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4.2. Das Besondere des menschlichen Lernens

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 14.02.2004
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) Wir hatten in Kap. 3.2. dargestellt, wie der Prozeß der eigentlichen Menschwerdung durch den Wechsel von der individuellen Mittelherrichtung und -benutzung zur sozialen Werkzeugherstellung und sozialem Gebrauch von gegenständlichen Werkzeugen eingeleitet wurde (Zweck-Mittel-Umkehrung). Frühe Formen der sozialen Werkzeugherstellung und damit einer kooperativen Produktion von Lebensbedingungen/-mitteln im Sozialverband hatten sich bereits im Tier-Mensch-Übergangsbereich herausgebildet. Da gleichzeitig die Evolutionsgesetze noch voll wirksam und dominant waren, wurden die Fähigkeiten auch in den Genen verankert. Auf diese Weise entstand mit der allmählichen Durchsetzung der gesellschaftlichen Form, das Leben zu re-/produzieren, die gesellschaftliche Natur des Menschen. Menschen sind damit angeborenermaßen dazu in der Lage, durch Teilnahme am gesellschaftlichen Prozeß ihr Leben zu erhalten. Mit der Erreichung der menschlichen Stufe wird die Evolution als Entwicklungsmotor für den Menschen aufgehoben durch die ungleich effizientere und schnellere Weise der gesellschaftlichen Entwicklung. Auch hierin liegt eine Begründung dafür, daß alle Menschen bei Geburt »gleich« sind: Sie besitzen gleichermaßen die Fähigkeit, in die Gesellschaft hineinzuwachsen, um sich und damit die Gesellschaft durch Teilhabe zu erhalten und zu reproduzieren[15].

(2) Die gesellschaftliche Natur des Menschen ist als artspezifisch biologische Potenz die Voraussetzung für seine besondere Art von Lern- und Entwicklungsfähigkeit (vgl. H.-Osterkamp, 1976, Kap. 4.2.2). Bei der Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen waren die Orientierungsbedeutungen sowie der Kontrollbedarf von entscheidender Bedeutung. Im Übergang vom Tier zum Menschen entstand aus den gelernten vorgefundenen Orientierungsbedeutungen die von Menschen geschaffene Welt der Bedeutungen von Arbeitsmitteln und Arbeitsresultaten (in Form von Werkzeugen, Behausungen etc.), an denen sich ihre Handlungen ausrichteten. Parallel dazu entwickelte sich der Kontrollbedarf als Aktivierungsgrundlage der Orientierungsbedeutungen zur Bedürfnisgrundlage für die Beteiligung des Einzelnen an der kooperativ-vorsorgenden Schaffung von Lebensbedingungen. Diesen Veränderungen tragen wir sprachlich Rechnung: Statt Bedarf verwenden wir mit der erreichten Entwicklungsstufe des Menschen den Begriff Bedürfnis, statt Aktivität den Begriff Handlung, und anstelle von Orientierungsbedeutungen sprechen wir von Arbeitsmittelbedeutungen.

(3) Für die primären Bedürfnisse ist ausschlaggebend, daß ihre Befriedigung nicht lediglich über eine Überwindung aktueller Bedrohtheits-, Not- oder Mangelsituationen erreicht werden kann. Nur auf dem Weg einer verallgemeinert-vorsorgenden Absicherung gegenüber solchen Situationen durch die Beteiligung an kooperativer Verfügung über die Befriedigungsquellen ist ein zufriedenstellendes Lebensgefühl erreichbar. Umgekehrt ist nicht eine aktuelle Not- oder Mangelsituation als solche unbefriedigend oder unmenschlich, sondern die Ausgeliefertheit an die entsprechende Situation und eine nicht vorhandene Perspektive der Verfügung über die eigenen Bedingungen zur Überwindung der Not oder des Mangels ist im engeren Sinne des Wortes un-menschlich.

(4) Kehren wir aber zurück zur Chronologie unserer Darstellung. Im Kapitel 3.1. haben wir die Zweck-Mittel-Umkehrung in bezug auf das Bedeutungsthema untersucht. Die Aspekte des Lernens hatten wir ausgeklammert. Sie sollen nun an dieser Stelle dargestellt werden.

Sozialkoordination als Voraussetzung der Zweck-Mittel-Umkehrung

(5) Erste Ansätze zu einer gelernten verallgemeinerten Vorsorge bildeten sich in der Hominidenentwicklung bereits vor der Zweck-Mittel-Umkehrung im Rahmen funktionsteiliger Sozialkoordinationen heraus (Holzkamp, 1983a, 168ff). Innerhalb einer solchen gelernten Funktionsteilung übernehmen verschiedene Mitglieder der Sozietät jeweils nur Teile einer mehrgliedrigen Aktivitätssequenz, so daß das biologisch relevante Gesamtziel nur über die kollektive Realisierung der einzelnen Teilziele erreicht werden kann. Damit gewinnt der Entwicklungszug, der zum autarken Lernen führte, eine neue Qualität: Die Teilaktivitäten einer Aktivitätssequenz sind jetzt nicht mehr nur von je einem einzelnen Tier durch Lernen frei kombinierbar und so auf die Endaktivität hin ausrichtbar, sondern die verschiedenen Abschnitte der Aktivitätssequenz können jetzt auf mehrere Lebewesen verteilt werden. Diese können die gemeinsamen Teilaktivitäten so kombinieren, daß die primär relevante Endaktivität - unter den je besonderen Umweltverhältnissen - in optimaler Weise erreicht werden kann. Ein häufig verwendetes Beispiel ist die Koordination von Jägern und Treibern: Während die Treiber im unmittelbaren Sinne »unfunktional« die Beute von sich weg treiben, erlegen die Jäger die ihnen zugetriebenen Tiere, womit erst die überindividuelle Aktivität (und damit Gesamtfunktion) realisiert ist.

(6) Dies bedeutet aber, daß nicht nur Zusammenhänge zwischen eigenen Aktivitäten, den Mitteln und erreichbaren Effekten, sondern darüber hinaus auch Zusammenhänge zwischen der eigenen und den Aktivitäten anderer, also überindividuelle Aktivitätsstrukturen speicherbar, sekundär zu automatisierbar und im kollektiven Aktivitätskontext abrufbar sein müssen. Im Zusammenhang damit gewinnt der soziale Aspekt des Kontrollbedarfs eine neue Dimension. Im Rahmen der überindividuellen Aktivitätssequenz kann dieser Bedarf nun nicht mehr durch individuelle Aktivitäten reduziert werden, sondern kann nur noch durch die erreichte kollektive Kontrolle befriedigt werden. Entsprechend bildet sich eine in diesem sozialen Kontrollbedarf verankerte soziale Motivation heraus, bei der der Erfolg der individuellen Aktivität daran gemessen wird, wieweit sie zum Gesamterfolg der kollektiven Aktivitäten beiträgt. Mit der Herausbildung einer sozialen Motivation verändert sich schließlich auch das Verhältnis zwischen Kontrollbedarf und den primären Bedarfsdimensionen. Die primäre Bedarfsbefriedigung steht nun am Ende der kollektiven Aktivitätssequenz, und nicht am Ende der individuellen. Es kommt folglich auch zu einer Verselbständigung des sozialen Kontrollbedarfs gegenüber den primären Bedarfsdimensionen, da das Tier nun nicht lediglich durch die Antizipation der primären Bedarfsbefriedigung, sondern bereits durch die Antizipation des Erfolgs der eigenen Aktivität als Beitrag zum kollektiven Aktivitätserfolg, zur Aktivitätsausführung »motiviert« ist.

(7) Im Zuge dieser Verselbständigung sind die primären Bedarfsspannungen mehr und mehr in kollektive Aktivitäten einbezogen, womit ihre Befriedigung zunehmend kollektiv-vorsorgend gegenüber »lebensbedrohenden« Situationen organisiert wird. Diese funktionsteilige Koordination von Aktivitäten zur verallgemeinerten Vorsorge ist die notwendige Voraussetzung für die Zweck-Mittel-Umkehrung, die den Prozeß der Umformung von bloß naturwüchsiger Sozialkoordination zur kooperativ-gesellschaftlichen Arbeitsteilung einleitet.

(8) Die verallgemeinerten Zwecke, denen die hergestellten Werkzeuge dienen, sind von vornherein Zwecke der kollektiven Vorsorge zur Verringerung der Gefahr künftiger Bedrohtheits-, Not- oder Mangelzustände der Sozietät.

