgesetzt werden; dies ist der Inhalt linker Politik.

(49.1) 23.02.2001, 13:40, Bertram Köhler: Dieser Anspruch bedeutet Gestaltung gesellschaftlicher Beziehungen von innen heraus ohne Lenkung von außen oder oben. Dies sind Bedingungen, die jeder Selbstorganisation und Evolution zugrunde liegen. Deshalb wäre es sicher hilfreich, der Ausgestaltung dieser Politik Erfahrungen, Mittel und Methoden der Evolutionsgeschichte zu Grunde zu legen. Unverzichtbar scheint mir in diesem Zusammenhang das Studium des Buches von Robert Axelrod: Die Evolution der Kooperation. Eine wesentliche Erfahrung daraus ist die Erkenntnis, dass nichtausbeuterische Kooperation nur dann zustande kommt, wenn die Kooperation von vornherein eine langfristige Perspektive hat. Dem entgegen steht die hier geforderte Freiheit, die Kooperation jederzeit verlassen zu können. Die Auflösung dieses Widerspruchs ist sicher von zentraler Bedeutung für die Realisierbarkeit „freier Kooperation“. Im übrigen möchte ich auch auf meine Homepage "Nachdenken über Evolution" URL: http://home.t-online.de/home/Bertram.Koehler verweisen.

Zum Beispiel: Feministische Erfahrungen

(50) Diese Definition ist keine theoretische Kopfgeburt. Sie lehnt sich an die reale Praxis von Emanzipation an; sie erwächst aus der sozialen Praxis und den Diskussionen der sozialen Bewegungen. Die feministische Bewegung beispielsweise hat die Realität der gemischtgeschlechtlichen Partnerbeziehung nachhaltig verändert. Sie hat dies jedoch nicht dadurch getan, dass sie Regeln für eine solche partnerschaftliche Kooperation aufstellte oder versucht hätte zu beschreiben, wie sie auszusehen hätte - "wie es richtig ist". Sie hat die Realität der Partnerbeziehung dadurch verändert, dass sie die Voraussetzungen dafür durchgesetzt hat, dass Frauen diese Beziehungen zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis verlassen können, bzw. ihre Kooperationsleistung einschränken. Durch ein verändertes Scheidungsrecht; durch eine verbesserte soziale Absicherung; durch die Kriminalisierung von Gewalt in der Ehe; durch eine umfassende Praxis, die das "Nein, wenn nicht ..." auch emotional, psychologisch, sozial möglich gemacht hat; durch alles, was die eigenständige Definition von Frauen durch sich selbst, ihre Selbstvergesellschaftung untereinander, ihre Organisierung als Frauen, gefördert und gestärkt hat. "Feministische Bewegung" meint dabei sowohl die politischen Organisationen, als auch die kollektive soziale Praxis, als auch das konkrete Agieren der Individuen in ihren Kooperationen. Es ist bekannt, dass die Voraussetzungen sich nicht so weit verändert haben, dass heterosexuelle Partnerbeziehungen heute wirklich freie Kooperationen sein könnten. Es ist auch richtig, dass die Veränderung der heterosexuellen Beziehung nicht das zentrale Anliegen der feministischen Bewegung war, oder auch nur ein allgemein geteiltes Anliegen gewesen wäre. Aber die Veränderung ist eingetreten. Sie demonstriert den Mechanismus; sie zeigt, wie ein Schritt aussieht auf dem Weg von der erzwungenen Kooperation zu einer freien Kooperation.

"Humanisierung der Arbeitswelt"

(51) Die meisten Fortschritte bei der "Humanisierung der Arbeitswelt" werden nicht in den Phasen erzielt, wo es besonders viele Gesetze dazu gibt, sondern zu den Zeiten, wo die Verhandlungsgrundlage der Arbeitenden besser ist. Weil es annähernd Vollbeschäftigung gibt; weil die soziale Absicherung bei Erwerbslosigkeit gut ist; weil es konkret möglich und persönlich vertretbar ist, seine Arbeitskooperation zu verlassen, wenn sie einem nicht zusagt. Die großen Emanzipationsbewegungen der letzten 30, 40 Jahre - die feministische, die schwarze, die trikontinentale usw. - sind alle auf ihre Art zu Diskussionen gelangt, in denen die Position zumindest Raum gewinnt, dass eine preskriptive Politik überholt ist. Dass sie nicht definieren können und dürfen, wie man zu leben hat, wenn man dieser Bewegung folgt; wie man auszusehen hat, wie man sich zu verhalten hat, wie die Kooperationen auszusehen haben, in denen man lebt; auch nicht, dass man Kooperationen aufzugeben hat, wenn sie bestimmten Grundprizipien dieser Bewegung widersprechen. Was die Individuen (oder Gruppen) wollen, was sie für ihre konkrete Emanzipation brauchen, welche Kompromisse sie machen, darüber kann man reden und Meinungen austauschen, aber man kann es nicht vorschreiben. Was man hingegen kann, ist, gemeinsam bessere Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass man in den verschiedensten Kooperationen frei und gleich wird.(18) Und diese Voraussetzung zu verbessern, heißt immer wieder: den Preis zu verändern, zu dem man gehen oder einschränken kann.

