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Der Theoriebildungsprozeß der Gruppe "Krisis"

Maintainer: Ulrich Leicht, Version 2, 09.07.2001
Projekt-Typ:
Status: Archiv

Teil 1 -Über den Theoriebildungsprozesses der Gruppe KRISIS von den Anfängen bis 1992 - ,,Dialektik von Kontinuität und Bruch"

(1) Ein Bändchen yon Rossana Rossanda aus den siebziger Jahren trägt (zumindest in der deutschen Übersetzung) den schönen Titel ,,Dialektik von Kontinuität und Bruch". Damit ließe sich auch die Entwicklung der KRISIS ganz gut überschreiben. Mit der Ausarbeitung, dem Weitertreiben und Präzisieren des theoretischen Ansatzes hat sich dieser auch gründlich verändert. Da die KRISIS von 1992 an vom Horlemann-Verlag betreut wird und neue Leser zu erwarten sind, nehmen wir dies zum Anlaß, ein wenig auf die Irrungen und Wirrungen der letzten sieben Jahre in unserer theoretischen Sub-Existenz zurückzublicken. Natürlich nicht mit der Illusion, eine auf Anhieb verständliche Darstellung geben zu können. Aber doch in der stillen Hoffnung, dass alte und junge Neuankömmlinge neugierig gemacht werden auf jene seltsamen Vögel von "Marxisten, die schon keine mehr sind".

(2) Als in der vormaligen "Marxistischen Kritik" Nr.1 anno 1986 der Aufsatz "Die Krise des Tauschwerts" erschien, war uns durchaus klar; daß dieser Beitrag eine grundsätzliche Wendung gegen den Hauptstrom aller bisherigen marxistischen Theoriebildung implizierte. Allerdings ahnten wir nicht einmal annähernd, was das in der Folge alles zu bedeuten hatte. Die manchen Oberen vielleicht etwas anmaßend klingende "fundamentale Wertkritik" war geboren, die werte Elternschaft lernte aber erst nach der Geburt, was für ein Gör sie da in die Welt gesetzt hatte.

(3) Der in vielerlei Hinsicht für unsere Entwicklung bahnbrechende Aufsatz "Die Krise des Tauschwerts" etwa operierte - vollkommen naiv von unserem heutigen Standpunkt aus gesehen - mit einem positiven Bezug auf den guten alten Klassenkampf und unterstellte noch ganz brav-traditionell die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt. Kritik der Warengesellschaft (,,Wertkritik) und Klassenkampfdenken koexistierten hier noch friedlich. Wo aber die Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft, die Ware, zum zentralen Kritikgegenstand wird, kann der stolze Besitzer der Ware Arbeitskraft auf Dauer seinen Heiligenschein nicht behalten. Drei Jahre später wurde in dem für unseren damaligen Stand zentralen Beitrag "Der Klassenkampffetisch" (MK 7) die Konsequenz gezogen und jener sogenannte "Klassenstandpunkt", der zuvor noch als stille Voraussetzung gegolten hatte, zum expliziten Kritikgegenstand gemacht. Damit sahen wir uns plötzlich genauso weit vom nur noch folkloristisch strammen Arbeiterbewegungs-Marxismus entfernt wie die neuen ,,Realisten" - bloß in der genau entgegengesetzten Richtung.

(4) Die Hinwendung zur Fetischismuskritik erzwang aber nicht nur den Bruch mit der Affirmation der ,,Arbeiterklasse", sie warf weitergehend das soziologistische Denken überhaupt über den Haufen. Wenn der gesellschaftliche Zusammenhang der Menschen sich paradoxerweise zu etwas Dinglichem verkehrt und objektiviert, das den Individuen und ihrem Tun immer schon vorausgesetzt ist, dann läßt sich Wirklichkeit nicht länger in letzter Instanz aus dem bloßen Wechselspiel sozialer (Groß)subjekte erklären (vgl. "Brüderchen und Schwesterchen" - krisis 11). Der Blick richtet sich vielmehr auf die Konstitutionsbedingungen von Subjektivität, während die vertraute Dichotomie von blind hingenommener gesellschaftlicher Objektivität (Warenform) und handelnden Subjekten obsolet wird (vgl. "Das Ende des Proletariats als Anfang der Revolution" und "Die vergebliche Suche nach dem Unverdinglichten Rest" - krisis 10).

(5) Freilich konnte eine ernstgenommene Kritik der Warengesellschaft, die nicht bei der vagen Überschrift stehenbleibt, sich keineswegs auf die Kritik des kruden "Soziologismus" beschränken. Das Lieblings-Tummelfeld der linken Aktivisten, ,,die Politik", und ihr Lieblingsziel, ,,die (wahre) Demokratie", mussten ebenso in ihrer fetischistischen Konstitution beleuchtet werden. Schon die Aufsätze von Peter Klein über "Demokratie und alte Arbeiterbewegung" (MK 3-6) beginnen, in der Auseinandersetzung mit Lenin, mit einer energischen Absetzbewegung vom linken Politizismus. [1] Einige Jahre später haben sich die dort erstmals publizierten Gedanken zu einer Kritik der politischen Form überhaupt und ihrer Grundkategorien (,,Freier Wille" und ,,Gleichheit) ausgewachsen ("Demokratendämmerung" - krisis 11). Wo die Ebene des Abstrakt-Allgemeinen (Staat, Politik) ins Blickfeld gerät, zieht die "Wertkritik" die Kritik der Demokratie nach sich.

(6) Gleichzeitig musste die Auseinandersetzung mit den scheinbar geläufigen und glatten, in Wahrheit aber positivistisch-definitorisch affirmierten und versteinerten Grundkategorien der ,,Politischen Ökonomie" wieder aufgenommen werden. Die Kritik der "abstrakten Arbeit" (vgl. "Abstrakte Arbeit und Sozialismus" -MK 4), der "Substanz des Werts", setzte die Kritik des Tauschwerts fort, bildete aber keineswegs den Schlusspunkt. Wurde in jenem Text von Ende 1987 noch die "Arbeit" als überhistorische, ontologische Gegebenheit behandelt und nur deren warenförmige Abstraktifizierung kritisiert, so verfiel zwei Jahre später auch schon die "Ontologie der Arbeit" als solche der kritischen Verdammnis: Nicht das Attribut "abstrakt" allein ist das Problem, sondern die "Substanz" namens "Arbeit" selbst. Es geht nicht darum, die "Arbeit" von der Gewalt der Abstraktion zu befreien, sie ist vielmehr an ihr selber schon diese Gewalt der Abstraktion (vgl. "Die verlorene Ehre der Arbeit" - krisis 10)"

Aus dem Editorial des "krisis"-Heftes 12, 1992

Exkurs 1: "Auf der Suche nach dem verlorenen sozialistischen Ziel - Manifest für die Erneuerung revolutionärer Theorie", 1988

(7) Inhalt

Vorwort
1. Die bisherige Linke ist am Ende
2. Die Theorie muß ihr Recht bekommen
3 Eine Erneuerung des sozialistischen Ziels kann nur in einer fundamentalen Kritik der Warenproduktion bestehen
4. Die alte Arbeiterbewegung konnte nur Entwicklungshelfer kapitalistischer Vergesellschaftung sein
5. Die wahren Totengräber des Kapitalismus werden erst heute geboren
6. Revolutionäre Intelligenz kann sich nur außerhalb des Wissenschaftsbetriebs entwickeln
Nachwort
Anhang

Vorwort

(8) I. Das nachfolgende Manifest, Resultat eines mehrjährigen theoretischen Aufarbeitungsprozesses, stellt keinen Endpunkt, sondern einen Ausgangspunkt dar. Es ist nicht unmittelbar Anleitung zum Handeln im Sinne des üblichen politischen Praxis-Fetischismus, sondern theoretisches Programm eines revolutionären Willens, der sich des objektiven und subjektiven gesellschaftlichen Vermittlungsproblems bewußt ist: ein Programm insofern für die "theoretische Praxis" selbst als ein begriffenes Moment gesellschaftlicher Bewegung, das mit deren anderen Momenten weder unmittelbar identisch noch auch nur synchron sein kann. Die apodiktischen Formulierungen, wie sie dem Charakter eines Manifests entsprechen, sollen keineswegs irgendeine Heilsgewißheit suggerieren oder eine neue Glaubenswahrheit in die Welt setzen. Vielmehr wird die Kohärenz einer erarbeiteten theoretischen Position "aus einem Guß" offengelegt, die für sich allerdings in Anspruch nimmt, den Zugang zu einer radikalen Kritik "aller bestehenden Gesellschaftsordnung" im Sinne des Kommunistischen Manifests erneut freizulegen. Es ist dies kein theoretisches "Sesam öffne dich" für denkfaule Mitläufer und Bekenner, sondern das Wiederaufnehmen einer verschütteten Dimension des Marxschen Werkes, ohne daß wir uns diesem in einem bloß schriftgelehrten Sinne auslegender Priester des "Marxismus" verpflichtet fühlen würden. Gerade aus einer solchen Haltung heraus ist dieses Manifest gleichzeitig ein hingeworfener Fehdehandschuh der gesamten heutigen Linken gegenüber, deren Spektrum sich in reformistischer Verplattung, steriler Traditionspflege und sprachloser Bauchmilitanz erschöpft.
Der Text gibt im wesentlichen die Anschauungen wieder, wie sie in der Zeitschrift "Marxistische Kritik" sowie auf zahlreichen Seminaren in den vergangenen Jahren entwickelt wurden; er geht aber über das bisher (wenige) Publizierte hinaus, auch über den gesicherten Konsens der Redaktion der "Marxistischen Kritik", die sich weder als abgeschottete monolithische Einheit noch den Theoriebildungsprozeß als abgeschlossen begreift. Die Kernaussagen über die Befangenheit der Linken in den warenfetischistischen Reproduktionsformen und über das Ende der alten "Arbeiterbewegung" stellen allerdings eine verbindliche Grundlage unserer Position dar mit einem einheitlichen Ansatz. Die "Initiative Marxistische Kritik" (IMK) als Trägerkreis der Zeitschrift und der Seminararbeit gibt dieses Manifest heraus, um sich einen Orientierungsrahmen für die weitere theoretische Arbeit, Qualifizierung und öffentliche Auseinandersetzung zu schaffen. Es handelt sich aber für sie weder um einen theoretischen Katechismus noch um das Surrogat eines politischen Programms. Im einzelnen gibt es auch innerhalb der IMK Vorbehalte und Unklarheiten gegenüber diversen Aussagen der dargelegten Gesamtanschauung, so etwa hinsichtlich der "Zusammenbruchstheorie", der Frauenbewegung, der Bestimmung des bürgerlichen Staates etc. Die IMK betrachtet aber das Ganze der im Manifest entwickelten Position als geeigneten und fruchtbaren Ausgangspunkt, um zu einer Erneuerung revolutionärer Theorie auf der Höhe der Zeit zu gelangen. Insofern ist das Manifest nicht nur als die notwendig schroffe Abgrenzung von der bisherigen Linken, sondern gleichzeitig als Angebot zur Mitarbeit, theoretischen Qualifizierung und Auseinandersetzung zu verstehen. Nicht im Sinne eines linken Pluralismus ohne inhaltliche Verbindlichkeit, sondern als weitertreibendes Abarbeiten an einer bestimmten und unmißverständlich klargelegten Position.

(9) II. Obwohl es sich um eine Manifestation auf dem Boden der Theorie selbst handelt und noch nicht um eine unmittelbar praktische Kampfansage an die bestehende Gesellschaft, kann sie doch nicht in einer neutralen wissenschaftlichen Form und ohne jeden politischen Bezug vorgetragen werden. Auch die Theorie hat immer an sich selbst schon das Moment des Kampfes, weil sie Teil der gesellschaftlichen Praxis ist. Wir verstehen uns nicht als positivistische Wissenschaftler, die zumindest ihrer Ideologie nach außerhalb dieser totalen Praxis stehen und diese quasi nur unter dem Mikroskop beobachten, sondern vielmehr selbst als aktives und kämpfendes Teilchen der von uns untersuchten Bewegung. Der Ausgangspunkt für ein Programm zur Erneuerung revolutionärer Theorie ist auch notwendigerweise nicht etwa voraussetzungslos die kapitalistische Gesellschaft in ihrer Unmittelbarkeit, sondern der Zustand der Theorie und der Linken selbst, gegen die wir polemisieren, weil sie ihren Frieden mit dieser Ordnung gemacht hat oder bloß hilflos gegen deren Erscheinungsformen anrennt. Die Kritik nicht bloß äußerlich, sondern auch immanent als Erklärung des kritisierten Zustands selbst zu leisten, erfordert gleichzeitig eine im wesentlichen geschichtliche Darstellung, in der nicht (wie es einem rein wissenschaftlichen Vorgehen angemessener wäre) das Historische im Logischen impliziert ist, sondern vielmehr das Logische anhand der historischen Entwicklung herausgearbeitet wird.

