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Vom bloßen Arbeiter zum vollständigen Menschen

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 17.07.2001
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Der traditionelle Marxismus arbeitete an der Befreiung der kapitalistischen Arbeit statt an ihrer Abschaffung - von Moishe Postone

(1) Der traditionelle Marxismus bezog sich stets positiv auf den Standpunkt der »Arbeit«. Damit unterscheidet er sich grundlegend von der reifen Marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Zwar konstituiert und determiniert laut Marx die Arbeit tatsächlich die Gesellschaft - aber nur im Kapitalismus. Sie wirkt auf Grund ihres spezifischen historischen Charakters bestimmend und nicht einfach als eine Tätigkeit, die den Stoffwechselprozess von Mensch und Natur vermittelt. Mit dem, was Theoretiker wie Hilferding der »Arbeit« zuschreiben, hypostasieren sie die Besonderheiten der Arbeit im Kapitalismus zu etwas Überhistorischem. Insoweit die Marxsche Analyse dieser Besonderheit zu zeigen vermag, dass die Arbeit zwar als transhistorische, ontologische Grundlage der Gesellschaft erscheint, in Wirklichkeit aber historisch bestimmt ist, enthält sie auch eine Kritik einer derartigen, für den traditionellen Marxismus charakteristischen Ontologisierung gesellschaftlicher Verhältnisse.

(1.1) Re: Der traditionelle Marxismus arbeitete an der Befreiung der kapitalistischen Arbeit statt an ihrer Abschaffung - von Moishe Postone, 21.10.2001, 13:40, Heinz ??: Dass "die Arbeit" die kapitalistische Gesellschaft "konstituieren" und "determinieren" soll, erscheint mir beinahe als ein Übertragungsfehler. Auch von Marx bin ich manches Lob der Arbeit gewohnt, aber dieses kenne ich von ihm nicht. Dem 1. und 5. Kapitel des "Kapital" kann man vielmehr umgekehrt entnehmen, dass der Arbeitsprozess, charakterisiert durch Gegenstand, Zweck, Mittel (Verfahren) und Resultat nach allen diesen Seiten durch das gesellschaftliche Zusammenwirken der Individuen - d.h. auch die gesellschaftlichen Zwecke - bestimmt ist; wenn auch der damit gesetzte Inhalt des Arbeitsprozesses, einschließlich der Form des Zusammenhangs seiner Momente, bedingt ist durch die Natur des Arbeitsgegenstandes und des Arbeitsmittels einschließlich der naturbestimmtheit der Menschen selbst. Daher ist "die Arbeit" "einfach" Vermittlung des Stoffwechsels von Mensch und Natur, aber selbstverständlich nicht die eines anthropologischen oder philosophischen "Wesens".
Zweifelos ist in der Geschichte marxistischer Theorie häufig der Fehler vorgekommen, verschiedene Momente aus dem Zusammenhang des kapitalistischen Arbeitsprozesses als "gut" gegen andere "schlechte" zu halten und solche (moralischen!) Anthropologismen dienten zur Rechtfertigung einer falschen, weil die Sache interessiert verfehlenden Kritik. Dies methodisch als "Ontologisierung" zu charakterisieren, charakterisiert allerdings die gemachten Fehler gerade nicht, denunziert sie vielmehr nur und dieser Fehler wird - wie weiter unten auch - kenntlich daran, dass diese "Kritik" den inkriminierten anthropologischen Arbeitsbegriff selbst festhält als ein Moment, welches historischen "Formbestimmungen" unterliegt. Diesen Fehler macht der "reife" Marx gerade nicht mehr - im Unterschied etwa zu etlichen Passager der "Grundrisse". Wenn im Kapital in diesem Zusammenhang von "Formbestimmungen" die Rede ist, so gerade nicht "der Arbeit", sondern des Wertes - also schon der vergegenständlichten Form, welche "die Arbeit" als Abstraktion unter dem Privateigentum, als dessen Mittel annimmt.

(2) Aus der Marxschen Analyse des spezifischen Charakters von Arbeit im Kapitalismus ergibt sich außerdem ein der Kritik vom Standpunkt der »Arbeit« diametral entgegengesetzter Zugang zum Verhältnis von gesellschaftlicher Form und gesellschaftlichem Inhalt im Kapitalismus. Die traditionelle Auffassung von »Arbeit« legt eine Vorstellung von der Mystifizierung gesellschaftlicher Verhältnisse nahe, die zwischen dem gesellschaftlichen »Inhalt« und seinen mystifizierten Formen keine innere Beziehung kennt. In der Marxschen Analyse jedoch stehen die Formen der Mystifizierung (das, was er »Fetisch« nannte) genau in einem solchen engen Verhältnis zu ihrem »Inhalt« - sie werden als notwendige Erscheinungsformen eines »Wesens« behandelt, das sie sowohl ausdrücken als auch verschleiern. [1] Gesellschaftliche Verhältnisse erscheinen laut Marx »als das, was sie sind, d.h. (...) als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.« [2] In anderen Worten: Die in den Kategorien Ware und Wert ausgedrückten quasi-sachlichen, unpersönlichen gesellschaftlichen Formen verschleiern nicht einfach die »realen« gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus (das heißt die Klassenverhältnisse), wie der traditionelle Marxismus vermeinte; vielmehr sind die in diesen Kategorien ausgedrückten abstrakten Strukturen diese »realen« gesellschaftlichen Verhältnisse.

