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Copyright & Copyriot

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 05.04.2007
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Aneignungskonflikte

(1) Sabine Nuss, PROKLA-Redakteurin, hat ihre Dissertation als Buch veröffentlicht. Es handelt sich um ein Werk, um das die Debatte aktueller Entwicklungstendenzen im »informationellen Kapitalismus« (Zitate aus dem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet) nicht herum kommt -- leider bisher ohne größere Beachtung.

(2) Die Autorin strukturiert ihr Buch in drei große Anschnitte. Im ersten Teil eröffnet sie das Szenario mit einer Beschreibung der aktuellen Aneignungskonflikte rund um digitale Informationsgüter. Dabei konzentriert sie sich auf zwei divergente Praxen: File-Sharing und Freie Software. Zentrale Auseinandersetzung ist dabei die um das sogenannte »geistige Eigentum«. Nuss beschreibt die juristische und technische Aufrüstung, die betrieben wird, um das exklusive Eigentum digitaler Güter durchzusetzen.

(3) Schwerpunkt und inhaltlich stärkster Bereich ist der zweite Teil des Buches, in dem die Autorin einen historischen Abriss über die Entstehung des Eigentums bis hin zum modernen bürgerlichen Eigentumskonzept gibt. Überzeugend zeigt sie, dass die traditionelle Geschichtsschreibung moderne Kategorien auf vergangene Praxen rückprojiziert und damit den realen vormodernen Verfügungsformen nicht gerecht wird. Zentrale ontologisierende Behauptungen werden auf diese Weise von ihr dekonstruiert, etwa die Annahme, dass der Ausschluss Dritter seit jeher konstitutiver Bestandteil von Eigentum war. Statt einem Eigentumsrecht mit einem abstrakten Eigentumsbegriff und der strikten Trennung zwischen Bedürfnis und Sachverfügung, handelte es sich hingegen bei den vormodernen Formen eher um eine Art nicht exklusives materiales Eigentumskonzept (eigene Begriffswahl) mit zahlreichen verwandtschaftlich oder religiös strukturierten Weisen der Verknüpfung zwischen Bedürfnissen und Verfügungen über eine Sache.

(3.1) 12.04.2007, 16:47, Hans-Gert Gräbe: Sabine Nuss geht deutlich weiter. Sie zeigt, dass auch die Eigentumsform im Kapitalismus selbst einer Wandlung unterliegt und die aktuellen Auseinandersetzungen eine weitere solche Adjustierung darstellen. Moglens Argumente für eine systemsprengende Perspektive genau dieser Wandlungen sind ihr zwar fremd, aber ich halte es zumindest für eine wichtige Beobachtung, dass auch "modernes Eigentum" keine monolithische Kategorie ist und niht nur vormodernes.

(4) Interessant ist die Koinzidenz zwischen den Ergebnissen von Nuss auf dem Gebiet des Eigentumsrechts und denen von Eske Bockelmann (»Im Takt des Geldes«) in seiner Untersuchung über die Taktwahrnehmung. Erst die Verallgemeinung der Waren- und Geldform als zentralem Element der sozialen Vermittlung setzte mit der Realabstraktion im Tausch den Takt als vom Material entkoppelten abstraktiven Taktrhythmus in der Wahrnehmung durch. Die überkommene materiale Taktwahrnehmung mit all ihren stofflichen und sozialen Bezügen überholte sich genauso wie eine verantwortungseingebundene materiale Eigentumsvorstellung. Reste davon scheinen in der leeren Floskel »Eigentum verpflichtet« noch heute durch.

(4.1) 12.04.2007, 16:50, Hans-Gert Gräbe: Ob die Kausalität wirklich so unidirektional ist wie hier (und von Bockelmann zu seinem Vortrag in Leipzig) behauptet, wage ich zu bezweifeln. Siehe http://leipzig.softwiki.de/index.php/WAK:2007-01-08. Bockelmann hat das im anschließenden privaten Gespräch auch deutlich relativiert.

(5) Doch während es Bockelmann gelingt, die zugrundliegende Transformation im gesellschaftlichen Stoffwechsel hin zur Verallgemeinerung des Äquivalententausches als Ursache und Antrieb für die Veränderung in Wahrnehmung und Denken sichtbar zu machen, bleibt dies bei Nuss im Dunkeln. Grund für diese Leerstelle in der Argumentation ist der Eigentumsbegriff selbst. Mit dem Begriff »Eigentum« ist für die Autorin nämlich letztlich alles gesagt. Wo bei Marx noch der Wert die »gesellschaftliche Hieroglyphe« ist, ist es bei Nuss das Eigentum als rechtsförmige Fixierung dieser Hieroglyphe. Zwar erklärt die Autorin, Eigentum sei »keine Herrschaft über eine Sache«, sondern »eine Beziehung zwischen Menschen bezüglich einer Sache ... ein soziales Verhältnis« (123f). Doch wo kommt sie aber her, diese »Beziehung«? Wodurch wird das soziale Verhältnis konstituiert? Diese Fragen stellt sich die Autorin nicht. Sie wähnt, mit dem Begriff des bürgerlichen Eigentums selbst schon den Schlüssel in den Händen zu halten.