(10) III. In der Abfolge der Kapitel handelt es sich zunächst einmal um die Geschichte unserer eigenen kritischen Theoriebildung selbst, sozusagen um die "Jahresringe" unserer Entwicklung, die sich dabei gleichzeitig als ein logisches, systematisches Ganzes herausstellt. Ausgehend von der Kritik des gängigen linken Theorieverständnisses spannt sich der Bogen über eine Kritik der Wertform und der Befangenheit der Linken in dieser Form negativer, abstrakter Gesellschaftlichkeit bis hin zu einer aufhebenden Kritik dieses Zustands durch eine Bedingungsanalyse der alten Arbeiterbewegung und der auf diese bezogenen marxistischen Strömungen hindurch (als deren Endprodukt wir die heutige Linke sehen), um schließlich zu klassentheoretischen Schlußfolgerungen und zum sozialen Vermittlungsproblem der Theorie selber zu kommen. Im Kapitel über Arbeiterbewegung und Demokratie, das deshalb auch den größten Raum einnehmen muß, werden die vorher für sich behandelten Momente des Theorieverständnisses und der Warenproduktion in einen größeren historischen Erklärungszusammenhang gestellt; die Geschichte des Kapitalverhältnisses wird so gleichzeitig als Geschichte der Arbeiterbewegung und der theoretisch-politischen Linken selbst skizziert, wobei die allgemeine Entwicklungslogik des Warenfetischs und seiner Sekundärformen ebenso wie die spezifische Kritik bestimmter linker Gruppen und Strömungen in Form kurzer Exkurse in diesem Rahmen dargestellt werden. Wir erwarten weder ungeteilte Zustimmung noch ein bloß betretenes Schweigen. Wenn dieses Manifest zum Ärgernis für die Linke wird, dann hat es seinen Zweck erfüllt.

Robert Kurz. April/November 1988

Nachwort

(11) I. Die bisherigen Diskussionen unseres Textes lassen es noch vor seiner Veröffentlichung geraten erscheinen, einige Nachbemerkungen zu machen; einmal, um einige Mißverständnisse über Inhalt und Zielsetzung auszuräumen, zum andern aber, um eine "öffnende" Auseinandersetzung für die nähere Zukunft zu ermutigen und den Text nicht als glatte Wand von Schein-Abgeschlossenheit für den Leser dastehen zu lassen. Trotz gegenteiliger Aussagen schon im Vorwort scheint sich dieses Gefühl aber doch teilweise aufgedrängt zu haben, wie wir einigen Reaktionen entnehmen mußten.

(12) So mag die apodiktische Kürze und Zugespitztheit, wie sie dem Genre eines Manifests entspricht, vielleicht bei manchen Lesern den unangenehmen Eindruck entstehen lassen, wir verhielten uns wie Leute, denen ein vermeintlich neues Wissen wie eine "Eingebung" vom Himmel gefallen ist und die von einem Standpunkt aus ihre Botschaft verkünden, von dem sie gar nicht sagen, wie sie ihn eigentlich erreicht haben. Da es nicht möglich ist, die theoretischen Trittspuren in einem Manifest ausreichend aufzuzeigen, soll dazu wenigstens hier etwas gesagt werden. Das erkenntnisleitende Motiv war anfangs für uns inhaltlich ein sehr abstraktes, geschuldet einem Unbehagen über die Situation der Linken etwa Ende der 70er Jahre: wir wollten weder dem "neuen" und erkennbar erbärmlich neo-reformistischen Praxis-Strom der Grün-Alternativen als Lemminge folgen wie so viele allzu kurzatmige Ex-Revolutionäre der neuen Linken, noch andererseits "in Treue fest" an einem offensichtlich in vielen Fragen überlebten und versteinerten Marxismus-Verständnis dogmatisch und sektiererisch festhalten. Gefragt war also eine "Aufarbeitung". Daß und inwiefern das Ernstnehmen einer solchen Aufgabenstellung bedeutet, den aus der "Bewegung" ererbten Hang und Drang zu unmittelbarer Praxis und Machbarkeit zurückzunehmen, statt das Problem sofort wieder in "politischer Praxis" zu ersäufen, ist im Manifest als polemische Kritik des "Praxis"-Fetischismus der Linken deutlich genug dargestellt.

(13) Das Ernstnehmen der Theorie ohne Rücksicht auf jede wie immer geartete "politische" Machbarkeit und ohne sofortige hechelnde Einklinkungs-Versuche in die BewegungsKonjunkturen trug uns den Haß der Praktizisten und "Politik"-Fetischisten aller Schattierungen ein, soweit sie mit unserem Bemühen konfrontiert wurden. Das Resultat war eine tiefe Entfremdung und ein Entkoppelungsprozeß von der linken Oppositionsbewegung überhaupt und ihrer gesamten Vorstellungswelt, deren Geschöpfe wir doch andererseits auch selber waren. Es kann und soll zugestanden werden, daß wir einen theoretischen Anknüpfungspunkt allein in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule fanden, und zwar gerade in einem von der neuen Linken nicht ohne Grund beiseitegelegten Moment, nämlich in der expliziten Kritik des positivistischen instrumentellen Denkens. Dieses instrumentelle Denken richtet sein Augenmerk "unmittelbar" auf das Erreichen von Zielen und Zwecken bzw. das "Vertreten von Interessen", ohne daß die gesellschaftliche Konstituiertheit dieser Ziele, Zwecke und Interessen selber in das Blickfeld gerät oder gar Gegenstand wissenschaftlicher Kritik wird. Dieses Denken, soweit es sich als links oder gar "radikal" versteht, realisiert überhaupt nicht, daß es sich a priori schon in bürgerlicher Immanenz bewegt und seine Ziele und Interessen nur in bürgerlichen Kategorien ausdrückt statt in deren Kritik. Wir bemerkten, daß die Linke einschließlich der linkssozialistischen akademischen Strömungen dieses von Horkheimer und Adorno kritisierte instrumentell verkürzte Theorieverständnis des bürgerlichen Denkens via eine falsche Interpretation der Marxschen Feuerbachthesen (die als kategorischer Imperativ des Praktizismus und "Politizismus" mißverstanden werden) selber reproduzierte, mithin jener gewohnte und geläufige kategorische Imperativ "politischer Praxis" in dieser instrumentellen Form bürgerlich war und den Keim reformistischer Verflachung von Anfang an in sich trug. Gerade von einem revolutionären Standpunkt aus gewannen so die kritische Zurückhaltungvon Adorno, Alfred Schmidt und selbst Habermas gegen die abstrakte "Praxis"-Emphase der Studentenbewegung, ungeachtet der zweifellos vorhandenen bürgerlich-professoralen Attitüden, im Nachhinein ein größeres Maß von Berechtigung.

(14) Die von der Kritischen Theorie hervorgebrachte Kritik des bürgerlichen Instrumentalismus erschien uns jedoch teils als merkwürdig inhaltslos, teils als mit eklektischen Inhalten verknüpft (besonders bei Habermas). Bei näherer Betrachtung stellte sich sogar heraus, daß die Kritische Theorie (vor allem in der "Dialektik der Aufklärung") den gesellschaftlichen Bedingungsgrund des instrumentellen Denkens verwechselt und gleichsetzt mit der menschlichen Naturbeziehung. Gerade in der Naturbeziehung aber ist ein "instrumentelles" Denken und Vorgehen nicht nur unvermeidlich, sondern auch alles andere als negativ. Das Problem besteht ja gerade in der gesellschaftlichen Präformierung der Ziele und Zwecke, denen die Naturbeziehung unterworfen wird und die nicht aus dieser Naturbeziehung selber zu erklären sind. Indem die Kritische Theorie aber dieser Verkehrung erliegt (begründet nicht zuletzt in ihrer Anlehnung an Freud und dessen ideologische Zurückführung gesellschaftlicher Phänomene auf eine ontologische Trieb-Natur des Menschen), verfehlt sie auch den wirklichen gesellschaftlichen Inhalt des positivistischen Instrumentalismus.

(15) Diese Kritik führte uns schließlich zum entscheidenden, von allen früheren Interpretationen der Marxschen Theorie inclusive der "kritischen" Marxismen nicht oder jedenfalls bei weitem nicht ausreichend reflektierten Kernpunkt: zur radikalen Kritik von Wert und Geld, d.h. zur expliziten und nachdrücklichen Kritik der Warenproduktion überhaupt in der Stufenfolge aller ihrer Erscheinungen. In diesem Punkt aber versagte offensichtlich auch die Kritische Theorie. Wenn sie in unserem Manifest-Text vor allem unter diesem Gesichtspunkt negativ in den Gesamtkomplex der "alten", traditionellen Theorie-Strömungen eingeordnet und kritisiert wird, so soll doch wenigstens hier ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß ihre Kritik des positivistischen Instrumentalismus (und damit auch des "Praxis"-Fetischs nicht nur der neuen Linken, sondern auch der alten Arbeiterbewegung und des auf diese bezogenen traditionellen "Machbarkeits"-Marxismus innerhalb der Warenform) für uns trotz ihrer Mängel ein wichtiger Erkenntnisschritt war und die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie zweifellos insofern einen Ansatz bot, um aus dem bürgerlich immanenten traditionellen Marxismus überhaupt heraustreten zu können. Es galt jedoch, über die Kritische Theorie hinaus die Kritik des verkürzenden instrumentellen Denkens nicht bloß als methodische zu führen oder fälschlich ihren Inhalt primär in der Naturbeziehung zu suchen, sondern vielmehr den wirklichen gesellschaftlichen Inhalt herauszuarbeiten, nämlich als Kritik der Warenproduktion überhaupt von ihren Grundlagen her. Da die Kritische Theorie aber in dieser entscheidenden Hinsicht die Verkürzungen des Wert-Begriffs der traditionellen Marxisten vollauf teilte, mußte sie die Wertform als bloß sektorales Teilmoment gesellschaftlicher Reproduktion mißverstehen, statt sie als Totalitätskategorie durchhalten zu können; die neuen Erscheinungen kapitalistischer Vergesellschaftung nach dem Zweiten Weltkrieg konnten dann nicht mehr adäquat begriffen und schließlich nur noch eklektisch-"multikausal" deskripiert und interpretiert werden wie etwa bei Habermas.

(16) Für uns war damit ein theoretischer Ausgangspunkt gewonnen, der es erstmals erlaubte, die gesamte alte Arbeiterbewegung und alle darauf bezogenen Marxismen, die neue Linke seit 1968 eingeschlossen, als abgeschlossene und bewußt theoretisch abzuschließende Epoche zu begreifen, ohne deswegen die Marxsche Theorie über Bord zu werfen bzw. zu vormarxistischen (und vorwissenschaftlichen) Emanzipationsideen des 18. und 19. Jahrhunderts Zuflucht nehmen zu müssen. Das vorliegende Manifest ist eine erste zusammenfassende Darstellung dieser Gedanken, ohne daß damit wie gesagt irgendeine Abgeschlossenheit suggeriert werden soll.

(17) II. Ein wenig böses Blut mag auch unsere Kritik der Autonomen machen, die im Manifest unserer Auffassung nach keineswegs zu Unrecht polemisch als "halbe Portion Nachschlag von 1968" tituliert werden. Freilich kann dazugesagt werden, daß die Autonomen heute natürlich einen anderen sozialen Hintergrund haben als die alte Jugend- und Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre. Konnte diese noch gewisse bildungsbürgerliche Züge des traditionellen Universitätslebens und "höheren" Schulwesens nicht völlig verleugnen, so ist die vielzitierte "Sprachlosigkeit" und Theorielosigkeit der neuen Militanz umgekehrt auch bereits der spätfordistischen explosiven Ausdehnung und gleichzeitig Auspowerung des gesamten Bildungswesens geschuldet, die sozialen Probleme einer kapitalistisch vermassten Semi-Intelligenz eingeschlossen. Dieser veränderte soziale Hintergrund hindert die Autonomen aber nicht daran, das Spektrum der Ideen von 1968 (die damals schon ein bloßer Durchlauf sämtlicher historischer Varianten des abgelebten traditionellen Marxismus, Anarchismus etc. waren) noch einmal neu und noch einmal verflacht im kurzschlüssigen Praktizismus wiederzubeleben: ein wenig Existentialismus, der schon 1968 veraltet war; ein Schuß Nietzsche (unvermeidlich für den galoppierenden Weltschmerz deutscher Jungfrauen und Jungmänner sowie altdeutscher Tanten und französischer Neu-Philosophen), ein paar Brocken Operaismus samt Toni Negri, das ganze gewürzt mit blumiger altanarchistischer Moralsoße - ungenießbarer gehts nimmer. Also Entschuldigung: das ist ungefähr so, wie wenn jemand einen steinalten, unter die Schulbank geklebten Kaugummi wieder hervorpult und in den Mund steckt. Aber die Nierentische werden ja auch wieder modern. Wir sehen leider keinen Grund, dem irren Wiederholungszwang irgendein Zugeständnis zu machen.

(18) Beleidigt mögen einige Autonome sein, weil sie doch inzwischen die Theorie entdeckt haben. Dieser Impuls, wohl den Erfahrungen der letzten Jahre geschuldet, ist sicherlich zu begrüßen. Mehr noch: in den Autonomen (bzw. vielleicht aus den Autonomen hervorgehenden neuen Gruppen und Strömungen), soweit sie sich dem Problem theoretischer Aufarbeitung nähern, sehen wir durchaus einen möglichen Ansprechpartner; gerade auch von den objektiven Grundlagen gesellschaftlich "entkoppelter" Intelligenz her, wie sie im letzten Teil des Manifests skizziert wird. Insofern soll unsere Polemik ja dazu dienen, daß die auf diesem Weg befindlichen Autonomen die Schlacken der Vergangenheit und bloßer Lebensform- und Kaputtheits-Ideologien schneller loswerden. Trotzdem soll uns niemand unsere Skepsis verdenken. Allzu oft hat der manisch-depressive Zyklus der linken Praxis-Fetischisten in seiner düsteren und zähneklappernden Phase schon den Ruf nach "mehr Theorie" hervorgebracht und das weiße Fähnlein der "Schulung" wurde gehißt, ohne daß dies nachhaltige Folgen gehabt hätte. Es sollte den Autonomen zu denken geben, daß viele von ihnen die großenteils verblichenen K-Gruppen bis vor kurzem noch als "zu theoretisch" kritisiert und darin den Grund ihres Niedergangs gesehen hatten - ausgerechnet die K-Sekten, die ödesten Buchhalter eines totgelaufenen Traditions-Marxismus und die schlimmsten Politikaster und Praxis-Handwerkler, die jemals auf der Weide der neuen Linken gegrast haben! Zu einer wirklichen Neu-Orientierung gehört ein wenig mehr, als sich jetzt endlich notgedrungen zur Theorie überhaupt zu bequemen; vor allem muß der Stellenwert der Theoriebildung selber bestimmt und begriffen werden, daß die Vergangenheit nicht auszuschlachten, sondern endlich zu überwinden ist. Die Theoriebildung ist ein eigenständiger Kraftaufwand, kein bloßes Futter für den nächsten Praxis-Zyklus.