(52) Emanzipation bedeutet, sich aus erzwungenen Kooperationen zu befreien und freie Kooperationen aufzubauen. Beides ist notwendig. Der Wegfall des Alten verbürgt nicht automatisch das Neue. Emanzipationskämpfe finden in der Situation statt, wo der Preis nicht vergleichbar ist. Sie verlaufen darüber, dass man es hart auf hart kommen lässt: Kooperationen verlässt oder Kooperationsleistungen einschränkt, obwohl der Preis dafür unter Umständen höher ist als für die Gegenseite - weil man entschlossen ist, genau diese Situation zu verändern. Linke Politik bedeutet, andere Emanzipationskämpfe zu erkennen und anzuerkennen und sich dabei gegenseitig zu unterstützen, um das Prinzip der freien Kooperation zu stärken und seinen Einfluss zu vergrößern.

(53) Das Umgekehrte ist ebenfalls möglich. Auch aus der Situation einer freien Kooperation heraus sind Herrschaftsstrategien möglich; um so leichter, als freie Kooperation immer ein Näherungswert ist, ein dynamischer Prozess, kein für alle Zeiten konservierbares Gleichgewicht. Deshalb wird es immer Emanzipationskämpfe geben, und deshalb wird nie der Zustand erreicht, wo eine linke Politik nicht mehr nötig wäre.

(54) Wie aber sieht eine linke Politik aus; eine Politik, die der freien Kooperation verpflichtet ist? Was sind ihre Bestandteile, ihre Elemente? Gibt es überhaupt ein gemeinsames Muster?

Für die Beschreibung einer solchen Politik ist das Schema nützlich, mit dem im ersten Kapitel (des ersten Teils) skizziert wurde, welche Ebenen von Herrschaftsinstrumenten es gibt. Es handelt sich auch bei der schematischen Einteilung und Strukturierung einer "Politik der freien Kooperation" mehr um eine Anschauungshilfe, mit der Muster der sozialen Praxis sichtbar gemacht werden, als um eine logische Deduktion, aber irgendwie müssen wir die Dinge strukturieren - obwohl immer alles mit allem zusammenhängt. "Politik" wird hier grundsätzlich im Sinne eines erweiterten Politikbegriffs verstanden, der kulturelle Formen ebenso einbezieht wie traditionell "politische", die Mikropolitik des Alltags ebenso wie Aktionen im Raum der traditionellen "politischen" Öffentlichkeit. Träger dieser Politik können Einzelne genauso sein wie soziale und kulturelle Bewegungen, Gruppen und Kollektive; auch Institutionen und Parteien können durchaus Träger einer solchen Politik sein (wenn auch nicht isoliert).

(55) Im ersten Kapitel wurden fünf Ebenen von Herrschaftsinstrumenten unterteilt: direkte Gewalt (die "militärische" Ebene); strukturelle Unterordnung (die "ökonomische" Ebene); Diskriminierung (die "soziale" Ebene); Kontrolle der Öffentlichkeit (die "institutionelle" Ebene); Abhängigkeit (die "existentielle" Ebene). Eine Politik der freien Kooperation besteht aus fünf verschiedenen "Politiken". Jede dieser "Politiken" für sich nimmt auf alle fünf Ebenen von Herrschaftsinstrumenten Bezug; gleichzeitig korrespondiert auch die Einteilung in fünf "Politiken" den fünf Ebenen von Herrschaft.

