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Selbst-Bewegung statt Auto-Mobilismus

Maintainer: Lothar Galow-Bergemann, Version 1, 22.07.2001
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Zur Perspektive einer Bewegung gegen den Mobilis-Muß als emanzipatorischer Praxis.

(1) Daß nur noch die Gedanken frei seien und sonst nichts mehr, ist eine Horrorvorstellung. Sollen Kritik und Analyse auf Dauer mehr bewirken, als selbstgenügsame Insassen von Elfenbeintürmen mit Erkenntnis und Gedankenfutter zu versorgen, so müssen sie immer wieder auf ihre Tauglichkeit als Zugang zu Praxis erprobt werden. Wenn so viele Ansätze mit emanzipatorischem Anspruch gescheitert sind und dies mit guten Gründen, so gilt es, daraus lernend nach neuen Ansätzen zu suchen.

(2) Im folgenden sollen zwei Thesen belegt werden.

Was zu beweisen wäre.

Die Zerstörungskraft des Auto-mobilis-Muß

(3) So bekannt die brutalen Tatsachen sind, so hartnäckig werden sie tagtäglich von Millionen verdrängt. Die Autogesellschaft hat in ihrer hundertjährigen Geschichte Tote und Verstümmelte in der Größenordnung von Weltkriegen auf den Straßen hinterlassen. Nigeria und Tschetschenien sind aktuelle Beispiele dafür, wie für den Treibstoff Öl Kriege geführt und Menschen ausgerottet werden. Ein besonders ergiebiges Opfer des automobilen Alltagsterrors sind Kinder - ihrem Bewegungsdrang zu folgen, kann sie im Handumdrehen zu "Schuldigen" in der sogenannten Straßenverkehrsordnung machen, oft wird die Todesstrafe gleich an ihnen mitexekutiert. Sie werden körperlich und seelisch verkrüppelt, schon als Säuglinge müssen sie mit quälenden Allergien für das Auto bezahlen und ihre Eltern werden genötigt, sie zu kleinen und gefügigen Untertanen der Autodiktatur zu dressieren, sobald sie die Haustür verlassen.

(3.1) Re: Die Zerstörungskraft des Auto-mobilis-Muß, 11.11.2001, 20:36, Boris Boger: Ich stimme in den meisten Punkten mit dem Verfasser überein, wobei ich die Aussage "schon als Säuglinge müssen sie mit quälenden Allergien für das Auto bezahlen" nicht so stehen lassen kann. Für die Allergien sind hauptsächlich die falschen Hygienevorstellungen und auch die Vergiftung unserer Lebensmittel verantwortlich zu machen, Autos, bzw. die von ihnen verursachten Abgase spielen dabei "nur" eine untergeordnete Rolle

(3.1.1) Re: Die Zerstörungskraft des Auto-mobilis-Muß, 24.01.2003, 11:51, Benni Bärmann: Beides sind unbewiesene Behauptungen. Man weiß schlicht noch nicht, was die Auslöser von Allergien sind. Wer auch immer eine Theorie aufstellt, die dies erklären will, sollte jedoch einen wirklich hoch interessanten Fakt erklären können: In der DDR gab es eine deutlich geringere Zahl von Allergien und nach der Wende hat sich innerhalb von wenigen Jahren das Niveau angeglichen. Zumindestens einen wichtigen Allergieauslöser muß man also in den unterschiedlichen Lebensbedingungen im Westen und im Osten suchen. Das die Hygiene nun im Osten geringer gewesen sein soll, als im Westen glaube ich nicht. Der Autoverkehr oder die Ernährungsgewohnheiten scheinen mir da schon eher wahrscheinliche Kandidaten zu sein.