(19) Es sind allerdings in diesem Zusammenhang einige häufig wiederkehrende Mißverständnisse auszuräumen. Wir stellen nicht das absurde Ansinnen, daß zugunsten der Theorie auf Formen negatorischer, revolutionärer Praxis wie Agitation, Demonstrationen usw. etwa verzichtet werden soll. Gesellschaftliche Oppositionsbewegungen können sich überhaupt nur in solchen Formen ausdrücken und dürfen nicht mit theoretischen Strömungen verwechselt oder unmittelbar gleichgesetzt werden. Freilich ist auch eine solche Bewegung noch keineswegs identisch mit wirklichen gesellschaftlichen Widerstands- oder gar Offensivhandlungen, also etwa Streik, Boykott oder militärische Aktionen. Die Verballhornung und Inflationierung des "Widerstands"-Begriffs entspringt der Ohnmacht der heutigen Bewegungen, die in kindlicher Manier gesellschaftlich vermittelte Kampfaktionen zu bloß symbolischen Ersatzhandlungen heruntertransformiert haben und sich mit diesem Schwachsinn zufrieden geben. Dies gilt aber nicht bloß für die Totstell-Übungen christlicher Friedensfreunde oder die lächerlichen Pseudo-Blockaden moralisierender Prominenz vor diversen NATO-Kasernentoren, sondern mindestens genauso für die sogenannte Militanz der Autonomen, die wohl teilweise bis heute dazu neigen, gewisse Indianerspiele mit der Polizei zu quasi-militärischen ?Widerstands?-Handlungen hochzustilisieren. Eine Oppositionsbewegung kann mit Formen wie Agitation und Demonstration, Veranstaltungen usw. zunächst nur versuchen, eine ?öffentliche Meinung? in ihrem Sinne zu schaffen; der Übergang zu realen gesellschaftlichen Kampf-, Widerstands- und Offensivaktionen hängt von der weiteren Entwicklung und vom Gelingen der gesellschaftlichen "Vermittlung" ab. Wenn diese Vermittlung nicht gelingt und die berühmten "Massen", die "arbeitende Bevölkerung", die "Betroffenen" usw. sich scheinbar gegen ihre eigenen Interessen verhalten und die Agitation, Demonstration usw. zum leeren Ritual wird, dann kann daraus nur ein kurzschlüssiger Verzweiflungs-Existentialismus die Notwendigkeit des Übergangs zur "Militanz" folgern. Viel eher wäre nach der Qualität der Agitation selber zu fragen, nach den Inhalten, die vermittelt und nach den gesellschaftlichen Zielen die gewonnen werden sollen. Wenn sich herausstellt, daß in dieser Hinsicht nichts existiert als eine Mischung aus blauäugigen Forderungen des gesunden Menschenverstandes und programmatischen Brocken sozialistischer Steinzeit, dann ist eben theoretische Aufarbeitung gefragt, um zu einem neuen und weitergehenden Programm gesellschaftlicher Umwälzung auf der Höhe der Zeit zu gelangen. Eine theoretische Kritik der Verhältnisse und ihrer Geschichte ist aber nie und nimmer aus den bloßen "Kampferfahrungen" zu gewinnen; dafür ist ein Verständnis der Theorie als einer eigenständigen und nicht bloß "instrumentell" nachgeordneten "Kampffront" notwendig. Wie sich aus der Vermittlung von Theorie und theoretischer Aufarbeitung, Oppositionsbewegungen und der Krise der Lebensverhältnisse selber so etwas wie ein revolutionäres gesellschaftliches "Lager" und wirkliche Kampfhandlungen ergeben, dafür kann natürlich kein fertiges Rezept existieren. Wenn wir am Ende des Manifests einige mögliche Formen theoretischer Praxis aufgezählt haben, dann gilt dies eben nur für diesen Sektor der Theorie selber und soll nicht die ohnehin stattfindende Praxis der Oppositionsbewegungen generell und abstrakt negieren.

(20) Deswegen verlangen wir auch mitnichten, daß nun etwa jeder linke Oppositionelle schlechthin zum "Theoretiker" werden soll. "Theoretiker" im strengen Sinne eines "hauptseitig" in seiner persönlichen Praxis theoretisch Arbeitenden, also eines theoretischen Publizisten, wird man sowieso nicht durch einen plötzlichen Entschluß, sondern durch eine lange Geschichte hindurch, die auch viele Formen von praktischer Betätigung einschließt (wie ja auch die theoretische Praxis selber, z.B. das Publizieren, nicht ohne organisatorische und technische Betätigungen auskommt). Daß die theoretische Aufarbeitung für die Linke heute zum wichtigsten Kettenglied geworden ist, bedeutet vielmehr, daß auch für diejenigen, die weiterhin rein numerisch in erster Linie praktisch-politisch tätig sind (in Initiativen, Organisationen, Bewegungen etc.), die Fragen der Theorie und des gesellschaftlichen Ziels zu den "brennendsten" geworden sind, auch wenn sie nicht selber theoretische Schriftsteller werden. In den praktischen Bewegungen selber ist eine Debatte über ein neues, weitergehendes sozialistisches Ziel, über eine tiefergehende Gesellschaftskritik als bisher zu führen und zu entfachen, um die gegenwärtige Paralyse zu überwinden. Dazu gehört nicht nur das Ernstnehmen der Theorie überhaupt, sondern auch das bewußte Lesen theoretischer Literatur und das Weitervermitteln theoretischer Einsichten, wozu oft andere Fähigkeiten erforderlich sind, als sie die theoretischen Publizisten selber haben. In einem solchen Prozess theoretischer und programmatischer Debatte werden dann nicht nur Vermittlungen zwischen theoretischer und politischer Praxis hergestellt, sondern es kann sich auch ein ganzes Spektrum von Übergangsformen zwischen Theorie und politischer Praxis herausbilden, von neuen Theoretikern und Publizisten, aber auch von Agitatoren, Propagandisten, Organisatoren, Journalisten usw., die einen neuen Ansatz revolutionären Bewußtseins nicht bloß verbreiten und gesellschaftlich verankern, sondern auch auf vielen Ebenen selber mitentwickeln helfen. Dafür freilich ist eine Geduld nötig, wie sie der Unmittelbarkeits-Fetischismus der aktionistischen und politikasternden Linken nicht aufbringen kann, der immer sofort machbare Ergebnisse sehen und zu Hau-Ruck-Vermittlungen übergehen will. Wir können nur hoffen, daß das jämmerliche Scheitern dieser Haltung den Boden bereiten hilft für ein anderes Theorieverständnis.

(21) Wenn wir also mit der "Zumutung Theorie" nicht die politische Praxis als solche in Frage stellen wollen, so können wir umgekehrt auch verlangen, daß die politischen Praktiker und Bewegungs-Aktivisten die gegenwärtige Spannung zwischen Theorie und unmittelbarer gesellschaftlicher Praxis aushalten müssen. Wir haben uns aus Einsicht in die Notwendigkeit ?gegen den Strom? und "antizyklisch" für die theoretische Arbeit entschieden; wenn jetzt so manchen Aktionisten selber die Notwendigkeit theoretischer Aufarbeitung zu dämmern beginnt, dann sollen sie uns aber auch nicht langweilen mit der moralisch-imperativen Frage, ob wir denn auch gegen Wackersdorf demonstrieren würden - als ob dies irgendetwas zu tun hätte mit dem Gewicht oder der Nichtigkeit theoretischer Argumente! Wer sich überhaupt nur mit theoretischen Ansätzen beschäftigen und auseinandersetzen will, deren Vertreter bzw. Publizisten er vorher zur unmittelbar persönlichen Teilnahme an seinen Demos und sonstigen Aktionen verdonnert hat, der hat weder von den Gesetzen der gesellschaftlichen Theoriebildung im allgemeinen noch von der spezifischen gegenwärtigen Situation auch nur das geringste verstanden. Wenn etwa eine Gruppe der alttrotzkistischen GIM (deren opulente Mäusehochzeit mit der früher eispickelschwingenden KPD/ML wenigstens zur Erheiterung der verdüsterten Restlinken beigetragen hat) nicht mit uns in eine theoretische Debatte eintreten wollte, weil wir "von der Praxis abgehoben" wären und "man uns nicht in Gewerkschaftsgremien sieht", dann können wir nur betonen, daß wir unsererseits mit derart bornierten Hohlköpfen eines betulichen politischen Vorsichhinpfuschens ebenfalls überhaupt nichts anfangen können. Wer nicht einmal durch Schaden klug wird, dem ist in keinster Weise mehr zu helfen.

(22) III. Das quasi physikalische Trägheitsgesetz auch des Lebens und Denkens zeigt sich unserem Ansatz gegenüber nicht nur in der Art des Theorieverständnisses, sondern auch im Beharrungsvermögen der alten Inhalte. Schon die bisherigen Diskussionen im Vorfeld der Veröffentlichung des Manifests haben uns gezeigt, mit welch enormen Widerständen, Verdrängungen, Ab- und Ausgrenzungen, Aggressionen und teilweise unglaublichen Verdrehungsversuchen wir zu rechnen haben und mit welch irrationaler Verbissenheit und Starrheit des Denkens die traditionellen Linken aller Schattierungen an ihren Verständnisrastern und Glaubensgewohnheiten in geradezu altkatholischer Manier festhalten.

(23) Mehrfach ist uns entgegengehalten worden, unsere Position sei doch keineswegs etwas wirklich Neues, sondern auch früher schon sowohl in der alten wie der neuen Linken auf die eine oder andere Weise (erfolglos) vertreten worden. Natürlich wäre es lächerlich, aus Gründen quasi der "Selbstdarstellung" (in dieser Hinsicht scheinen einige Leute von sich auf andere zu schließen) einen formalen Streit um "Prioritäten" führen zu wollen. Es ist für den Inhalt und seine Bedeutung ganz gleichgültig, ob wir nun die "ersten" sind oder nicht; im Gegenteil wäre es sogar von Nutzen, einen Strang marxistischer Debatte bereits für diese radikale Position reklamieren und darauf aufbauen zu können. Ein solcher Strang existiert jedoch nicht, jedenfalls nicht in der Art und Weise der Fragestellungen, auf die es uns vor allem ankommt. Nicht, daß die Kritik der Warenproduktion und des Geldes in der linken oder marxistischen Geschichte wie auch außerhalb davon überhaupt nicht vorkommen oder nicht gelegentlich benannt würde, und sei es als bloßes Spurenelement. Aber diese Benennung wird stets sofort wieder zurück- und also nie wirklich ernst genommen, entweder durch ein eiliges Hinwegeskamotieren des Problems in eine weit entfernte Zukunft (worin sich eben die objektive Begrenztheit der alten Arbeiterbewegung spiegelt, die eine radikale Kritik der Warenform als solcher wirklich auf eine nach ihr liegende Zukunft verschieben mußte), oder durch eine vermeintliche Kritik der Warenproduktion mit selber warenlogischen Kategorien, die nicht als solche erkannt werden.

(24) Außerhalb des Marxismus findet sich so zwar eine "Kritik des Geldes" von Proudhon über Silvio Gesell, die Anthroposophen, einige Varianten des faschistischen Gedankenguts und die (sich positiv so bezeichnenden) amerikanischen "Technokraten" der 30er Jahre bis hin zu Herrn Ghaddafi. Für alle diese außermarxistischen Ansätze gilt, daß es sich bei näherem Hinsehen entweder überhaupt bloß um "Geldreformen" und Geldpfuschereien handelt (insbesondere aus einer kleinbürgerlichen Kritik des zinstragenden Kapitals heraus) oder um eine oberflächliche, mit etatistischtechnokratischen Elite- und Planungs-Illusionen verbundene "Geldkritik", die niemals bis zu einer Analyse und Kritik der gesellschaftlichen Realabstraktion von Ware und Wertform vorstößt. Weder die Propaganda von "Tauschgerechtigkeit" noch elitäre und kriegs- oder zuteilungswirtschaftlich inspirierte Regulierungsmodelle haben auch nur das geringste mit der Marxschen Kritik der Warenform und des darin eingeschlossenen gesellschaftlichen Fetischismus gemein.