(9) Die gelernten Orientierungsbedeutungen verweisen den Organismus nicht mehr über mehrere Zwischenstufen zu dem Ort primärer Bedarfsbefriedigung. Durch die Veränderung der Orientierungsbedeutungen zu Arbeitsmittelbedeutungen wird auf die Umstände verwiesen, unter denen für die primäre Bedarfsbefriedigung in verallgemeinerter Weise vorgesorgt ist. Die Neuheit und Offenheit der Umweltbeziehungen werden nun nicht mehr durch individuelle Explorations- und Lernaktivitäten reduziert, sondern nach der Zweck-Mittel-Umkehrung dadurch, daß verallgemeinerte Lebensbedingungen kooperativ geschaffen werden. Ebenso entwickelt sich auch die Fähigkeit zum individuellen Lernen von Orientierungsbedeutungen in Richtung auf die Fähigkeit zum individuellen Lernen von verallgemeinerten Brauchbarkeiten, die durch den Herstellungsprozeß in den Arbeitsmitteln vergegenständlicht sind, weiter. Dies ist die Voraussetzung für die individuelle Orientierung innerhalb eines gegenständlich-sozialen Lebenszusammenhangs.

(10) Gleichzeitig ändern sich damit die sozialen Orientierungsbedeutungen. Da die Individuen bei der Herstellung oder dem Gebrauch von Arbeitsmitteln wechselseitig aufeinander bezogen sind, haben die Aktivitäten des anderen nicht mehr die gelernte Bedeutung als »dieser spezielle Artgenosse«, sondern der andere gewinnt die Bedeutung als »Kooperationspartner« zur gemeinsamen vorsorgenden Lebensmittelproduktion. Die entstehende Fähigkeit zum individuellen Lernen von Arbeitsmittelbedeutungen muß demnach auch die Möglichkeit einschließen, die Bedeutung mittelbezogener Aktivitäten der anderen zu lernen. Man darf auf dieser Entwicklungsstufe jedoch nicht davon ausgehen, daß der Zusammenhang zwischen der Beteiligung an kooperativer Lebensgewinnung und individueller Existenzsicherung/Primärbefriedigung von Anfang an bewußt war. Der Beitrag zur Beteiligung an den neuen Lebensgewinnungsformen war deshalb vor aller Einsicht garantiert, weil die Bereitschaft hierzu zunächst noch in der natürlich-gesellschaftlichen Antriebs- und Bedürfnisgrundlage des Einzelnen verankert war.

(11) Mit dem autarken Lernen verschwinden die subsidiären Lernformen keineswegs - sie sind jeweils nur auf unterschiedliche Bereiche bezogen. Während sich autarkes Lernen auf dieser Entwicklungsstufe (gesellschaftlich-kooperatives Niveau der Hominiden) auf gegenständlich-soziale Bedeutungszusammenhänge bezieht, bleibt subsidiäres Lernen auf den Primärbereich bezogen, auf die Sexualität und die unmittelbare Lebenserhaltung (Nahrungsaufnahme etc.).

Differenzierung psychischer Funktionen in der Menschwerdung

(12) Auf kognitiver Ebene werden im Zusammenhang dieser Entwicklungen aus den beschriebenen subhumanen Möglichkeiten, individuell Zusammenhänge zu erfassen und Ereignisse zu antizipieren, menschliche Möglichkeiten gelernter überindividueller Antizipation von Verläufen und Resultaten gesellschaftlicher Lebensprozesse. Dabei werden nicht mehr nur einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge kognitiv abgebildet, sondern Zusammenhänge zwischen eigenen eingreifend-operativen Aktivitäten und den durch sie hervorgerufenen gegenständlich-sozialen Ursachen bzw. Wirkungen. Diese Zusammenhänge bezeichnen wir als Aktivitäts-Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Gesellschaftliche Prozesse sind damit nicht nach dem bloß physikalisch-mechanistischen Ursache-Wirkungs-Schema beschreibbar (vgl. Kap. 3.3., S._).

(13) Im Zuge des gleichen Entwicklungsprozesses vermenschlichen sich auch die Emotionen und die Motivation. Es werden nicht mehr nur Informationen aus der natürlichen Umwelt am Maßstab ihrer Bedeutung für den Zustand des Organismus gewertet und zusammengefaßt. Vielmehr wertet das Individuum die verschiedenen Teilmomente des Zusammenhangs zwischen Naturauseinandersetzung, kooperativer Organisation individueller Beiträge zur gemeinschaftlichen Lebenssicherung und individuell-vorsorgender Existenzerhaltung am Maßstab seines emotionalen Zustands. Die Motivation entstand als emotionales Regulativ des autarken Erkundungslernens. Durch eine gelernte Antizipation zukünftig erreichbarer befriedigender Zustände wird die Aktivität angeleitet. In der gelernten Antizipation liegt damit der

"erste Ansatz zum Auseinandertreten von auf Gegenwärtiges und auf Repräsentiertes (»Vergegenwärtigtes«) bezogener Orientierung in Richtung auf die Ausdifferenzierung von »Wahrnehmen« und »Denken« " (ebd., S. 261).

(14) Vor der Zweck-Mittel-Umkehrung wurden bei motivierten Aktivitäten jeweils individuell zu erreichende befriedigendere Situationen antizipiert. Auf der Ebene der Sozialkoordination bezogen sich die motivierten Antizipationen auf den jeweiligen Gesamterfolg sozial koordinierter Aktivitäten. Auf menschlicher Stufe stellt die Motivation den emotionalen Aspekt des Denkens dar, wobei es darum geht, durch den eigenen Handlungsbeitrag in der Gesellschaft eine Erweiterung der eigenen vorsorgenden Daseinssicherung, damit eine höhere menschliche Qualität der Bedürfnisbefriedigung, zu erreichen.

Zusammenfassung

(15) Bei unserer bisherigen Darstellung der Entwicklung des Lernens zeigte sich, daß der Begriff der Antizipation ein Schlüsselbegriff ist. Mit der Herausbildung der gelernten Antizipation innerhalb der individuellen Aktivitätssequenz bei autarken Lernprozessen begann im Zuge der entstehenden gesellschaftlichen Natur des Menschen eine Entwicklung, die zur Ausdifferenzierung von Denken und Wahrnehmung führte. Wir hatten dann hervorgehoben, daß sich auf der Stufe der Sozialkoordination ein Übergang von der gelernten Antizipation zukünftiger Situationen/Aktivitäten innerhalb individueller Aktivitätssequenzen zur gelernten Antizipation zukünftiger Ereignisse/Aktivitäten innerhalb überindividueller Aktivitätssequenzen herausbildete. Dabei wurde deutlich, daß die individuelle Orientierung und Aktivität (beim Jäger-Treiber-Beispiel etwa beim Treiben) ein unselbständiger Teilprozeß der kollektiv organisierten Gesamtaktivität (etwa des gemeinsamen Jagens) ist. Nach der Zweck-Mittel-Umkehrung, im Maße also, wie durch den Einsatz von Arbeitsmitteln kooperativ-vorsorgende Strukturen der Lebensgewinnung (als Frühformen gesellschaftlicher Arbeit) entstanden, verlieren diese überindividuellen Antizipationen ihren Ad-hoc-Charakter. Aufgrund des kollektiven Zukunftsbezugs, der in der verallgemeinerten Vorsorge liegt, bestimmen sie zunehmend die Organisation der Lebenserhaltung, da in den kooperativen Bedeutungsstrukturen selbst in verallgemeinerter Weise festgelegt ist, was zu welcher Zeit auf welche Weise von den Mitgliedern der Gesellungseinheit getan werden muß, damit für die Existenzsicherung jedes Einzelnen unter den jeweils konkreten Verhältnissen vorgesorgt ist.