(3.1.2) Re: Die Zerstörungskraft des Auto-mobilis-Muß, 29.03.2004, 11:22, s w: Hier werden einige Berichte vom Umwelt- und Prognose- Institut Heidelberg, die sich u.a. mit gesundheitlichen Folgekosten für Kinder / Erwachsene z.B. durch Ozon / Dieselemissionen befassen, online vorgesetellt: http://www.upi-institut.de/UPIBerichte.htm

(4) Jede zweite Tankerkatastrophe geht zu Lasten der Autoflotte, denn sie säuft die Hälfte des über die Weltmeere transportierten Öls. Landschaften und Siedlungen werden zerstört, zubetoniert, geschändet. Man braucht nur wenig Phantasie, um sich auszumalen, wieviel Schönes und Sinnvolles sich in den Städten mit all dem Raum anstellen ließe, den das Automobil heute plattmacht. Ausgerechnet ein Ding, daß sich auto-mobil (also selbst-bewegend) nennt, erzeugt massenweise Bewegungsmangel, Haltungsschäden, Fettleibigkeit - und das oft schon in früher Jugend. Fortschreitende Vergiftung der Atmosphäre, Lungenkrebs, Lärm-Terror (allein in Deutschland sterben jährlich 3000 Menschen an den Folgen des Lärms, der wiederum zu 70% vom Autoverkehr verursacht wird)... die Liste der Greuel ließe sich leider noch lange fortsetzen. Unbestritten ist: würde sich das Auto in dem Maße über den Erdball verbreiten, wie das bereits heute in den sogenannten entwickelten Ländern der Fall ist, würde das weltweite Ökosystem endgültig zusammenbrechen. Und ein Blick nicht nur auf China zeigt, daß wir auf dem Weg dahin sind.

(5) Aber der Automobilis-Muß richtet nicht nur physische, sondern auch psychische Zerstörungen an und diese sind vielleicht sogar die gefährlichsten. Das Wort Automobil setzt sich bekanntlich aus dem griechischen autos (selbst, selber, ich selber) und dem lateinischen mobilis (beweglich) zusammen. Die Ideologie der Autogesellschaft behauptet nun: dieses Ding ist ein Mobil. Wie schön, daß die Alltagssprache wenigstens manchmal so verräterisch ist - sie kommt gleich auf den Punkt und nennt es offen und ehrlich: ein Auto. Es geht also offenbar psychologisch viel weniger um das mobilis als um das autos. Tausendfach spielt sich jeden Tag aufs Neue die folgende unglaubliche Geschichte ab: "Wo stehst Du?" fragt ein Mensch einen anderen, obwohl der direkt vor seiner Nase steht. Nach Lage der Dinge wäre es angebracht, daß dieser ihm nun den Vogel zeigt und ihn seinerseits fragt, ob er keine Augen im Kopf habe, denn er sehe doch schließlich, daß er hier vor ihm stehe. Tatsächlich jedoch geht der solchermaßen Angesprochene ganz ernsthaft auf die Frage ein und antwortet den haarsträubenden Satz: "Ich stehe da hinten links um die Ecke, nach zwanzig Metern auf der rechten Seite."

(6) Also: Ich bin mein Auto. Nicht: ich bin mein autos, bin mein selbst, bin selbstbestimmt, bin bei mir - so wie es in einer nicht entfremdeten, emanzipierten Gesellschaft der Fall wäre. Ich sehne mich zwar, unbewußt meist, danach, mein autos zu sein - aber ich bin nur eine jämmerliche Karikatur desselben, mein Auto eben.