(25) Innerhalb des Marxismus beschränkt sich die direkte Kritik des Geldes, verbunden mit praktischen Aufhebungsversuchen, auf den bolschewistischen Kriegskommunismus und neuerdings das Pol-Pot-Regime in Kampuchea, dessen massenmörderische Praktiken weltweit Entsetzen und Abscheu erregt haben. In beiden Fällen handelte es sich natürlich nicht um die Sprengung der Warenform in hoch vergesellschafteten Reproduktionsaggregaten, sondern um Bewältigungsversuche extremer Notsituationen in "unterentwickelten" Gesellschaften mit großen vorkapitalistischen Sektoren; die "Geldkritik" auf dieser Basis stellte bloß eine ideologische Verhimmelung mehr oder weniger brutaler etatistischer Eingriffe dar, die keine Kritik der Wertform selber und ihrer Stufenfolge von Fetischismen zu leisten imstande war, insofern also den außermarxistischen Ansätzen eng verwandt bleiben mußte. Auf den gegebenen gesellschaftlichen Grundlagen konnten auch die radikalen bolschewistischen Theoretiker des "Kriegskommunismus" (so u.a. Bucharin, der heute gerade umgekehrt als Theoretiker der NÖP rehabilitiert wird) nicht über die Kategorie des "Austauschs2 (was in irgendeiner Form voneinander getrennte und also formal "unabhängige" Produzenten impliziert) hinauskommen und daher das Geld nur äußerlich-funktionell und "organisatorisch" kritisieren, ohne zum Begriff der Wertform und des Warenfetischs selber im Sinne einer Aufhebung vorzustoßen. In der Folge wurde unter dem Diktat der nachholenden Industrialisierung die Problemstellung völlig verdunkelt durch den von uns ausführlich kritisierten ideologischen Begriff der ?sozialistischen Warenproduktion?.

(26) Ähnliches gilt für die westliche "Sozialisierungsdebatte" Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg. Nirgendwo wurde die Kategorie des Werts selber auch nur in Ansätzen qualitativ transzendiert; bestenfalls wurde unter "Aufhebung der Warenproduktion" eine weiterhin letztlich wertförmige "Planwirtschaft" unter Beseitigung lediglich der äußeren Regulationsmechanismen des "blinden" kapitalistischen Marktes verstanden, selbst dort noch, wo ausnahmsweise auch im Westen direkt von einer "Abschaffung des Geldes" gesprochen wurde (so etwa von dem sozialistischen Positivisten Otto Neurath). Bezeichnenderweise waren es im Westen gerade nicht die vermeintlich "orthodoxen" Marxisten, die so weit gingen; auch im Westen war der wirkliche Ausgangspunkt solcher Forderungen nicht theoretisch als Konsequenz der Marxschen Wertform- und Fetischismuskritik abgeleitet, sondern empirisch aus den Erfahrungen der Kriegswirtschaft, vor allem des deutschen Reiches. Die im Kontext und Gefolge dieser Debatten aufgestellte bürgerliche Behauptung einer "logischen Unmöglichkeit" sozialistischer Reproduktion (Weber, v. Mises u.a.), deren blinde Prämisse selbstverständlich die Wertform als gesellschaftliche Qualität immer war, blieb von sozialistisch-kommunistischer Seite entweder unbeantwortet oder die Replik ging bewußtlos von derselben Prämisse aus (so etwa O. Lange). Soweit also der historische Marxismus auf dem Boden der alten Arbeiterbewegung überhaupt explizit Sozialismus und Warenproduktion für unvereinbar hielt, handelte es sich letztlich immer bloß um Mißverständnisse oder (z.T. grobe) Unklarheiten über den inneren Zusammenhang von abstrakter Arbeit, Wert und Geld, in dem sich die Warenproduktion erst als gesellschaftliche Reproduktionsform konstituiert und ihre destruktiv werdende historische Dynamik entfaltet.

(27) Indem diese verkürzten Vorstellungen einer "Aufhebung der Warenproduktion" nicht über den Gedanken einer "organisierten" Wertvergesellschaftung unter vermeintlicher äußerer Beseitigung bestimmter als genuin kapitalistisch empfundener Bestandteile der Warenform hinauskamen ("Privateigentum", "Profit", "Konkurrenz", "freier Markt" als abgelöste und verdinglichte Teil-Kategorien) und damit nicht über die Basis des Fetischismus, mußten sie notwendig historisch verblassen. Die Marxsche Kritik von Wertform und Geld erschien so schließlich bestenfalls noch als die nichtssagende bzw. sogar inhaltlich grundfalsche trotzkistische Phrase vom angeblichen "Absterben" des Geldes in einer unbestimmbaren Zukunft (so u.a. Rosdolsky), womit das theoretische und praktische Zentralproblem gnädig zugedeckt und eingesargt wird. Von solchen hilflosen Phrasen abgesehen ist daher weder im Osten noch im Westen bei irgendeiner traditionellen Linken heute noch die Rede von einer "Aufhebung der Warenproduktion", wie wir im Manifest gezeigt haben. Ein um diese Dimension erleichterter "Marxismus" ist es allerdings wert, auf den Müll geworfen zu werden. Daß unser Ansatz also keineswegs mit früheren (und in der Tat gescheiterten) Versuchen einer radikalen Kritik von Ware und Geld identifiziert werden kann, sollte damit klargestellt sein. Wer freilich den grundsätzlichen Unterschied in der Herangehensweise gar nicht sehen will, für den dürfte auch dieser Nachtrag vergebne Liebesmüh sein.

(28) Ähnliches gilt auch für die neue Linke und ihre Geschichte. Nur flüchtig wurde 1968 der Warenfetisch thematisiert, weit entfernt von theoretischer Konkretisierung und Zuspitzung und eher kulturkritisch begründet ("Konsumzwang") als von einer Kritik der politischen Ökonomie her. Entsprechend rasch verflüchtigte sich diese Fragestellung in Varianten bürgerlicher Machbarkeits-Illusionen innerhalb der Fetisch-Sphäre der "Politik". Eine gewisse Zuspitzung leisteten zwar die hierzulande niemals einflußreichen französischen "Situationisten" in der 68-er Bewegung, die direkt eine Kritik des Warenfetischs thematisierten, jedoch vermischt mit dem bürgerlichen Unmittelbarkeits-Denken ihrer existentialistischen Herkunft; indem sie so nicht über einen radikalisierten bürgerlich-abstrakten Subjektbegriff hinauskamen, blieben auch die Situationisten unfähig, eine aus der Kritik der politischen Ökonomie begründete konkrete Kritik der Warenform zu entfalten und gesellschaftlich vermittlungsfähig zu machen. Sicherlich wird es auch zu unseren Aufgaben gehören, Ansätze wie die genannten und andere zu würdigen und alle bisherigen Anläufe zu einer radikalen Kritik von Ware und Geld in der Theoriegeschichte aufzuspüren und kritisch zu verarbeiten. Schon die bisherige Sichtung läßt aber den Schluß zu, daß weder außerhalb noch innerhalb des bisherigen Marxismus explizit die Konsequenzen der Kritik der politischen Ökonomie in ihrer vollen Tragweite begriffen und ausgearbeitet worden sind. Auch das Marxsche Werk selbst, das als einziges auf diese Konsequenzen hinführt, enthält noch Dunkelheiten und Unklarheiten in dieser entscheidenden Hinsicht. Solche Feststellungen treffen wir nicht aus unserer selbsternannten "Genialität" heraus, sondern vielmehr aus der Einsicht, daß die bisherigen Interpretationen der Kritik der politischen Ökonomie ihre Verkürzungen aus der Eingebundenheit in eine historische Situation ziehen, in der die weltweite Entfaltung der Wertform als Kapitalverhältnis ihren Entwicklungsspielraum noch nicht ausgeschöpft hatte, auch nicht hinsichtlich dessen, was Marx als die "zivilisatorische Mission" des Kapitals bezeichnet hat (Entwicklung der Produktivkräfte, Erweiterung der Bedürfnisse, Herausbildung vernetzter gesellschaftlicher Infrastrukturen usw., die den "Austausch" ad absurdum führen). Daß die historische Arbeiterbewegung in allen ihren Varianten selber Bestandteil und Motor dieser vollen Entfaltung des Kapitalverhältnisses war und gar nichts anderes sein konnte, gehört zu den zentralen Thesen unseres Manifests. Erst heute beginnt dieses Verhältnis als Resultat seiner eigenen Entwicklung an absolute Grenzen zu stoßen. Erst heute wird daher auch jene radikale Kritik der Warenform überhaupt in ihrer vollen Konsequenz möglich und notwendig, die wir für unseren Ansatz in Anspruch nehmen.

(29) IV. Nicht besser ist das mehrfach aufgetretene Argument, unsere Thesen liefen auf "ökonomischen Reduktionismus" hinaus bzw. wir würden uns einbilden, mit der "fundamentalen Wertkritik" den "Stein der Weisen" gefunden zu haben. Aus solchem Gerede spricht einzig und allein das tiefverwurzelte Zurückscheuen vor einer radikalen Kritik der Grundlagen aller bestehenden Gesellschaft, aus deren Form auch die gesamte Linke ihre eigene fetischistische "politische2 Subjektivität herleitet, ohne sich dessen bewußt zu sein. Das alte begriffslose Gefasel des traditionellen Marxismus von einer sogenannten "relativen Selbständigkeit" diverser 2gesellschaftlicher Sphären" (Überbau, Politik, Kultur etc.) gegenüber der "Ökonomie" entspringt einzig und allein einem selber "ökonomistisch" verkürzten Verständnis der Wertform und verkennt, daß allein schon die Existenz dieser "Sphären" als getrennte und gegeneinander "relativ selbständige" ein historisches Produkt der Entfaltung der Wertform ist. Die heutigen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens, wie weit entfernt sie immer von der "Ökonomie" im kruden Sinne, d.h. von der empirischen "Wirtschaft" auch sein mögen, sind von der dynamischen Entfaltung der Wertform entweder überformt worden (z.B. die "Familie") oder von ihr überhaupt erst hervorgebracht. Gerade die Sphäre der "Politik" selbst, der beliebteste Tummelplatz linksbürgerlicher Subjektivität, muß als vom Wert gesetzte Fetisch-Sphäre begriffen werden, die in keinster Weise als solche transitorische Möglichkeiten enthält (wie es sich der linkssozialistische Reformismus einbildet), sondern vielmehr zusammen mit dem Kapitalverhältnis als dessen integraler Bestandteil abzuschaffen ist. Solche Einsichten bedeuten nicht im mindesten, daß die empirischen Erscheinungen sämtlicher gesellschaftlicher "Sphären" nun idealistisch aus der Wertform unmittelbar "abzuleiten" wären (was eine völlige Verkennung dessen beinhalten würde, was logische "Ableitung" überhaupt meint); vielmehr muß die Empirie durchaus als solche untersucht werden, allerdings gerade, um anhand der wirklichen empirischen Erscheinungen das Wirken der Wertform als Totalitätsform der kapitalistischen Gesellschaft zu entwickeln und aufzuzeigen. Eine Theorie, die sich unter heutigen Bedingungen beliebigen gesellschaftlichen Gegenständen zuwendet, ohne von der darin erscheinenden Wertform zu sprechen, können wir nur als ignorant bezeichnen und nicht mehr ernst nehmen, d.h. höchstens unter ideologiekritischen Aspekten behandeln.

(30) Es muß heute festgestellt werden, daß die allzu glattzüngige Rede vom "ökonomischen Reduktionismus" (so sehr dieser Vorwurf auch bestimmten verkürzten Anschauungen im traditionellen Marxismus tatsächlich gemacht werden kann) zur billigen Alibi-Formel für die "politische" Linke geworden ist, den Konsequenzen der Kritik der politischen Ökonomie systematisch auszuweichen. Die linke Durchschnittstheorie betet die Wertform bestenfalls abstrakt definitorisch herunter, um gleich im nächsten Atemzug dieses weder begrifflich noch in seiner historischempirischen Entfaltung durchdrungene Zentralproblem wieder soziologistisch zu relativieren, praktisch fallenzulassen und sich mit der stumpfsinnigen Formel zu begnügen, daß der Wert schließlich nicht "alles" sei: Subjekt "ja bitte", systematische Kritik der Warenproduktion bis auf die Grundlagen "nein danke" - die Grundformel des seinem Unwirklichwerden hinterherwinselnden bürgerlichen Individuums. Diese heute fast schon abgefeimt gewordene Ignoranz gegenüber der Wertform als Totalitätsform hat sich niedergeschlagen als Einordnung der "linken" Theoriebildung in den Supermarkt des bürgerlichen akademischen Denkens, das aus den empirischen "Sphären" und Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft ebensoviele "Wissenschaften" macht und ihren gesellschaftlichen Grund in der Wertform auch nur wahrzunehmen unfähig ist. Und wenn sich die linken Subjekt-Soziologisten auf den Kopf stellen: der Wert ist die negative, zerstörerisch gewordene Totalitätsform dieser Gesellschaft, deren Kritik die Voraussetzung aller Kritik und deren Erkenntnis die Voraussetzung aller Erkenntnis ist. Darunter geht nichts.

