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Krisenideologie versus Bevölkerungsökonomie

Maintainer: Birgit Niemann, Version 1, 24.02.2003
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) Text: Die Renaissance des biologischen Menschen: Als Einstieg in diese Art gesellschaftlicher Praxis diente die konkurrenzbereinigende, wirtschaftliche Enteignung der Juden (34), die durch nur scheinbar "irrationalen Rassenwahn" unter dem Denkmodell einer biologistischen "Rassenhygiene" gesellschaftsfähig gemacht wurde.

Claus Peter: Der Antisemitismus des 20. Jahrhunderts ist keine bloße Instrumentalisierung (wofür?) historischer Vorurteile gegenüber jüdischen Menschen, sondern ist Krisenideologie des Kapitalismus und entspringt dem Aufklärungsdenken: Das "raffende" Kapital wird ideologisch vom Kapitalverhältnis abgekoppelt, um dieses trotz Krisenerscheinungen unangetastet lassen zu können.

(1.1) 24.02.2003, 00:29, Birgit Niemann: ...... und um praktischerweise gleichzeitig die jüdische Konkurrenz loszuwerden, deren Kapital zu übernehmen und die Konkurrenz-Verhältnisse neu zu ordnen. Gleichzeitig gab man einem Großteil der Bevölkerung die Chance durch Aneignung jüdischen (und polnischen) Eigentums aktiv und passiv mitschuldig zu werden, womit sie in's nazistische Boot geholt wurde und sich an die brutalisierten Verhältnisse als Normalität gewöhnte. Wie immer im echten Leben, vieles auf einen Streich.

(1.2) 24.02.2003, 12:53, Bernd vd Brincken: Diese - wie ich heraus lese: zwangsläufige - "Krisenideologie" wäre aber dann aber nur in Nazi-Deutschland aufgetreten. Oder kann man ein anderes (kapitalistisches) Land nennen, wo die Trennung zwischen "gerafftem" und konzeptionellen Kapital so propagiert wurde. Und wie ist es heute ?

(2) Claus Peter: Das Thema ist in Deutschland zu Recht sensibel und erfordert genaue Formulierungen.

(2.1) 24.02.2003, 00:36, Birgit Niemann: Zitat aus "Vordenker der Vernichtung" (Heim und Aly, 1992) zum Thema: Instrumentalisierung wofür?:

"Darüber hinaus aber existierten im Hintergrund Denkmodelle, Konzepte für "Endlösungen", die die staatlich gesteuerte Massenvernichtung von Menschen - zwar selten ausdrücklich aber um so häufiger in sterilen wissenschaftlichen Begriffen - als funktional im Sinne einer langfristigen gesellschaftlichen Modernisierung empfahlen. (Hervh. v. m.) Sie sind unser Thema. In ihrer Abstraktheit stehen diese Denkmodelle in einem scheinbaren Gegensatz zum Wüten der Schergen. Und doch verfügte das nationalsozialistische Deutschland nicht nur über eine Ideologie, die allen als "minderwertig" eingestuften Menschen die Ausrottung zudachte, sondern zugleich über bis ins Detail durchdachte Theorien, wie ganze gesellschaftliche Klassen, Minoritäten und Völker "umgeschichtet" und dezimiert werden sollten. Ideologie und Theorie (und Ökonomie, Zusatz von mir) mußten aufeinandertreffen und ineinandergreifen, um Hadamar, Chelmno, Leningrad, Stukenbrock, Treblinka und Ausschwitz ins Werk zu setzen. Und: Mit jedem weiteren Jahr der Existenz des nationalsozialistischen Deutschland wären weitere Millionen von Menschen umgebracht worden: mit dem Intrumentarium des Hungers, der Vertreibung, der Gaskammer und der "Vernichtung durch Arbeit". Unsere Überlegungen und die Ergebnisse unserer Quellenforschung (Hervh. v. m.) widersprechen einem bereits festgefügten Geschichtsbild: Wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, so herrscht doch breite Übereinkunft darüber, dass sich der Mord an der europäischen Judenheit historisch rationalen Erklärungsversuchen verschließt. Hannah Arendt hebt gerade dies hervor: Das Einzigartige sei eben nicht die Zahl der Opfer, sondern das Fehlen jeder Nützlichkeits- und Interessenabwägungen auf der Seite der Mörder. (Auch Moishe Postone wiederholt diese Auffassung; Anm. vom mir) Die Dokumente (Hervh. v. m.), die wir in diesem Buch vorlegen und interpretieren, zeigen, dass diese These nicht aufrechterhalten werden kann (Hervh. v. m.). Ebenso wie bei den Massenmorden an deutschen Geisteskranken und an der polnischen, jugoslawischen und sowjetischen Bevölkerung sind auch bei der Ermordung der europäischen Juden utilitaristische Ziele erkennbar. Das macht die Morde nicht weniger entsetzlich.