(5.1) 12.04.2007, 17:01, Hans-Gert Gräbe: Das ist billige Polemik. Ein Begriff besteht bekanntlich aus einem Bezeichner und seiner Semantik. Die Semantik von "Eigentum" wird in Sabines Buch sehr ausführlich entwickelt, gerade auch in der Kritik an einem Verständnis als "Verhältnis zu einer Sache" hin zu einem "Verhältnis zwischen Menschen zu einer Sache" in guter Marxscher Tradition. Dass es sich um ein außerordentlich komplexes Verhältnis handelt und mglw. wichtige Aspekte draußen geblieben sind, kann man da kaum vermeiden. Dies bezieht sich aus meiner Sicht aber vor allem auf eine ausgewogene Würdigung der amerikanischen Diskussion um Stallman, Moglen, Lessig, O'Reilly etc. zum Thema Eigentum und Freiheit (diese Diskussion scheint Sabine gar nicht zu kennen, kommt jedenfalls im Literaturverzeichnis so gut wie nicht vor) sowie die juristisch-vertragsmäßige Dimension von Eigentum (etwa wie in Ruben-98). Aber, so Sabines Antwort, irgendwann muss man den Sack auch mal zubinden. Stoff für ein "zweites Buch" hat es noch genug und zu wünschen wäre es ihr und uns allen.

(5.1.1) Billig und teuer, 30.04.2007, 11:00, Stefan Meretz: Also, ich kann nicht erkennen, was du an meinen Punkten billig findest. Die Pluspunkte (Eigentumskonzept) habe ich genannt, und meine Fragen finde ich auch beim nochmal drüber nachdenken völlig berechtigt. Hingegen hilft die US-Diskussion IMHO überhaupt nicht weiter. Das, was in da in guter marxistischer (nicht "Marxscher") Tradition ausgeblendet wird, muss ins Licht.

(6) In für mich irritierender Weise schreibt Nuss gleichwohl immer wieder von »Vergesellschaftungsform« oder »Vergesellschaftungsweise« und verweist gar auf die »Verwertung von Wert« als Prinzip, erklärt jedoch bis zum Schluss nicht, was sie darunter versteht. Erst beim erneuten Lesen fand ich den Grund für meine Irritation: »Bürgerliches Eigentum ist ... bestimmt als ein historisch-spezifisches Produktions- und Herrschaftsverhältnis, welches gekennzeichnet ist von der Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln und der Verwertung des Werts als dominierender Zweck gesellschaftlicher Reproduktion« (177). -- Hier werden Eigentum und basale Vergesellschaftungsform verkehrt, denn umgekehrt wird ein Schuh draus: Nicht das »Eigentum« ist die basale Kategorie, deren Kennzeichen eine spezifische Vergesellschaftungsform ist, sondern die soziale Form der Vergesellschaftung über das Wertverhältnis als realabstraktive Praxis konstituiert das als Recht kodifizierte Verhältnis des abstrakten bürgerlichen Eigentums. Mit dem durch die Eigentumsbrille verengten Blick fallen in der Folge all jene Fragen aus, die sich auf das zugrunde liegende Wertverhältnis als der konstitutiven »gesellschaftlichen Hieroglyphe« beziehen könnten.

(6.1) 05.04.2007, 18:56, Christian Siefkes: Naja, Sabine bewegt sich eben im Kontext der Marx'schen Theorie, deren Kenntnis sie als bekannt voraussetzt, deswegen muss sie Basiskonzepte wie die "Verwertung von Wert" nicht gesondert erklären. Richtig ist natürlich, dass sich das Eigentumskonzept aus dem Zweck der Wertverwertung ergibt, nicht ungekehrt -- ich habe aber nicht den Eindruck, dass sie das systematisch verkehren würde. In der Praxis gehören beide zusammen -- das heutige Eigentumskonzept würde ohne Wertverwertung keinen Sinn machen, und Wertverwertung würde ohne Eigentum nicht funktionieren. Der Teilaspekt, der sie interesssiert, ist nunmal das Eigentum -- vielleicht beschränkt das ihre Sichtweise manchmal ein bisschen, aber ich habe nicht das Gefühl, dass sich etwas Grundsätzliches an ihrer Analyse ändert würde, wenn sie die Wertverwertung expliziter einbeziehen würde.