(16) Da Arbeitsmittel bzw. Lebensbedingungen eine zentrale Bedeutung für die kooperative Existenzsicherung gewinnen, muß sich das Individuum den verallgemeinerten Gebrauchszweck, der mit der Herstellung des Produkts beabsichtigt war, im Handlungszusammenhang aneignen. Herstellung und Nutzung setzen die individuelle Aneignung des vergegenständlichten Wissens voraus. Nur so kann das Individuum seine erworbenen Fähigkeiten in die (Re-) Produktion des Lebens einbringen bzw. der eigenen Existenzsicherung dienen. In dieser Aneignungsfähigkeit hat die biologische Entwicklungspotenz des konkreten Individuums das menschliche Niveau der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit erreicht (H.-Osterkamp, 1975, 330). Sie umschließt neben der Erfassung gegenständlich-sozialer Bedeutungszusammenhänge auch die Fähigkeit zu symbolischer Kommunikation[16]. Der Widerspruch zwischen Festgelegtheit und Modifikabilität wurde auf dieser Stufe der Aneignungsfähigkeit in der vom Menschen geschaffenen gesellschaftlichen Realität, ihren gegenständlichen und symbolischen Bedeutungen, aufgehoben. Das Individuum kann nun aufgrund seiner Natur die Grenzen individueller Modifikabilität auf tierischem Niveau überwinden und durch die Aneignung seine Entwicklungsmöglichkeiten in den gesellschaftlich-historischen Prozeß hinein realisieren - in potentiell unbeschränkter Weise.

Lernen aus Sicht der Subjektwissenschaft

(17) Wir haben die Entwicklung tierischer Lernfähigkeit zur menschlichen Lern- und Entwicklungsfähigkeit als Teil der Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen historisch nachgezeichnet. Dabei bestand ein Zusammenhang zwischen der sich durchsetzenden neuen Form der (Re-) Produktion des Lebens und der Herausbildung menschlicher Lernfähigkeit. So wurde deutlich, daß die sich herausbildende biologische Fähigkeit zum Lernen gegenständlich-sozialer Zusammenhänge eine psychische Voraussetzung für das Leben im gesellschaftlichen Rahmen darstellt und nur dem Menschen zukommt. Wir wollen nun dieses Lernen als Zugang des Individuums zur sachlich-sozialen Welt gesellschaftlicher Bedeutungen verständlich machen. Wir werden deshalb im folgenden die von der Kritischen Psychologie entwickelten subjektwissenschaftlichen Konzepte des Lernens mit Bezug auf solche gesellschaftlichen Bedeutungen als mögliche Lerngegenstände darstellen. Wir verweisen auf eine ausführliche Darstellung in "Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung" (Holzkamp, 1993).

(18) Wie schon im 3. Kapitel, so rückt auch hier der Subjektstandpunkt als entscheidendes analytisches Kriterium in den Vordergrund. Warum ist der Subjektstandpunkt so entscheidend für unsere Analyse des Konnektionismus, der sich mit einem doch mehr oder weniger technischen Sachverhalt beschäftigt?

(19) Genau mit eben diesem technischen Sachverhalt sollen, so der Anspruch, menschliche Fähigkeiten modelliert werden, um bisher nicht realisierte Leistungen in Hard- oder Software zu erreichen (z.B. die »Lernfähigkeit«). Technische Sachverhalte lassen sich als Ursache-Wirkungs-Ketten oder als Eingabe-Ausgabe-Relationen, wie wir dies für die Informatik faßten, darstellen. Die Natur der technischen Dinge ist die der kausal-determinierten Relationen, sie sind mit ihren abstrakten Fassungen als Naturgesetze abbildbar. Die Natur des Menschen, so argumentierten wir, ist gesellschaftlich. In der Bezeichnung gesellschaftliche Natur liegt nun, wie schon deutlich geworden sein sollte, kein sprachlicher Trick, sondern sie faßt begrifflich die Tatsache, daß sich Menschen qua biologischer Potenz durch Beteiligung an der gesellschaftlichen Lebenserhaltung reproduzieren und damit die gesellschaftliche Form selbst. Durch biologische Potenz zur Gesellschaftlichkeit fähig zu sein, kommt nur den Menschen zu. Die Beteiligung der Individuen an der gesellschaftlichen Lebenserhaltung und -schaffung ist nach unseren vorhergehenden Ausführungen nun nicht als Ursache-Wirkungs-Kette sinnvoll abbildbar, da der Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Form und der individuellen Beteiligung an dieser Form nicht der einer Determination der Individuen durch die Verhältnisse ist. Vielmehr bildet der gesellschaftliche Rahmen einen Raum von Möglichkeiten, zu welchem sich die Individuen bewußt verhalten können. Damit sind individuelle Handlungen als unmittelbare Wirkung der Verhältnisse nicht mehr angemessen theoretisch abgebildet. Gleichwohl stellt der gesellschaftliche Möglichkeitsraum die Ausgangsbedingungen dar, zu denen sich die Individuen verhalten müssen, wollen sie Möglichkeiten ergreifen oder erweitern.

(20) Die theoretisch-analytische Fassung des Verhältnisses zwischen Bedingungen und Möglichkeiten menschlichen Handelns erfordert, da vom Standpunkt dritter Person ("von außen") nicht angemessen darstellbar, einen neuen Standpunkt, den Standpunkt erster Person oder Subjektstandpunkt. Die von uns dargestellten und zu entwickelnden subjektwissenschaftlichen Kategorien bilden das analytische Werkzeug, mit dem das Subjekt sich wissenschaftlich Zugang zu sich und zur Welt verschaffen kann. Es geht also um »mich« als verallgemeinertem »ich«. Verallgemeinerung und Subjektstandpunkt sind demnach kein Widerspruch, sie sind notwendiges Herangehen bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Bedeutungen und Handlungen (Kap. 3.) und eines angemessenen Lernkonzepts. Wir werden, wie schon ansatzweise im 3. Kapitel, unsere Schreibweise deutlich auf den Subjektstandpunkt zuschneiden, also im folgenden in der Regel vom verallgemeinerten »ich« schreiben. Wenn wir Beispiele verwenden, also vom verallgemeinerten »ich« zum konkreten »ich« wechseln, so bilden diese nicht das theoretische Konzept des dargestellten Sachverhalts selbst, sondern sie sind nur Illustrationen und Veranschaulichungen des vorher theoretisch Gefaßten. Beispiele, die wir zur Veranschaulichung verwenden, sind folglich auch nicht durch Gegenbeispiele entkräftbar (etwa: "Ich kenne da einen, der macht das genau umgekehrt".), andere Beispiele verweisen ggf. auf andere Gründe, denn, da alle Handlungen begründet sind, sind immer auch andere Handlungsbeispiele denkbar[17].

(21) Ausgangspunkt der subjektwissenschaftlichen Lernkonzeption, die das Lernen vom Subjektstandpunkt als »meine« Problematik entwickelt, sind typische Lernproblematiken als besondere Handlungsproblematiken. Ausgangspunkt ist die Überlegung, daß das Subjekt entsprechende Gründe haben muß, wenn es zum Lernen kommen soll. Wir werden demnach zunächst den Ansatz der typischen Lernproblematiken darstellen. Daran anschließend werden wir der Frage nachgehen, wie denn die Entstehung und Überwindung einer Lernproblematik angemessen beschrieben werden kann und wollen in diesem Zusammenhang das Verhältnis von inhaltlichem und operativem Aspekt der Bewältigung von Lernproblematiken diskutieren.

Das Konzept subjektiver Lernproblematiken

(22) Eine Handlungsproblematik entsteht dann, wenn ich, da mein Handeln ja begründet ist, in einer problematischen Situation »gute Gründe« habe, in einer bestimmten Weise zu handeln, andererseits aber die Problemsituation genau auf die Weise des Handelns nicht bewältigen kann. Trägt diese individuelle Problematik verallgemeinerbare Züge, so sprechen wir von typischen Handlungsproblematiken. Typisch meint hierbei nicht »Menschentypen«, sondern immer nur typische Lebenssituationen. Typische Handlungsproblematiken werden nur unter bestimmten Voraussetzungen zu typischen Lernproblematiken. Eine Lernproblematik ist dann gegeben, wenn mir die Bewältigung der Handlungsproblematik im Zuge des jeweiligen Handlungsablaufs aufgrund bestimmter Behinderungen, Widersprüche etc. nicht möglich erscheint, ich aber »gute Gründe« für die Annahme habe, daß ich durch einen Lernfortschritt diese Behinderungen, Widersprüche etc., die mich noch an der Überwindung der Handlungsproblematik gehindert haben, bewältigen kann. Wir sprechen hierbei von einer Lernintention: ich habe gute Gründe für die Annahme, daß ich durch Lernen weiterkomme und meine Schwierigkeiten überwinde. Wenn wir von Lernintention reden, meinen wir nicht das »Mitlernen«, das mehr oder weniger bei der Überwindung jeder Handlungsproblematik eine Rolle spielt, sondern intentionales Lernen, also Lernen, das auf die Überwindung der o.g. Behinderungen etc. gerichtet ist. Die Lernintention schließt dabei mit ein, daß das Erworbene nicht gleich wieder verloren geht.