(7) Wer meint, die Herrschaft der totalen Wertvergesellschaftung sei zu abstrakt, als daß sie noch, wie frühere Herrschaftsformen, in konkreten Bildern geschaut und erlebt werden könne, irrt: Dem Beobachter am Straßenrand bieten sich höchst anschauliche Bilder, die einen tiefen Einblick in die Verfaßtheit dieser Gesellschaft gewähren. Da sitzen atomisierte Individuen, meistens alleine, eingepanzert in eine Tonne Stahl und Kunststoff, getrennt voneinander und doch in ihrem Tun unlöslich miteinander verbunden. Jeder kämpft gegen jeden. Schneller sein als der andere, effektiver sein im Kampf um Spur und Parkplatz. Möglichst viel Zeit herausschlagen, aber doch nie Zeit haben. Zur Unbeweglichkeit verdammt und in engen Käfigen festgeschnallt, aber im festen Glauben, es handle es sich bei dieser Veranstaltung ausgerechnet um - Bewegung. Permanent unter höchster Anspannung getrimmt darauf, die Maschine am Laufen zu halten. Die kleinste Unaufmerksamkeit gegenüber dem Diktat der herrschenden Verkehrsform kann buchstäblich die Existenz kosten - sie kann schließlich jederzeit mit der Todesstrafe geahndet werden. Sich selbst und andere ununterbrochen an Leib und Leben gefährdend. Leidend an den Folgen des eigenen Tuns, aber im Gefängnis der Vorstellung vom "Normalen" und angeblicher Alternativlosigkeit gefangen... Schaut man sich den ganzen Jammer an, so gewinnt ein berühmtes Zitat ganz neue und unmittelbare Überzeugungskraft: "Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren." (Karl Marx, MEW 23, S.89)

Das Auto und die Arbeit - eine perverse Beziehungsstory

(8) Spricht man den Durchschnitts-Autoholiker auf sein Leiden an, so wird er in der Regel früher oder später darauf verweisen, daß das Auto ja schließlich Unmengen Arbeitsplätze schaffe und ohne es "unsere Wirtschaft" kaputtginge. Womit er natürlich recht hat. Nur leider ist er sich nicht darüber im Klaren, daß das die Sache noch viel schlimmer macht... Das Auto und die Arbeit. Eine ebenso lange wie perverse Beziehungsstory. Nicht von ungefähr feiert die deutsche und österreichische Arbeiterklasse nunmehr bereits im achten Jahrzehnt Hitlers Autobahnen und Arbeitsplätze in einem Atemzug ab.

(9) Robert Kurz hat viel Erhellendes zum Thema Automobil zusammengetragen. "Im Unterschied zu den meisten Gegenständen des sinnlichen oder kulturellen Genusses konnte dieser Konsum nämlich nicht im Gebrauch seiner Inhalte aufgehen, sondern erforderte eine derart flächendeckende materielle, organisatorische und soziale Logistik, daß er geeignet war, sich zu einer zwanghaften und verinnerlichten Benthamschen "Verhaltensspur" zu entwickeln, die das System der Disziplinierungen in bis dahin unbekannte Dimensionen auszuweiten versprach. Zweitens war die mechanisierte Mobilität von allen Formen des Konsums dem Charakter eines Investitionsguts am ähnlichsten ... Das Kapital mußte also gewissermaßen statt des Billets für die "Dienstleistung Mobilität" gleich das Betriebsmittel selber verkaufen - jedem kapitalistischen Menschen seine eigene kleine Privatlokomotive!" (Schwarzbuch Kapitalismus, S. 367f.) Die Namen Ford und Taylor stehen gleichermaßen für den Übergang zu Massenproduktion und Massenkonsum dieser "kleinen Privatlokomotiven" wie für eine bis dahin unbekannte, ungeheure Steigerung des Ausbeutungsgrades derjenigen, die diese Dinger produzierten. Die Massen haben sich dem - ganz offensichtlich willig - gefügt und Fords Konterfei zierte gleichermaßen die Schreibtische von Hitler wie Lenin.