(31) Tatsächlich scheint es unseren bisherigen Gegnern und Kritikern auch nur darum zu gehen, mit solchen und ähnlichen Argumenten unseren Ansatz schon im Vorfeld einer Auseinandersetzung zu verwässern und zu relativieren, um ihn gewaltsam in den Kosmos des altgewohnten "linken" Denkens irgendwie einordnen zu können, mit dessen gewöhnlichem Theorie- und Politik-Verständnis sie sich kompatibel halten wollen, um nicht aus dem wiederkäuend vor sich hinvegetierenden Spektrum der "Linken" herauszufallen oder als "utopisch" bzw. "theoretisch abgehoben" exkommuniziert zu werden; geradezu demagogisch (und gleichzeitig selbstentlarvend) wird diese Haltung, wenn etwa geäußert worden ist, unser theoretischer Ansatz radikaler Kritik der "Warenform überhaupt" erinnere in seinen Konsequenzen (nämlich u.a. Abschaffung des Geldes als historisch aktuelle Losung) "an die mörderischen Praktiken eines Pol Pot" etc. In solchen Äußerungen zeigt sich, wie tief verwurzelt die warenförmige bürgerliche Subjektivität auch in der Linken ist, wie sehr diese Subjektivität als negative und abstrakte an der Geldform hängt und sich an diese Form klammert, wie tief der Unwille ist, sich wirklich auf die unvermeidlichen Konsequenzen der Marxschen Theorie einzulassen. Wenn dann blindlings und wider besseres Wissen der Verweis ausgerechnet auf Pol Pot hervorgestoßen wird, also auf die Tragödie einer terroristisch-etatistischen Kommandowirtschaft unter dem Vorzeichen eines asketischen Anti-Intellektualismus in der Bürgerkriegssituation eines unentwickelten Landes mit zerstörter Infrastruktur - dann fällt es schwer, auf solche Anwürfe überhaupt noch zu antworten. Dann können wir nur offen sagen: Wer eine "politische Heimatlosigkeit" fürchtet, wer sich kompatibel halten möchte mit den fetischistischen Illusionen der "demokratischen Linken", der hat in der Tat nichts bei uns verloren und eine Diskussion ist überflüssig, wenn sie bloß der Konservierung eigener Vorurteile dienen soll und der Zelebrierung eines in der Schwebe gehaltenen "Unbehagens" gegenüber einer klar bestimmten Position, auf die man sich nur nicht verbindlich einlassen will.

(32) V. Wenn wir unser Manifest und unsere theoretisch "aufarbeitende" Tätigkeit überhaupt im Sinne eines Anfangs und einer "Öffnung" verstehen, so also eben gerade hinsichtlich der von uns grundsätzlich neu aufgeworfenen Fragestellung einer konsequenten Kritik der Warenform durch alle gesellschaftlichen Erscheinungen hindurch - und nicht etwa als Angebot eines "pluralen Marxismus" (so das hilflos demokratistische Konstrukt von W.F. Haug und der "Argument"-Redaktion) oder einer unverbindlichen theoretischen Beschäftigungstherapie für Leute mit gehobenen Ansprüchen, erst recht nicht als Bereitstellung eines Ruhekissens für einen Restbestand theoretischen Gewissens bei politischen "Praxis"-Handwerklern, die ansonsten ungestört und ungerührt "so weitermachen" wollen. "Öffnen" soll sich gerade eine Diskussion und Auseinandersetzung um die von uns aufgeworfene "fundamentale Wertkritik" als radikale Kritik auch der bisherigen Linken, was selbstverständlich auch ein Sich-Einlassen auf diese Fragestellung verlangt. Wenn wir unsere Thesen und die theoretische Arbeit in diesem Kontext als unabgeschlossen und einer kritischen Auseinandersetzung bedürftig darstellen, so eben mit dem Ziel einer Überprüfung und kritischen Weiterentwicklung dieses Ansatzes, nicht jedoch, um die Fauna der Linken um eine weitere seltene Spezies zu bereichern. Mit anderen Worten: wir wissen keineswegs sicher, ob alles "richtig" ist, was wir in der mühsamen Gewinnung dieses neuen Ansatzes bis jetzt gleichsam provisorisch ausgearbeitet haben; wir sind uns auch bewußt, daß das Hindurchgehen durch die Empirie und Geschichte unter dem Leitstern dieses Ansatzes nicht von einer Handvoll Leute geleistet werden kann, sondern vieler Kräfte bedarf. Es ist jedoch sinnlos, wenn die Kritik und Auseinandersetzung bloß vom alten theoretischen Terrain aus und unter dem Aspekt von dessen Verteidigung erfolgt. Wir erlauben uns, einen Wechsel des Terrains selber zu fordern und kritische Mitarbeit auf diesem neuen Terrain. Spott und Polemik sollen also nicht unsere eigene Arbeit sakrosankt und jede denkbare Kritik im vorhinein mundtot machen, sondern nur eine Haltung denunzieren, die ihre Kritik und ihr "Unbehagen" spazierenführt, ohne das von uns zu erschließende theoretische Terrain überhaupt zu betreten.

(33) Es ist tatsächlich erstaunlich, wie rasch selbst scheinbar gutwillige Leute nach Kenntnisnahme unseres Ansatzes in groben Zügen und nach einem kurzen Stutzen geneigt sind, hinsichtlich interessierender Themen von Politik und Theorie zur gewohnten Tagesordnung und zu den gewohnten, von uns gerade als verkürzt kritisierten "marxistischen" Standard-Argumentationen überzugehen. Offensichtlich fällt es schwer, zu realisieren, daß die theoretische Untersuchung und Kritik der warenförmigen Konstituiertheit aller gesellschaftlichen Praxis und der darauf bezogenen Willensäußerungen und Willenshandlungen auch der gewohnten, überlieferten marxistischen Begriffswelt und Politik den Boden unter den Füßen wegzieht. Die Furcht vor dem freien Fall scheint eine große Hemmschwelle zu sein und die Phantasie der Ignoranz zu beflügeln. Unser Credo aber lautet: Wer von der Warenform nicht reden will, soll auch zu allem anderen schweigen. In diesem und nur in diesem Sinne verstehen wir unser Angebot einer "öffnenden" Diskussion und Auseinandersetzung. In welche Richtung sich eine solche weitere Erarbeitung und Diskussion bewegen könnte, zeigen einige andere, durchaus ernst zu nehmende Einwände. Mit an erster Stelle wäre dabei die Überlegung zu nennen, daß der Eifer in der Kritik der "Warenform überhaupt" nicht dazu verführen soll, die kapitalistische Spezifik als hochentwickelte und potenzierte Warenform außer Betracht zu lassen. Das Problem ist nur, daß beides nicht gegeneinander ausgespielt werden kann. Es gehört zum Standard-Repertoire des traditionellen Fetisch-Marxismus, die kapitalistische Spezifik der entwickelten Warenform von der "einfachen" Warenform systematisch abzutrennen, um dann eben zu jener von uns kritisierten verdinglichenden Verselbständigung "rein" kapitalistischer Kategorien wie "Mehrwert" und "Profit" etc. zu gelangen. Der DDR- und Sowjet-Revisionismus etwa entblödet sich nicht, die Existenz "einfacher Warenproduktion" in den Nischen vorkapitalistischer, nicht-warenförmiger Gesellschaften als ideologische Rechtfertigung für das logische Monstrum einer "sozialistischen Warenproduktion" zu nehmen, nach dem Motto: "Nicht" die Warenproduktion, "sondern" der Kapitalismus ist das Übel; "vor" dem Kapitalismus hat es Warenproduktion gegeben, "also" kann es auch "nach" dem Kapitalismus Warenproduktion geben. Diesen begriffslosen theoretischen Kurzschluß wollen wir ja gerade als historisch bedingte Ideologie überwinden.

(34) Dasselbe Problem kommt auch in der Frage zum Ausdruck, ob der Staat aus der Warenform als solcher oder erst aus der Konkurrenz abzuleiten sei; die Fragestellung entstammt der "Staatsableitungs-Debatte" der 70er Jahre, in der Teile der damaligen akademischen Linken vielleicht am nähesten an eine radikale Kritik der Warenform herangekommen sind, freilich nur, um im entscheidenden Moment wieder zurückzubiegen in den traditionellen Marxismus. Tatsächlich ist es wohl zu wenig, wenn in unserem Manifest bezüglich des Staates die Konkurrenz nur beiläufig erwähnt wird als das "notwendige Gegensätzlich-Werden" der "Interessen" in der entfalteten (also kapitalistischen) Warenform. Das Problem ist aber auch in diesem Zusammenhang, ob die kapitalistische Form (hier die "Konkurrenz") im erwähnten Sinne gegen die "Warenform überhaupt" ausgespielt wird oder nicht. Wenn gesagt wird, daß die entfaltete Warenform die Konkurrenz notwendig impliziert und der moderne Staat sich erst mit der kapitalistischen Dynamisierung der Warenform und insofern zusammen mit der Konkurrenz herausbildet, dann ist die Ableitung des Staates aus der Konkurrenz in diesem Sinne sicher richtig; der Staat kann also nicht unmittelbar aus der "einfachen" Warenproduktion (im "Kapital" ohnehin nur eine analytische Kategorie) abgeleitet werden. Falsch wird dieser richtige Gedanke jedoch, wenn damit gleichzeitig die bereits kapitalistische Kategorie der Konkurrenz gegenüber der "Warenform überhaupt" verselbständigt oder der systematische Zusammenhang von Warenform und Konkurrenz in der weiteren Argumentation nicht mehr ausreichend berücksichtigt wird. Dieser Fehler ist schon angelegt, wenn in der Staatsableitung eine falsche Gegenüberstellung in der Weise gemacht wird, daß der Staat "nicht" aus der Warenform als solcher, "sondern" aus der Konkurrenz abzuleiten sei. Hier deutet sich schon eine Tendenz an, die Grundkategorien der Warenform bloß noch für die definitorische Herleitung der kapitalistischen Kategorien zu verwenden, um sie dann in der weiteren Argumentation und Kritik ?verschwinden? oder "verstummen" zu lassen - exemplarisch bei der "Marxistischen Gruppe" (MG), die sich auch in ihrer Behandlung der "Interessen"-Kategorie um das Problem von deren warenförmiger (und also kapitalistischer) Konstituiertheit herumzumogeln versucht (vgl. dazu die entsprechende kurze Passage im Manifest). Das Resultat solcher Verkürzungen ist nicht bloß eine theoretische Verdunkelung des Kernproblems, sondern immer gleichzeitig eine verkürzende Verschwommenheit in der "sozialistischen" Zielsetzung und Programmatik (bei der MG eine ebenso vornehme wie alberne totale Programmlosigkeit), die sich dann entweder direkt in warenförmigen Kategorien darstellt, sozusagen als die vermeintliche Emanzipation des Arbeiter-"Interesses" innerhalb dieser Form, oder diese entscheidende Frage offen und unbeantwortet läßt. Bei der MG führt dieser fundamentale Fehler, nebenbei bemerkt, auch zu einer grotesken Hilflosigkeit in der Einschätzung des "Realsozialismus" und dessen Entwicklung, die nur noch mit blankem Idealismus kommentiert werden kann.

(35) Immerhin zeigen solche Erörterungen, daß und in welcher Hinsicht auch unsere eigene Arbeit und unser eigener Diskussionsprozeß noch "offen" und keineswegs abgeschlossen ist; "offen" eben für die weitere Konkretisierung dieses Ansatzes. Dies gilt auch für eine ganze Reihe weiterer Fragestellungen, so etwa die Faschismus-Theorie, den Feminismus, die "Dritte Welt" und die Entwicklung der Sowjetunion etc. Wenn etwa im Manifest gesagt ist, daß das "Paradigma" der Oktoberrevolution und der daran mehr oder weniger anschließenden "Dritte Welt"-Revolutionen erloschen ist, dann soll dies natürlich nur für die historische Situation als Ganzes gelten; daß es noch "Nachzügler" innerhalb des alten Horizonts geben kann und geben wird (etwa in Afrika und vor allem Südamerika) ist damit keineswegs ausgeschlossen. Wenn wir für einen fundamentalen Neuansatz revolutionärer Theorie eintreten und die Epoche des alten Arbeiterbewegungs-Marxismus polemisch als abzuschließende attackieren, so wollen wir damit nicht hinter eine Einsicht aus dieser Epoche selber zurückfallen: "Aber eine große Weltperiode stirbt niemals so schnell ab, wie ihre Erben zu hoffen pflegen und vielleicht auch, um sie mit dem gehörigen Nachdruck berennen zu können, hoffen müssen" (Franz Mehring). Was der alte Mehring hier noch abstrakt "geschichtsphilosophisch" ausdrückt, kann heute wesentlich konkreter gefaßt werden: er weiß insofern noch gar nicht, was er sagt, als die Epoche der alten Arbeiterbewegung selber noch zu jener "großen Weltperiode" des Wertverhältnisses und seiner Entfaltung gehört, die sich erst heute anschickt, mit dem "Absterben" ernst zu machen. Daß es sich auch jetzt um den Beginn einer Epoche handelt, und zwar einer Epoche gesellschaftlicher Katastrophen, die bereits konkret abzusehen sind, scheint uns evident. Da sich in dieser erst nach dem zweiten Weltkrieg herausgebildeten neuen Epoche die endlich erreichte kapitalistische Voll- oder WeltmarktVergesellschaftung als identisch mit der Krise der Warenform überhaupt herausstellt, muß unser "Berennen" des Kapitalverhältnisses nicht nur ganz anders aussehen als jenes, das der alte Mehring im Auge hatte, sondern gleichzeitig mindestens denselben langen Atem besitzen, den die alte Arbeiterbewegung für die reine Herausarbeitung der Ware Arbeitskraft benötigte. Kurzfristige und kurzatmige "Hoffnungen", wie sie vielleicht den Konjunkturen des "linken" Politikastertums entsprechen, sind daher keineswegs angebracht, auch wenn (oder gerade weil) krisenhafte Erschütterungen auf allen Ebenen bevorstehen, auf die gegenwärtig weder die Massen noch die linken Theoretiker und "Politiker" vorbereitet sind.

