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3.4. Bedeutungen und »Neuronale Netze«

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 13.02.2004
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) Nachdem wir aus der Diskussion des Bedeutungsthemas Kriterien für die Analyse von Grundbegriffen der Informatik gewonnen haben, wollen wir diese nun auf den Konnektionismus als Teildisziplin der Informatik anwenden. Dabei greifen wir auf Ergebnisse aus dem zweiten Kapitel zurück, in dem wir den mathematischen Kern des Konnektionismus als Funktionenapproximation bestimmt haben. Am Ende des zweiten Kapitels wiesen wir auf der mathematischen Ebene über eine Aufwandsbetrachtung die Vorstellung zurück, daß die Spezifik des Menschen über die Anzahl der involvierten Neuronen, als dessen Abstraktionen konnektionistische Systeme gelten, erklärbar sei. Wir mußten jedoch die inhaltliche Diskussion der Frage noch zurückstellen, da uns die Kriterien für eine »Vergleichbarkeit« von Menschen und »Neuronalen Netzen« fehlten. Nun, nachdem wir die Kriterien entwickelt haben, müssen wir feststellen, daß ein Vergleich von Menschen und »Neuronalen Netzen« unter Beibehaltung ihrer jeweiligen Spezifik nicht möglich ist. War es bei »Neuronalen Netzen« die Ebene der Mathematik, auf der eine angemessene begriffliche Fassung möglich wurde, so ist beim Menschen die Ebene der gegenständlichen und symbolischen Bedeutungen als Vermittlungsinstanz zwischen Bedingungen und Handlungen nicht unterschreitbar.

(2) Natürlich läßt sich alles vergleichen. Äpfel und Birnen sind Obst und hängen am Baum, und Computer und Menschen bestehen aus Materie. Doch solch ein undifferenzierter und unspezifischer Vergleich ist trivial. Ein Vergleich bringt nur neue Erkenntnisse, wenn die Vergleichsdimension sehr konkret und sehr differenziert ist. Dies ist auch durchaus gemeint, wenn der »clevere Mensch« mit dem noch »nicht so cleveren Computer« verglichen wird, verbunden mit der Frage, woran das liegt. Doch das eben geht nicht. Das ist sprichwörtlich ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen. Der handlungsfähige Mensch schafft sich mit seinen Möglichkeiten Mittel, mit denen er - allgemein gesprochen - für die (Re-) Produktion seines Leben sorgt und vorsorgt. Zu diesen Mitteln gehört auch der Computer. Nun soll ein spezielles Mittel mit seinem Hersteller verglichen werden? Der Computer ist eine Maschine, sicherlich eine besondere. Doch die Computermaschine ist nun doch nicht so besonders, als daß sie keine Maschine mehr wäre. Auch für den Computer gelten die physikalischen Ursache-Wirkungs-Schemata. Für Menschen gelten die auch, aber nur auf der unspezifischen Ebene physikalisch-chemischer Basisprozesse, ohne die der Mensch gleich anderen Lebewesen nicht existieren würde. Die spezifisch-menschliche Ebene ist die der Möglichkeitsbeziehung zu der von ihm hergestellten gegenständlichen und symbolisch-vermittelten Realität. Die Möglichkeitsbeziehung, das Wollen-Können, läßt sich nicht mit Ursache-Wirkungs-Mechanismen erklären.

(3) Ein Vergleich ist nicht sinnvoll möglich. Auf der Bedeutungsebene war es jedoch sehr wohl möglich, das Verhältnis von Menschen und Computern im allgemeinen als BenutzerIn-Werkzeug-Verhältnis zu fassen. Damit ist aus dem Versuch eines undifferenzierten und unspezifischen Vergleichs eine Verhältnisbestimmung geworden, die unserer Auffassung nach dem diskutierten Sachverhalt angemessen Rechnung trägt.