(2.1) Fortsetzung des Grundfehlers (vgl. 1.1), 21.10.2001, 14:58, Heinz H.: Ware und Wert haben mit den persönlichen Zwecken und Verhältnissen ihrer Produzenten - also auch den Momenten ihrer Arbeit als Privatarbeit - absolut nichts mehr zu schaffen; das ist grad der Witz daran, nur so vermitteln sie den Gegensatz der einander wechselseitig vom Produkt ausschließenden Privatproduzenten. Nur weil es so ist, gelangt eine Analyse einer Gesellschaft, die nicht mit den persönlichen Verhältnissen der Gesellschaftsglieder beginnt, sondern mit ihrem sachlichen Produkt, zu einem Resultat, das am Ende die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Personen erklärt, weil diese versachlicht sind. Es gibt keine in den Kategorien Ware und Wert "ausgedrückten "gesellschaftlichen Formen" und "abstrakten Strukturen", sondern der Wert ist die sachliche Form der Herrschaft des Privateigentums, die notwendig eine solch sachliche Form annimmt, weil anders kein Knechtschaftsverhältnis zwischen Herren (Privateigentum!) sich halten kann, das sich sonst auflöste in wechselnde persönliche Knechtschaftsverhältnisse.
Folglich sind weder die Formen des Wertes noch irgend welche erfundenen nebulösen Formen und Strukturen "unpersönlich" oder "quasi-sachlich", und, wie weiter u. richtig zitiert, die Kategorien selbst enthalten in sachlicher Form die persönlichen Verhältnisse der Produzenten, ihr Verkehr enthält und vermittelt daher die sachlichen Verhältnisse der Personen und das gesellschaftliche Verhältnis der Sachen. Postones Text nimmt die Objektivität, die Sachlichkeit dieser "gesellschaftlich gültigen, also objektiven Gedankenformen" hinter sie in "Strukturen" zurück, die partout nicht das sein sollen, was Marx im Wert aufdeckt: die Form der Herrschaft des Privateigentums zu sein. Seine "Strukturen" und "Formen" verdecken bloß seinen anthropologischen Begriff von den Menschen, die in solchen Strukturen verknüpft und in solchen Formen "historisiert" sind.

(3) Marx wirft der politischen Ökonomie vor, die innere, notwendige Beziehung zwischen gesellschaftlicher Form und Inhalt nicht gesehen zu haben: »Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also Arbeit in Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt.« [3] Seine Analyse der Besonderheit des geschichtlich bestimmten Inhalts - also der kapitalistischen Arbeit - bildet den Ausgangspunkt für seine Antwort auf diese Frage. Es liegt im Charakter der Arbeit im Kapitalismus, dass sie die Form des Werts (der seinerseits in weiteren Formen erscheint) annehmen muss.

(4) Die innere Beziehung zwischen gesellschaftlicher Form und gesellschaftlichem Inhalt in der Marxschen Kritik verweist darauf, dass es ein Widerspruch wäre, sich die Überwindung des Kapitalismus - seine reale Demystifikation - in einer Weise vorzustellen, die nicht auch die Transformation des notwendigerweise in mystifizierter Form erscheinenden »Inhalts« einschließt. Insofern ist die Aufhebung des Werts und der mit ihm verbundenen abstrakten gesellschaftlichen Verhältnisse nicht von der Aufhebung der Wert produzierenden Arbeit zu trennen. Bei dem in der Marxschen Analyse erfassten »Wesen« handelt es sich nicht um das der menschlichen Gesellschaft, sondern um das »Wesen« des Kapitalismus. Es muss durch die Überwindung dieser Gesellschaft abgeschafft und nicht erst noch verwirklicht werden. Wenn dagegen, wie im traditionellen Marxismus, kapitalistische Arbeit als »Arbeit« hypostasiert wird, erscheint die Aufhebung des Kapitalismus als Befreiung des »Inhalts« des Werts von seiner mystifizierten Form, was dann erlauben soll, diesen »Inhalt« (die »Arbeit«) bewusst zum Prinzip der Ökonomie zu erheben. Doch das ist nichts anderes als ein etwas raffinierterer Ausdruck für die abstrakte Entgegensetzung von der Planung als dem Prinzip des Sozialismus und dem Markt als dem Prinzip des Kapitalismus, einer Entgegensetzung, die ich weiter oben [bezieht sich auf sein Buch] eingehender kritisiert habe. Denn in ihr wird weder angesprochen, was geplant werden soll, noch der Grad, in dem die Planung wahrhaft bewusst und frei von den Imperativen struktureller Herrschaft ist. Die einseitige Kritik der Distributionsweise und die transhistorische gesellschaftliche Ontologisierung der Arbeit hängen eng zusammen.

(4.1) ... wird kenntlich, 21.10.2001, 15:12, Heinz H.: Postone möge sagen, was der Unterschied zwischen "Aufhebung der Wert produzierenden Arbeit" und Abschaffung der Lohnarbeit ist. Sollte er antworten, daß die sozialistischen Staaten die Warenproduktion auch nach der Abschaffung des Privateigentums aufrechterhielten, indem sie die Produzenten zu Agenten des Volks- bzw. Staatseigentums verpflichteten und damit den gesellschaftlichen Produktionsprozess wiederum auftrennten (Was er zweifelsohne nicht sagen wird), so sei hinzugefügt, dass auf diese Weise die Lohnarbeit eben grade nicht abgeschafft wurde, sondern nur an volksgemeinschaftlichen Zwecken relativiert.