Robert Kurz, Juli 1988

Exkurs 2: Von der "Marxistischen Kritik" zur "Krisis", 1990

(36) (...Es überrascht) sicher, dass diese Ausgabe unserer Zeitschrift (8-9, 1990) nicht mehr unter dem alten Titel "Marxistische Kritik" erscheint. Wenn alle Welt sich von Marx verabschiedet und in Marxens Namen vornehmlich unfreiwillige Büttenreden fabriziert werden, läge es scheinbar nahe, unseren Bezug auf den revolutionären Gehalt der Marxschen Theorie auch dadurch herauszustellen, dass wir am Begriff "marxistisch" im Namen festhalten. Und in der Tat, die Koinzidenz zwischen der durch den realsozialistischen Kollaps ausgelösten Massendesertion vom alten marxistischen Banner und unserer Umbenennung ist wenig glücklich. Dies ändert aber nichts daran, dass die Logik unserer eigenen theoretischen Entwicklung uns längst zu einem Punkt geführt hat, an dem die Beibehaltung des Wörtchens "marxistisch" als Selbstcharakterisierung vollkommen irreführend geworden ist; mit dem Gedanken einer Namensänderung schlagen wir uns mittlerweile schon gut 2 Jahre herum. Wir haben ja schon früher mehrfach darauf hingewiesen, dass unser Versuch, die revolutionäre Sprengkraft der Marxschen Theorie herauszuarbeiten, gerade die radikale Kritik des "Marxismus" einschließt. Unsere Abgrenzung begnügt sich nicht damit, die eine oder andere Spielform des Marxismus als unzureichend zu verwerfen. Mit unserem Versuch, eine Kritik der modernen bürgerlichen Gesellschaft auf der Höhe der Zeit zu formulieren, haben wir uns vielmehr inzwischen aus dem überlieferten marxistischen Denkuniversum in toto hinauskatapultiert. Gerade weil wir den von Marx mit der Analyse des Warenfetischs geknüpften roten Faden weiterspinnen wollen, müssen wir die Färbung beseitigen, die die Kritik der politischen Ökonomie in der Rezeptionsgeschichte erhalten hat. Da wir uns längst nicht mehr unter dem "Banner des Marxismus" vorankämpfen, sondern diesen einstigen Prachtbau ziemlich gründlich in die Luft gejagt haben (der vorerst letzte Höhepunkt war wohl der Artikel "Der Klassenkampffetisch" in der (MK 7), wäre es ein reines Verwirrspiel, uns weiterhin an einem historisch gewordenen Namen festzuklammern. Wenn unsere neue Titelgebung vor dem Hintergrund der akuten ideologischen Verwerfungen Missverständnisse erzeugen kann, so ziehen wir es noch vor, wegen der Änderung in einen absurden Wendehalsverdacht zu geraten, als die Rolle der letzten Mohikaner einzunehmen, die nach wie vor in Treu und Redlichkeit zum alten Marxismus stehen. Dass mit der Namensänderung kein inhaltlicher Bruch verbunden ist, sondern die "Krisis" den wertkritischen Ansatz weiterverfolgt, wollen wir durch das Fortschreiben der Nummerierung deutlich machen.

Warum "krisis"?

(37) Warum nun aber ausgerechnet der Name "krisis"? Eine Anbiederung an den Zeitgeist, der überall Krisen erspäht, auch wenn er diese Erkenntnis vergeblich im Sektglas zu ertränken sucht? Eine Beschwörung apokalyptischer Endzeitvorstellungen? Ein Umkippen in kulturpessimistische Resignation und Defätismus? Oder umgekehrt, eine Neuauflage revolutionären Attentismus angesichts der allmächtig erscheinenden Objektivität geschichtlicher Entwicklung, die ein subjektives Eingreifen überflüssig macht? Kein Zweifel, der Begriff "Krise" hat Konjunktur, und dies nicht erst seit gestern. Dass dies nicht nur eine modische Erscheinung ist, liegt auf der Hand. Überflüssig, hier die Allgegenwart von Krisenerscheinungen zu belegen: Krise der Familie, Krise der Umwelt, Krise der Identität, Krise der Staatsfinanzen etc., die Phänomene sind geläufig. Das moderne Individuum hat scheinbar gelernt, damit zu leben. Je weiter sich die Krisenerscheinungen verallgemeinern, je mehr das Wort "Krise" zum Bestandteil des Alltagsvokabulars geworden ist, desto weniger Schrecken scheint von ihm auszugehen. Was einem auf Schritt und Tritt begegnet, daran stößt man sich nicht mehr, das gehört zum Leben wie der morgendliche Werbefunk vor den 8-Uhr-Nachrichten.

(38) Selbst noch auf der Mikroebene der unmittelbaren zwischenmenschlichen Beziehungen scheint sich das moderne Subjekt mit geradezu mittelalterlichem Fatalismus seinem Schicksal ergeben zu haben. Krisen sind keine zentralen biographischen Einschnitte mehr, Zuspitzungen in der Persönlichkeitsentwicklung, die einen grundsätzlichen Reflexions- und Wandlungsprozess auslösen; sie markieren nicht den Übergang von einer Lebensphase in die nächste, sondern haben sich zum Dauerzustand verfestigt. Wo eine Beziehungskrise die nächste ablöst und eine "Sinnkrise" nach kurzer Unterbrechung in die nächste mündet, da erübrigt sich jede substantielle Entscheidung. Die Reaktionsweisen werden stereotyp, reflexartig und verharren bewusstlos an der Oberfläche. Der Partnerwechsel, die Aufnahme eines Zweitstudiums, der Kauf einer neuen Wohnungseinrichtung, dies alles ist unschwer als Ersatz für wirkliches Handeln zu erkennen. Wozu wirkliche Anstrengungen auf sich nehmen, wenn ein Ausweg ohnehin nicht erkennbar ist? Was für die Ebene des Subjekts gilt, trifft in noch viel höherem Masse für die Makroebene des gesellschaftlichen Prozesses zu. Keines der grundlegenden Probleme, an denen sich die Protestbewegungen der letzten zwei Jahrzehnte entzündeten, ist einer ernsthaften Lösung auch nur näher gekommen. Ganz im Gegenteil. Über die Zuspitzung der Klimakatastrophe und die beschleunigte Verelendung der Dritten Welt, um nur zwei zentrale Themen zu nennen, berichtet mittlerweile jede Fernsehillustrierte. Aufklärung ist nicht mehr angesagt. Der Zeitgeist weiß Bescheid. Achselzuckend nimmt er hin, was sich nicht ändern lässt, so wie man sich einer Naturkatastrophe ergibt. Nur scheinbar ist die no future-Mentalität einem allgemeinem Zukunftsoptimismus gewichen. Die Tünche dieses in Meinungsumfragen konstatierten Gesinnungswandels ist dünn und schon beim genaueren Hinsehen erkennt man darunter das wahre Gesicht des modernen Individuums: die Fratze der nackten Angst.

(39) Und diese Angst ist nicht unbegründet. Was uns bevorsteht, wovon wir hier im Epizentrum der weltweiten Erschütterung, die in anderen Weltgegenden bereits katastrophale Verheerungen angerichtet hat, bisher nur eine leichte Ahnung verspüren, ist tatsächlich eine knallharte Krisenepoche. Eine ganze Epoche wohlgemerkt, die sich durchaus über ein paar Jahrzehnte hinziehen kann und deren Ausgang keineswegs sicher ist. Nur eines lässt sich prognostizieren: Am Ende wird mit Sicherheit kein neuerstarkter Kapitalismus aus ihr hervorgehen, wie überhaupt keine Gesellschaft auf der Grundlage des Werts, denn diese Grundlage ist es, die zerbricht. Die allumfassende Krise ist nicht irgendeine, sondern die Krise der warenproduzierenden Gesellschaft schlechthin. Die merkwürdige Erstarrung angesichts ihrer Erscheinungen, die gespenstische Schicksalsergebenheit, die sich in den letzten Jahren nach der vorangegangenen Phase hektischen Bewegungsaktivismus breitgemacht hat, sie erklärt sich daraus, dass alle vorgetragenen "Lösungsmodelle" nie explizit (wenn auch zum Teil durchaus implizit) die Warenform selbst in Frage gestellt haben und daher letztlich scheitern mussten. Dem in der Wertform befangenen Bewusstsein muss sich dies als das Scheitern jeglicher Lösungsmöglichkeit überhaupt darstellen. Krise gerät zum Synonym für Apokalypse und darf daher nicht gedacht werden.

(40) Der ursprüngliche Gehalt des Wortes "Krise" verweist jedoch auf einen ganz anderen Zusammenhang. "KRISIS", das heißt im Griechischen soviel wie "Entscheidung, auch Unterscheidung" und stammt von dem Verb "krinein = sich entscheiden, prüfen, von daher auch Kritik" [2]. Im klassischen Drama ist "KRISIS" die Zuspitzung des dramatischen Konfliktes, die eine Entscheidung des Helden herausfordert, welche den Umschwung der Handlung einleitet. Und in Medizin schließlich bezeichnet "KRISIS" den Höhepunkt des Krankheitsverlaufes, an dem eine entscheidende Wendung (zur Besserung oder auch zum Exitus hin) erfolgt. Die gemeinsame etymologische Wurzel der Begriffe Krise und Kritik verweist auf deren logischen Zusammenhang. Die radikale Neuformulierung revolutionärer Theorie setzt weder voll Gottvertrauen auf den automatischen Zusammenbruch, noch tritt sie im Namen hehrer Prinzipien gegen das in sich wasserdichte schlecht Faktische an [3]. Zuspitzung eines unhaltbar gewordenen Zustandes und seine Auflösung fallen zusammen. Die Krise macht subjektive Entscheidungen nicht überflüssig, sondern fordert sie geradezu heraus, sie schafft aus sich selbst heraus keine Fakten, sondern setzt Potentiale frei, die genutzt werden können - oder auch nicht. Indem die gegenwärtige Krise die Grundfesten der Wertproduktion erschüttert, eröffnet sie damit erstmals auch die Perspektive auf eine bewusste Vergesellschaftung. Aber eben nur der Möglichkeit nach. Wenn der Kommunismus die bewusste Regelung aller menschlichen Angelegenheiten auf der Basis des Zugriffs aller Individuen auf den gesellschaftlichen Zusammenhang ist, muss die Revolutionierung des Wertverhältnisses bereits die Züge dieser Bewusstheit tragen. Die Krise des Werts bringt, indem sie alle bisherigen Formen auflöst, aus sich heraus alle potentiellen Elemente einer revolutionären Subjektivität hervor. Die reale Konstituierung des betreffenden Bewusstseins erfolgt jedoch keinesfalls automatisch. Die Mühen des Begreifens, die je individuelle Entscheidung für die Arbeit am revolutionären Prozess, können niemandem abgenommen werden. Diesen Zusammenhang scheint uns der neugewählte Titel "KRISIS" angemessen auszudrücken.

Aus dem Editorial des "krisis"-Heftes 8-9, 1990

Fortsetzung aus dem Editorial des "krisis"-Heftes 12, 1992

(41) Die "Wertkritik" zerrt also die verschüttete Analyse der bürgerlichen Keimform ans Licht und macht dort weiter, wo der von der Arbeiterbewegung liegengelassene "esoterische" Marx aufgehört hat (was nebenbei auch bedeutet, daß nicht mehr von einer geschlossenen, "orthodox" bloß noch zu interpretierenden Marxschen Theorie ausgegangen werden kann). Sie macht die basale Fetisch-Konstitution des zur totalen, weltumspannenden Banalität gewordenen "Geldverdienens" als die unhaltbare Realabsurdität kenntlich, auf der das System negativer Vergesellschaftung in toto gründet. Weil sie unbescheiden auf den inneren Zusammenhang und aufs Ganze zielt, kann die negatorische Denkbewegung die säuberliche Trennung für sich seiender Sonderbereiche (Politik, Ökonomie, Psychologie, Privatheit, Erkenntnistheorie usw.) nicht selbstbescheiden akzeptieren. Es ist die Herrschaft der bürgerlichen Form, die all diese Grenzen zieht, und so wird die Kritik der Warenform als solcher auf Grund ihrer eigenen Dynamik zum grenzüberschreitenden Unternehmen.

Eine gekippte Selbstverständlichkeit wirft die nächste um ...

(42) Ein solches Programm läßt sich aber natürlich weder in einem Aufwasch besorgen, noch lassen sich seine nächsten Schritte ohne weiteres präjudizieren. Die Emanzipation vom etablierten bürgerlichen (und dem, wie sich herausgestellt hat, dazugehörigen marxistischen) Denkkosmos läuft stück- oder stoßweise. Was zunächst ausgeblendet blieb, rückt ins Licht, und die bisherigen Ergebnisse unserer Arbeit erscheinen in neuer Beleuchtung. Die Theoriebildung der KRISIS entwickelt sich als eine Art Domino-Effekt fort, der bis heute noch nicht beim letzten Stein angelangt ist. Eine gekippte Selbstverständlichkeit wirft die nächste um, und auf jeder Stufe finden sich dem jeweiligen alten Reflexionsstand verhaftete Anti-Kritiker, die die Autorenschaft der KRISIS der Blasphemie bezichtigen, oder sich ernstlich Sorgen um unsere geistige Gesundheit machen. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.

(43) In den vergangenen sieben Jahren hat sich aber nicht nur unser theoretischer Ansatz präzisiert und radikalisiert, parallell dazu hat sich die gesellschaftliche Großwetterlage gründlich verändert, und damit auch die Rahmenbedingungen, in denen sich der Theoriebildungsprozeß vollzieht. 1986 schrieben wir mit der Hinwendung zu einer neuen Kritik der bürgerlichen Basiskategorien gegen den Zeitgeist an und lagen völlig quer zu den Fragestellungen, die in der allgemeinen gesellschaftlichen Debatte und im linken Diskurs en vogue waren. Im Editorial der ersten Ausgabe war realistischerweise von den "aktuell miserablen Aussichten unseres Projekts" die Rede, und unsere theoretische Arbeit fand denn auch tatsächlich geraume Zeit tief unten in den Katakomben statt, unsichtbar und unentdeckt von einem größeren Publikum, gleich weit entfernt vom akademischen wie vom politischen Betrieb.

