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Jetzt erst recht! Auf der Suche nach einer anderen Zukunft.

Maintainer: Annette Schlemm, Version 1, 15.06.2005
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

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(2) Immer wieder wird uns verboten, über Utopien nachzudenken. Das „Ende der Utopien“ wird beschworen von Konservativen, die uns mit der Position „There Is No Alternative“ (TINA) schon bei der EXPO 2000 in Hannover vorführten, dass sie unsere Zukunft voll im Griff zu haben vermeinen. Aber auch für Linke ist das Utopieverbot „in“. Es wird unterstellt, dass Utopien automatisch zu diktatorischen Vorgaben werden. Wenn wir aber nicht utopisch denken dürfen, wer bestimmt dann über unsere Zukunft? Ist es besser, alles einfach laufen zu lassen?

(3) Was sind eigentlich Utopien? Die Wortbedeutung erklärt sich aus der Zusammensetzung der griechischen Worte ou = nicht und topos = Ort, also Utopia = Nirgendwo. Das ist tatsächlich vielleicht nicht grad die beste Bezeichnung für das, was wir meinen, wenn wir von Utopien sprechen. In Wirklichkeit geht es uns um einen guten Ort (Eutopie) und auf jeden Fall um einen Ort, der nicht ganz unmöglich, sondern wenigstens möglich ist. „Das Utopische ist als unmöglicher Ort definiert, die Metopie kann realisiert werden als „Übergang auf das Ziel hin bei vorgegebener Invariante der Richtung, aber stets dem sinngebenden Zufall ausgesetzt“.“ (Zimmermann 2001: 174) Prägend für den Begriff der Utopie war ein Roman von Thomas Morus aus dem Jahr 1516: “De optimo rei publicae statu, deque nova insula Utopia”. Die Rahmenhandlung dieses Romans sind die Erzählungen eines Seemannes, der eine Zeit lang bei den Utopiern (vorzugsweise auf einer Insel) gelebt haben will. Der Roman beschreibt eine auf rationalen Gleichheitsgrundsätzen, Arbeitsamkeit und dem Streben nach Bildung basierende Gesellschaft mit demokratischen Grundzügen. In der Republik ist aller Besitz gemeinschaftlich, Anwälte sind unbekannt, und Kriege werden von Söldnern geführt. Aber es gibt weitaus ältere Werke, die wir unter den Begriff Utopie stellen können: etwa Platons „Staat“ (Politeia), in dem sich Platon eine Gesellschaft, geführt von klugen Philosophen in Verbindung mit Wächtern und Arbeitern/Bauern vorstellt, ist wohl eines der berühmtesten Vertreter. Campanellas „Sonnenstaat“ und Francis Bacon „Neu-Atlantis“ sind die berühmtesten Vertreter der Utopien der Renaissance. Allerdings gibt es neben diesen positiven Utopien auch negative Utopien, genannt Dystopien, bekannteste Vertreter sind Huxleys Huxleys „Brave New World“ und George Orwells „1984“. Mittlerweile ist es leider fast zur Regel geworden, dass in der Science Fiction Literatur die negativen Angstbilder dominieren ohne Auswege oder Visionen zu skizzieren. Dem gegenüber entwickelte sich schon vor einigen Jahren die Rückeroberung des freiheitlichen utopischen Denkens (siehe in der Zeitschrift „Ö-Punkte“ vom Herbst 2001 und Schlemm 2001).