(4.1.1) Re: ... wird kenntlich, 07.12.2001, 21:12, Dirk Braunstein: Aber Postone behauptet doch gar nicht, daß die "sozialistischen" Staaten die Lohnarbeit abgeschafft hatten. Und was, im übrigen, soll bezüglich dieser Lohnarbeit zu relativieren sein. Ich habe den Eindruck, daß diese Einlassung nur dann so etwas wie "Sinn" hat, wenn man sich den Begriff der (eben: wertbildenden) Arbeit nicht so genau anschaut, sondern lieber bei so alltäglichen Bezeichnungen wie "Lohnarbeit" haltmacht. Nix für ungut!

(5) Mit seiner Kritik am historisch spezifischen Charakter der kapitalistischen Arbeit transformierte Marx die auf der Arbeitstheorie des Werts aufgebaute Gesellschaftskritik von einer »positiven« zu einer »negativen« Kritik. Die Kapitalismuskritik, die den Ausgangspunkt der klassischen politischen Ökonomie - die transhistorische, undifferenzierte Auffassung von »Arbeit« - beibehält, um daraus die strukturelle Existenz von Ausbeutung zu beweisen, ist dagegen ihrem Begriff nach eine »positive« Kritik. Diese Kritik bestehender gesellschaftlicher Bedingungen (Ausbeutung) und Strukturen (Markt und Privateigentum) geht von dem aus, was bereits existiert (»Arbeit« in der Form industrieller Produktion). Insofern verweist sie am Ende auf eine bloß andere Variante der existierenden kapitalistischen Gesellschaftsformation. Die Marxsche Kritik der Arbeit im Kapitalismus liefert dagegen die Grundlage für eine »negative« Kritik - eine, die das Bestehende auf der Grundlage dessen kritisiert, was sein könnte - und damit auf die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft verweist. In diesem Sinn (und nur in diesem, nicht soziologisch reduzierten Sinn) ist der Unterschied zwischen den beiden Formen von Gesellschaftskritik als der zwischen einer »bürgerlichen« Gesellschaftskritik auf der einen und einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft auf der anderen Seite zu verstehen.

(6) Der traditionelle Marxismus begreift gesellschaftliche Herrschaft wesentlich als Klassenherrschaft. Die Aufhebung des Werts erscheint als die Abschaffung einer vermittelten, unbewussten Form von Verteilung, an deren Stelle eine bewusst und rational regulierte Vergesellschaftung treten soll. Und die Aufhebung des Mehrwerts wird als Abschaffung des Privateigentums und der Ausbeutung - nämlich der Aneignung des allein von der Arbeit produzierten gesellschaftlichen Mehrprodukts durch eine unproduktive Klasse - konzipiert: die produktive Arbeiterklasse soll sich also die Ergebnisse ihrer kollektiven Arbeit wieder aneignen. [4] Im Sozialismus würde die Arbeit demnach offen zum regulierenden Prinzip des gesellschaftlichen Lebens aufsteigen, womit die Grundlage für die Verwirklichung einer rationalen und gerechten, auf allgemeinen Prinzipien gegründeten Gesellschaft geschaffen wäre.

(7) Eine derartige Kritik ist ihrem Wesen nach mit der früh-bürgerlichen Kritik der Landaristokratie und der vorangegangenen Gesellschaftsformen identisch. Es handelt sich um eine normative Kritik an unproduktiven gesellschaftlichen Gruppierungen vom Standpunkt derjenigen Gruppen aus, die »wahrhaft« produktiv seien: sie macht »Produktivität« zum Kriterium gesellschaftlicher Norm. Weil sie voraussetzt, die Gesellschaft als Ganzes sei durch die Arbeit konstituiert, identifiziert sie darüber hinaus die Arbeit (und damit die arbeitenden Klassen) mit den allgemeinen Interessen der Gesellschaft und betrachtet die Interessen der Kapitalistenklasse als partikulare, die diesen allgemeinen Interessen entgegengesetzt seien. Der theoretische Angriff auf eine als Klassengesellschaft charakterisierte Ordnung, in der unproduktive Gruppen eine bedeutende oder beherrschende Rolle spielen, steht für eine Kritik des Besonderen im Namen des Allgemeinen. Letztlich dient die Arbeit, weil sie in dieser Sicht die Beziehung zwischen Menschheit und Natur konstituiert, als Bezugspunkt, von dem aus die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Menschen beurteilt werden können: Verhältnisse, die mit der Arbeit in Harmonie stehen und ihre grundlegende Bedeutung reflektieren, gelten als gesellschaftlich »natürlich«. Deshalb nimmt Gesellschaftskritik, indem sie den Standpunkt der »Arbeit« bezieht, einen quasi-natürlichen Blickwinkel ein: den einer sozialen Ontologie. Im Namen der »wahren« Natur der Gesellschaft wird das Künstliche kritisiert. Damit liefert die Kategorie »Arbeit« dem traditionellen Marxismus einen im Namen von Gerechtigkeit, Vernunft, Universalität und Natur argumentierenden normativen Standpunkt.