Das Epochenjahr 1989

(44) Drei Jahre nach dem Epochenjahr 1989 bietet sich für unser Projekt eine weit erfreulichere Perspektive, wenn es erlaubt ist, diesen Ausdruck angesichts eines global wachsenden Elends zu gebrauchen. während wir in der theoretischen Mönchszelle damit beschäftigt warenm das warenproduzierende Weltsystem und die von ihm hervorgetriebenen Denkraster zu kritisieren, war der prozessierende Widerspruch so freundlich, diesem Unterfangen praktisch in die Hände zu arbeiten. Er hat nicht nur die vertrauten politischen und theoretischen Konstellationen gründlich durcheinandergewirbelt, er hat darüber hinaus auch damit begonnen, das Vertrauen in Funktionsfähigkeit und politische Steuerbarkeit moderner Vergesellschaftung zu untergraben.

(45) Das erste prominente Opfer dieses Prozesses, der die Schranken der Warengesellschaft sichtbar macht, war die Linke. Was natürlich einer gewissen Ironie nicht entbehrt. Die scheinradikale Opposition, die letztlich nichts anderes als die Avantgarde der warenförmigen "Modernisierung" selbst war, verlor jeglichen Boden unter den Füßen. Diese Linke, aus der wir selber hervorgegangen sind, von der wir uns kritisch abstießen, und deren letzte Fähnlein uns nach Kräften ignorierten, überlebte den Untergang des glorreichen "Realsozialismus" nicht; trotz aller früheren Kritik dieser Gesellschaftsformation, die aber nie auf den Kern gezielt, sondern bloß die westliche Variante der demokratisch-politizistischen Illusionen transportiert hatte. Wo der Staat gewordene Glaube an die Macht der Politik die Segel streichen muß, müssen in der Folge auch die westlichen linken Politikaster ihre Paralyse eingestehen. Der Part der System-Opposition wird vakant, und so bietet sich gesellschaftskritischen newcomern eine "Marktlücke".

(46) Sie bietet sich umso mehr; als die im Grundsätzlichen bedingungslose Kapitulation des überlieferten oppositionellen Denkens (oder; wo es von Unentwegten weiterbetrieben wird, sein trauriges Versagen vor einer veränderten Wirklichkeit) keineswegs vorn Ende des Bedürfnisses nach einer radikalen Kritik des Bestehenden kündet. Menschen, die sich nicht im Einverständnis mit dem herrschenden status quo fühlen, sind keineswegs Mangelware. Dazu ist der Preis offensichtlich zu hoch, den wir für die Fortexistenz der aberwitzigen Verwertungsrationalität zu entrichten haben. Das nach dem Kladderadatsch des ,,Realsozialismus" eilfertig verkündete ,,Ende der Geschichte", der "Endsieg" von westlicher Marktwirtschaft und Demokratie entpuppt sich von Tag zu Tag mehr als der größte Flop aller Zeiten. Der Westen ist offensichtlich weder dazu in der Lage, den Osten und Süden in seine "One World" zu integrieren, noch seine eigenen internen Probleme einer Lösung zuzuführen.

Der Kollaps der Modernisierung

(47) Während sich in den Metropolen nach dem defizitfinanzierten und spekulativen Yuppie-Boom der 8oer Jahre nicht nur an den internationalen Börsen Ernüchterung breitmacht, versinkt jenseits und diesseits der Landesgrenzen die abgekoppelte Peripherie der Warengesellschaft in Desorganisation und Selbstzerfleischung. Die Weltarbeitsgesellschaft hält ihre Tore geschlossen, und nur die Sumpfblüten des entkoppelten Kredits sichern ihr einstweilen eine ebenso prekäre wie neurasthenische Fortexistenz. In den Regionen, die von diesem geldförmigen "Kommunismus" der Noch-Reichen ausgeschlossen werden, grassieren die Bürgerkriege in einem nie dagewesenen Ausmaß. Das ehemalige Jugoslawien und die ehemalige Sowjetunion sind naheliegende Extrembeispiele; aber selbst das Leben zwischen Prenzlauer Berg, Hoyerswerda und dem schwäbischen Musterländle ist mittlerweile nicht unbedingt von Toleranz und liberalem Bürgersinn geprägt. Die entfesselte Warensubjektivität kommt in der allgemeinen Verteilungsschlacht zu sich, und statt allgemeinem Frieden, konzertierter Aktion und blühendem Wohlstand entpuppen sich Pogrom und Mafia als die adäquaten Formen, in denen die Marktrationalität ihre weltumspannende Herrschaft vollendet. Kein ,,politisches" Handlungskalkül gewohnten Zuschnitts kommt gegen diesen Trend an. Gegenüber der unaufhaltsamen Selbstvernichtung der siegreichen westlichen Rationalität fühlt sich der "citoyen" trotz allen Zivilitätsgesäusels zu Recht auf verlorenem Posten. Mit den sich häufenden und zuspitzenden Krisenphänomen wächst aber auch das Bedürfnis nach einer Theorie und Analyse, die in der Lage ist, einen Schlüssel zum Verständnis und zur Kritik der realen Entwicklung zu liefern.

(48) Vor diesem Hintergrund erscheint der Erfolg des Buches "Der Kollaps der Modernisierung" [4] von Robert Kurz vielleicht nicht mehr gar so sensationell. Als notwendiges Pendant zum gewendeten Linksdemokratismus liegt eine neue, nicht mehr arbeiterbewegte Kritik der bürgerlichen Form schlicht und einfach in der Luft. Noch jedes linksakademische Traktätchen musste in den letzten Jahren präventiv lauthals gegen imaginäre "Zusammenbruchsszenarien" polemisieren. Als Popanz und Kinderschreck war also so etwas wie die KRISIS-Position bereits chimärisch präsent, ehe wir überhaupt wahrgenommen wurden. Was, bevor es überhaupt ausformuliert ist, bereits auf dem Index steht, muss sich aber nun einmal über kurz oder lang einfach durchsetzen. In der wahrlich hochanständigen "Zeit" orakelte ein Leitartikler vor einigen Monaten, der Marxismus wäre mittlerweile so mega-out, dass seine Renaissance in irgendeiner Form so sicher sei wie das Amen in der Kirche. Zweifellos hat er recht. Sobald das demokratische Über-ich von Ereignissen verwirrt wird, die in seinem Drehbuch nicht vorgesehen sind, und sobald es Schwäche zeigt, steht Mephisto urplötzlich auf der Bühne. Dem Verbotenen und Verdrängten gehört allemal die Zukunft.

(49) Wir wollen uns deswegen aber nichts in die Tasche lügen. Das Echo, das etwa das "Kollaps"-Buch und mittlerweile teilweise auch die KRISIS gefunden haben, darf nicht über die Verständigungsschwierigkeiten mit den gängigen Diskursen hinwegtäuschen. Ein derart sperriger und ungewohnter Ansatz wie unserer, der gerade scheinbar so Selbstverständliches wie "Arbeit", Geld und das tief gestaffelte System ihrer Emanationen nicht mehr bloß "philosophisch" aufs Korn nimmt, wird nicht an einem Tag verdaut und diskursiv angeeignet. Das Bedürfnis nach einer grundsätzlichen Gesellschaftskritik auf der Höhe der Zeit ist zwar vehement, hat aber immense Schwierigkeiten mit Orientierung und Begriffssprache. Das haben wir nicht zuletzt und in unserem eigenen Denken erleben müssen. Auch ein Bewußtsein, das kritisch sein will, hält nur schwer mit der Geschwindigkeit Schritt, mit der sich heute der Epochenbruch vollzieht, und es tut sich erst recht hart damit, dessen Tiefendimension zu erfassen.

(50) Wir wollen uns deswegen aber nichts in die Tasche lügen. Das Echo, das etwa das "Kollaps"-Buch und mittlerweile teilweise auch die KRISIS gefunden haben, darf nicht über die Verständigungsschwierigkeiten mit den gängigen Diskursen hinwegtäuschen. Ein derart sperriger und ungewohnter Ansatz wie unserer, der gerade scheinbar so Selbstverständliches wie "Arbeit", Geld und das tief gestaffelte System ihrer Emanationen nicht mehr bloß "philosophisch" aufs Korn nimmt, wird nicht an einem Tag verdaut und diskursiv angeeignet. Das Bedürfnis nach einer grundsätzlichen Gesellschaftskritik auf der Höhe der Zeit ist zwar vehement, hat aber immense Schwierigkeiten mit Orientierung und Begriffssprache. Das haben wir nicht zuletzt und in unserem eigenen Denken erleben müssen. Auch ein Bewußtsein, das kritisch sein will, hält nur schwer mit der Geschwindigkeit Schritt, mit der sich heute der Epochenbruch vollzieht, und es tut sich erst recht hart damit, dessen Tiefendimension zu erfassen.

work in progress

(51) Was sich bei der Rezeption des "Kollaps"-Buches bemerkbar macht, gilt erst recht für die Schriftenreihe der KRISIS selber. Die Darstellung im Buch hat allemal die empirische Evidenz aktueller Ereignisse auf ihrer Seite, für die Beiträge in den Sammelbänden der KRISIS gilt das bisher nur ausnahmsweise. Sie bewegen sich vornehmlich auf der grundsätz1ichen Ebene. Die theoretische Analyse und Kritik der bürgerlichen, warengesellschaftlichen Formstruktur ist aber selten unmittelbar empirisch zugänglich, und so kann sich beim Drüberlesen nur schwer ein oberflächliches Einverständnis herstellen. Glücklicherweise vielleicht.

(52) Diese im theoretischen Gegenstand selber liegenden Schwierigkeiten werden sicherlich noch durch den Charakter vieler unserer Texte verstärkt. Die neue Kritik der Warengesellschaft alias "fundamentale Wertkritik" hat auch nach sieben Jahren (mit fast noch einmal soviel an "Vorlauf" his zu den Grenzen des alten marxistischen Universums) nichts Abgeschlossenes an sich. Sie befindet sich nach wie vor im statu nascendi; vieles wirkt tastend, provisorisch, unabgerundet und ist es schlechterdings auch. Und wird es vielleicht auch bleiben, weil dies womöglich überhaupt den Charakter eines nicht mehr warenförmig determinierten, nicht mehr abstrakt-universalistischen Denkens ausmacht. Nicht nur die ersten Ausgaben unserer Schriftenreihe standen unter dem Vorzeichen "Selbstverständigung" Die KRISIS repräsentiert his heute im besten Sinne das, wofür die englische Sprache den Ausdruck "work in progress" bereithält. Der weiter oben schon beschriebene ,,Domino-Effekt" unseres Theoriebildungsprozesses, wie ihn die KRISIS-Veröffentlichungen dokumentieren, setzt sich weiterhin fort. Während einige Aufsätze mittlerweile auf relativ gesichertem Terrain fortschreiten und/oder zu aktuellen Ereignissen Bezüge herstellen, bewegen sich die zentralen Beiträge nach wie vor in der Fallinie und beschäftigen sich wesentlich mit dem Knacken von selhstverständ1ich geglaubten Deutungsrastern.

(53) Die demokratische Frage ist für uns einigermaßen gelöst, und zwar negativ-aufhebend. Dafür erhebt sich nun u.a. das Problem, ob die grundsätz1iche Kritik am soziologistischen Denken in seiner Konsequenz nicht impliziert, daß der Fetischhegriff auch auf vorbürgerliche Gesellschaften angewendet werden muß. In vorkapitalistischen Gesellschafteen kann ja wohl kaum die Rede davon sein, daß dort selbstbewußte Subjekte ihren gesellschaftlichen Zusammenhang beherrschen, vielmehr stehen den Menschen Produkte ihres eigenen Handelns (Verwandtschaftssysteme, Religion) als nicht überschreitbare Fetisch-Gewalten gegenüber. Folgt daraus nicht, daß die berühmte Sentenz aus dem Kommunistischen Manifest, dass "alle bisherige Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen" sei, ihrer soziologistischen Hülle entkleidet in der neuen Fassung formuliert werden muß, daß "alle bisherige Geschichte eine Geschichte von Fetischverhältnissen" ist?

(54) Die Problemstellungen haben sich verschoben, der treibende Impuls aber ist noch lange nicht verbraucht. 1986, vielleicht auch noch drei Jahre später; war der gute alte "Materialismus" noch kein Thema. Die Scheinplausibilität des marxistischen Materialismus-Postulats mochte implizit schon angeknackst sein, explizite Auseinandersetzung dazu fehlt his heute. Nach einer intensiven Auseinandersetzung mit "Realabstraktion" und phantasmagorischer Fetisch-Gegenständlichkeit ändert sich die Perspektive, und vom erbitterten alten Gegensatz zwischen "Materialismus" und "Idealismus" bleibt mit der absehbaren Kritik des "Ismus"-Denkens überhaupt nicht mehr sonderlich viel übrig. Das "Bewusstsein" erscheint nicht mehr als Widerpart zum "Sein", sondern immer mehr als dessen notwendiges Moment; die alte Frontstellung zerfällt. Hier stünde die kritische Auseinandersetzung mit unaufgearbeiteten Reflexionssstufen des alten Marxismus (Lukács, Korsch u.a.) an, die dennoch zeitbedingt nicht über den "Materialismus" hinaus bis zur adäquaten Kritik der Fetisch-Konstitution gelangt waren. Ein kurzer Seitenblick auf die Entwicklung der nach-newtonschen Physik führt einem sensibilisierten Bewußtsein die Tiefendimension dieses Problems vor Augen. Genötigt, ein Bekenntnis zum ,,Materialismus" abzulegen oder sich als "Idealist" zu entlarven, wird die KRISIS sich inzwischen wohl mit einer alten Philosophenweisheit behelfen: Es gibt Fragen, die lassen sich nur dadurch beantworten, daß man die Fragestellung verwirft.