(56) Konkret wird das klarer. Wenn erzwungene Kooperation durch eine Fülle von Herrschaftsinstrumenten aufrechterhalten wird, dann ist es für eine Politik der freien Kooperation notwendig, diese Instrumente abzuwickeln. "Abwicklung" bedeutet, dass diese Instrumente nicht für "etwas Besseres" eingesetzt werden können, sondern heruntergefahren; dass dies ein Prozess ist und keine einmalige Aktion; dass ein "Ausknipsen über Nacht" nicht möglich und in vielen Fällen auch nicht wünschenswert ist, das Ziel aber klar sein muss. Nichts anderes kann man sich heute darunter vorstellen, was es heißt, Machtfragen zu stellen : Herrschaft sichtbar zu machen und ihre Instrumente in der Praxis zurückzuweisen, und zwar an allen Orten der Gesellschaft und in jeder Kooperation.

(57) Damit ist aber keineswegs klar, wie Kooperation sich stattdessen gestalten soll. Jenseits der abstrakten Bestimmung, wie sie das Prinzip der freien Kooperation gibt, bedarf es einer konkreten Politik, die auf bestimmten Lernerfahrungen von Emanzipationsbewegungen beruht und Alternativen zur herrschaftsförmigen Kooperation praktisch vorstellbar macht. Am weitestgehenden sind solche Überlegungen im italienischen Feminismus unter dem Begriff einer Politik der Beziehungen ausgearbeitet worden.(19) Für alle Arten von Kooperation weitergedacht, ist das nichts anderes als die Frage, was man sich unter einer alternativen Vergesellschaftung in der Praxis vorzustellen hat.

(58) Der Vorteil von Herrschaft ist, dass sie bequem ist und funktioniert. Eine Politik der freien Kooperation kommt nicht umhin, eine Entfaltung sozialer Fähigkeiten zu betreiben, mit der sich die Individuen (und Gruppen) dabei unterstützen, die Entscheidung über sich tatsächlich in die eigene Hand zu nehmen. Aufgrund des Kahlschlags, den Herrschaft im demokratischen Zeitalter in diesem Bereich betrieben hat, sind wir ganz oft nicht fähig, unsere Kooperation selbst zu regeln - auch dies gilt wieder für alle Orte der Gesellschaft und alle ihre Kooperationen. Entfaltung sozialer Fähigkeiten ist nichts anderes als das, was subjektive Aneignung heute meinen kann: sich die gesellschaftlichen Erfahrungen und Fähigkeiten individuell und kollektiv verfügbar zu machen.

(59) Eine Politik der freien Kooperation muss, viertens, in der Praxis Stellung beziehen zum Doppelcharakter von Demokratie und Demokratisierung im demokratischen Zeitalter: dass die real existierenden Formen institutioneller demokratischer Systeme zur Ausübung und zum Ausbau von Herrschaft dienen können, dass es aber kein Fortschritt für Freiheit und Gleichheit wäre, sie zugunsten vordemokratischer Formen abzuschaffen. Da es kein Modell institutioneller Demokratie gibt, das von diesem Doppelcharakter frei wäre, kann die Lösung nicht darin liegen, ein konkretes Modell vorzuschlagen, das diese Probleme angeblich nicht hätte. Es gibt keine "herrschaftssichere" Form institutioneller Demokratie. Eine Politik der praktischen Demokratiekritik - oder, um es anders auszudrücken, eine Politik der emanzipativen Demokratisierung - ist daher nicht an eine bestimmte institutionelle Form gebunden, sondern fasst Elemente zusammen, die aus der Praxis sozialer Bewegungen hervorgegangen sind und quer zur konventionellen Demokratievorstellung liegen, wie Dezentralisierung, affirmative action usw.

(60) Schließlich umfasst eine Politik der freien Kooperation auch eine Politik der Organisierung. Organisierung bedeutet, sich mit Gleichgesinnten (oder besser gesagt: in bestimmten Punkten Ähnlichgesinnten) gemeinsam für bestimmte Ziele einzusetzen und dabei gleichzeitig bereits eine alternative Praxis zu entfalten. Dies ist ein sehr breiter Begriff, der nicht unbedingt an feste Organisationen gebunden ist, sondern ebenso kulturelle Bewegungen, soziale Organisierung und Prozesse inhaltlicher Annäherung und praktischer Kooperation zwischen unterschiedlichen Emanzipationsbewegungen meint. Man muss nirgends eintreten, um sich zu organisieren (aber man kann), und es wird für eine Politik der freien Kooperation keinen Dachverband und kein Parteimonopol geben. Im Grunde gilt für Organisierung Ähnliches, wie für den Doppelcharakter der Demokratie: Organisierung kann zur Ausübung und zum Ausbau von Herrschaft dienen, aber es gibt keine Alternative zur Organisierung. Eine Politik der Organisierung, als Bestandteil einer Politik der freien Kooperation, schreibt daher keine formalen Organisationsmodelle vor, sondern umfasst praktische Elemente, in denen sich historische Erfahrungen niederschlagen, wie dem Herrschaftscharakter von Organisierung zu begegnen ist.

