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1.2. Kritische Psychologie - die Macht der Begriffe

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 13.02.2004
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) Wenn es um Grundbegriffe wie »Lernen« oder »Bedeutung« geht, stellt sich die Frage, woher diese eigentlich kommen und wie sie begründet werden. Es läßt sich feststellen, daß in der traditionellen Psychologie die Entwicklung der Grundbegriffe nicht zur Wissenschaft gehört. Grundbegriffe werden hier weitgehend definitorisch gesetzt, sie stehen damit bei den üblichen Prüfungen von Theorien gar nicht zur Diskussion. Ob z.B. mit dem Begriff »Lernen« menschliches Lernen richtig gefaßt wird, kann gar nicht geklärt werden. Kennzeichnend für die alternative Herangehensweise der Kritischen Psychologie ist, daß sie eine Methode entwickelt hat, mit der sie diese Grundbegriffe wissenschaftlich begründen kann. Diese Grundbegriffe haben Konsequenzen für die Theorienbildung, da in ihnen bereits festgelegt ist, was vom Gegenstand erfahrbar wird.

(2) Um zu diesen Grundbegriffen, die auch Kategorien genannt werden, zu kommen, geht sie von der Annahme aus, daß die Menschen ihre Lebensverhältnisse produzieren und gleichzeitig unter diesen Lebensverhältnissen existieren. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind auf der einen Seite die vorgefundenen Voraussetzungen ihrer individuellen Existenzsicherung, auf der anderen Seite müssen sie durch ihren Beitrag diese Voraussetzungen ihrer individuellen Existenz produzieren und reproduzieren. Dabei hängt es vom Grad und der Art der Organisation der arbeitsteiligen Gesellschaft ab, wie die Form des individuellen Beitrags und die Möglichkeiten zur individuellen Existenzsicherung miteinander in Beziehung stehen. Diese Doppelbeziehung des Menschen zu den gesellschaftlichen Verhältnissen markiert auch den zentralen Unterschied gegenüber Tieren, die sich in ihrer natürlichen Umwelt, die sie nicht produziert haben, am Leben erhalten. Es bleibt also festzuhalten: Der Mensch ist einerseits Schöpfer seiner Lebensbedingungen, andererseits ist er diesen unterworfen.

(3) Demgegenüber besteht das Gemeinsame der Kategorien der traditionellen Psychologie in der Annahme, daß die Menschen nur unter Bedingungen stehen und in ihrem Verhalten unmittelbar von ihren Umweltbedingungen abhängen. A. N. Leontjew hat diese Fixierung als Unmittelbarkeitspostulat bezeichnet. Folglich wird die Abhängigkeit der Menschen von diesen Bedingungen untersucht. Die Produktion und Reproduktion dieser Bedingungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene und die Beteiligung jedes einzelnen Individuums an diesem Prozeß gerät damit jedoch völlig aus dem Blickfeld. Gesellschaft wird damit zwar nicht ausgeblendet, ist aber nur noch als vorgegeben faßbar, der das Individuum unterworfen ist.

(4) Bei der Entwicklung der Grundbegriffe der Kritischen Psychologie war demnach wesentlich, dieses Unmittelbarkeitspostulat zu überwinden, indem die Wechselbeziehung zwischen den Menschen als Produzenten von Lebensbedingungen und einem Individuum, das auch wieder unter von Menschen geschaffenen Bedingungen steht, berücksichtigt wird. Weiter wird davon ausgegangen, daß die Entstehung der gesellschaftlichen Reproduktion mit der Entwicklung der Menschen als Naturwesen im Zusammenhang steht. Der zentrale Ansatz der Kritischen Psychologie bestand darin, die Naturgeschichte des Menschen historisch zu rekonstruieren, da nur so begreifbar wird, weshalb die Menschen ihrer Natur nach fähig und bereit wurden, sich an der gesellschaftlichen Reproduktion zu beteiligen. Bei der Anwendung dieser historischen Methode ließ sich zeigen, daß im Prozeß der Anpassung der Organismen an die Umwelt aus einfachen elementaren Grundformen sich immer differenziertere Formen in Anpassung an immer differenziertere Umweltbedingungen herausbildeten. Diesem Differenzierungsprozeß versuchte die Kritische Psychologie dadurch Rechnung zu tragen, daß sie die in der Psychologie bereits vorhandenen Begriffe (Psychisches, Denken, Wahrnehmung, Emotion, Motivation etc.) so neu durcharbeitete, daß sie die entwicklungslogischen Verhältnisse entsprechend abbildeten. Das bedeutet, daß die allgemeinste Kategorie auch der entwicklungslogisch frühesten Form entspricht. Indem man bspw. herausarbeitet, worin das Besondere des Psychischen gegenüber dem vorpsychischen Leben besteht, gelangt man zu einer allgemeinen Bestimmung des Psychischen. Die historische, der Entwicklungslogik folgende Rekonstruktion diente demnach dazu, ein solches System von Kategorien zu entwickeln, das die Grundformen, Differenzierungen und neuen Qualitäten des Psychischen auf den jeweiligen Entwicklungsstufen bis hin zum Menschen berücksichtigt. Wir wollen diese Vorgehensweise exemplarisch an den im Konnektionismus verwendeten Begriffen »Lernen« und »Bedeutung« aufzeigen.

(5) Die Anwendung von Methoden und Grundbegriffen der Kritischen Psychologie auf ein informatisches Thema ist neu. Anhand des Konnektionismus und der dort zentralen Konzepte »Lernen« und »Bedeutung« wollen wir beispielhaft zeigen, daß diese Anwendung neue und bisher unterbelichtete Erkenntnisse hervorbringen kann, was unseres Erachtens auch Konsequenzen für die Informatik insgesamt hat.


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