Im Zusammenhang mit Auschwitz ist heute die Rede von "irrationalstem Rassenhaß", von der "Vernichtung um der Vernichtung" willen, vom "Selbstlauf" der deutschen Bürokratie, vom "Rückfall in die Barbarei" und vom "Zivilisationsbruch". Meist einfach übergangen oder doch relativiert wird dabei, dass die Vordenker der "Endlösung" die Ausrottungspolitik gegen andere Bevölkerungsgruppen, insbesondere die Sowjetunion und Polen, in einer Linie mit dem Mord am europäischen Judentum sahen, als Bestandteil eines Gesamtkonzeptes "negativer Bevölkerungspolitik".


Als mir dieses Buch in die Hände fiel, indem anhand zahlreicher Dokumente und Protokolle der Zusammenhang der Judenvernichtung mit den anderen Vernichtungsstrategien im Denken und Handeln der Denker und Henker, sowie die rationalen Funktionen des Antisemitismus und der mörderischen Praktiken nachgewiesen werden, schloss sich in meinem Begreifen eine Lücke, die durch keine ideengeschichtliche Ableitung des Antisemitismus hätte geschlossen werden können. Gleichzeitig stellte sich für mich der Zusammenhang zu meinem Geschichtsbild, das durch die Dimitroff'sche Faschismusdefinition geprägt ist, sowie zu Marxen's kleiner Schrift: "Zur Judenfrage" her. Auch hat weder die Aufklärung noch der deutsche Faschismus den Antisemitismus erfunden, sondern vorgefunden. Natürlich hätten sie ihn sonst erfinden müssen, aber eine historisch schon stigmatisierte Menschengemeinschaft, die sich auch noch besser als jede andere Menschengemeinschaft für die ideologische Personifizierung des abgespaltenen "raffenden Kapitales" eignete, hätte man kaum erfinden können. Die Ideologie musste dem Vorgefundenen dann "nur noch" die kapitale Dimension verleihen. In diesem "entspringen aus dem Aufklärungsdenken" manifestiert sich also nicht nur der "Sprung" in eine kapitale Qualität, sondern auch historische Kontinuität. Die Tatsache, dass Ausschwitz heute als antisemitische Singularität und weniger als menschenverwertender und zweckrationaler Bestandteil der Kapitallogik bzw. als abgehobene Spitze eines Eisberges betrachtet wird, erschwert aus meiner Sicht die für das Verständnis der Gegenwart absolut notwendige Anknüpfung an die rationale Funktion der Vernichtungsstrategien, die in der Beseitigung "unverwertbarer" Menschenmassen (sprich: für das Kapital "unnützer" Ressourcenverbraucher) lag.