(8) Der Standpunkt der »Arbeit« impliziert auch eine historische Kritik. Diese Kritik verdammt nicht einfach nur die existierenden Verhältnisse, sondern versucht zu zeigen, dass sie zunehmend anachronistisch werden und dass mit der Entwicklung des Kapitalismus auch die Verwirklichung der guten Gesellschaft möglich wird. Das historische Entwicklungsniveau der Produktion dient als Maßstab, um die relative Angemessenheit der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu beurteilen, die als bestimmte Form der Distributionsweise interpretiert werden. Die industrielle Produktion gerät nicht zum Gegenstand der historischen Kritik, sondern wird als »fortschrittliche« gesellschaftliche Dimension aufgefasst, die - im Kapitalismus zunehmend von Privateigentum und Markt »gefesselt« - der sozialistischen Gesellschaft als Grundlage dienen wird. [5] Der Widerspruch des Kapitalismus erscheint als einer zwischen »Arbeit« und Distributionsweise, der sich in den Kategorien Wert und Mehrwert ausdrückt. In diesem Interpretationsraster führt die kapitalistische Entwicklung zu einem wachsenden Anachronismus von Markt und Privateigentum - diese entsprechen immer weniger den Bedingungen der industriellen Produktion - und ermöglicht so ihre eigene Abschaffung. Sozialismus besteht demnach in der Etablierung einer der industriellen Produktion angemessenen Distributionsweise - öffentliche Planung in Abwesenheit von Privateigentum.

(9) Emanzipation gründet demnach auf »Arbeit« - sie wird in einer Gesellschaftsformation verwirklicht, in der die »Arbeit« ihren unmittelbar gesellschaftlichen Charakter realisiert und offen als das wesentliche gesellschaftliche Element zu Tage tritt. Diese Vorstellung von Emanzipation ist natürlich untrennbar mit einem Verständnis von der sozialistischen Revolution als dem »Zu-Sich-Selber-Kommen« des Proletariats verbunden: das produktive Element der Gesellschaft, die Arbeiterklasse, verwirklicht sich im Sozialismus als die universelle Klasse.

(9.1) zu Abs. 5 - 9, 21.10.2001, 15:58, Heinz H.: In den Schranken der o.a. Einwände, v.a. der schlechten Abstraktion der "Ontologisierung" der Arbeit, ist Postones Kritik des kritischen Proletarismus (Kritik vom Standpunkt der Arbeiterklasse) nicht falsch. Sie läßt sich allerdings m.E. treffender, weil ohne solche Verwässerung in Marx' "Kritik des Gothaer Programms" von 18?? nachlesen, in der diese "Ontologisierung" sachgerecht eine Glosse der Kritik ist. Was in Postones Text darüber hinaus geht, scheint mir vorwiegend einen Popanz aufzubauen. Wozu Hilferding, Kautsky und andere Sozialdemokraten ausgraben, von denen sich die Sozialdemokratie seit Jahrzehnten verabschiedete? Wozu die absichtsvoll mit Hilfe eines falschen Geschichtsbegriffes in den sozialistischen Staaten verkündete Ideologie sozialistischer Übergangsgesellschaften vom Speicher klauben, um sie öffentlich zu verbrennen? Sicher, solch Zeug, das Postone fälschlicherweise als "traditionellen Marxismus" hinstellt, wird unverdrossen von Trotzkisten aller Couleur verbrochen, in den USA wohl die im Wesentlichen einzige "marxistische" Strömung, aber das erklärt Postones Absicht nicht, sonst würde er sie entsprechend benennen.

(10) Die Kritik einer Dimension der existierenden Gesellschaftsformation vom Standpunkt einer anderen ihrer Dimensionen - das heißt die Kritik der Distributionsweise vom Standpunkt der industriellen Produktion aus - hat schwere Mängel und weitreichende Konsequenzen.

(10.1) Nö!, 07.12.2001, 21:24, Dirk Braunstein: Das sehe ich - mit Verlaub - nicht so!
Wenn man das Kapitalverhältnis als Totalität begreift (und dies ist ja sicherlich richtig), dann kann man doch real gar keinen Standpunkt mehr einnehmen, der irgendwie außerhalb wäre. Um Kritik zu üben, blieben nur noch normativ gesetzte Regeln, Standpunkte, wasweißich, aus deren Perspektive man dann moralisch gegen die reale Gesellschaft sich wenden könnte - Habermas macht das ja seit Jahr und Tag.
Aber das hat dann alles nicht mehr viel mit materialistischer Kritik zu tun, und schon gar nichts mit immanenter Kritik. So doof es auch ist, unterm Kapital wird auch die schärfste Kritik zum bloßen Anhängsel der Produktion, solange es nicht Menschen gibt, die diese Kritik nicht nur als Theorie, sondern auch als Praxis begreifen -. Das ist wohl etwas schwammig, ich meine halt sowas wie einen "performativen Selbstwiderspruch".
Gute Nacht!

(11) Statt über die kapitalistische Gesellschaftsformation hinauszuweisen, hypostasiert und projiziert die traditionelle Positivkritik vom Standpunkt der »Arbeit« die geschichtlich für den Kapitalismus spezifischen Formen von Reichtum und Arbeit auf die gesamte Geschichte und auf alle Gesellschaften. Eine derartige Projektion verdeckt das Besondere einer Gesellschaft, in der die Arbeit eine einzigartig konstituierende Rolle spielt, und verschleiert zugleich den Charakter einer möglichen Überwindung dieser Gesellschaft.