(4) Die im vorhergehenden Abschnitt herausgehobenen und kritisierten Annahmen der Informatik lassen sich nicht umstandslos auf »Neuronale Netze« beziehen. Zunächst müssen einige Besonderheiten des Konnektionismus gegenüber der klassischen Programmierung dargestellt werden. Wir fassen dabei die Beschreibung der Unterschiede im ersten Kapitel zusammen.

(5) Gemeinsam ist klassischen und konnektionistischen Ansätzen die antizipierte Zweckbestimmung des Produkts vor der Herstellung. Den Unterschied zwischen klassischen und konnektionistischen Programmen hatten wir in Kapitel 2. in der Phase der Parameterbestimmung verortet. Bei klassischen Programmen wird ausgehend von der antizipierten Zweckbestimmung die zu realisierende E/A-Relation (und damit alle Programmparameter) schrittweise analytisch-deduktiv, also explizit ermittelt. Demgegenüber werden bei konnektionistischen Programmen die Programmparameter mit Hilfe geeigneter Algorithmen sukzessiv-kumulierend optimiert, wobei die zu realisierende E/A-Relation nicht vollständig, sondern nur »beispielhaft« beschrieben sein muß. Voraussetzung für die Erstellung von klassischen Programmen ist die Vollständigkeit der E/A-Relationenermittlung, bei konnektionistischen Systemen der »Beispielcharakter« der einzelnen E/A-Relationenpaare. »Beispielcharakter« kommt E/A-Relationenpaaren dann zu, wenn sie innerhalb einer festzulegenden Entfernung (vgl. Kap. 2.4.) von der zu realisierenden E/A-Relation liegen, was im Allgemeinen nicht a priori festlegbar oder voraussagbar ist. Nach der Parameterapproximation kann zwar durch Auswertung der Parameter versucht werden, die approximierte Funktion auch mathematisch-analytisch zu fassen, im allgemeinen Fall, insbesondere bei größeren Netzwerken, kann die Übereinstimmung von approximierter Funktion und antizipiertem Zweck nur praktisch-empirisch bestätigt, nicht aber bewiesen werden. Es soll hier nicht erörtert werden, inwieweit dies bei klassischen Programmen gelingen kann, auch nicht, ob dort der antizipierte Zweck vollständig in einer antizipierbaren E/A-Relation aufgehoben/aufhebbar ist, dennoch wird der explizite Zuweisungscharakter von Zeichen zu Ausführungsbedeutungen innerhalb klassischer Programmentwicklung vielfach als Vorteil angesehen. Anders formuliert: Bei der klassischen Programmierung weiß man, was man tut, bei »Neuronalen Netzen« gibt es Bereiche, da weiß man dies nicht. Umgekehrt kann der Vorteil »Neuronale Netze« gerade sein, daß die antizipierte Zweckbestimmung nicht vollständig in eine E/A-Relationenantizipation umgesetzt werden muß. Für »Neuronale Netze« reicht es aus, wenn ungefähr oder beispielhaft E/A-Relationen gefunden werden. Der unscharfe und a-posteriori-Charakter »Neuronaler Netze« ermöglicht zudem eine größere Flexibilität: zum einen schon während des Einsatzes, da die E/A-Relationen nicht nur in die Klassen »zugehörig«/»nicht zugehörig« einteilbar sind, sondern die Zugehörigkeit zur realisierten E/A-Relation als approximierte Funktion nurmehr graduell variiert (von 100% »zugehörig« bis 0% »zugehörig«)[10]. »Neuronale Netze« können anhand »besserer Beispiele« auch jederzeit optimiert und damit auch veränderten Bedingungen angepaßt werden. Letzteres ist dann wiederum automatisierbar, so daß man zu sog. »autoadaptiven« Systemen gelangt.