(23) Das Individuum versucht also, in einer Art »Lernschleife« Schwierigkeiten beizukommen, die im primären Handlungsverlauf nicht überwindbar sind, um auf diese Weise die Voraussetzungen zur Bewältigung der entsprechenden Handlungsproblematik zu schaffen. Für die Dauer dieser »Lernschleife« würde die ursprüngliche Handlungsproblematik zu einer Bezugshandlung für die Lernhandlung. Die Bezugshandlungen sind den Lernhandlungen übergeordnet, sie bilden den Ausgangspunkt für den Grund zu lernen. Die Art und Weise der Lernhandlung, die das Individuum wählt, um sich im Lernen den Bezugshandlungen anzunähern, wird als Lernprinzip bezeichnet. Es zeichnet sich durch seinen inhaltlichen Bezug auf die Bedeutungsstruktur der übergeordneten Bezugshandlung aus. Wir wollen dies an folgenden Beispielen deutlich machen: Das Lernprinzip »erst-langsam-üben« ergibt sich aus der Bedeutungsstruktur des »Querflöte-Spielens«. Um die Bedeutungsstruktur »Skispringen« umzusetzen (also den Sprung selbst durchzuführen), wäre »langsam-Üben« ein ungeeignetes Lernprinzip. Es muß mir also klar sein, daß die Bezugshandlung »Querflöte-Spielen« etwa als Lernprinzip »langsam-Üben« erfordert, ehe ich, um mich dieser Bezugshandlung optimal anzunähern, meine Übungspraxis entsprechend organisiere. Entsprechend muß ich den Absprung von der Schanze zeitgenau treffen, und darauf meine Übungspraxis ausrichten, um den Skiflug durchführen zu können.

(24) Wie kann nun verständlich werden, daß ein Subjekt von seinem Standpunkt aus Gründe haben kann, sich sachlich-soziale Bedeutungszusammenhänge lernend anzueignen? Zunächst ist klar, daß die Überwindung einer vorhandenen Beschränkung eine bestimmte Organisation und Planung des Lernhandelns erfordert. Um diese Überwindung theoretisch zu begreifen, reicht es jedoch nicht, lediglich diese Planungsebene begrifflich genauer zu fassen. Damit würde nämlich nur der sekundär-regulatorische Lernaspekt, nicht aber der primär-bedeutungsbezogene Lernaspekt theoretisch berücksichtigt. Was meinen wir damit? Um den Unterschied darstellen zu können, ist es zunächst notwendig, den Unterschied zwischen inhaltlich-bedeutungsbezogener Handlung und ausführungsbezogener Operation zu erläutern.

Handlung und Operation

(25) Für die höchsten vormenschlichen Entwicklungsstufen war die individuell-antizipatorische Aktivitätsregulation an Beschaffenheiten der Umwelt charakteristisch. Mit der gesellschaftlich-historischen Entwicklung und der Herausbildung von gesamtgesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen einschließlich ihrer symbolischen Aspekte und darin liegenden Denkformen wird diese Art der Aktivitätsregulation zunehmend zum unselbständigen operativen Teilmoment menschlicher Handlungen. Wie ist das zu verstehen? Unser begrifflicher Wechsel von Aktivitäten zu Handlungen beim Übergang von der tierisch-evolutionären zur menschlich-gesellschaftlichen Entwicklung war nicht nur plakativer Natur. Menschliche Handlungen sind auf die individuelle Beteiligung an überindividuellen, kooperativ-gesellschaftlichen Aktivitäten zur (Re-) Produktion des Lebens bezogen. Die individuelle Existenz erhalten Menschen nur vermittels der Möglichkeiten der gesamten Gesellschaft, an der sie teilhaben. Auf dieser Ebene der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit der individuellen Existenz sind die Handlungen auf die Aneignung bzw. Veränderung gesellschaftlicher Handlungs- und Denkmöglichkeiten gerichtet. Eine inhaltlich so beschriebene Handlung kann nicht mehr auf der Ebene bloß individuell-antizipatorischer Planung und Regulation erklärt werden. Dennoch gibt es natürlich nach wie vor Aktivitäten, die nach dem Muster der individuell-antizipatorischer Regulation beschreibbar sind. Solche Aktivitäten nennen wir Operationen. Operationen sind auf die konkrete Ausführung der Aktivität gerichtet, die durch den generellen Handlungsrahmen bestimmt wird. Operationen sind somit sekundärer Aspekt der Handlungen (Holzkamp, 1983a, 251ff, 269ff, 307ff).

(26) Nun wird es Zeit für ein Beispiel: der Bau eines Hauses. Ein Hausbau wäre nicht erklärbar, würde man versuchen, nur die dafür notwendigen Operationen zu erklären (etwa: wie ein Stein auf dem anderen mit Mörtel verbunden wird, wie ein Nagel eingeschlagen wird etc.). Bestimmt wird der Hausbau durch die Nutzung gesellschaftlich hergestellter Möglichkeiten: der Baustoffe, der Werkzeuge, der Hausbauerkenntnisse in schriftlicher oder personeller Form etc.

(27) Selbst wenn ein Mensch alle Operationen selbst planen und durchführen würde, und selbst wenn dieser nicht gesellschaftlich hergestellte Dinge, sondern nur vorgefundene »Naturstoffe« verwenden würde, so blieben alle Operationen doch eingebettet in die gesellschaftlich bestehende Handlungsstruktur und die damit verbundenen Bedeutungszusammenhänge des Hausbaus. Hausbau gibt es nur, weil es allgemein Hausbauen in der Gesellschaft gibt - mit allen Bedeutungen, die daran hängen. Die einzelnen Verrichtungen oder Operationen beim Hausbau werden durch den allgemeinen Handlungsrahmen bestimmt. Der Hausbau als Handlung nutzt und richtet sich auf die gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen und ist damit nicht reduzierbar auf eine Ansammlung konkreter individuell regulierter Operationen.

Expansives und defensives Lernen

(28) Wie jede Handlung hat auch das Lernen zwei Aspekte. Die individuell-antizipatorische lernende Aktivitätsregulation wird als operativer Lernaspekt bezeichnet, der inhaltlich-bedeutungsbezogene Aspekt wird thematischer Lernaspekt genannt. Die Gründe, sich sachlich-soziale Bedeutungszusammenhänge lernend anzueignen, bezeichnen wir als thematische Lernbegründungen, aus denen sich die operativ-regulatorischen Lerngründe ableiten (Holzkamp, 1993, 189f). Solche thematischen Lernbegründungen sind in den subjektiven Lebensinteressen der Individuen, Verfügung über ihre individuell relevanten gesellschaftlichen Lebensbedingungen zu gewinnen bzw. zu bewahren, verankert. Die Qualität thematischer Lernbegründungen hängt folglich davon ab, wieweit ich, indem ich mir diese Bedeutungszusammenhänge aneigne, die lernende Erweiterung meiner Verfügung über die Lebensbedingungen oder nur die durch Lernen zu erreichende Abwendung von deren Beeinträchtigung antizipieren kann. Dies bedeutet: Sofern vom Subjektstandpunkt eine Lernhandlung aus der damit zu erreichenden Erweiterung eigener Verfügung begründet und motiviert realisierbar ist, muß das Individuum angesichts einer bestimmten Lernproblematik den Zusammenhang zwischen Lernen, Verfügungserweiterung und damit erhöhter Lebensqualität unmittelbar erfahren bzw. antizipieren. Lernmotivation ist demnach der Inbegriff von Lerngründen. Lernhandlungen, soweit sie motivational begründet sind, werden als expansiv bezeichnet (Holzkamp, 1993, 190). Die Verfügungserweiterung ist demnach mit dem inhaltlichen Zugang zum Lerngegenstand untrennbar verbunden.

