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4.3.1. Der Behaviorismus

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 14.02.2004
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts setzte sich im Anschluß an den Pragmatismus eine am Darwinismus orientierte Sicht durch, die in der Psychologie eine Wissenschaft zur Erforschung der Mechanismen und Gesetze der Anpassung des Menschen an seine Umwelt sah. Dabei wurde davon ausgegangen, daß nur äußere Bedingungen und dadurch hervorgerufene Verhaltensweisen allgemein zugänglich seien. Diese Sicht grenzte sich dezidiert von der Psychologie Wundts ab, in der noch das »Bewußtsein« Gegenstand der Forschung war. Nunmehr wurde äußerlich beobachtbares Verhalten von Tieren und Menschen zum Gegenstand der Psychologie gemacht. Der Behaviorismus, oft auch als SR-Psychologie bezeichnet, ist damit eine psychologische Grundkonzeption, in der »Stimuli« (Reize) und »Responses« (Reaktionen) von Individuen und Organismen als Verhaltenselemente betrachtet werden. Sie sind nach dem Schema "wenn Reiz - dann Reaktion" aufgebaut. Die verschiedenen theoretischen Annahmen unterscheiden sich hierbei in der Art, wie Reiz und Reaktion miteinander verknüpft werden. In diesem Sinne gehört die SR-Psychologie zu den assoziationistischen Grundansätzen. Die Assoziationsbildung wird als »Konditionierung« gefaßt, wobei zwischen dem klassischen und dem instrumentellen Konditionieren unterschieden wird.

Klassisches und instrumentelles bzw. operantes Konditionieren

(2) Das von Watson adaptierte Konzept des klassischen Konditionierens orientierte sich stark an Pawlows Konzept des »bedingten Reflexes« (1955), also an einem ursprünglich physiologischen Ansatz. Der Lernprozeß, wie er in der Standardanordnung des bekannten Hundeexperiments gefaßt wurde, bestand darin, den Futterreiz (unbedingter Stimulus) durch den (zunächst neutralen) Glockenton (bedingter oder auch konditionierter Stimulus) zu ersetzen. Dies sollte dadurch geschehen, daß der Glockenton in zeitlicher Nachbarschaft mit dem Futterreiz, also kurz davor, mehrmals dargeboten wurde. Von Bedeutung ist das Konzept der »Verstärkung«, das sich auf die Speichelsekretion des Hundes nur auf den Glockenton hin - begrifflich als bedingte Reaktion gefaßt - bezog: Diese bedingte Reaktion wurde verstärkt, je häufiger der Glockenton kurz vor dem Futterpulver dargeboten wurde. Der konditionierte Stimulus wurde auch als Signal und das klassische Konditionieren entsprechend als »Signallernen« bezeichnet.

(3) Ein weiteres physiologienahes Konditionierungskonzept ist das instrumentelle Konditionieren, das von Thorndike (1911, 1933) eingeführt wurde und die Basis von Skinners Theorie des »operanten Konditionierens« bildete (1938, 1953). Seine Besonderheit gegenüber dem klassischen Konditionierungskonzept besteht darin, daß Verhaltensweisen aufgrund ihres Effekts verändert werden. Als »verstärkend« betrachtet man also nicht die Häufigkeit des gemeinsamen Vorkommens von unbedingtem und bedingtem Stimulus, sondern die Häufigkeit, mit der ein Organismus durch sein eigenes Verhalten eine »Belohnung«, die als »positive Verstärkung« bezeichnet wird bzw. eine Beendigung von Schmerz o.ä., als »negative Verstärkung« bezeichnet, erreicht. Danach führt eine »positive Verstärkung« von Verhaltensweisen dazu, daß diese häufiger ausgeführt werden, eine »negative« dazu, daß diese seltener werden und eine »Bestrafung« von Verhaltensweisen zu deren Unterdrückung. Die eigenen Aktivitäten des Organismus fungieren also als Mittel, Verstärkungen zu gewinnen. Dieser Zusammenhang wird auch mit dem Terminus »Lernen-am-Erfolg« gefaßt. Eine der bekanntesten Anordnungen ist die »Skinnerbox«, in der Tiere, wenn sie auf einen Hebel drückten oder pickten, entweder an bestimmte Futter- oder Wassermengen gelangen oder auch einen elektrischen Schmerzreiz beenden konnten.