(6) Die Zuordnungshypothese spielt auf der Ebene der Parameterbestimmung bei »Neuronalen Netzen« keine Rolle[11]. Das damit verbundene Bedeutungsproblem ist demnach einfach zu beantworten. Da der Zweck des zu realisierenden »Neuronalen Netzes« vom/von der HerstellerIn antizipiert wird und sich nur a posteriori in der Praxis nach den Kriterien der AnwenderInnen als erfüllt erweist (auch bei »autoadaptiven« Systemen), ist die Bedeutung des Systems mit der Herstellung gegeben. Diese kann jederzeit modifiziert werden; jedoch wie bei klassischen Programmen ist der intendierte Zweck der Maßstab der Bedeutung, die die Systeme für HerstellerInnen und NutzerInnen haben. Bei »Neuronalen Netzen« gibt es u.E. folglich kein Argument, Bedeutungen ins Innere des Systems zu verlagern. Auch die Tatsache, daß die zur Funktionenapproximation nötigen Beispiel-E/A-Relationen von elektronischen Sensoren stammen können, die scheinbar in der »Umwelt« verankert sind (vgl. Wrobel, 1991, Roth, 1992), ändert daran nichts. Zum einen gibt es für »Neuronale Netze« keine Umwelt, etwa so wie es ein Organismus-Umwelt-Verhältnis gibt[12], zum anderen wiesen wir schon mehrfach darauf hin, daß sich »Bedeutungen« nicht aus figural-qualitativen Momenten bzw. innerhalb einer bloßen Zeichenebene ableiten lassen.

(7) Das Problem der Symbol-Zeichen-Vermischung taucht bei »Neuronalen Netzen« indirekt durch den Vergleich mit klassischen KI-Systemen auf. Dort besteht die Annahme, daß Informationen in »symbolischer« Form im System »repräsentiert« seien, während Repräsentationen in »Neuronalen Netzen« mit dem Attribut »verteilt« oder »subsymbolisch« bedacht werden (vgl. auch Kap. 5.2.). Die Idee der »Verteiltheit« oder »Geteiltheit« von »Symbolen« beinhaltet sowohl die Vorstellung einer Bedeutungszuweisung an die vorher bedeutungslosen »Symbole« (eigentlich also Zeichen), als auch eine bestimmte Auffassung von Syntax und Semantik, nach der die nach der Bedeutungszuweisung bedeutsamen (Sub-)»Symbole« einer »Kompositionalität«[13] im Rahmen einer Syntax unterliegen. Nach unser Auffassung existiert keine »Kompositionalität« auf der Zeichenebene dergestalt, daß von dort aus Bedeutungen (re-) konstruierbar sind. Zeichen sind beliebig durch andere Zeichen oder Zeichenketten ersetzbar, die Zeichenebene kann dabei jedoch nicht überschritten werden. Auf der Bedeutungsebene wiederum, auf der die Art und Form der Transportmedien der Bedeutungen frei bestimmbar sind, die Bedeutungen jedoch nicht durch die Transportmediengestalt, sondern durch die hergestellten Gegenstands- und Symbolbedeutungen konstituiert werden, existiert eine Art »Kompositionalität« in Form der Bedeutungsverweise (vgl. Kap. 3.2.). Die Bedeutungsverweise wiederum lassen sich nicht aus den »Kompositionen« der je konkreten Transportmedien rekonstruieren, da sie nicht durch einen Akt der Zuweisung entstanden sind, sondern sich historisch herausbildeten durch gesellschaftliche Arbeit. So ist die Bedeutung dieses Textes nicht aus der Anordnung der Wörter rekonstruierbar, er erfährt nur dann argumentative Kraft, wenn es gelungen ist, die Bedeutungsverweise anzusprechen, die für den/die LeserIn aus den bisher individuell erfahrenen Bedeutungen erschließbar sind, wobei sich die prinzipielle Möglichkeit der Verständigung aus dem objektiven Charakter der gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen begründet.