(29) Demgegenüber gibt es Lerngründe, die eher defensiver Natur sind. Das Individuum kann nämlich angesichts einer gegebenen Lernproblematik auch dann Gründe für die Realisierung von Lernhandlungen haben, wenn zwar die Voraussetzungen für eine Verfügungserweiterung fehlen, ihm aber, würde es Lernen unterlassen oder verweigern, eine Beeinträchtigung seiner bisherigen Verfügung droht. Bei defensiv begründetem Lernen geht es primär darum, den drohenden Verlust der bisherigen Verfügung bzw. erreichten Lebensqualität mittels Lernen abzuwenden. Die dominante Intention ist hier also nicht die Überwindung der Lernproblematik, sondern nur die Bewältigung einer primären Handlungsproblematik. Wer kennt nicht die Situation, in der es vor allem darum geht, durch Lernen eine Prüfung zu bestehen, indem man die Prüfungssituation bloß bewältigt und »Lernerfolge« gegenüber den entsprechenden Kontrollinstanzen abrechnet oder wenigstens vortäuscht? Solche Art von defensiv begründetem Lernen wird oft mit Lernen überhaupt gleichgesetzt.

(30) Gegenständliche Bedeutungen sind - wie in Kapitel 3. dargestellt - vom Menschen geschaffen und stehen dem jeweils einzelnen Subjekt als Handlungsmöglichkeiten gegenüber, die es als seine Möglichkeiten nutzen kann oder auch nicht. Die Nutzung der gesellschaftlich geschaffenen Bedeutungen schließt Lernen ein. Will ich mir das vergegenständlichte Wissen erschließen oder die Gebrauchsbedeutung nutzen, so muß ich den Gegenstand oder die Sache zum Lerngegenstand machen. Klar ist, daß das Lernen niemals angesichts eines speziellen Lerngegenstands erst beginnt, sondern stets schon bestimmte Prozesse des Vorlernens vorausgesetzt sind, da der Lerngegenstand vielfältige Bedeutungsverweisungen zu anderen potentiellen Lerngegenständen besitzt. Würde ich mich von keiner dieser Verweisungen dem neuen Gegenstand nähern können, so könnte ich mir den neuen Gegenstand nicht lernend aneignen. Jede aktuelle Bedeutungseinheit steht in einem bestimmten Verhältnis zu den schon vorgelernten Bedeutungszusammenhängen.

(31) Wie entsteht nun eine Lernproblematik? Wie wird ein Ding mein Ding, das ich mir lernend erschließen möchte? Mehrere Voraussetzungen müssen gegeben sein. Zunächst muß es etwas zu lernen geben, d.h. es muß objektiv eine Diskrepanz zwischen dem Stand des Vorgelernten und dem Lerngegenstand bestehen. Ich muß merken, daß ich über den jeweiligen Gegenstand mehr lernen kann, als ich bereits jetzt schon weiß. Allerdings ist der Stand des Vorgelernten noch keine hinreichende Bedingung für das Entstehen einer Lernproblematik. Vielmehr muß ich die erreichten Erfahrungen und Kenntnisse mit und über den Gegenstand auch als unzulänglich erfahren, ich muß unzufrieden werden. Weiterhin muß ich, in dem ich für mich die Prämissen meiner Befindlichkeit aufkläre, die Gewißheit erlangen, daß ich durch Lernen weiterkomme, daß ich durch Lernen die Beschränkung meiner Lebens -und Verfügungsmöglichkeiten überwinden kann.

Qualitative Lernsprünge

(32) Bestimmte Lernproblematiken können durch kontinuierliche Lernfortschritte überwunden werden, andere erfordern dagegen qualitative Lernsprünge. Ein qualitativer Sprung ist dann notwendig, wenn mit dem bisherigen Lernprinzip das Lernziel nicht erreichbar ist. Geändert wird hierbei also nicht die Intensität, sondern die Art des Herangehens an den Lerngegenstand. Es ist klar, daß qualitative Lernsprünge nicht bei allen Gegenständen erforderlich sind. Lerngegenstände, deren Bedeutungsstrukturen »auf der Hand« liegen, die kaum vermittelte Ebenen von Bedeutungsverweisungen besitzen, die also - wie wir sagen wollen - flach sind, erfordern seltener qualitative Lernsprünge als Lerngegenstände, die eine bestimmte Tiefe besitzen. So kann ich mir den Lerngegenstand der Relativitätstheorie mit meinem bisherigen Herangehen an physikalische Prozesse, das auf der Newton'schen Mechanik beruht, nicht erschließen. Ich muß hier das Lernprinzip ändern, muß bestimmte vorgelernte Kategorien infrage stellen, um mich dem neuen Lerngegenstand öffnen zu können. Die Perspektive der Überwindung der Lerndiskrepanz besteht demnach nicht mehr nur darin, einen Lernfortschritt zu erzielen, sondern ein neues Lernprinzip zu gewinnen. Wird mir dies bei der Annäherung an den Lerngegenstand klar, so erfahre ich nicht nur die Diskrepanz zum Lerngegenstand, sondern erlebe auch eine Art Diskrepanz höherer Ordnung gegenüber meinem bisherigen Herangehen. Der qualitative Lernsprung ist dann vollzogen, wenn ich das alte Lernprinzip überwinde und mir ein neues erschließe, mit dem ich tatsächlich in die Tiefenstruktur der Bedeutungen eindringen kann, die mir bisher verschlossen waren.

(33) Von zentraler Bedeutung für unsere spätere Auseinandersetzung mit Lernkonzeptionen im Umfeld des Konnektionismus ist der Umstand, daß nur ich als Subjekt - und kein irgendwie geartetes System - Lernsprünge mache, weil ich beim Versuch, eine Lernproblematik zu überwinden, »gute Gründe« habe, ein höheres Niveau des lernenden Zugangs zum Gegenstand zu erreichen. Ein neues Lernprinzip zu gewinnen, ist dabei jedoch nur soweit möglich, wie schon zu Beginn die Perspektive ihrer expansiv begründeten Überwindbarkeit gegeben ist.

(34) Bei defensiv begründetem Lernen tritt dagegen, da es auf die Bedrohungsabwehr beschränkt ist und die Bewältigung einer primären Handlungsproblematik im Vordergrund steht, der Zusammenhang zwischen Verfügungserweiterung und lernendem Weltaufschluß in den Hintergrund, so daß die Beschränkung eines Lernprinzips im Hinblick auf den Gegenstandszugang keineswegs schon erfaßbar wird. Nur wenn mir der widerständige Charakter meines Lernens bewußt wird, kann ich mir auch darüber klar werden, daß ich mit den Behinderungen des Gegenstandszugangs, die im alten Lernprinzip eingeschlossen sind, zugleich auch meine bloß defensiv begründete Lernintention überwinden muß. Ein Lernsprung kann in diesem Fall folglich nur dann vollzogen werden, indem nicht nur diese Behinderungen aufgehoben werden, sondern zugleich ein Umschlag vom bisher defensiv zum expansiv begründeten Lernen stattfindet[18].

Zusammenhang zwischen mentalem und motorischem Lernen

(35) Bei unserer bisherigen Darstellung der subjektwissenschaftlichen Konzepte des Lernens haben wir zwar einen Subjektstandpunkt vorausgesetzt, jedoch davon abgesehen, daß dieses Subjekt ein sinnlich-körperliches Individuum ist, das sich mit seinem Standpunkt in einem eigenen lebenspraktischen Bedeutungszusammenhang befindet. Im folgenden werden wir genau diesen konkreten Standpunkt des Lernsubjekts einbeziehen. Darüber hinaus werden wir den Zusammenhang zwischen mentalem und motorischem Lernen darstellen und auf diese Weise deutlich machen, daß die im Umfeld des Konnektionismus verwandten Lerntheorien, die mentales Lernen vom motorischen getrennt untersuchen, problematisch sind. Im Anschluß daran werden wir, mit eigenen Kriterien gerüstet, uns gezielter mit diesen Lerntheorien und deren Bedeutung für den Konnektionismus auseinandersetzen.

