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Stichwort »Open Source« im HKWM

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 01.11.2006
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Exposé für ein Stichwort »Open Source« im Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus (19.10.2006)

(1) »OS Software« ersetzte 1998 als Marketingbegriff die ursprüngliche Bezeichnung »Free Software« mit dem Ziel, Unternehmen für die Unterstützung Freier Software zu gewinnen. Heute werden »OS Software« und »Freie Software« oder verwandte Bezeichnungen weitgehend synonym verwendet, repräsentieren jedoch unterschiedliche Strömungen in der Bewegung Freier/OS Software.

Geschichte

(2) In diesem Abschnitt geht es um eine Darstellung der Entstehung von Freier/OS Software:

(3) ursprünglich - in den 50er/60er Jahren - war alle Software als Zugabe zur teuren Hardware »freie Software«

(4) mit zunehmender Leistungsfähigkeit gewinnt Software eigenständige Bedeutung als Ware

(5) um die Warenform durchzusetzen, werden die les- und veränderbaren Programmquellen nicht mehr zusammen mit dem auf Computern lauffähigen Programmcode weitergegeben; dies wird durch eine entsprechende Lizenz basierend auf dem Copyright abgesichert; solche Software nennt man »proprietäre Software« (»Eigentümer-Software«).

(6) WissenschaftlerInnen sehen darin v.a. eine Einschränkung der Freiheit der Wissenschaften

(7) Richard M. STALLMAN gründet 1984 das GNU-Projekt und die Free Software Foundation: »Free Software« entsteht; als Begriff wird »Freie Software« groß geschrieben

(8) Ziel des GNU-Projektes ist es, ein freies Betriebssystem zu entwickeln

(9) geschützt wird die freie Entwicklung durch die GNU General Public License (GPL), die als juristischer »Hack« (=>Hacker) gilt: Auf Grundlage des Copyright werden Kopie, Veränderung und Verbreitung von Veränderungen der Programme inklusive ihrer Quellen erlaubt, wobei Derivate wiederum der GPL unterstehen müssen, was als »Copyleft« bezeichnet wird; die GPL ist heute die am meisten verwendete freie Lizenz

(9.1) 28.11.2006, 21:36, Stefan Merten: Zur GPL würde es sich anbieten, eine Prozentzahl zu nennen. IIRC liegt ihr Anteil bei 50%-60%.

(10) 1991 beginnt Linus TORVALDS mit der Entwicklung der fehlenden Kernkomponente, die er »Linux« nennt; GNU-Module und Linux-Kern bilden das »GNU/Linux«-Betriebssystem; Torvalds ist erfolgreich, weil er das »fordistische Produktionsmodell für Software« überwindet und als erster die Potenzen selbstorganisierter kollaborativer Entwicklung im Internet nutzt

(11) 1998 startet die Marketing-Initiative mit dem Begriff »OS« und gewinnt schnell die Unterstüt­zung von Unternehmen, die zunehmend eigene Produkte freigeben oder direkt die Entwicklung Freier Software finanzieren

(12) 2000 bildet sich das Oekonux-Projekt (von: Ökonomie & GNU/Linux) und fragt nach der gesellschaftlichen Verallgemeinerbarkeit der Prinzipien Freier Software zur Begründung einer transkapitalistischen »Freien Gesellschaft«.

(12.1) 01.11.2006, 13:20, Christian Siefkes: War das nicht schon 1999?

(12.1.1) Oekonux-Gründung, 01.11.2006, 14:46, Stefan Meretz: Korrekt: 1999.

Denkformen

(13) In diesem Abschnitt geht es um die Darstellung der Hauptformen der theoretischen Begründung und Reflexion Freier Software.

(14) Bezeichnung »OS« ist verbunden mit der wirtschaftsliberalen Strömung, v.a. repräsentiert durch die »OS Initiative« (OSI)

(15) Bezeichnung »Free Software« wird von der bürgerrechtsliberalen Strömung um die »Free Software Foundation« (FSF) verwendet

(16) Jenseits der beiden Hauptströmungen diskutiert Oekonux-Projekt die Freie Software als »Keimform« einer »GPL-Gesellschaft«

(16.1) 28.11.2006, 21:39, Stefan Merten: Vielleicht sollten auch die mittlerweile zahlreichen Herangehensweisen aus der eher klassischen, sich nicht explizit als politisch verstehenden Wissenschaft erwähnt werden. Da gibt es neben den neoliberalen Einsortierungsversuchen schon recht gute Sachen. Insbesondere natürlich Steven Weber aus einer politisch-ökonomischen Sicht oder auch die Arbeiten von Eric v. Hippel. Wahrscheinlich gehört auch Yochai Benkler und Lawrence Lessig in diese Reihe. Pekka Himanen sollte auch nicht vergessen werden.