Induktives Lernen als Lernen unter Zwang

(4) Beide Konditionierungstheorien lassen sich mit Hilfe eines kleinen sprachlichen »Tricks« in einem neuen Licht betrachten. Wenn man zwischen die Wenn-Komponente (»Reiz«) und die Dann-Komponente (»Reaktion«) einer Wenn-Dann-Hypothese das Wort "vernünftigerweise" schiebt, dann kann man die SR-Theorien als verborgene Begründungstheorien reinterpretieren. Durch den Einschub von "vernünftigerweise" wird nämlich aus der Zusammenhangshypothese eine unexplizierte Begründungsaussage. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: "Wenn es draußen schneit, zieht man sich warm an"; oder: "Wenn es draußen schneit, zieht man sich vernünftigerweise warm an". Die Menschen haben also gute Gründe, sich warm anzuziehen, sie tun das nicht automatisch. Diese Begründungstheorien erfassen jedoch nur sehr begrenzte Aspekte der für den Menschen bedeutungsvollen, in sich strukturierten Welt. So bleibt beim klassischen Konditionieren die wiederholte Abfolge von unbedingtem und bedingtem Stimulus, beim instrumentellen Konditionieren der Verstärkerreiz als Konsequenz einer bestimmten Handlung als reinterpretierbarer Aspekt übrig. Da hier das Individuum lediglich bestimmte Ereignisabfolgen erfährt, kann die Bildung von Vorsätzen für eine künftige Handlung nichts anderes sein als die Extrapolation dieser Ereignisabfolgen. Wir bezeichnen diese Form des Lernens, bei dem das Subjekt aufgrund seiner begrenzten Zugangsmöglichkeiten zur Welt, die hier auf die Erfahrbarkeit zeitlich voneinander isolierter Einzelereignisse beschränkt sind, zu Verallgemeinerungen kommt, als induktives Lernen (Holzkamp, 1993, 58).

(5) Charakteristisch für das so gefaßte induktive Lernen ist die fehlende Einsicht in einen sachlichen Zusammenhang zwischen Signal und Signalisiertem beim klassischen Konditionieren. Beim instrumentellen Konditionieren hat das Individuum keinen Einblick in bzw. Einfluß auf die Bedingungen, aufgrund derer auf eine bestimmte Handlung eine »Verstärkung« folgt. Handlung und »Belohnung« haben inhaltlich nichts miteinander zu tun. Da das gemeinsame Vorkommen von konditioniertem und unbedingtem Stimulus bzw. von Handlung und Handlungskonsequenz in ihrem Auftreten weder verständlich noch erklärlich sind, können sie als Gegebenheitszufälle betrachtet werden, die man einfach hinnehmen muß[21]. Induktives Lernen zeigt sich so als Lernen von zufälligen Regelhaftigkeiten von Ereignisfolgen.

(6) Die Reduktion sachlich-sozialer Bedeutungszusammenhänge auf isolierte Einzelereignisse als Gegebenheitszufälle ergibt sich aus den in der SR-Psychologie verwendeten Grundbegriffen. So werden bei der psychologischen Verwendung des Reizbegriffs aus den jeweils als Reiz bezeichneten alltäglichen Bedeutungskomplexen nur bestimmte Aspekte »herausgeschnitten«, andere dafür ausgeklammert und gar nicht betrachtet:

"Wenn ich von einem Welttatbestand als von einem »Reiz« rede, so berücksichtige ich ihn nur in seinen unmittelbaren Auswirkungen auf den »Organismus«. »Reiz« ist ja eine Affektation der Körperoberfläche in ihren »sensiblen« Zonen. Im Reizbegriff wird mithin die Außenwelt quasi in organismischen Termini ausgedrückt, die Welt wird nur als Inbegriff jeweils isolierter »Reizquellen« berücksichtigt, verschwindet mithin als in sich strukturierter Verweisungszusammenhang hinter den Einwirkungen, die von ihr auf den Organismus ausgehen" (ebd, 59).