(36) Gesamtgesellschaftliche Bedeutungszusammenhänge sind mir als Subjekt von meinem raumzeitlichen Standort aus in meiner sich daraus ergebenden Perspektive immer nur in begrenzten Ausschnitten zugänglich, da ich an meinen sinnlich-stofflichen Körper gebunden bin. Diese physische Konkretheit meines Standortes bezeichnen wir als körperliche Situiertheit. Bei jeder Lernhandlung ist das Lernsubjekt auch körperlich präsent, auch bei bloß verbalen oder mentalen Lernhandlungen. Sie, die Leserin oder der Leser dieser Zeilen, sitzen am Schreibtisch oder stehen in der Straßenbahn etc. und beugen sich über das Buch oder halten es in den Händen und versuchen, seinen Inhalt zu verstehen. Ihre mental-verbalen Lernaktivitäten sind demnach nicht von Ihrer körperlichen Präsenz und von Ihren physischen Bewegungen zu trennen. Nur wenn die Handlungen aus dem lebenspraktischen Kontext gedanklich isoliert und entpersonalisiert werden, bleiben davon nur noch bloß »mentale« Kodierungs- oder Speicherungsprozesse übrig - wir kommen darauf zurück. Körperliche Situiertheit schließt eine aktive mentale Hinwendung des Subjekts zur Welt ein. Sie können sich bspw. vom soeben gelesenen Buch abwenden, ohne die Körperhaltung zu verändern, oder Sie können sich dem Text aktiv zuwenden. Diese Abwendung oder Zuwendung bezeichnen wir als Beachtung. Da die Zu-/Abwendung meist inneres Sprechen mit einschließt, bezeichnen wir die Beachtung auch als mental-sprachliche Situiertheit. Da das Subjekt mit dem inneren Sprechen seine Beachtung lenken kann, hat es auch die Möglichkeit, seine Beachtung auf kritische Punkte des Handlungsvollzugs zu konzentrieren. Beim inneren Sprechen können also standortabhängige Schwierigkeiten/Widerständigkeiten beim Lernen gezielt berücksichtigt werden. Das bezieht sich auch auf motorisches Lernen, das ohne sprachliche Selbstkommentare gar nicht zu denken ist. So kann man sich bspw. selbst auffordern, beim Spiel der Querflöte die Flöte »anders« zu halten, den Mund »anders« zu formen, sich aufrechter zu halten etc., um den Ton sauber spielen zu können Die sprachliche Selbstkommentierung ist somit wesentliche Bestimmung jedes Lernhandelns.

(37) Neben körperlicher und mental-sprachlicher Situiertheit ist das Lernen zudem vom personalen Standort oder der personalen Situiertheit abhängig. Der personale Standort ist

"Inbegriff dessen, »wo ich jetzt stehe« als diese konkrete Person, die aufgrund spezifischer Lebensverhältnisse (als individueller Aus- und Anschnitt allgemeiner gesellschaftlicher Lebensbedingungen) das geworden ist, was ich bin, mit dieser bestimmten Vergangenheit, aus der meine gegenwärtige Befindlichkeit und meine zukünftigen Möglichkeiten erwachsen" (ebd., 263).

(38) Zum individualgeschichtlichen Erfahrungshintergrund gehören auch Alter, Geschlecht, Wohnort, Beruf und soziale Stellung ebenso wie der persönliche Aktionsradius (auch die soziale Erreichbarkeit bestimmter Orte) einbezogen. Das Wichtige dabei sind die erfahrenen Möglichkeiten bzw. die zugeschriebenen Fähigkeiten, etwas zu lernen. Fähigkeiten sind so gesehen nicht etwas, das man einfach hat, sondern etwas, was man sich auf seinem Erfahrungshintergrund zuschreibt. So stellt sich angesichts einer bestimmten Lernproblematik etwa die Frage, ob ich dazu fähig bin, die problematische Situation zu überwinden, ob ich mir das zutrauen kann, noch dieses oder jenes zu lernen, ob das, was ich lerne, überhaupt mein »Ding« ist etc.

(39) Wie wir bereits erwähnten, wurden in der traditionellen Lernforschung motorisches und verbal-mentales Lernen als sich ausschließend gegenübergestellt. Während der Behaviorismus vor allem motorisches Lernen, also Bewegungslernen, experimentell untersuchte, befaßte sich die kognitivistische Gedächtnisforschung in ihrer Forschungstradition vorrangig mit mental-verbalem Lernen. Im folgenden Abschnitt wollen wir den Zusammenhang zwischen beiden Lernformen im lebenspraktischen Kontext verdeutlichen. Bewegungslernen

(40) Wir hatten schon dargestellt, daß aufgrund der körperlichen Situiertheit des Subjekts in jede Handlung, also auch in jede Lernhandlung, körperliche Bewegungen einbezogen sind. Dabei unterscheiden wir zwischen Bewegungen, die den Stellenwert von Bewegungshandlungen haben, und Hilfsbewegungen, die zur Realisierung der eigentlichen Handlungs- bzw. Lernintention ausgeführt werden.

(41) Aus dem Bedeutungs-/Begründungszusammenhang der jeweiligen Handlungs- oder Lernproblematik ergibt es sich, ob bestimmte Bewegungen die Funktion von Hilfsbewegungen oder Bewegungshandlungen haben:

"So wird »Gehen« dann von einer Hilfsbewegung zur Bewegungshandlung, wenn ich nicht irgendwo hingehe, um etwas anderes tun zu können, sondern um meiner Entspannung, Gesundheit willen spazierengehen will (worauf dann wiederum bestimmte Hilfsbewegungen, Mantel anziehen, die Tür aufschließen, vorbereiten mögen); vollends dann, wenn ich »Geher« bin und als solcher an einem Wettkampf teilnehme." (ebd., 282).

(42) Im Unterschied zu den Hilfsbewegungen, die lediglich mitgelernt werden, können die Bewegungshandlungen im Falle einer selbständigen Lernintention zu speziellen motorischen Lernhandlungen werden. Um nun deren Zusammenhang mit den mentalen Lernhandlungen zu klären, greifen wir auf die von uns bereits dargestellte Bedeutungskategorie zurück (Kap. 3.). Dort hatten wir ausgeführt, daß Gegenstandsbedeutungen als verallgemeinerte Handlungsmöglichkeiten durch gesellschaftliche Arbeit dazu geschaffen wurden, sie in bestimmten Herstellungs- oder Gebrauchsaktivitäten umzusetzen. Die bedeutungsadäquate Umsetzung erfordert jeweils bestimmte natürliche Bewegungsfolgen, die gleichzeitig auch gesellschaftlich geformt sind, da sie verallgemeinerten Zwecken menschlicher Lebenserhaltung angemessen werden können. Die bedeutungsadäquate Charakteristik von Handlungen läßt sich sehr gut an Leontjews (1973) »Löffelbeispiel« verdeutlichen: Beim Lernen des Löffelgebrauchs werden die kindlichen Handbewegungen mit Unterstützung der Erwachsenen immer mehr der objektiven »Logik« dieses Gegenstands untergeordnet. Lernende Welterschließung bedeutet also vor allem praktisches Eindringen in den Lerngegenstand durch bedeutungsadäquate Körperbewegungen - und erst mit Bezug darauf ein Erkennen der darin liegenden Möglichkeiten der Verfügungserweiterung.

(43) Durch ein derartiges bewegungsvermitteltes Lernen gewinnt das Subjekt im ganzen gesehen einen besonderen Zugang zum Lerngegenstand, der durch bloß mentale Lernprozesse nicht nachvollziehbar ist. Dies soll wieder an einem Beispiel verdeutlicht werden: Wenn ich Querflöte spielen lerne, erfahre ich dabei auch die Materialbeschaffenheiten einer Querflöte, die ich durch bloßes Zuhören nicht erfassen kann. Darüber vermittelt können dann die Besonderheiten dieses Lerngegenstands zum Inhalt mentaler Handlungsvollzüge werden.