(55) Ähnlich wie mit dem "Materialismus" geht es uns inzwischen mit dem Rationalitäts-Begriff. Im Spannungsfeld von moderner Rationalität und "Irrationalismus" seit Aufklärung und Romantik können wir unsere Position nicht mehr verorten, sondern nur in der Kritik auch dieser bürger1ichen Dichotomie. Auch in dieser Hinsicht ist die Auseinandersetzung mit früheren Reflexionsstufen, vor allem der Kritischen Theorie, noch weitgehend zu leisten und explizit zu machen. Die Gewalt der warenförmigen Realabstraktion, die jeden Inhalt als gleichgültiges Material handhabt, findet ihren Widerhall im abstrakt-universalistischen Denken, das die Besonderheit und Eigenheit des Inhalts vornehmlich als empirische Verunreinigung kennt.

Geschlechterverhältnis in der Warengesellschaft - das "Abspaltungstheorem"

(56) Damit sind wir bei jenem Thema angelangt, das die vorliegende Ausgabe der KRISIS hauptsächlich füllt: dem Geschlechterverhältnis der Warengesellschaft. Denn vor allem die modernen bürgerlichen Zuschreibungen auf das ,,Weibliche" sind es, in denen das Verhältnis von Rationalität und Irrationalität der Warengesellschaft verräterisch wird. Nicht umsonst hat gerade der feministische Diskurs der letzten Jahre, weitgehend unbeachtet vorn männlich dominierten Wissenschaftsbetrieb, auf seine Weise die Ansätze einer "Vernunftkritik" in der Kritischen Theorie und in der "postmodernen" Debatte aufgegriffen, wenn auch nicht unbeeinflußt vom neuen affirmativen "Realismus". Dabei blieb aber das Verhältnis von Patriarchats- und Kapitalismuskritik bis heute ungeklärt, und die Problemstellung droht zusammen mit der alten Kapitalismuskritik affirmativ verbunkert zu werden.

(57) Wenn wir uns dieses auch in der feministischen Debatte unaufgearbeiteten Problems annehmen, so keineswegs aus einer besserwisserischen Position heraus und erst recht nicht in glatter Verlängerung unseres bisherigen Theoriebildungsprozesses. Es war uns durchaus nicht klar; daß dieses Thema eben keineswegs bloß ein "Thema" wie alle anderen ist und nur dem bereits entworfenen Raster der allgemeinen "Wertkritik" unterlegt werden müsse. Dies hängt nicht nur mit den auch in der feministischen Debatte wirksamen Defiziten akademischer und marxistischer Theoriebildung zusammen, sondern sicherlich auch damit, daß es sich bei der KRISIS-Redaktion, wen wunderts, his jetzt um eine geschlossene Männer-Anstalt handelt (ein transvestitisches Pseudonym beweist leider nicht das Gegenteil). So mußte nach längerem untergründigen Knuffen und Knurren der Entwurf einer theoretischen Vermittlung in Gestalt des "Abspaltungstheorems" (siehe unten) von weiblicher Seite kritisch an die KRISIS herangetragen werden. Und wie sich herausstellt, wird dadurch der ganze Ansatz grundsätzlich verändert und in ein neues Licht getaucht. Das kann nicht ohne Spannungen abgehen, und dem Gegenstand entsprechend können sich diese Spannungen auch nicht mehr bloß auf die "abgespaltene" theoretische Sphäre beziehen, während die persönlichen Verhältnisse außen vor bleiben. Wieder einmal Neuland also, und von der heikelsten Art. Dabei kann es weder darum gehen, mit "männlichen" Abwehrhaltungen und Ignoranzstrategien zu reagieren. Noch soll umgekehrt der berüchtigte heuchlerische Kotau vor einem "weiblichen" Entwurf bloß deswegen gemacht werden, weil er weiblich ist - der sicherste Weg in die erneute Verdrängung und Ignoranz. Nötig wäre also eine kritische Auseinandersetzung, die sich der Logik des theoretischen Ansatzes selbst stellt und versucht, die Abwehr-Potentiale der eigenen (,,männlichen") Identität mitzureflektieren.

(58) Wenn der an uns herangetragene Entwurf des "Abspaltungstheorems" erst einmal (wenn auch nicht ohne ein gewisses Widerstreben) grundsätzliche Zustimmung gefunden hat, obwohl die Terminologie nach wie vor strittig ist, so nicht zuletzt deswegen, weil damit eine entscheidende Lücke in der "Wertkritik" geschlossen werden könnte. Schon seit langem mußten wir uns mit der immer wieder geäußerten Kritik herumschlagen, wir wollten "alles" aus dem "Wert" (der Warenform) einseitig "ableiten" und ließen ganze Dimensionen von Gesellschaftlichkeit ausgeblendet. Obwohl diese Vorwürfe eigentlich die kritische, negative Analyse der Warenform zu einem positiven "Ableitungstheorem" verkehrten und mißverstanden, legten sie doch unbewusst den Finger auf eine theoretische Wunde. Die Abbügelung fiel deswegen leicht, weil die Intention dieser Anwürfe fast immer der leicht durchschaubare (meistens marxistisch inspirierte) Versuch war; die Zumutungen der "fundamentalen Wertkritik" abzuwehren und auf den alten Gleisen weiterzufahren. Mit dem "Abspaltungstheorem" liegt nun erstmals ein Versuch vor; das Nicht-Waren-förmige in der Warengesellschaft historisch, theoretisch und analytisch zu erfassen, ohne die Kritik der Warenform wieder halbwegs zurückzunehmen und zu verwässern. Diese Kritik wird dadurch vielmehr sogar zugespitzt.

(59) Das "Abspaltungstheorem" setzt einen aus der Psychoanalyse stammenden Begriff quasi "politökonomisch" ein, um die geschlechtliche Besetzung warenförmiger Gesellschaftsverhältnisse zu erklären. Die Welt des scheinbar selbstgenügsamen abstrakten Universalismus der Ware entpuppt sich bei näherem Zusehen als Produkt einer gigantischen Abspaltungsmaschinerie. Hinter der abstrakten Warensubjektivität mit ihrer absurden Tauschrationalität stehen "abgespaltene" Momente von Sinnlichkeit, die in diesem Kosmos keinen Platz haben, ohne die er aber überhaupt nicht existieren kann. Das abstrakte Individuum führt nicht nur eine Doppelexistenz als "citoyen" und als abstrakter Privatmann. Auch diese letztere Existenz fällt noch einmal auseinander in privates Geldinteresse einerseits und in die davon abgetrennte Sphäre der Privatheit im Sinne von "Intimität" ("Liebe" Haushalt, Familie etc.) andererseits. Damit sind wir aber schon beim "Abspaltungsmechanismus" angelangt, bei den Zuschreibungen auf das "Weibliche".

(60) Konnte der Begriff der ,,abstrakten Individualität" wie er in den bisherigen KRISIS-Beiträgen verwendet wurde, als geschlechtsneutrale Kategorie verstanden werden, so erweist sich das jetzt als unhaltbar. Sobald die geschlechtliche Polarität innerhalb der abstrakten Privatheit ins Blickfeld gerät, wird auch die geschlechtsspezifische Besetzung des warenförmigen Individuums unübersehbar. Wo das abgespaltene Sinnliche aber zum "weiblichen" zwangsdefiniert wird, da enthüllt sich auch die abstrakte ratio, ihrem universalistischen Anspruch zum Trotz, als spezifisch "männlich".

(61) In diesen für die KRISIS neuen Problemhorizont stößt also erstmals das "Abspaltungstheorem" von Roswitha Scholz vor, in diesem Heft mit dem Aufsatz "Der Wert ist der Mann"; ein gewiß einigermaßen provokatorischer Titel. Die Autorin stellt dabei zunächst noch sehr knapp den Grundgedanken vor, der hier sozusagen in seiner ersten, noch nicht weiter ausgearbeiteten Rohfassung erscheint. Im folgenden wird versucht, diesen Grundgedanken im historischen Durchgang von antiken Anfängen der Warengesellschaft bis zur Gegenwart darzustellen und dabei die Entwicklung "zugerechneter Weiblichkeit" parallel zu den Durchsetzungsschüben der Warengesellschaft zu skizzieren.

(62) Nicht unbedingt identisch mit dieser Position, aber auch nicht unbeeinflußt von der darüber bereits geführten Debatte, bemühen sich Ernst Lohoff und Norbert Trenkle in den beiden folgenden Beiträgen darum, die im Rahmen der KRISIS bereits formulierte Kritik an den Grundkategorien bürgerlicher Vergesellschaftung für die Analyse des Geschlechterverhältnisses fruchtbar zu machen. Norbert Trenkle schlägt in seinem Beitrag "Differenz und Gleichheit" eine Brücke von der grundsätzlichen Kritik an der Kategorie "Gleichheit" zu den Aporien, in denen sich diese Kategorie in der feministischen Binnendebatte verhakt hat. Ernst Lohoff kritisiert in seinem Beitrag "Sexus und Arbeit" die weitverbreitete Vorstellung, das bürgerliche Geschlechterverhältnis ließe sich vom Begriff der "geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung" her aufrollen, und versucht stattdessen umgekehrt über die "Kritik der Arbeit" einen Zugang für das Verständnis zu eröffnen. In seinem Rückgriff auf die ,,Kritik der Arbeit" unterfüttert er gleichzeitig mit historischem Material diese heftig umstrittene These der KRISIS.

(63) Diese drei Beiträge dienten in ihren ursprünglichen Fassungen als Grundlage zu einem Seminar, das im Januar 1992 von der KRISIS-Redaktion zum Thema "Geschlechterverhältnis" veranstaltet wurde und bereits etliche Folgedebatten ausgelöst hat. Die Texte liegen hier in überarbeiteter Form vor; ein "abgekoppelter" Tell des Seminarbeitrags von Ernst Lohoff, der sich mit der Dichotomie von "Produktion" und "Reproduktion" beschäftigt, soll in einer der nächsten KRISIS-Ausgaben ebenfalls überarbeitet erscheinen.

(64) Im vierten umfangreichen Aufsatz dieses Heftes setzt sich Robert Kurz unter dem Titel "Geschlechtsfetischismus" mit der bisherigen Diskussion kritisch und streckenweise polemisch auseinander. Soweit dabei auf das "Abspaltungstheorem" von Roswitha Scholz Bezug genommen wird, ist die Argumentation mit der Autorin abgesprochen (damit nicht diese positiv den Ansatz aufgreifende "männliche" Interpretation womöglich als Verballhornung verstanden wird). Darüberhinaus geht der Beitrag von Robert Kurz ausführlich auf wesentlich "politökonomische" Implikationen des Abspaltungstheorems ein, vor allem im Hinblick auf den Begriff des Gebrauchswerts und das Problem einer "Gebrauchswertorientierung". Die phänomenologischen Exkurse über geschlechtlichen Narzißmus und bürgerliche Paarbeziehungen im letzten Tell des Aufsatzes werden in ihrem polemischen Gehalt sicher keine ungeteilte Zustimmung finden.

Anmerkungen

(65)

[1] Diese Aufsätze von Peter Klein sind gründlich überarbeitet als Buchpublikation der "Edition krisis" unter dem Titel "Die Illusion von 1917" im Horlemann-Verlag erschienen. Gerade nach dem Ende des "Realsozialismus" dürfte diese Untersuchung nicht allein aus dokumentarischen Gründen interessant sein.

[2] vgl. Rudolf Vierhaus: Zum Problem historischer Krisen, in: Faber/Meier (hg): Historische Prozesse, München 1978, S. 314

[3] Auf diese von der Kritischen Theorie inspirierte Konsequenz scheint der von der Zeitschrift "Kritik und Krise" (ISF Freiburg) vertretene Ansatz hinauszulaufen.

[4] Robert Kurz, Der Kollaps der Modernisierung- Vorn Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie. Das Buch erschien im Herbst 1991 in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek (Eichborn Verlag, Frankfurt/Main). Herausgeberschaft und Verlag mögen manchen Zeitgenossen Überraschung und Ärgernis sein, die in den alten Schützengräben sitzengeblieben sind wie einige japanische Soldaten des 2. Weltkriegs und gar nicht mitbekommen haben, daß dieser Krieg schon vorbei ist. Daß Offenheit für neue Ansätze von Gesellschaftskritik und vorurteilsfreies Urteil nicht unbedingt bei den Resten des alten Linksradikalismus zu finden sein werden, sondern zuerst bei notorischcn Querdenkern aus den unterschiedlichsten Positionen, war zu vermuten. Und es hat sich bestätigt. Vielleicht wird es in Zukunft noch mehr solche Überraschungen geben, die den moralisch gedopten Antikapitalisten Trampermannschen oder Ditfurtschen Zuschnitts den frommen Wunsch entlocken wird, uns möge die Hand verdorren, die "falsche" Hände schüttelt.

(66) Weiter wird's gehen mit dem Teil 2: Über den Theoriebildungsprozesses der Gruppe KRISIS von 1992 bis heute.


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