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Ein paar Gedanken zu der Geschichte "Rolf im Kino"

Maintainer: Uli Weiss, Version 1, 16.11.2006
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) Es ist vielleicht nicht gleich ersichtlich, was diese Geschichte mit unserer Keimform-Fragestellung zu tun hat.

(2) Ich war in den letzten Jahren zunehmend sauer auf Rolf, der viele Dinge genauso sieht wie ich, aber in keinem einzigen Punkt praktische Konsequenzen zog.

(3) Er blieb in der Partei, obwohl er selbst hinreichend Gründe dafür anführte, dass sie kein emanzipatorisches Projekt ist. Er verlor zunehmend die Hoffnung, dass sich dies je ändern könnte. Er wusste eigentlich, dass Parteienstrukturen überhaupt nicht in der Lage sind, das Gegebene, die bürgerlichen Grundstrukturen, zu übersteigen. Trotzdem klammerte er sich an diesen Verein.

(4) Er unterwarf sich auch der von ihm als erniedrigend und sinnlos empfundenen Lohnarbeit und das, ohne materiell dazu gezwungen zu sein. Nicht, dass ich das nicht verstand. Nur habe ich ein Umfeld, in dem ich mir die Ausstiege aus solchem Horror wenigstens teilweise erlauben kann, ohne meine gesamte menschliche Existenz infrage zu stellen. Er hatte das nicht oder viel weniger.

(5) Trotz meines Verständnisses wurden die Beziehungen immer kühler. Rolf konnte einfach nicht davon lassen, auch der jetzigen Gesellschaft, der Partei, seiner Lohnarbeit ein Bild davon vorzuhalten, wie es eigentlich sein müsste. Er kritisierte das Gegebene sozusagen nach Hegelscher Manie (Matti, hau mich nicht): Die Sache entspricht nicht ihrem Begriff, dem Ideal. Das müsste sie aber. Zumindest in der PDS agierte er dementsprechend, die absehbaren Niederlagen wieder und wieder hinnehmend. Dabei kannte er genauso gut wie ich die Logiken der kapitalistischen Produktionsweise und der politischen Bewegungen und Parteien, aber er wagte es nicht, sich auf diesen Standpunkt zu stellen. Das hieße, sich wenigstens geistig, auch gefühlsmäßig außerhalb dieser Gesellschaft zu stellen. Rolf ist nicht feige. Aber das mutete er sich und anderen nicht zu.

(6) Die Schwierigkeit dessen hat er auch mal klar ausgedrückt: Die Basisorganisation sei außerhalb der Kleinfamilie die einzige Gemeinschaft, die er noch habe. Geht er dort raus, wäre eine weitere große Leere. Seelsorge. So wie bei vielen Leuten, die mit Gott im dort gepredigten Sinne nichts am Hut haben, aber gelegentlich doch in die Kirche rennen und irgendwie ein Bedürfnis nach dem ganzen Mummenschanz haben und pflegen.

(7) Rolf kannte einige unserer Diskussionen über Wegen aus dem Kapitalismus, doch dies, auch die Keimformfrage, ließ er nicht an sich ran. Es war ihm (ist noch?) nicht ernsthaft möglich, ein Ende des Kapitalismus überhaupt zu denken. Das impliziert eine Vorstellung einer grundsätzlich anderen Lebenspraxis, die im Realsozialismus auch nicht entstanden war. Wenn wir mal darauf zu sprechen kamen, setzte er viel Energie darein, jeden Gedanken in dieser Richtung abzuwehren. Das geschah immer mit der gleichen Methode: Alles was auf Keimformen verweisen könnte, misst er am Maßstab jetziger Lebens- und Arbeitsformen, um das dann, das nun wieder logisch, als unrealisierbar zu verwerfen.

(8) Jetzt auf einmal ist irgendetwas passiert - und er zeigt gleich auch noch (mit der Hauptmann-Geschichte), dass das ihm schon lange präsent ist. Er stellt sich der ihm längst bekannten Tatsache: In den Lohnarbeits- und Parteienstrukturen (letzteres eingeschränkt, denn er geht ja trotzdem noch wählen) ist nichts menschlich-emanzipatorisches mehr zu holen. Während ihn die vorhergehenden beständigen Niederlagen - gemessen an seinen falschen Erwartungen waren es auch solche - richtig niederdrückten, hat dieser Standpunktwechsel offenkundig etwas Befreiendes. Er erlebt jetzt zwar immer noch den gleichen Mist, bindet aber keinerlei menschliche Hoffnung mehr an Lohnarbeit und an Parteistrategien.

(9) In Ermangelung solcher Gemeinschaften, in denen genau dies Konsens ist, bleibt er in den gegebenen Strukturen. Er gewinnt aber seine menschliche Befriedigung (oder eben Ent-Täuschung) nicht aus dem tatsächlichen Zweck - etwa "seines" Arbeitsteams, Wert zu verwerten. Ihm sind die völlig unabhängig davon bestehenden menschlichen Beziehungen wichtig, in denen sich Menschliches gegen die äußerlich aufgezwungene Logik behauptet. Ein Teil der Leute setzt sozusagen dem Job-Team eine menschliche Gemeinschaft entgegen. Rolf spielt darin eine wichtige Rolle, blüht regelrecht auf. Sachlich hat er nichts Neues erfahren, kein Aufklärer ist gekommen und hat etwa einen Aha-Effekt ausgelöst. Geändert hat sich sozusagen sein "Mentales Modell". Das längst Bekannte bekommt eine andere Systematik und ist auf eine neue Weise mit Gefühlen, Motiven verbunden.