(44) Meine körperliche Situiertheit zur Welt und zu mir setzt meiner Lernintention Widerstände entgegen, die zu meiner jeweiligen inhaltlichen Lernproblematik noch hinzu kommen. So muß ich im Bewegungslernen meine (in ihren Möglichkeiten begrenzte) Körperlichkeit in meine Lernanstrengungen mit einbeziehen. Es reicht demnach nicht aus, mir die Bedeutung der Bewegung als Voraussetzung ihres angemessenen Vollzugs anzueignen, ich muß auch meine gegebene körperliche Schwerfälligkeit, Langsamkeit etc. beim Lernen berücksichtigen. Umgekehrt reduziert sich das Bewegungslernen keineswegs nur auf die Überwindung der körperlichen Unverfügbarkeit durch bloße Erhöhung der körperlichen »Fitness«. Je tiefer ich praktisch, d.h. über den Bewegungsnachvollzug, in die Zusammenhangsstrukturen des Lerngegenstands eindringe, um so eher sind mir, da der Bewegungsvollzug mit praktischem Weltwissen angereichert ist, bedeutungsadäquatere Bewegungen ermöglicht. Mein Bewegungswissen vertieft sich. Gleichzeitig bedeutet dieses tiefere Eindringen in Zusammenhangsstrukturen des Lerngegenstands auch eine Automatisierung von Bewegungen, mit der die Stufe des mehr einzelheitlichen Nachvollziehens von Bedeutungselementen lernend überwunden wird. Dabei ist es im Lernprozeß allerdings wesentlich, überhaupt erst einmal Einzelbewegungen adäquat vollziehen zu lernen, ehe ich diese zu einem übergreifenden Bewegungsablauf integrieren kann. Von da aus sind dann, da dieses Lernprinzip begrenzt ist, auch qualitative Lernsprünge möglich. Mit dem qualitativen Lernsprung

"sind dann generell die Lernintentionen nicht mehr auf den Erwerb von Fähigkeiten, sondern auf das Erreichen von Bewegungsmöglichkeiten und -erfahrungen gerichtet, denen gegenüber (mangelnde) Fähigkeiten gerade mit ihrer Ausbildung zum »verschwindenden Moment« werden, meine Fähigkeit-Unfähigkeit angesichts des Gewinns an bewegungsvermittelten Verfügungs-/Erlebnismöglichkeiten also sozusagen kein Thema mehr ist (...) Beim Tanz mag sich so die Erfahrung einstellen, daß ich mit meinen Bewegungsintentionen wirklich die »letzte Faser« meines Körpers durchdringe. Beim Hochsprung die Erfahrung, daß mein Körper meinem über die Latte geworfenen »Willen« unmittelbar hinterherfliegt" (ebd., 294).

(45) Wie aus den bisherigen Darlegungen hervorgegangen sein sollte, sind operative Stufen des Bewegungslernens nicht für sich zu betrachten, sondern nur als unselbständige Teilmomente wachsender Bedeutungsadäquatheit der Bewegungen aufzufassen. In diesem Sinne haben wir, um der gängigen Gegenüberstellung von mentalem und motorischem Lernen zu begegnen, beim Bewegungslernen dessen umfassenderen Handlungs- bzw. Bedeutungszusammenhang, der mental-symbolische Momente einschließt, hervorgehoben. Im folgenden wollen wir uns dem verbalen Lernen unter Einbeziehung des umfassenderen Handlungs-/Bedeutungszusammenhangs annähern. Während wir das Bewegungslernen als relative Überwindung körperlicher Unverfügbarkeit eigener Bewegungen darstellten, werden wir nun verbales Lernen als relative Überwindung der körperlichen Unverfügbarkeit mentaler Handlungen betrachten.

Verbales Lernen

(46) Es liegt auf der Hand, daß ich meine eigene Gegenwart und Vergangenheit nicht in all ihren Aspekten mental zur Verfügung habe, da meine Behaltenskapazität begrenzt ist. Wie kann ich diese mentalen Kapazitätsschranken überwinden? Wie kann ich zu Behaltendes wieder erinnern? Dies ist die Frage nach praktischen Strategiekomponenten des Behaltens und Erinnerns. Im Rahmen einer Strategie des Behaltens und Erinnerns können drei Arten oder, wie wir sagen wollen, Modalitäten unterschieden werden: mentale, kommunikative und objektivierende. Mentale Modalitäten sind solche, in denen das Behalten/Erinnern nur durch beachtungsgelenkte bzw. innersprachliche Veränderungen der eigenen Erfahrung erfolgt. Solche Aktivitäten, bei denen keine externen Mittel herangezogen werden, werden traditionellerweise als »Einprägungen«, »Kodieren« etc. bezeichnet. Kommunikative Modalitäten sind solche Behaltens-/Erinnernsaktivitäten, bei denen man sich das Wissen oder die Kenntnis anderer Personen nutzbar macht (sie bspw. nach einer Adresse fragt oder darum bittet, mich an etwas zu erinnern). Objektivierende Modalitäten sind dagegen solche Behaltens-/Erinnernsaktivitäten, bei denen das Zu-Behaltende fixiert wird (bspw. Aufzeichnungen in welcher Form auch immer gemacht werden). Die Erinnerung wird dabei in dem Sinne objektiviert, daß auf diese Fixierungen zurückgegriffen werden kann.

(47) Die Modalitäten stehen nicht unabhängig nebeneinander. Eine Vorstellung einer Sequenz von einander ablösenden Modalitäten unabhängig vom Subjektstandpunkt (also von »außen«) ist jedoch ebenso problematisch. Vielmehr geht es darum, intersubjektiv herauszuarbeiten, welche Reihenfolge, Vermittlung, Abwechslung der einzelnen Modalitäten zur Bewältigung einer Lernproblematik unter den jeweiligen Bedingungen bzw. Prämissen für sich selbst sinnvoll und begründbar ist. Im Konzept der Erinnerns-/Behaltensmodalitäten ist mitgedacht, daß ich nicht nur bestimmte Inhalte behalten bzw. erinnern können muß, sondern ich muß auch behalten bzw. erinnern, ob und wie ich mir die fraglichen Inhalte wieder verfügbar machen kann. In diesem Sinne ist es eine Fiktion der traditionellen Gedächtnisforschung, bestimmte Inhalte, etwa Silben, Worte oder Sätze unabhängig von deren »Träger« zu behalten: also etwa nur den Text unabhängig vom Buch, in dem ich ihn gelesen habe.

(48) Mit dem Zu-Behaltenden werden dessen Inhalt und dessen Quelle, Träger oder Herkunft unterschieden, wobei ich mit meinem Wissen über den Inhalt auch Herkunftswissen erworben habe. Auf dieses kann ich dann besonderes Gewicht legen oder es kann mir helfen, wenn ich bspw. den Inhalt eines Buches vergessen habe, jedoch die Quelle weiß, im Rückgriff darauf mir den Inhalt wieder zugänglich zu machen. Ich kann also von der bloß mentalen zur kommunikativen oder objektivierenden Modalität wechseln, da es inhaltliche Verweisungen zwischen den Modalitäten gibt. Dem inneren Sprechen kommt dabei die Rolle zu, über Fragestellungen, die mir sukzessiv Zugang zu den gesuchten Inhalten verschaffen können, lenkend in den Stategievollzug des Behaltens/Erinnerns einzugreifen. Solche Fragen präzisieren sich erst allmählich in Wechselwirkung mit dem Durchgang durch die Inhalte und werden so (im günstigen Fall) zu wirklichen Schlüsselfragen, die das Gesuchte als Antwort liefern. Intendiertes Erinnern ist somit ein Annäherungsprozeß des Prüfens und Verwerfens. Fragengeleitete Behaltens-/Erinnernsstrategien enthalten folglich immer ein Moment der Selbstkritik bzw. der Quellenkritik, denn ich kann mich ja auch in meiner Erinnerung irren, oder eine Quelle kann unzuverlässig sein. Innere Fragen sind zwar mentaler Art, jedoch genuin immer darauf gerichtet, die bloße Selbstbefragung in Richtung auf die Befragung äußerer Instanzen zu überschreiten, um die eigenen Erfahrungen zu erweitern bzw. zu kritisieren. Somit ist der Behaltens-/Erinnernsaspekt menschlichen Handelns und Lernens von vornherein auf die Komplementarität mentaler, kommunikativer und objektivierender Modalitäten angelegt[19].