(10) So wurde das Automobil "... zum Schlüsselprodukt in der Vollendung der kapitalistischen Produktionsweise. In seiner Vermassung mauserte es sich zu mehr als einer bloßen Ware unter anderen: Es begann den gesamten Raum- und Zeithorizont zu erfassen, bereitete eine strukturelle Integration von Produktion und "Freizeit" vor, besetzte allmählich die soziale Organisationsform bis hinein in das intime und familiäre Alltagsleben, eroberte sogar die gesellschaftlichen Phantasien und Imaginationen." Der Kapitalismus wurde "durch und durch zur Auto-Gesellschaft." (a.a.O. S. 386)

Der Irrsinn der Mobilität - Kapitalismus ist Mobilis-Muß

(11) Es gibt keinen "objektiven" technischen Fortschritt, der sich quasi unabhängig von sozialen Verhältnissen entwickeln würde. Das Auto selbst ist im Prinzip eine alte Kiste. Ein erhitzter Dampfkessel, der ein Gefährt auf vier Rädern bewegte, wurde bereits vor 2300 Jahren im antiken Griechenland erfunden. Ein Produkt des modernen Kapitalismus ist dagegen die automobile Gesellschaft. Daß sie im alten Athen nicht entstand, widerlegt übrigens die These, wonach die Faszination des Autos auf einem dem Menschen angeblich angeborenen "Drang nach Mobilität" beruhe. Offensichtlich ließ das Ding die alten Griechen nämlich ziemlich kalt.

(12) Der Mensch braucht eben - wie alles Lebende - Bewegung. "Mobilität" ist etwas völlig anderes. Sie ist - wie "Arbeit" - ein inhaltsleeres Abstraktum, nicht zufällig entstehen beide Begriffe erst mit der Entfaltung der Warenproduktion. Und wie die Arbeit ist auch die Mobilität allerdings eine Realabstraktion, d.h. von gesellschaftlich höchst realer Wirksamkeit.

(13) Wer sich's antun will, stelle sich auf eine Autobahnbrücke oder auf die "Besuchertribüne" eines Flughafens. Von dort aus läßt sich's trefflich über den Schwachsinn der Marktwirtschaft räsonnieren. Hier begegnet einem nicht nur jener berühmte Joghurtbecher auf seinen 8000 Autobahnkilometern bis ins Verkaufsregal. Auch der Apfel aus Neuseeland ist dort gerade auf dem Weg zum Marktstand in Fulda, ebenso wie das Kartenlesegerät aus Stuttgart, das den Weg ins angrenzende Esslingen über Flensburg nehmen muß, weil es aus Gründen betriebswirtschaftlicher Effizienz dort verpackt wird. Und der Tourist, der nach seiner fragwürdigen "Erholung" vom jährlichen Arbeitsterror an einer 10 000 Flugkilometer entfernten Bar nebst ein paar Palmen und Sandstrand "all inclusive" lechzt, drängelt sich zwischen seinesgleichen durchs Terminal.

(14) Und wieder drängt sich dem Zuschauer spontan ein Zitat auf: "Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist ... Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos." (Karl Marx, MEW 23, S.167, Hervorhebung durch den Autor) Der alte Charly hat hier ganz nebenbei - und sicherlich auch völlig unbeabsichtigt - eine schöne Definition von "Mobilität" geliefert. So wie "Arbeit" die heruntergekommene, menschenfeindliche, selbstzweckhafte, eben kapitalistische Form von Tätigkeit ist, so ist "Mobilität" die heruntergekommene, menschenfeindliche, selbstzweckhafte, eben kapitalistische Form von Bewegung.

(15) Die "totale Mobilmachung" ist Ergebnis und Voraussetzung der entfesselten Warenproduktion. Nicht zufällig haben sich die Herren Westerwelle und Möllemann zwei zentrale Begriffe ausgesucht, mit denen sie in den nächsten Bundestagswahlkampf ziehen wollen: "Privatisierung" und "Mobilität". Die beiden Zauberworte eines restlos durchgeknallten Kapitalismus.