(3.1) 28.06.2005, 10:15, Simone Ott: Stilistische Anmerkung: Den Satz: "Das ist tatsächlich vielleicht nicht grad die beste Bezeichnung..." würde ich ändern in "Das ist tatsächlich nicht gerade die beste Bezeichnung..."
Im Satz drauf verstehe ich diese Umschreibung nicht: "einen guten Ort, der nicht ganz unmöglich, sondern wenigstens möglich ist..." Ist das nicht das Gleiche? #Weiter unten: "...etwa Platons 'Staat'..." muss es heißen: "ist wohl einer der berühmtesten Vertreter..." Allerdings kommt in diesem Abschnitt das Wort "Vertreter" sehr häufig vor: wie wäre es mit "Exemplar", "Beispiel"...? #Huxley heißt Aldous mit Vornamen ;-)

(4) Auf jeden Fall haben diese Vorstellungen über die Zukunft mehr mit der Gegenwart zu tun, als oft angenommen wurde. Wir glauben auf keinen Fall mehr an die Unaufhaltsamkeit des Fortschritts, wir glauben eigentlich nicht mehr wirklich irgend welchen Versprechungen von Politikern, dass sie Antworten auf die Probleme der Gegenwart haben. In der Presse werden erfolgreiche Widersprüche gegen die Hartz-IV-Bestimmungen schon zur Erfolgsgeschichte hochstilisiert, die 1-Euro-Jobs sind begehrt wir früher Westschokolade. So langsam gehen uns sogar die Spießer-Utopien aus, von wegen Häusle-Bauen, schickes Auto, jährliche Urlaubsreisen und so. Dieser Verlust wäre zu verschmerzen, wenn er begleitet wäre von einem Aufbegehren über die geraubten Zukunftswünsche.

(4.1) 28.06.2005, 10:20, Simone Ott: Glauben "wir" tatsächlich nicht mehr an die Unaufhaltsamkeit des Fortschritts? Ich weiß nicht, ob es für "Fortschritt" eine feste Definition geht, aber ich befürchte schon, dass irgendwelchen wissenschaftlichen SpezialistInnen immer noch irgendetwas Neues einfallen wird, um das bestehende zu "steigern"; solange es den Kapitalismus gibt mindestens aus verwertungstechnischen Gründen. Meinst du vielleicht, dass es kein unendliches Wachstum gibt..? orthographische Anmerkung: "...die 1-Euro-Jobs sind begehrt wie Westschokolade..."

(5) Begehren aber erlischt nie wirklich und endgültig. Wir begehren, was uns fehlt und uns fehlt verdammt vieles. Dass wir der schlechten Gegenwart so hilflos ausgeliefert sind, dass viele den 1-Euro-Jobs nachrennen und sich junge Leute ernsthaft einreden lassen, sie müssten ihr Leben nach den Erfordernissen des Weltarbeitsmarktes ausrichten hängt auch damit zusammen, dass wir noch nicht wissen, womit wir die bisherigen, die früheren und heute nicht mehr funktionierenden Lebensorientierungen ersetzen können. Frust, Empörung und Wut über Studiengebühren oder Hartz IV mögen noch so groß sein – befreiend sind sie nicht (Wohl auch deshalb bekommen die Proteste sowenig Zulauf). Diese Entrüstung verbleibt innerhalb der Rahmenbedingungen, die potentielle Arbeitskräfte nur dann arbeiten lassen, wenn mit ihrer Arbeit Profit gemacht wird. Sie kratzt die Verhältnisse nicht an, in denen die wenigen mit ihrem Kapital über die Lebenschancen von so vielen anderen bestimmen können. Es ist enorm wichtig, der Wut aus dem Bauch heraus zu helfen, sie herauszulassen. Aber solche Wut, wenn sie alleine bleibt, verpufft wirkungslos und dies entmutigt immer mehr, bis wir schließlich verzweifelt zu vergessen versuchen, dass wir Grund zur Wut haben und uns notgedrungen anpassen und zum Spargelstechen schicken lassen.

(5.1) 28.06.2005, 10:24, Simone Ott: Komma nach "nach den ERfordernissen des WEltmarktes ausrichten" #"wohl" in der Klammer würde ich klein schreiben #das Beispiel vom Spargelstechen klingt für mich ein bisschen so, als wäre das eine Tätigkeit, die unter der Würde jedes deutschen Arbeiters wäre. Wenn du die Betonung irgendwie mehr auf das "schicken lassen" legen könntest, evtl. mit einem anderen Beispiel...