(49) Wie wird nun die Dauerhaftigkeit des Gelernten hergestellt? Wie ist dieses Problem vom Subjektstandpunkt aus zu betrachten? Es ist zunächst davon auszugehen, daß die Dauerhaftigkeit in dem Grade wächst, wie das Subjekt das Zu-Behaltende per Tiefe des Gegenstandszugangs in schon überdauernde Wissensstrukturen integrieren kann und es auf diese Weise zu einem immer reicheren und differenzierteren Zusammenhangswissen kommt. Dabei enthalten die mentalen Wissensstrukturen vielfache Verweisungen auf kommunikative wie objektivierende Quellen und Wissensbestände. Ebenso sind aus den kommunikativen und objektivierenden Organisationsformen vielfältige Verweisungen auf mentale Wissensbestände und Aktualisierungsmöglichkeiten entnehmbar. Wissen kann man so als modalitätsübergreifende Verweisungsstruktur fassen. Diese Auffassung hat auch Konsequenzen für die Gedächtnis-Konzeption. Das Gedächtnis ist danach kein »innerer« Besitz eines Einzelnen, sondern ein Teil meiner biographisch gewachsenen Weltbeziehungen, in denen einerseits meine Art des Erfahrungsgewinns und Weltwissens enthalten ist, die andererseits meine wirklichen, historisch-konkreten Beziehungen zu bestimmten Infrastrukturen der von mir unabhängigen sachlich-sozialen Realität widerspiegeln.

(50) Je höher der Organisationsgrad meines Vorgewußten im Umkreis des Zu-Erinnernden, umso stärker ist auch die Formulierung von inneren Schlüsselfragen dadurch angeleitet. Die Schlüsselfragen ermöglichen es mir, den in meinem Wissen enthaltenen Verweisungen innerhalb einer Modalität, von einer Modalität auf die andere, von Quellen auf Inhalte und umgekehrt, nachzugehen und so das Gesuchte zur Überwindung der gegebenen Lernproblematik zu finden. Auf diese Weise erreiche ich mit wachsender Tiefe der Aneignung der Bedeutungsstrukturen des Lerngegenstands gleichzeitig eine erhöhte Dauerhaftigkeit des Gelernten. Kurz: Je mehr ich weiß, desto besser für mich, wenn ich etwas erinnern will. Werden durch Änderungen meiner personalen Situation modalitätsübergreifende Zusammenhangsstrukturen zerstört, kann auch dauerhaft verankertes Wissen wieder verloren gehen. Insofern ist die Rekonstruktion meines Gedächtnisses gleichbedeutend mit der Rekonstruktion meines Lebens- und Arbeitszusammenhangs, in dem die mentale Wissensorganisation bloß einen unselbständigen Teilaspekt darstellt.

Verhältnis von Lernen und Behalten/Erinnern

(51) Um den Zusammenhang von Lernen und Behalten/Erinnern zu verdeutlichen, vergegenwärtigen wir uns unsere bisherige Herangehensweise. Beim motorischen Lernen haben wir die Bedeutungsbezüge thematisiert, um die Inhaltlichkeit menschlicher Bewegungen faßbar zu machen. Das Bewegungslernen konnte so als Umsetzung von Bedeutungen verstanden werden. Beim mentalen Lernen war es erforderlich, mentale Behaltens-/Erinnernsstrategien um kommunikative bzw. objektivierende Strategiekomponenten zu erweitern. Bei diesen Komponenten ist es jedoch notwendig, Körperbewegungen auszuführen. Dabei können - in Abhängigkeit von der jeweiligen Lernproblematik - Hilfsbewegungen, wie wir sie definiert haben, im Kontext dieser Modalitäten des Behaltens/Erinnerns eigentliche Bewegungshandlungen werden. Die Gemeinsamkeiten des Bewegungslernens und des mental-verbalen Lernens bzw. Behaltens/Erinnerns ergeben sich aus der Charakteristik der potentiellen Lerngegenstände. In ihren

(52) Bedeutungsstrukturen sind solche Bedeutungen, die in Bewegungen umsetzbar sind, und ihre symbolischen Repräsentanzen in einer Weise integriert, die eine Isolierung beider Momente unmöglich macht. Dies heißt, daß auch in den bedeutungsrealisierenden Lernhandlungen praktische und mentale Handlungsanteile zwar unterschiedlich akzentuiert sein mögen, aber niemals ohne realen Bezug aufeinander vorkommen. Bewegungslernen und mental-verbales Lernen sind also lediglich unterschiedliche Akzentuierungen des Lernens bei der Ausgliederung von Lerngegenständen in Abhängigkeit von der jeweiligen Lernproblematik. Wie das Subjekt in jede Lernhandlung auch körperlich involviert ist, so ist auch das Behalten/Erinnern faktisch jeder Lernhandlung eigen. Zu einem verselbständigt intendierten Behalten/Erinnern kommt es allerdings erst dann, wenn aufgrund der jeweiligen Lernproblematik Grenzen beim Behalten/Erinnern auftreten und dadurch die Optimierung von Behaltens-/Erinnernsaktivitäten zur zentralen Dimension der intendierten Lernhandlung wird. Nur unter dieser Voraussetzung ist es für das Subjekt auch begründet, sich verselbständigt auf die Dauerhaftigkeit des Gelernten zu konzentrieren. Ein derartiges verselbständigtes Behalten/Erinnern liegt oft dann vor, wenn in institutionellen Lehrsituationen äußere Normen erfüllt werden müssen, wobei man zumeist auf bloß mentale Modalitäten zurückgeworfen ist. Die mangelnde Reproduzierbarkeit von früheren Erfahrungen wird dann kurzschlüssig als Ausdruck »schlechten« individuellen Gedächtnisses gewertet.

(53) Wird Behalten/Erinnern nicht als integraler Bestandteil des Lernens, sondern als isolierte »Gedächtnisleistung« verstanden, sind auch die Voraussetzungen für eine dem lebenspraktischen Kontext gerecht werdende Analyse des Behaltens/Erinnerns sowie des Bewegungslernens eliminiert. Auf diese Weise wird nicht nur die traditionelle Gleichsetzung von Lernen mit defensiv begründetem Lernen bestätigt, sondern bleibt auch

"theoretisch weitgehend unerfindlich, wie die Individuen tatsächlich jene Lern- und Behaltensleistungen zustandebringen können, die sie in ihrer Lebenspraxis doch tatsächlich zu vollziehen vermögen (ebd., 324).

Fußnoten

(54) [15] Daß zur Zeit Theorien, die die unterschiedliche »biologische Ausstattung« von Menschen (Intelligenz etc.) als Grund für die faktische Ungleichheit der Lebensmöglichkeiten anführen, Konjunktur haben, zeigt unserer Auffassung nach nur den Grad der Durchdringung und Zuspitzung der kapitalistischen Konkurrenzgesetze in unserer Gesellschaft, nicht aber einen neuen wissenschaftlichen Erkenntnisstand.

(55) [16] Wir haben bereits in Kap. 3.2. verdeutlicht, daß die Entstehung der Sprache aus den Kommunikationsnotwendigkeiten der kooperativen Lebenserhaltung entstand. Durch selektionsbedingte Rückwirkungen auf die natürlichen Entwicklungspotenzen wurde die Fähigkeit zur Produktion symbolischer Bedeutungsverweisungen, zum Sprechen und zum Sprachverständnis das auffälligste Merkmal der gesellschaftlichen Natur des Menschen.

(56) [17] Die traditionelle Psychologie zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie in ihrer »empirischen« Forschung Konstruktionen für Handlungsbeispiele herstellt, unter denen die Versuchspersonen dann meist vernünftigerweise, also begründetermaßen das tun, was in der Konstruktion angelegt ist. Da aber genauso andere Gründe denkbar sind, lassen sich Gegenbeispiele finden. Dies hat oft eine Verengung der Versuchsanordnung zur Folge, um »eindeutige« Ergebnisse zu erzielen, womit der Ausschluß der Lebenswelt nur noch verschärft wird. Angestrebte Kontingenzen nach dem Muster "wenn ... dann ..." lassen sich auf diese Weise nicht finden, da menschliches Handeln nicht als kontingent (Ursache-Wirkung, s.o.) beschreibbar ist, jedenfalls nicht in einer seiner Natur angemessenen Weise.

(57) [18] Das schließt die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Macht- und Unterdrückungsverhältnissen ein, die in defensiv begründetem Lernen und um unmittelbarer Absicherung willen ausgeklammert werden. Auf das hier angesprochene Problemfeld historisch bestimmter Lernverhältnisse können wir nicht eingehen, da das den Rahmen sprengen würde; vgl. hierzu Holzkamp, 1993, Kapitel 4.

(58) [19] An dieser Stelle verdeutlicht sich auch die Unzulänglichkeit einer bloß mental-sprachlichen Analyse von Behaltens-/Erinnernsprozessen innerhalb der kognitivistischen Gedächtnisforschung (dazu später mehr).


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