(17) a) Wirtschaftsliberale Strömung Freier/OS Software: maßgeblich repräsentiert durch Eric. S. RAYMOND, Mitbegründer der OSI

(18) Raymond prägt mit seinen Aufsätzen die Rede- und Denkweise in der Bewegung Freier/OS Software im hohem Maße

(19) Mit der Metapher des »Basars« für die neue Entwicklungsweise von Software abgesetzt von der »Kathedrale« für die traditionelle Softwareentwicklung betont er die die Qualitäten von Formen flacher Organisation gegenüber hierarchischen Kommandostrukturen in Unternehmen

(19.1) 28.11.2006, 21:40, Stefan Merten: IIRC stellt ESR aber eben weniger die proprietäre gegen die Freie Software, sondern das bei GNU gepflegte gegen das Linux prägende.

(20) Unbegriffen wird damit der Übergang fordistischer zu flexiblen und vorherrschend selbstorganisierten Formen der Softwareentwicklung thematisiert

(21) Im Bild der »Besiedlung der Noosphäre«, einem virtuellen Raum möglicher Softwareanwendun­gen, sieht Raymond eine Analogie zur »Besiedlung des Westens« frei nach John LOCKE und fordert Unternehmen auf, neue Geschäftsmodelle auf der Grundlage Freier/OS Software zu entwickeln

(22) b) Bürgerrechtsliberale Strömung Freier/OS Software: repräsentiert durch Richard M. STALLMAN, Gründer der FSF

(23) vorrangiges Ziel ist die Erhaltung der individuellen Freiheit, wobei »frei« im Sinne von »freier Rede« und nicht im Sinne von »Freibier« zu verstehen sei

(24) »Freie Software« garantiere ihren Nutzern vier »Freiheiten«: Nutzung zu jedem Zweck, Studieren und Anpassen der Software, Weitergeben der Software, Verbessern und Verbreiten der veränderten Software

(24.1) 01.11.2006, 12:21, Benni Bärmann: Die vier Freiheiten werden von OSS genauso gewährt. Somit wird hier eine materielle Differenz zwischen den beiden Strömungen konstruiert, es ist aber nur eine ideologische. Das sollte deutlich werden. Ich würde die vier Freiheiten an den Anfang stellen als Definition (noch vor der Geschichte).

(25) proprietäre Software eine solche, die eine oder mehrere der vier Freiheiten einschränkt

(26) c) Transkapitalistische Strömungen, i.B. Oekonux-Projekt:

(27) zahlreiche »linke« positive Bezugnahmen auf Freie/OS Software, jedoch ohne theoriebezogene Konsequenzen (passender Einbau in tradierte Theoriegebäude)

(28) Oekonux-Projekt, repräsentiert durch Stefan MERTEN, Gründer und Maintainer reflektiert die Entwicklungen im Bereich Freier/OS Software und fragt nach dem Potenzen einer gesellschaftlichen Verallgemeinerbarkeit ihrer Prinzipien

(29) Analyse im Unterschied zu den beiden dominanten Strömungen: Wert- und Tauschfreiheit, kollektive Selbstorganisation in globalem Maßstab und individuelle Selbstentfaltung

(30) Projekt versteht sich explizit nicht als »links«, sondern es betont die Überwindung »traditionell linker« Positionen wie (Sozial-)Staat, (Lohn-)Arbeit und Formen geplanter Wirtschaft

Produktivkraftentwicklung

(31) In diesem Abschnitt geht es um die Einordnung der Freien/OS Software in der Entwicklung der Produktivkräfte:

(32) Freie/OS Software spiegelt Elemente der dritten industriellen Revolution wider

(33) erste industrielle Revolution besteht in der Revolutionierung der Sachlogik, in der Vergegenständlichung der handwerklichen Tätigkeit und ihrer Werkzeuge »in« Maschinen und ihrer naturwissenschaftlichen Optimierung (MARX: "...die Werkzeugmaschine ist es, wovon die industrielle Revolution im 18. Jahrhundert ausgeht")

(34) zweite Stufe besteht in der Revolutionierung der Zeitlogik, in der arbeits- und ingenieurwissen­schaftlichen Optimierung der algorithmischen Struktur der Produktionsabläufe (Fließproduk­tion, Taylorismus)

(35) erste und zweite industrielle Revolution reduzieren die Komplexität der früheren Manufaktur mit dem Ziel der Produktion uniformer Massengüter