(12) Die kritische Analyse der Formbestimmungen der modernen Gesellschaft öffnet einen gänzlich anderen Zugang zur normativen Dimension von Kritik als eine Kritik an Klassenausbeutung und -herrschaft. Dass eine auf »Arbeit« gegründete Kritik Spezifika des Kapitalismus für überhistorisch erklärt, macht es auf einer anderen Ebene zugleich notwendig, auch Begriffe wie Vernunft, Universalität und Gerechtigkeit neu zu durchdenken.

(13) Innerhalb der positiven Kapitalismuskritik gelten diese Ideen (die historisch die Ideale der bürgerlichen Revolution ausdrückten) als nicht-kapitalistische Momente der modernen Gesellschaft: Die Partikularinteressen der herrschenden Kapitalistenklasse haben in der kapitalistischen Gesellschaft ihre Verwirklichung verhindert, aber sie würden im Sozialismus vermutlich Wirklichkeit werden. Im zweiten Teil dieser Arbeit werde ich demgegenüber näher ausführen, dass Ideale wie Vernunft, Universalität und Gerechtigkeit, wie sie sowohl von der traditionellen marxistischen als auch der früheren bürgerlichen Gesellschaftskritik verstanden werden, keineswegs ein nicht-kapitalistisches Moment der modernen Gesellschaft repräsentieren. Sie sind vielmehr im Kontext der spezifischen, über die »Arbeit« hergestellten, gesellschaftlichen Konstitution des Kapitalismus zu verstehen. Tatsächlich ist der für die traditionelle Kritik charakteristische Gegensatz zwischen abstrakter Universalität und konkreter Partikularität keiner zwischen Idealen, die über den Kapitalismus und dessen gesellschaftliche Realität hinausweisen, vielmehr handelt es sich bei ihm um einen Grundzug dieser Gesellschaft.

(14) Derartige mit der für den Kapitalismus charakteristischen gesellschaftlichen Konstitution zusammenhängende normative Begriffe sind keineswegs als bloße Täuschungen, die die Interessen der Kapitalistenklasse verschleiern, zu verstehen. Genauso wenig wird hier behauptet, der Kluft zwischen den Idealen und der kapitalistischen Realität komme überhaupt keinerlei Bedeutung für die Emanzipation zu; aber diese Kluft und die mit ihr verbundene Form der Emanzipation bleibt innerhalb der Grenzen des Kapitalismus.

(15) Zur Debatte steht also das Niveau, auf dem die Kritik sich auf den Kapitalismus einlässt - ob der Kapitalismus als eine Form von Vergesellschaftung oder bloß als eine Form von Klassenherrschaft verstanden wird und ob gesellschaftliche Werte und Begriffe in den Kategorien einer Theorie gesellschaftlicher Konstitution statt in funktionalistischen (oder idealistischen) Kategorien behandelt werden. Sowohl die Vorstellung, dass diese normativen Begriffe ein nicht-kapitalistisches Moment der modernen Gesellschaft repräsentierten, als auch die Idee, sie seien bloße Täuschungen, entspringt nämlich einem gemeinsamen auf Klassenausbeutung und -herrschaft innerhalb der modernen Gesellschaft fixierten Kapitalismusverständnis. Die Theorie gesellschaftlicher Konstitution bildet die Grundlage der negativen Kritik, die ich skizzieren werde. Sie versucht, die Bedingung der Möglichkeit theoretischer und praktischer Kritik nicht im Bruch zwischen Ideal und Realität der modernen kapitalistischen Gesellschaft zu verorten, sondern im widersprüchlichen Charakter der sie konstituierenden Form gesellschaftlicher Vermittlung.

(15.1) "Träum ich oder wach ich?", 21.10.2001, 17:49, Heinz H.: Nein, der (o.a.) Popanz wird aufgebaut, um in der wohlbekannten Frankfurter Manier einen Angriff auf eine "systemimmenente", den Kategorien bürgerlicher Herrschaft verhaftete Kritik, auf die es sachlich nicht mehr ankommt, zu fintieren, weil es auf solchen Angriff nicht ankommen soll. Hinter dieser Finte verbirgt Postone die eigentliche Volte: mit der Frage nach den "Bedingungen(!) der Möglichkeit(!)" von Kritik wird unter der Flagge der Kritik ein fundamentaler Angriff auf sie geführt. Fluchtpunkt solcher "kritischer Kritik" ist wie in den schlechtesten alten Tagen der "Deutschen Ideologie" ein "Jenseits" der kaptitalistischen "Totalität" ein "Nichtidentisches" und darin schlechthin Positives, das Postone auch benennt:"gesellschaftliche Werte und Begriffe in den Kategorien einer Theorie gesellschaftlicher Konstitution". Die Alten sprachen halt noch naiv von "Liebe".
Das ist nun kein ontologisches Moment mehr, sondern das Reich des jenseitigen und damit guten Menschen, des Gesellschaftlichen schlechthin und schließt darum konsequenterweise die Moral abstrakt (Werte!) ein.
(Merkwürdig, dass keine Erinnerung an Hegels "Phänomenologie" oder "Enzyklopädie" Postones Tinte beim Begriff einer "negativen Kritik" schamrot färbte.)
Die Ansatzpunkte einer negativen Kritik, welche die bürgerliche Gesellschaft explizit hinter sich lassen will, sieht Postone "im widersprüchlichen Charakter der die moderne bürgerliche Gesellschaft konstituierenden Form gesellschaftlicher Vermittlung". Dabei stört es freilich nur, dass im "Kapital" und in der einen oder anderen seitdem über es hinausgehenden Kritik zwar weniger der "Charakter", wohl aber die Widersprüche der Warenproduktion im allgemeinen, des Kapitalismus im Besonderen und des Weltmarktes, des bürgerlichen Staates und des Imperialismus im Weiteren auf dem Tisch liegen zu Verständigung und praktischem Behelf. Nur die ersten seien erinnerungshalber genannt: der Widerspruch der Ware, der Doppelcharakter der Arbeit, der Widerspruch des Privateigentums, der Gegensatz von relativer Wertform und Äquivalentform, der Widerspruch der Geld(Schatz)form des Wertes, von Lohnarbeit und Kapital, die Widersprüche des Wertes als Kapital in seinem Zirkulations- und Verwertungsprozess usw. usf.
Ihre Analyse zeigt, dass es nur die Alternative Unterwerfung oder Angriff gibt und im letzteren Fall man sich zu verständigen hat, wie dieser Angriff - auch mit Blick auf schlechte Erfahrungen - nachhaltig zu führen ist. Negative oder kritische Kritik will hingegen "beginnen, ihre eigene gesellschaftliche Möglichkeit zu begründen" (Abs.26). Das ist korrekt formuliert. Wer, wie Postone, um diese Alternative offensichtlich weiss und sich dennoch besten Gewissens einen "dritten Weg" erschleicht, der träumt Kritik nur noch und hat sich ständig zu vergewissern, ob er wach ist.