(8) Als letzter zu diskutierender Bereich bleibt nun das »Mensch-System-Verhältnis« im Bereich »Neuronaler Netze«. Während wir einerseits auch hier die Gefahr der »System-Akteur-Kontamination« betonen und die Forderung nach der Einhaltung der Zweck- oder Benutzungsperspektive erheben können, fällt es uns andererseits schwer, Kriterien für den Bereich der Erkenntnisgewinnung im Bereich »kognitiver Prozesse« (wo es quasi explizit um eine Art »Innenperspektive« geht) mittels »Neuronaler Netzen« zu entwickeln. Wir hatten in Kapitel 3.2. dargelegt, daß mit dem Tier-Mensch-Übergang aus der Determination der Tiere durch Umweltbedingungen eine Möglichkeitsbeziehung des Menschen zur Welt geworden war. Diese Möglichkeitsbeziehung zur Welt schlägt sich auf individueller Ebene als unhintergehbarer Subjektstandpunkt nieder, d.h. die je unmittelbare Erfahrung darf nicht durch eine abstrahierende mittelbare Erfahrung in Form einer Forschung vom Drittstandpunkt ersetzt werden. Genau um einen solchen Drittstandpunkt-Zugang zu körperlichen Prozessen handelt es sich bei der neurophysiologischen Forschung, die gemeinhin als das biologische Äquivalent zum Konnektionismus angesehen wird. Daraus ergibt sich für uns die These, daß vom neurophysiologischen Forschungsstandpunkt bzw. entsprechenden konnektionistischen Abstraktionen subjektive Erfahrungen nicht zugänglich sind unter Ausklammerung eben dieser Erfahrung. Wie ein Einschluß subjektiver Erfahrungen in ein neurophysiologisches Herangehen aussehen könnte, ist für uns eine völlig offene Frage. Nun ist beim Menschen noch einmal zu unterscheiden zwischen spezifisch-menschlichen psychischen und unspezifisch-menschlichen Prozessen, also solchen Dimensionen, die in der evolutionären Herausbildung der menschlichen Natur bestimmend und solche, die untergeordnet waren. Jedoch auch für solche untergeordneten Prozesse (etwa die Leitfähigkeitsänderungen der Haut) gilt, daß sie menschliche Prozesse sind und als solche in menschlicher Weise mitentwickelt wurden und damit in einem besonderem Verhältnis zu den spezifischen Dimensionen (etwa der Gesellschaftlichkeit des Menschen) stehen. Demnach sind auch unspezifische Dimensionen nicht einfach mit entsprechenden Dimensionen bei Tieren z.B. vergleichbar, solange deren Verhältnis zu den spezifisch-menschlichen Dimensionen ungeklärt ist (vgl. Kap. 5.1.). Eine Herangehensweise, die derlei Differenzierungen außer acht läßt und jegliche Phänomene auf Ursache-Wirkungs-Relationen zurückzuführen versucht, ist in ihren Möglichkeiten nicht nur begrenzt, sondern trägt aktiv mit dazu bei, die verbreitete Vorstellung, daß Menschen ihren Bedingungen bloß unterworfen sind, festzuschreiben.

Fußnoten

(9) [10] Dieses Verhalten konnektionistischer Systeme wird auch als graceful degradation bezeichnet und begründet die Fehlertoleranz im Einsatz. Sie sind darin vergleichbar mit anderen »unscharfen« Verfahren, wie z.B. der fuzzy logic (mehrwertige Logik).

(10) [11] Die Zuordnungshypothese spielt natürlich eine Rolle bei den Metaprogrammen zur Ermittlung der Programmparameter oder Netzwerktopologien (vgl. Kap. 2.3).

(11) [12] Diese Aussage könnte man auch umdrehen: Es gibt ein konnektionistisches System-Umwelt-Verhältnis so wie es ein Hammer-Umwelt-Verhältnis gibt, das aber auf einer unspezifisch stofflichen Ebene angesiedelt ist, bei dem Bedeutungen keine Rolle spielen.

(12) [13] Mit dem Kompositionalitätsprinzip wird angenommen, daß sich die Bedeutung einer komplexen Aussage (Semantik) aus der Zusammensetzung der Bedeutungen ihrer Konstituenten ergibt, wobei die Art der Zusammensetzung Regeln entspricht (Syntax).


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