(36) dritte industrielle Revolution steht vor der Anforderung, Komplexität wieder zu erhöhen, um auf globalen hochdynamischen Märkten bestehen zu können

(37) Kern ist die schnelle Änderbarkeit der Produktion sowohl hinsichtlich ihres sach- wie auch zeitlogischen Aspekts (Losgröße 1 als Ziel)

(38) Produktion unter Bedingungen globaler Konkurrenz bedeutet kontinuierliche Schaffung von Neuem und permanente Restrukturierung und Neukombination von Vorhandenem

(39) nichtstoffumsetzende (entwickelnde, planende, organisierende, koordinierende) Tätigkeiten überwiegen die unmittelbar stoffumsetzenden Arbeitstätigkeiten in der Produktion

(40) die Anforderung zur Nutzung aller Potenziale der individuellen Menschen prägt die hochtechnologische Produktionsweise

(41) der »Hauptproduktivkraft Mensch« kommt die Schlüsselrolle zu - individuelle Selbstentfaltung und kollektive Selbstorganisation sind die entscheidenden Erfolgsfaktoren

(42) Ergebnis der Maschinenentwicklung: Sachlogik und Zeitlogik werden stofflich von konkreten, analogen Produktionsmaschinen entkoppelt und universalisiert

(43) Entkopplung begann mit Computer als algorithmischer Universalmaschine zur Realisierung der Zeitlogik in Gestalt von Software

(44) Entkopplung der Sachlogik der Maschinen vom konkreten Produktionszweck durch Entwicklung universeller Produktionsmaschinen, hier v.a. Roboter und Fabber

(45) in Softwareproduktion treten die Anforderungen der dritten industriellen Revolution in destillierter Form zu Tage, da hier die Sachlogik virtueller Natur und Zeitlogik unmittelbarer Gegenstand der Produktion sind

(46) zwei Faktoren gewinnen damit an Brisanz: Produkt und Prozess der Softwareentwicklung

(47) bei Freier/OS Software sind einfach freie (Produkt) und doppelt freie (Prozess) Softwareentwicklung zu unterscheiden, wobei unter erster die (entfremdete) Produktion von Freier/OS Software im Auftrag gegen Bezahlung und unter zweiter die freie, allein gebrauchszweckorientierte Entwicklung verstanden wird

(48) Freiheit des Produkts bedeutet ökonomisch eine Reduzierung der faux frais für einen Teil von Unternehmen mittels »Entwertung« von Segmenten des Softwaremarktes, mithin eine Verbesserung ihrer Marktposition

(49) Freiheit des Entwicklungsprozesses verweist auf transkapitalistische Formen kollektiver globaler, allein gebrauchszweckorientierter Produktion

(50) damit ist Freie/OS Software widersprüchlich eingebunden und ausgetreten aus kapitalistischer Produktion: eingebunden, insofern ihre Produkte als Vergegenständlichungen allgemeiner Arbeit »wertlos« sind und somit Kosten reduzieren und die kapitalistische Produktionsweise insoweit unterstützen; ausgetreten, insofern ihre doppelt freie Produktionform außerhalb der Verwertungslogik genau jene Anforderungen der dritten industriellen Revolution repräsentieren, die Unternehmen in den Schranken des Privateigentums unter Bedingungen des Verwertungs­zwangs nicht realisieren können

(51) diese Zwiegeschlächtigkeit ist der Grund für die Möglichkeit des produktiven, durchaus spannungsreichen Zusammenwirkens neoliberaler, bürgerrechtsliberaler und transkapitalistischer Strömungen in der Bewegung Freier/OS Software

(51.1) 28.11.2006, 21:45, Stefan Merten: Ich würde an dieser Stelle auch noch auf die so entstehende politische Neutralität des Phänomens Freier Software verweisen. Damit steht das Phänomen an sich schon ein anti-politisches zumindest in dem Sinne dar, wie Linke sich Politik so vorstellen.

Vergesellschaftungsform

(52) In diesem Abschnitt geht es um Organisationsformen in Freier/OS Software, die auf neue Möglichkeiten der Vergesellschaftung verweisen:

(53) Freie/OS Software verweist auf eine globale nichtentfremdete Produktionsweise, die auf individueller Selbstentfaltung und kollektiver Selbstorganisation basiert

(54) zentrales Moment ist ihr Heraustreten aus Verwertungs- und Tauschzusammenhängen, die Entkopplung von »Geben« und »Nehmen«

(55) der Zusammenhang zwischen Bedürfnis und Befriedigung wird nicht über abstrakte Ex-Post-Zusammenhänge (wie dem Markt) vermittelt, sondern durch Formen direkter Kommunikation, womit auch der Zusammenhang von Handlungen und Folgen strukurell einsehbar ist

(56) die neu entstehenden Formen der Produktions-Konsumtion werden unter dem Begriff »Peer-to-Peer (P2P)-Produktion« zusammengefasst

(56.1) 01.11.2006, 13:27, Christian Siefkes: Der von Benkler geprägte ausdruck "peer production" dürfte sehr viel verbreiteter sein (siehe Wikipedia). "P2P production" ist m.W. nur ein Privatausdruck von Michel Bauwens der sonst nicht üblich ist.