(16) Der normative Aspekt der traditionellen Kritik ist innerlich mit ihrer historischen Dimension verbunden. Die Vorstellung, die Ideale der modernen Gesellschaft repräsentierten ein nicht-kapitalistisches Moment dieser Gesellschaft, entspricht der Idee, es gebe einen strukturellen Widerspruch zwischen der auf dem Proletariat basierenden industriellen Produktionsweise - als einem nicht-kapitalistischen Moment der modernen Gesellschaft - und dem Markt sowie dem Privateigentum. Indem die »Arbeit« zum Ausgangspunkt genommen wird, verflüchtigt sich mit der historischen Spezifik von Arbeit im Kapitalismus auch die des kapitalistischen Reichtums. Es wird somit unterstellt, die gleiche Form des Reichtums, die sich im Kapitalismus eine Klasse von Privatbesitzern anverwandelt, würde im Sozialismus kollektiv angeeignet und bewusst reguliert werden.

(17) Die Idee, der Modus der Reichtumsproduktion sei ihrem Wesen nach vom Kapitalismus unabhängig, schließt des Weiteren ein eindimensionales, lineares Verständnis von technischem Fortschritt ein - »Fortschritt der Arbeit« -, der seinerseits oft mit gesellschaftlichem Fortschritt gleichgesetzt wird. Dieses Verständnis unterscheidet sich erheblich von der Marxschen Position, die vom Kapital bestimmte industrielle Produktionsweise habe die Produktivkraft der Menschheit zwar beträchtlich gesteigert, jedoch in entfremdeter Form, weshalb sie auch die arbeitenden Individuen beherrscht und die Natur zerstört.

(17.1) Nachtrag, 21.10.2001, 17:59, Heinz H.: Nicht untypisch, dass Postone sich beim Thema "Natur" verplappert: Wer wirklich gefressen hätte, dass es kein "menschliches Wesen" als ein "dem menschlichen Individuum innewohnendes Abstraktum" (6. Feuerbachthese) gibt - und folglich auch keine "gesellschaftliche Konstitution" geschweige einer Theorie derselben, wer das anthropologische ("ontologisierende") Menschenbild verworfen hätte, der nähme das Wort "Entfremdung", gleich dem "reifen" Marx nimmermehr in den Mund. Die quasi-religiöse Überschrift zu diesem Postone-Auszug (von wem sie auch stamme), ist folglich korrekt.

(18) Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen von Kritik wird auch an der Art und Weise deutlich, wie sie die für den Kapitalismus charakteristische, grundlegende Form gesellschaftlicher Herrschaft bestimmen. Die Gesellschaftskritik vom Standpunkt der »Arbeit« versteht diese Form der Herrschaft wesentlich als Klassenherrschaft, die in der privaten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel verwurzelt sei. Die Kritik der kapitalistischen Arbeit dagegen charakterisiert die grundlegende Herrschaftsform dieser Gesellschaft als einer abstrakten, unpersönlichen, strukturellen Form, die der historischen Dynamik des Kapitalismus zu Grunde liegt. Sie sieht diese abstrakte Herrschaftsform in den historisch spezifischen gesellschaftlichen Formen des Werts und der Wert produzierenden Arbeit begründet.

(19) Diese Lesart der Marxschen Kapitalismustheorie bereitet den Boden für eine weit reichende Kritik abstrakter Herrschaft - der Beherrschung der Menschen durch ihre Arbeit. Sie liefert zugleich - und das hängt damit eng zusammen - den Ausgangspunkt für eine Konstitutionstheorie einer gesellschaftlichen Beziehungsform, der eine enorme Entwicklungsdynamik innewohnt. Im traditionellen Marxismus jedoch wird die Kritik verflacht und auf eine Kritik des Marktes und des Privateigentums reduziert sowie die den Kapitalismus charakterisierende Produktionsweise und Form der Arbeit in den Sozialismus projiziert.