(6) Ist dies eine humane Lebensweise? Menschen sollten über die Bedingungen ihrer Existenz selbst entscheiden können. Hier sollen keine seitenlangen Abhandlungen von Philosophen und Psychologen über das Wesen des Menschseins abgekupfert werden, aber zum Nachdenken möchten wir einen Überblick über verschiedene Horizonte, in denen wir üblicherweise leben und orientieren, angeben.

(6.1) 28.06.2005, 10:25, Simone Ott: Stilistische Anmerkung: "...einen Überblick über verschiedene Horizonte, in denen wir üblicherweise leben und uns orientieren, geben"

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(8) Da haben wir zuerst den Horizont des unmittelbaren Alltags. Normalerweise tun wir das, was gerade zu tun ist und denken nicht weiter über größere Zusammenhänge nach. Das ist gut und effektiv so. Wenn wir diese Sichtweise aber auf Fragen der Entwicklung und der Zukunft übertragen, so bleiben wir dabei hängen, dass sich alle Gegebenheiten als feste, „faktische“ Realität fixieren und unverrückbar erscheinen. „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ ist ein Prinzip, bei dem eine gegebene Rechtslage einfach als ewiges Prinzip versteinert wird. Das Verhängnisvolle daran ist, dass wir die einschränkenden Rahmen, wie hier das Goldfischglas, oft nicht wahrnehmen. Solange wir innerhalb des Glases rumschwimmen, bemerken wir das Glas nicht – wenn wir uns nicht zu bewegen versuchen, bemerken wir auch nicht unsere Fesseln.

(9) Vielleicht brauchen wir erst die Erfahrung des Wundschlagen am Glas oder an der Mauer. Meistens zucken wir dann zurück und versuchen diesen Schmerz künftig zu vermeiden. Auch das ist wohl die normale Reaktion, die uns lange weiter hilft. Im günstigsten Fall gelingt es uns sogar, die Erinnerung, dass da eine schmerzhafte Barriere ist, zu verleugnen, zu verdrängen und zu vergessen. Oder andere reden uns dann immer wieder ein, dass da gar nichts ist, dass wir in der freiesten aller möglichen Welten leben – wir müssen es nur lernen, elegantere Kurven zu schwimmen...

(10) Es fällt auf, dass im persönlichen oder eher unernsten Gespräch viele irgendwie ihr Wissen darüber andeuten, dass da Glas- und Mauerbarrieren sind und dass das Kurvenschwimmen, das Ecken-Schlagen im Labyrinth eigentlich nicht der Sinn ihres Lebens sein sollte. Viele Einzelne denken das vorsichtig, trauen sich aber viel zu wenig, mit anderen darüber zu reden. Wenn sie das dann aber tun, stellt sich oft heraus, dass viele Lust haben, die Einschränkungen, die Mauern in Frage zu stellen, sie zu hinterfragen, über ihre Begrenzungen hinaus zu schauen.

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(12) Der allererste Schritt dabei ist es, nicht mehr alles als vorgegeben zu akzeptieren, sondern immer nach einem „Warum?“ zu fragen, wie wir es als kleine Kinder ja auch getan haben sollen. Streifen wir die Erziehung zur Anerkennung der faktischen Gegebenheiten endlich wieder ab!

Literatur

(13) Schlemm, Annette (2001): Macht, was Ihr wollt! In: Internet http://www.thur.de/philo/utopie2.htm.
Zimmermann, Rainer E. (2001): Subjekt und Objekt. Zur Systematik Blochscher Philosophie. Berlin/Wien: Philo-Verlag.

(13.1) Re: Literatur, 28.06.2005, 10:28, Simone Ott: Ich könnte es eigentlich wissen, weiß es aber nich: gibt es eine zitierfähige Quellenangabe für die Ö-Punkte-Ausgaben, die du angesprochen hast (Absatz 3)? Wenn nicht vielleicht zumindest schreiben, wo mensch sie kriegen kann...


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