(57) die gesellschaftliche Arbeitsteilung wird durch eine P2P-Produktion nicht zurückgenommen, sondern ausgeweitet

(58) es entstehen neue Formen der Organisation notwendiger Tätigkeiten, d.h. auch unmittelbar »unspaßige« Tätigkeiten werden übernommen, weil die Handlungen in Bezug auf das Ziel der Bedürfnisbefriedigung sachlich motiviert erfolgen können

(59) die innere Organisation von Freien/OS Projekten weist zahlreiche transdemokratische Merkmale auf, da es nicht mehr darum geht, ökonomisch determinierte Partialinteressen in gesellschaftichem Maßstab zu regulieren, sondern Realisierungsformen für unterschiedliche individuelle Bedürfnisse zu finden

(60) beim verbreiteten »Maintainermodell« erklären sich - in der Regel die Gründer - zum Maintainer (»Kümmerer« und Entscheider) und werben um Mitarbeit, wobei der Maintainer gute Entfaltungsbedingungen bereitsstellen muss, um für die Mitarbeit attraktiv zu sein, während Projektmitglieder an einem guten Maintainer interessiert sind

(61) regulatorische Momente sind Konsens, verstanden als Entscheidung, der niemand widersprechen muss, und »Fork«, d.h. die Teilung des Projektes, die zwar aufgrund der digitalen Form der Produkte verlustfrei möglich ist, jedoch die Ressourcen für die zukünftige Entwicklung aufteilt

(61.1) 28.11.2006, 21:48, Stefan Merten: An dieser Stelle kommen m.E. auch Marktmechanismen ins Spiel in dem Sinn, dass nur das leistungsfähigere Projekt sich weiter entwickeln kann. Für mich ist das eine Wiederkehr alter Formen auf höherer Stufenleiter.

(62) in der Abwägung zwischen der Fork-Option und den Veränderungsmöglichkeiten des bestehenden Projekts im Konsens entsteht eine Dynamik, die über den Gesamterfolg entscheidet, ohne das Mehrheitsentscheidungen erforderlich werden - unklare Entwicklungsrichtungen lassen sich manchmal nur praktisch durch Fork erproben und nicht mehrheitlich beschließen

(63) gesellschaftliche Entwicklungsrichtungen werden damit nicht mehr durch Verwertungslogiken auf Märkten beeinflusst oder bestimmt, sondern durch praktische Experimente, beiden denen der Gebrauchszweck, mithin die Bedürfnisse, zum Maßstab des Erfolgs werden

(64) im Unterschied zum innerkapitalistischen Exklusionsmodell, bei dem sich nur durchsetzen kann, wer dies auf Kosten anderer tut, wird das transkapitalistische Regulationsmodell der Freien/OS Software auch Inklusionsmodell genannt, da der Erfolg nur bei erfolgreicher konstruktiver Regulation der Konflikte unter Einbeziehung der Beteiligten möglich ist

(65) die Inklusionslogik wird mit Bezug auf die Freie/OS Software so zusammengefasst: »Die individuelle Selbstentfaltung ist die Voraussetzung für die Entfaltung aller - und umgekehrt«

Literatur (unvollst.):

(66)
S.MERTEN u. S.MERETZ, Freie Software und Freie Gesellschaft, in: B.LUTTERBECK u.a., Open Source Jahrbuch 2005, Berlin 2005
E.S.RAYMOND, The Cathedral & the Bazaar. Musings on Linux and Open Source by an Accidental Revolutionary, Beijing, Cambridge 1999
L.TORVALDS u. D.DIAMOND, Just for Fun. Wie ein Freak die Computerwelt revolutionierte, München, Wien 2001
S.WILLIAMS, Free as in Freedom, Beijing, Cambridge 2002

(66.1) Re: Literatur (unvollst.):, 01.11.2006, 12:30, Benni Bärmann: Ich finde einen solchen Artikel in einem Lexikon unvollständig solange er nicht auch auf die kritischen Stimmen aus dem marxistischen Umfeld hinweist und deren Argumentation erklärt (siehe Sabines Buch z.B.).


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