(7) Das gilt auch für den Begriff »Verstärkerreiz«. Hierin werden Weltgegebenheiten lediglich unter dem Gesichtspunkt ihrer verhaltensändernden Einwirkung auf den Organismus gefaßt, damit aber alle anderen gesellschaftlich-sozialen Bedeutungszusammenhänge vernachlässigt. Darüber hinaus ist schon in der Bestimmung des Begriffspaares »Reiz-Reaktion« die Möglichkeitsbeziehung des Menschen auf eine einseitige Außendetermination des Lernens reduziert. Das Kategoriensystem berücksichtigt nicht, daß ein Individuum ja nicht notwendig auf eine bestimmte »Reizanordnung« mit dem »vorhergesagten« Verhalten antworten muß, sondern dies nur tun wird, wenn es entsprechende Gründe dafür hat. Praktisch ist diese Möglichkeitsbeziehung durch entsprechende experimentelle Vorkehrungen sogar ausgeschlossen.

(8) Dem Subjekt bleibt also durch die gravierende Einschränkung des Weltbezugs und einer dadurch bestimmten Versuchsanordnung begründetermaßen gar nichts anderes übrig, als »nach Unterweisung« zu reagieren. Wenn es derartige Versuchsanordnungen, die nur induktives Lernen zulassen, zu Prämissen seines Handelns macht, dann ist induktives Lernen gleichzeitig Lernen unter (äußerem) Zwang. Auf diese Weise bleibt auch verborgen, daß das Lernen von sachlich-sozialen Bedeutungszusammenhängen ja in meinen eigenen Lebens- und Verfügungsinteressen gegründet ist. Darüber hinaus kann das Problem der subjektiven Voraussetzungen motivierten Lernens hier gar nicht erst untersucht werden. Folglich kann die SR-Theorie - auch in ihrer begründungstheoretischen Reinterpretation - zur Klärung der emotional-motivationalen Aspekte des Lernens samt der mit der Lernintention oder Lernzumutung etwa verbundenen Widersprüche und Konflikte vom Standpunkt des Subjekts nichts beitragen.

Zusammenfassung

(9) Es läßt sich somit sagen, daß die SR-psychologischen Lernkonzepte, indem sie den Weltzugang des Individuums auf isolierte Gegebenheitszufälle reduzieren, nur auf Sonder- und Grenzsituationen menschlichen Lernens anwendbar sind. Diese künstlich erzeugten Sonderfälle des Lernens werden dann zu einer Theorie des »Lernens« überhaupt verallgemeinert. Die behavioristischen SR-Theorien verfehlen jedoch auch die Besonderheit tierischer Lernfähigkeit, da sie die naturgeschichtliche Dimension der Lernfähigkeit praktisch eliminieren. Zwar werden Entwicklungsunterschiede zwischen Organismen und deren Lernfähigkeit zur Kenntnis genommen, diese werden jedoch nicht in ihrer qualitativen Besonderheit faßbar. Stattdessen erscheinen sie lediglich als quantitative Unterschiede der Lernkapazität der Organismen. Ebensowenig ist die qualitative Besonderheit der artspezifischen Umwelt, auf die hin sich ein Organismus entwickelt und aus der sein artspezifisches Verhaltensrepertoire erklärbar ist, wissenschaftlich faßbar. Die behavioristische »Lerntheorie« kennt somit lediglich abstrakte Organismen. H.-Osterkamp hat in ihrer differenzierten Kritik verschiedener »lerntheoretischer« Experimente mit Tieren gezeigt, daß die dort erzeugten tierischen Verhaltensweisen extreme Sonderfälle artspezifischen tierischen Lernens darstellen, die Tiere in ihrer artspezifischen Umwelt niemals entwickeln würden (vgl. H.-Osterkamp, 1975, Kap. 2.5.6).

Fußnoten

(10) [21] Mit diesem Zufallsbegriff ist somit nicht der wahrscheinlichkeitstheoretische Zufallsbegriff gemeint.


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