(10) Es zeigt sich, dass solche Änderungen eine entsprechende soziale Basis brauchen. Bei allen Einschränkungen bietet für mich die "Uhle" (Gemeinschaft, in der ich lebe) eine solche Basis, auch die verbliebenen WaK-Leute. Für Rolf sind es offenkundig "seine Jungs", die ihm - in ziemlich bewusstem Gegensatz zu den "Lackaffen" - einen menschlichen Rückhalt geben, die längst gesehenen Dinge, wirklich an sich ran zu lassen und doch nicht an Einsamkeit kaputt zu gehen.

(11) Das alles sind keine Weltveränderungsprojekte, keine Kopfgeburten. Es sind zunächst nichts weiter als pragmatisch entstandene Kleinstrukturen, in denen sich außerhalb oder entgegen dem Mainstream, Menschen als Menschen und nicht als Klassenindivuduen, Lohnarbeiter, Herren bzw. Knechte begegnen.

(12) Solche sozialen Räume sind beständig gefährdet. Sie schaffen es sich auszuweiten, sich bewusst dem äußern Druck entgegenzustellen oder - dies bisher die dominierende Variante - sie gehen ein.

(13) Sind solche Strukturen nur Bedingungen für keimformgemäßes Denken? Sind sie selbst Keimformen? Ist Beides nur zusammen zu denken?

(13.1) Meine Lesart, 03.12.2006, 20:18, Stefan Merten: Ich möchte gerne meine Lesart der Geschichte erzählen: In der Geschichte sucht jemand mehr oder weniger verzweifelt nach Sinn. Und zwar Sinn in einem höheren Sinne - mutet schon fast spirituell an. Kapitalismus hat zwar viel zu bieten, Sinn in diesem Sinne gehört aber nicht dazu. Rolf hat das für seinen Job erkannt - und kann dann plötzlich gut damit leben. Diese Sinnlosigkeit wird von Rolf auch als Entfremdungsphänomen erlebt. Ich würde Benni recht geben, dass im Westen diese Erkenntnisse weit verbreitet sind und der Anspruch da schon gar nicht mehr existiert. Hier ging es eben nie um den "Aufbau des Sozialismus" (O-Ton DDR-Bürger während einer zufälligen Begegnung in der Silversternacht 1999/2000) - oder um den Weltfrieden. Hier ging es immer nur um Profitmaximierung.

(13.2) Noch mehr Kino, 03.12.2006, 20:24, Stefan Merten: Aber wo wir gerade beim Kino sind: Ich war gestern Abend in "Thank you for smoking". Der Film hat gewisse Ähnlichkeiten mit Rolfs Film. Allerdings muss ich sagen, dass ich schon ziemlich beeindruckt war, was mit rhetorischen Fähigkeiten alles hinzukriegen ist. Und ich bin sicher, dass in der Auslebung dieser Fähigkeiten auch ein (individueller) Sinn liegen kann. Das ist dann mehr der Sinn im aktuellen Doing. Selbstentfaltung hat eben auch was mit der Entfaltung der eigenen Fähigkeiten zu tun. Und darin kann schon eine Befriedigung liegen - wenn auch vielleicht nicht in diesem spirituellen Sinne wie Rolf sich das wünscht.

(13.3) Alles Kino?, 03.12.2006, 20:27, Stefan Merten: Um aber nochmal auf die Sinnsuche a la Rolf zurück zu kommen: Mir scheint dieser Typ eher religiöser Sinnsuche auch überholt. Ja, ich frage mich, ob es nach der Aufklärung so etwas vernünftigerweise noch geben kann. Ja, natürlich in den Massenkollektiven des 20. Jahrhunderts und den zugehörigen Führerkulten gab es so etwas, aber ist das wirklich so klasse gewesen? Na ja, andererseits haben die Menschen schon irgendwie das Bedürfnis, sich in etwas einzubringen, was größer ist als sie selbst...

(14) Hast du eine Geschichte für uns, die mit "Keimformen" zu tun hat?

(14.1) Schöne Geschichte :-), 16.11.2006, 14:22, Benni Bärmann: Danke Uli!

Also ich glaube bei uns hier im Westen - zumindestens in den prosperierenden Dienstleistungszentren - laufen die meisten Leute mit diesem "Kino-Gefühl" rum. Platt gesagt: Das ist die Postmoderne, die kommt bei euch vielleicht bei manchen einfach etwas verspätet an (was vielleicht damit zusammenhängt dass der postmoderne/postfordistische Strukturwandel im Osten nicht stattgefunden hat, was ein wichtiges Moment im Scheitern des Realsozialismus war). Nix mehr ist echt.

Wie Du richtig beschreibst hat das durchaus befreiende Momente. Es schlägt aber auch schnell in eine mir-doch-alles-egal-Haltung um wo dann auch Leichen den Weg pflastern können (ist ja nur Kino). Die Keimformen liegen sicher irgendwo auf diesem schmalen Grat.

Deswegen betone ich auch immer die Wichtigkeit des Spiels. Spielerisches Handeln bewegt sich nämlich schon prinzipiell auf diesem Grat.

Etwas problematisch ist vielleicht die Gegenübersetzung der "echten menschlichen Erfahrungen" die es neben dem Funktionieren für den Markt gäbe. Die sind halt auch nicht viel echter (aber vielleicht ein bisschen und das wäre ja dann schon viel).


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