(2.2) 24.02.2003, 00:41, Birgit Niemann: Die ideengeschichtliche Ableitung des Antisemitismus im Zusammenhang mit einer Kritik der Auklärung betrachtet die ideelle Seite der Medaille. Doch meine Sache ist nun 'mal eher die weiß ich wievielte Marx'schen These: Das Handeln der Menschen ist im Wesentlichen praktisch. Auch stellen Heim und Aly deutlich die außerordentlichen Entfaltungsmöglichkeiten und Eigeninteressen der von jeglichen sozialen Schranken freien Wissenschaftler und Techniker aller Art im Dritten Reich heraus und stellen den Antisemitismus in Beziehung zu polit-ökonomischen Absichten und in den Kontext der flexiblen Anwendung ein und derselben Vernichtungsstrategie auf verschiedene Bevölkerungsgruppen. Diese Punkte halte ich in der gegenwärtigen Antisemitismus-Diskussion für total unterrepräsentiert und außerdem sind es gerade die, an die ich anknüpfe. Deshalb möchte ich der aktuellen Diskussion, die sich ohnehin erfolgreich bemüht hatte, jedes erträgliche Niveau zu unterschreiten, nicht mehr Rücksichten widmen, als unbedingt erforderlich ist.

(2.3) 24.02.2003, 00:42, Birgit Niemann: Im übrigen besteht hier ein harter Zusammenhang zu dem, was ich mit meinem kleinen ideellen Substitutionsexperiment (Mensch gegen Maus; Projekt Allmachtsphantasien Pkt. 6) ausdrücken wollte: Die Herstellung von Menschenmutanten erzeugt nicht ideelle bzw. ideologische, sondern reale (stoffliche, materielle, handlungspraktische) Sachzwänge, die nicht wie ideelle einfach durch Verdrängung beseitigt oder Kritik obsolet gemacht werden können. Sie müssen praktisch gelöst werden und als Lösung könnten sich dann sehr schnell zweckrationale "Endlösungen" anbieten. Kurz gesagt: Die Anwendung der Gentechnik auf wirkliche Menschen produziert zwangsläufig einen praktischen Bedarf an (End)Lösungen für "mißlungene Experimente", die dummerweise nicht pränatal ausgesondert werden konnten. Selbst wenn die Perspektive der schönen neuen Welt wegfallen würde (was sie nicht im geringsten tut), reicht mir das schon, um meiner komplett in Kapital transformierten Wissenschaft zutiefst zu misstrauen, auch wenn sie auf erkennender Ebene für mich immer noch hochfaszinierend ist.

(2.3.1) 24.02.2003, 13:05, Bernd vd Brincken: Der Faszination für die Genforschung liegen Trugschlüsse zugrunde, die nicht nur technische und ökonomische, sondern vor allem soziologische Blindstellen markieren.
Ähnlich wie bei der "künstlichen Intelligenz" werden die Agitatoren dieser Technologie erst dann verstummen, wenn sie selbst vor die Wand der (gesellschaftlichen) Realität gelaufen sind. Also einfach laufen lassen.

(2.4) 24.02.2003, 00:43, Birgit Niemann: Allerdings muss sich diese zwar neuartige, aber nicht neue Realität immer an Auschwitz messen lassen, deshalb erscheint sie kleiner und harmloser, als sie in Wahrheit ist. Denn ein Auschwitz hat das globalisierte Kapital heute nicht mehr in dem Maße nötig, weil es einerseits über alle nationalen Zusammenhänge hinausgewachsen ist, viele "Probleme" eher über Weltordnungskriege mit ihren Kollateralschäden "löst" bzw. der "biologischen Lösung" (Hunger, Seuchen, peripheren Kriegen und andere Katastrophen) überlässt und weil sich andererseits ein Großteil der Menschenselektion heute auf individueller molekularer (PND und PID), sowie pränataler Ebene (Abtreibung bei medizinischer Indikation) unter freiwilliger Beteiligung der Individuen erledigen lässt. Und für "mißlungene Experimente", die trotz dessen noch geboren werden, lässt sich dann sicher auch bald eine "Euthanasie-Lösung" in fortgeschrittener moderner Freiwilligkeits-Qualität (á la Belgien und den Niederlanden) finden. Zumindestens für die "mißlungenenen Experimente" die noch geboren werden. Wer extrakorporal erzeugt wird und extrakorporal embryonal heranwächst, gehört ohnehin in keinen sozialen Zusammenhang und niemand wird fragen, was mit solchen Menschenwesen passiert. Im Gegensatz zu dem weitverbreiteten Glauben, dass Auschwitz einer vergangenen Singularität entspricht, halte ich Auschwitz eher für ein blutiges und noch sehr rohes Aufscheinen der Zukunft, in der ähnliche Prozesse allerdings viel steriler (weil molekularer), freiwilliger und unsichtbarer ablaufen werden. Wenn ich religiös veranlagt wäre, würde ich Ausschwitz glatt als die letzte blutige Warnung der Vorsehung vor der engültigen Transformation zum Superorganismus betrachten. Wenn wir sozialen Menschen diese "Warnung" nicht wenigsten geistig realisieren, dann versagen wir komplett. Denn das sich eine emanzipatorische Gesellschaft nach dem selbstorganisierten Zusammenbruch des Kapitalzyklus plötzlich ganz blind von allein "selbstorganisieren" soll, kann ja nicht wirklich ernsthaft angenommen werden.