(61) Eine nähere Beschreibung der Politik der freien Kooperation wird in Teil III gegeben, unter Angabe von Beispielen aus verschiedenen Praxisfeldern und gesellschaftlichen Bereichen sozialer Kooperation - von der WG bis zur internationalen Kooperation von Nationalgesellschaften. Jede der fünf "Politiken" wird dabei mit ihren wichtigsten Elementen hinsichtlich der fünf Ebenen von Herrschaftsinstrumtenten beschrieben (Was heißt "Abwicklung" hinsichtlich des direkten Zwangs, hinsichtlich der strukturellen Unterordnung, hinsichtlich Diskriminierung usw.), was eine Art Programmatik der freien Kooperation mit 5 x 5 zentralen Elementen ergibt. Dies ist der Grundriss einer Politik der freien Kooperation. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass dies eine Form der Veranschaulichung und Handhabbarmachung ist; die Welt ist nicht notwendig in Fünfergruppen organisiert. Im Sinne dieser Veranschaulichung und Handhabbarmachung lässt sich auch sagen, dass jede der fünf "Politiken" als Ganze einen besonderen Bezug zu einer der fünf Ebenen von Herrschaft hat. Abwicklung ist, so gesehen, die Antwort auf den direkten Zwang; die Politik der Beziehungen ist die Antwort auf (und die Alternative für) strukturelle Unterordnung; Entfaltung sozialer Fähigkeiten ist die Antwort auf Diskriminierung; die Politik der praktischen Demokratiekritik ist die Antwort auf die Kontrolle der Öffentlichkeit; Organisierung ist die Antwort auf Abhängigkeit.

(62) Welche Rekonstruktion der Frage steht am Ende des ersten Teils? Auf die Frage: "Unter welchem Modell gesellschaftlicher Ordnung sind Freiheit und Gleichheit vereinbar?" lautet die Antwort zunächst: Unter jedem; es kommt nur darauf an, was man unter Freiheit und Gleichheit versteht. Wenn wir daraufhin die Frage aufwerfen: "Was sollen wir denn unter Freiheit und Gleichheit verstehen?", lautet die Antwort: Frei und gleich sind wir in der freien Kooperation. Auf die Frage: "Welche gesellschaftliche Ordnung (im Sinne von institutionellem Regelsystem oder Verfassung) gewährleistet Freiheit und Gleichheit?" lautet die Antwort: keine bestimmte. Wenn wir daraufhin fragen, "Wie werden wir aber frei und gleich?" lautet die Antwort: durch die Politik der freien Kooperation, die wir in jeder vorgefundenen Form gesellschaftlicher Ordnung anwenden können, um diese Ordnung zu transformieren - ohne Modell, mit offenem Ende. Diese Antwort ist es, die in Teil III ausführlicher beschrieben ist.

(63) Im Teil II wird zunächst der methodische Charakter der freien Kooperation näher geklärt und auf einige Einwände eingegangen, die gegen sie erhoben werden können. Ein Einwand soll allerdings hier schon aufgegriffen werden. Er lautet: Ist das nicht alles etwas dürftig? Ist freie Kooperation nicht ein etwas farbloses Versprechen? Wieder nur Konflikte, wieder kein fester Boden einer herrschaftssicheren Ordnung, wieder keine glückliche Einheit ohne Gegensätze und schmerzhafte Missverständnisse? Keine Formel "So müssen wir die Wohnung einrichten, dann klappts auch mit dem Nachbarn"?

Das ist natürlich eine Geschmacksfrage. Aber freie Kooperation ist nichts anderes als das, wovon die eingangs zitierten Zeilen von Tracy Chapman handeln. In der erzwungenen Kooperation sind wir ein Nichts. In der freien Kooperation "sind wir jemand". Nur dort. Nur so. Nirgends anders. Und das ist nichts Farbloses. (20)

(64) Weiter mit Zweiten Teil


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