(6.1.1) Von wo aus denken und handeln?, 05.04.2007, 23:54, Stefan Meretz: Nö, die Kenntnis der Marxschen Theorie setzt sie nicht voraus, und das ist auch gut so. Sie entwickelt und erklärt schon ziemlich viel, aber einiges eben auch nicht (wie genannt). Dass Eigentumskonzept und Wertverwertung zusammen gehören, also ein Verhältnis darstellen, ist klar - die Frage ist doch aber: Wie ist es beschaffen? Davon hängt meiner Meinung nach ab, wo und wie man denn die Quelle gesellschaftlicher Veränderungen verortet: Im Bereich der Eigentumsform mit Hilfe entsprechenden Bewusstseins (also "politisch") oder im Bereich der Produktions- und Vergesellschaftungsweise selbst (also "praktisch")? Den Unterschied finde ich schon einigermaßen "grundsätzlich", auch was dann die Praxis angeht. Allerdings müssen wir das jetzt gar nicht entscheiden;-)

(7) Daraus zieht die Autorin den Schluss, dass wer sich nicht in einem bewusstem politischen Akt gegen das bürgerliche Eigentum richtet, doch nur kapitalaffirmativ handelt. Den subversiven, ambivalenten und neue Möglichkeiten eröffnenden Charakter Freier Software- und Kulturbewegungen wird sie damit nicht gerecht. Im dritten Teil zu »Entwicklungstendenzen im informationellen Kapitalismus« lässt die Autorin folglich wenig gute Haare an Kritikerinnen und Kritikern des »geistigen Eigentums«, da diese nicht das bürgerliche Eigentum in Gänze in Frage stellten und etwa mit freien Lizenzen gleichfalls das Urheberrecht und damit das bürgerliche Eigentumsrecht nutzen würden.

(7.1) 12.04.2007, 17:03, Hans-Gert Gräbe: Das ist in der Tat auch für mich der schwächste Teil des Buches, aber vor allem, weil insbesondere die relevante anglo-amerikanische Debatte so gut wie gar nicht aufgenommen wird.

(7.2) Notwendigkeit von Bewußtsein, 15.04.2007, 21:14, Stefan Merten: Ein bisschen klingt das ja auch nach der Frage, wieviel Bewußtsein die AkteurInnen sozialer Veränderungen mitbringen müssen, damit etwas draus wird. Das war u.a. Thema in dem Thread ab http://www.oekonux.org/list-en/archive/msg03292.html und in diesem Zusammenhang vielleicht ganz lesenswert.

(7.2.1) Re: Notwendigkeit von Bewußtsein, 30.04.2007, 11:09, Stefan Meretz: Es geht nicht nur ein bisschen, sondern ziemlich genau um die Frage, welche Rolle das Bewusstsein der AkteurInnen bei sozialen Veränderungen spielt. Sabines Kritik ist im Kern: die haben kein eigentumkritisches Bewusstsein, ergo ist da kein (oder kaum) transzendierendes Potenzial. -- Dem jetzt abstrakt entgegenzuhalten, das Bewusstsein spielt keine Rolle (ich sag nicht, dass du das tust, ich spiele das nur mal durch), ist auch nicht richtig, denn jedes Handeln ist immer auch bewusstes Handeln. Die Frage ist IMHO nicht, ob Bewusstsein vorliegt, sondern welches, was die Antriebsmomente sind, welche Rolle das bei der Überschreitung der bürgerlichen Gesellschaft spielt etc. Also keine triviale Angelegenheit.

(8) Sabine Nuss hat ihre Rolle als Kritikerin euphorischer Projektionen neuer Entwicklungstendenzen im Informationskapitalismus erfüllt, und dabei gibt es eine Menge zu lernen. Wenn andere dazu tendieren, die sprengenden Momente eines Widerspruchs überzubetonen, dann steht sie für die entgegengesetzte Sicht: Alles, was im Kapitalismus geschieht, ist für diesen auch funktional. Dabei gerät jedoch gar nicht erst in den Blick, ob der Kapitalismus in seinen basalen Reproduktionsformen über Ware und Wert bereits Widersprüche erzeugt, die neue Handlungsformen eröffnen. Wer hier weitergehen will, dem sei die Ausgabe 31 der Zeitschrift krisis empfohlen.

(8.1) 12.04.2007, 17:06, Hans-Gert Gräbe: Die "sprengenden Momente" sind eine sehr prinzipielle Frage über die Art und Weise des Hinauswachsens über kapitalistische Verhältnisse. Ob und inwieweit da "gesprengt" wird und was in einem transformatorischen Prozess ohne Sprungstellen geschieht. Hier gehen bekanntlich die Positionen schon allein von Sabine, dir und mir sehr weit auseinander, so dass es sich nicht empfiehlt, solche Fragen als Maß an die Qualität einer Analyse, wie von Sabine in großen Teilen des Buches vorgelegt, anzulegen.

(8.1.1) Rezension, 30.04.2007, 11:13, Stefan Meretz: Da missverstehst du aber den Charakter einer Rezension. Selbstverständlich lege ich meine Kriterien bei der Bewertung und Kritik an. Und ich bin mir sehr sicher, dass Sabine das ebenso einzuschätzen weiss.

(9) Sabine Nuss, Copyright & Copyriot. Aneignungskonflikte um geistiges Eigentum im informationellen Kapitalismus, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2006, 269 Seiten, 19,90 Euro.


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