(20) Wie bereits bemerkt, treffen sich der traditionelle Marxismus und die frühe bürgerliche Kritik in ihrem Verständnis des geschichtlichen Fortschritts. Er wird paradoxerweise als eine Bewegung hin zum »natürlich« Menschlichen gefasst. Das ontologisch Menschliche (zum Beispiel: Vernunft, »Arbeit«) soll zu sich selbst kommen, indem es sich gegen die existierende Künstlichkeit durchsetzt. Somit trifft die Kritik, die Marx gegen einige Aspekte der Aufklärung im Allgemeinen und die klassische politische Ökonomie im Besonderen vorgebracht hat, auch die auf dem Prinzip der »Arbeit« gegründete Gesellschaftskritik: »Die Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen, die der Bourgeoisie natürliche (...). Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr.« [6] Selbstverständlich ist das, was als natürliche Institution angesehen wird, für »die Ökonomen« nicht das gleiche wie für die traditionelle marxistische Theorie. Die Denkform aber bleibt dieselbe.

(21) Die Gesellschaftskritik vom Standpunkt der »Arbeit« bleibt also insgesamt an die klassische politische Ökonomie gebunden, auch wenn sie sich von ihr in einigen Punkten unterscheidet. Wie diese findet sie in der Distributionssphäre den Fokus ihrer kritischen Überlegungen. Während die Marxsche Kritik in der Form der Arbeit (und somit in der Produktion) ihren Gegenstand findet, bleibt »Arbeit« für den traditionellen Marxismus unhinterfragt die transhistorische Quelle des Reichtums und die Grundlage der gesellschaftlichen Konstitution. Statt zu einer Kritik der politischen Ökonomie kommt er zu einer kritischen politischen Ökonomie. Was ihren Arbeitsbegriff anbelangt, verdient diese Kritik den Titel »ricardianischer Marxismus«. [7] Der traditionelle Marxismus ersetzt die Marxsche Kritik der Produktions- und Distributionsweise durch eine Kritik lediglich der letzteren, und die Marxsche Theorie der Selbstabschaffung des Proletariats durch eine Theorie der Selbstverwirklichung des Proletariats. Der Unterschied zwischen den beiden Formen der Kritik ist weit reichend: Was der Marxschen Analyse als das zentrale Objekt der Kapitalismuskritik gilt, wird dem traditionellen Marxismus zur gesellschaftlichen Grundlage von Freiheit.

(22) Diese Verkehrung kann nicht mit einem Verweis auf die Exegese adäquat erklärt werden - etwa mit dem Vorwurf, die Marxschen Schriften seien in der marxistischen Tradition nicht korrekt interpretiert worden. Sie verlangt eine gesellschaftliche und geschichtliche Erklärung. Die hätte sich auf zwei Ebenen zu bewegen: Als erstes sollte sie versuchen, die Möglichkeit der traditionellen Kapitalismuskritik theoretisch zu begründen. Beispielsweise könnte sie dies tun, indem sie, der Marxschen Vorgehensweise folgend, nach der Art und Weise fragt, in der sich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus manifestieren. In dieser Arbeit werde ich einen Schritt in diese Richtung unternehmen. Ich werde zeigen, dass der historisch spezifische Charakter der Arbeit im Kapitalismus für Marx darin besteht, als transhistorische »Arbeit« zu erscheinen.

(23) Ein weiterer Schritt - dem ich mich in dieser Arbeit nur annähern werde - hätte deutlich zu machen, wie die Distributionsverhältnisse zum exklusiven Fokus einer Gesellschaftskritik werden konnten. Man müsste die Implikationen entfalten, die im Verhältnis von erstem und drittem Band des Kapitals stecken. Die Marxsche Analyse der Kategorien Wert und Kapital im ersten Band bezieht sich auf die dem Kapitalismus zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Beziehungen, auf seine fundamentalen Produktionsverhältnisse. Seine Analyse der Kategorien Produktionspreis und Profit im dritten Band zielt auf die Distributionsverhältnisse. Die Produktions- und Distributionsverhältnisse hängen miteinander zusammen, sind aber nicht identisch. Marx weist darauf hin, dass die Distributionsverhältnisse sich als Kategorien der unmittelbaren Alltagserfahrung darstellen, dass sie manifeste Formen der Produktionsverhältnisse sind, die diese Verhältnisse sowohl ausdrücken als auch verschleiern; und zwar auf eine Weise verschleiern, die dazu führen kann, dass erstere für letzteren gehalten werden. Wenn der Marxsche Begriff der Produktionsverhältnisse, wie im traditionellen Marxismus, nur in Bezug auf die Distributionsweise interpretiert wird, werden die manifesten Formen für das Ganze gehalten. Diese Art systematischer Fehldeutung, die in den bestimmten Erscheinungsformen der kapitalistischen Vergesellschaftung angelegt ist, hat Marx in seinen Ausführungen zum »Fetisch« auf den Begriff zu bringen versucht.