(2.4.1) 24.02.2003, 13:20, Bernd vd Brincken:
Den Zusammenhang zwischen Auschwitz und Kapitalismus in bezug auf die Zukunft kann ich hier nicht nachvollziehen.
Offenbar postuliert Birgit Niemann eine Art Auschwitz-Prinzip, wonach unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen ein Auschwitz-Phänomen immer wieder auftreten könne.
Bitte präzisieren: Welche Bedingungen sollen das sein?
Zur Selbstorganisation: Das "Selbst" darin bezieht sich ja auf "Gesellschaft" und das ist eine reine Beobachter-Kategorie. Also wird mit "Selbstorganisation" doch nur ausgedrückt, dass es _keine andere_ Organisationsform sei, wie etwa "König", "Gott", "UN", "Aliens" usw.
Also die Gegenfrage: Welches Konstrukt ausserhalb von Gesellschaft soll den jemals die Gesellschaft organisieren (können)?

(2.4.1.1) ... wie etwa "König", "Gott",..., 24.02.2003, 16:34, Birgit Niemann: Nanu, seit wann stehen denn Könige und Götter ausserhalb von Gesellschaft? Beide sind doch Ergebnis und Bestandteil von gesellschaftlicher Selbstorganisation.

(2.4.1.2) Auschwitz-Phänomen, 25.02.2003, 19:37, Birgit Niemann: Worin genau besteht denn für Dich das Ausschwitz-Phänomen? Ich verwende dieses Bild als Konzentrat für einen Zustand, in welchem die Menschen, die miteinander in Beziehung treten, total auf ihre Verwertbarkeit für das Kapital reduziert sind. Und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen als perfekte Funktionselemente im Dienste des Kapitals, also absolut befreit von allen sozialen Hemmungen andere Menschen zu verwerten (z.B. die SS-Ärzte). Und zum anderen als Werkzeug/Material. Die "Werkzeug/Materialfunktion" von Menschen bezieht sich dabei zum einen auf ihre Verwendung als Arbeitskraft und zum anderen auf ihre Eignung als menschliches Versuchskaninchen (z.B. die KZ-Häftlinge). Waren sie weder für das eine, noch für das andere geeignet, landeten sie konsequenterweise gleich in der Gaskammer. Diese verschiedenen nackten Funktionalitäten des Menschen innerhalb kapitaler Verwertungsprozesse (und nichts sonst) symbolisiere ich mit Ausschwitz. Eben weil sie sich in der bisherigen Geschichte in Ausschwitz am konsequentesten verwirklicht haben. Und eben diese totale Reduktion des Menschen auf seinen Funktionselement-Charakter sehe ich in der Tat heute an vielen gesellschaftlichen Orten wiederauferstehen. Auch wenn die konkrete Gestaltung heute eine andere und sehr viel subtilere ist, als vor 60 Jahren.


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