(24) Wenn so die Möglichkeit einer derartigen »kritischen politischen Ökonomie« aus den Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst erklärt worden ist (anstatt sie verwirrtem Denken zuzuschreiben), könnte man zweitens versuchen, die historischen Bedingungen für das Entstehen solcher Denkformen auszuleuchten. Dazu gehört zu analysieren, wie die Arbeiterbewegungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in ihrem Kampf um Selbstkonstitution, um gesellschaftliche Anerkennung und um die Durchsetzung sozialer und politischer Veränderungen, Gesellschaftstheorie angeeignet und formuliert haben. Die oben skizzierte traditionelle Position zielt offensichtlich darauf, die Würde der Arbeit geltend zu machen und zur Verwirklichung einer Gesellschaft beizutragen, in der die wesenhafte Bedeutung der Arbeit materiell und moralisch anerkannt wird. Das ist insofern verständlich, als im Prozess der Formierung und Konsolidierung der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen die Frage ihrer Selbstabschaffung und der Abschaffung der Arbeit kaum ein zentrales Thema sein konnte. Die auf der Affirmation der »Arbeit« als der Quelle des gesellschaftlichen Reichtums basierende Vorstellung von der Selbstverwirklichung des Proletariats entsprach der Unmittelbarkeit dieses historischen Kontextes genauso wie die damit zusammenhängende Kritik des freien Marktes und des Privateigentums. Doch diese Vorstellung wurde als eine Bestimmung des Sozialismus in die Zukunft projiziert, obwohl sie viel eher ein entwickeltes Kapitalverhältnis als seine Abschaffung impliziert.

(25) Für Marx ist die Abschaffung des Kapitals die notwendige Vorbedingung für die Würde der Arbeit, weil nur dann eine andere Struktur gesellschaftlicher Arbeit, ein anderes Verhältnis von Arbeit und Erholung und andere Formen individueller Arbeit gesellschaftlich allgemein werden können. Die traditionelle Position dagegen spricht einer fragmentierten und entfremdeten Arbeit Würde zu. Es mag so gewesen sein, dass dies für das Selbstwertgefühl der Arbeiter wichtig war und bei der Demokratisierung und Humanisierung kapitalistischer Industriegesellschaften eine entscheidende Rolle gespielt hat. Ironischerweise betreibt diese Position implizit aber die Verewigung solcherart Arbeit, indem sie die ihr innewohnende Form des Wachstums als für die menschliche Existenz notwendig hinstellt. Während Marx die historische Überwindung des »bloßen Arbeiters« als eine Vorbedingung für die Verwirklichung des vollständigen Menschen erachtete, läuft die traditionelle Position darauf hinaus, den vollständigen Menschen als diesen »bloßen Arbeiter« verwirklichen zu wollen.

(25.1) Nachtrag2, 21.10.2001, 18:26, Heinz H.: Die quasi-religiöse Kritik (s. Nachtrag 1) wird auch nicht besser, wenn sie sich offen bekennt, weil sie sich dabei auf Marx Dummheiten "offiziell" berufen darf. Dazu gehört nicht "die Würde der Arbeit" (vgl. etwa die schon erwähnte "Kritik des Gothaer Programm"), aber das mag ein Übertragungsfehler sein. Aber die (mißachtete) "Würde" des (sic!) Menschen als "bloßen Arbeiters". Der "vollständige Mensch" ist, um diesen "Begriff" einmal ernstzunehmen und keine blutigen Scherze damit zu treiben, die Gesamtheit aller unterm heutigen Imperialismus vermittelten Individuen. Einschließlich derer, die neulich ein vielbeachtetes, wenn auch historisch relativ unbedeutendes Massaker angerichtet haben. Insofern hat dies Gerede auch einen wahren Kern: der bürgerliche Mensch findet seine Zwecke stets außerhalb seiner individuellen Existenz vor, obwohl er genötigt ist, sie als seine höchst eigenen und privaten zu verfolgen. Doch um ihn just darüber zu trösten, genau dazu ist der Begriff "Würde" (u.a.) da!

(26) Die in diesem Buch vorgelegte Interpretation versteht sich selbst als geschichtlich. Die Kapitalismuskritik, die auf einer Analyse der Besonderheit der Formen von Arbeit und Reichtum in dieser Gesellschaft basiert, sollte ihrerseits im Kontext der geschichtlichen Entwicklungen gesehen werden, in denen sich die Unzulänglichkeiten der traditionellen Interpretationen manifestiert haben. Meine Kritik des traditionellen Marxismus ist nicht einfach retrospektiv: um ihre eigene Geltung unter Beweis zu stellen, versucht sie, die Unzulänglichkeiten und Fallen des traditionellen Marxismus zu vermeiden und die traditionelle Interpretation der Kategorien in deren eigene kategoriale Interpretation einzubetten. Damit würde sie beginnen, ihre eigene gesellschaftliche Möglichkeit zu begründen.

Anmerkungen:

(27) [1] Vgl. dazu Marx' Analyse der relativen Wertform und der Äquivalentform in Das Kapital, Band 1 (MEW 23), S. 64 - 78.

[2] MEW 23, S. 87

[3] MEW 23, S. 95

[4] Vgl. in diesem Sinne etwa Maurice Dobb: Political Economy and Capitalism, London 1940, S. 76 - 78

[5] Vgl. etwa Karl Kautsky: Karl Marx' oekonomische Lehren, Stuttgart 1906, S. 262 - 263

[6] MEW 23, S. 96 FN 33

[7] Für eine ausführliche Kritik dessen, was er »Links-Ricardianismus« nennt, vgl. Hans Georg Backhaus: Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie, in ders.: Dialektik der Wertform, Freiburg 1997 [zuerst 1974, 1975 und 1978].


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