(16) "Mir ist sonnenklar, daß die vielen Autos unsere Lebensqualität untergraben" sagt Lohnarbeiterin Lieschen Müller, "aber zur Sicherung meiner Lebensqualität brauche ich mein Auto." Da kann sie dem ehemaligen BMW-Chef die Hand geben, von dem der unvergeßliche Spruch stammt: "Wir wissen zwar ganz genau, daß es viel zu viele Autos gibt, aber unser Problem ist, daß es zu wenige BMWs gibt." Kapitalismus ist eben Irrsinn. Betriebswirtschaftliche Rationalität und die Rationalität des Geld-verdienen-müssens-um-leben-zu-können sind irrational. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist der Automobilis-Muß ein genuin kapitalistisches Produkt. Ginge es um Fortbewegung und Beförderung von Lasten, wären andere Techniken vonnöten als eine, die mehr als 1000 kg Metall und Kunststoff in Bewegung setzt, damit 60 oder 80 Kilo Mensch den Ort wechseln können.

Zu den Perspektiven einer Anti-Auto-Bewegung

(17) Eine Bewegung gegen den Mobilitätszwang, die sich in erster Linie am Automobil und dessen Folgen (wie übrigens auch am Flugverkehr) festmachte, hätte gute Chancen, zu einer Befreiungsbewegung neuen Typs zu werden. Sie träfe auf eine ganze Reihe günstiger Voraussetzungen. Nicht nur sind die katastrophalen ökologischen und gesundheitlichen Folgen so ziemlich jedem bekannt, der noch in der Lage ist, drei Informationen aufzunehmen und einen zusammenhängenden Gedanken nachzuvollziehen. Die Kenntnis von Tatsachen allein reicht ja, wie wir zur Genüge wissen, leider nicht aus als Anstoß für eine wirkliche Bewegung. Was da schon hoffnungsvoller stimmen kann, sind die folgenden Umstände:

(18) 1.) Es gibt eine weitaus größere Anzahl von Menschen, die ohne Auto leben, als dies im öffentlichen Bewußtsein gemeinhin angenommen wird. Laut Statistischem Bundesamt hatten 1998 in Westdeutschland 23,8% aller Haushalte kein Auto. Und zwar in Gemeinden unter 5000 Einwohnern 4,8%, bis 20000 Einwohner 15,8%, bis 100000 Einwohner 21,0%, bis 500000 Einwohner 31,1%, über 500000 Einwohner 40,6%, in Berlin sogar 50%. Wer sich auf die Straße stellt und die Leute befragt, kommt - wohl zu seiner eigenen Überraschung - schnell dahinter, daß an diesen Zahlen was dran sein muß.

(19) 2.) Es gibt trotz allem - zumindest in unseren Regionen - für die allermeisten Menschen sehr viele und sehr gute Möglichkeiten, ohne Auto zu leben. In den meisten Fällen, wo auf die Unverzichtbarkeit des eigenen PKW gepocht wird, erweist sich als wahrer Grund sehr schnell ein Mangel an Phantasie und die Angst, anders zu sein als die andern.

(19.1) Re: Es gibt trotz allem - zumindest in unseren Regionen - für die allermeisten Menschen sehr viele und sehr gute Möglichkeiten, ohne Auto zu leben., 01.10.2005, 00:04, Sebasbtian Claubert: Ich weiß nicht wo sie wohnen, bei mir mit ein paar bussen am Tag wird schon ein Umfangreicher einkauf ohne Auto zur Logistischen und körperlichen Meisterleistung. Wie ich ohne Auto zur Arbeit kommen soll müßten sie mir auch erklären.

(19.1.1) Re: Es gibt trotz allem - zumindest in unseren Regionen - für die allermeisten Menschen sehr viele und sehr gute Möglichkeiten, ohne Auto zu leben., 01.10.2005, 12:25, Lothar Galow-Bergemann: Ich lebe so wie 80% aller Menschen in Mitteleuropa in einem städtischen Raum mit relativ gut entwickeltem Öffentlichen Nahverkehr. Mag sein, dass Sie zu der Minderheit gehören, die auf dem Land lebt. Selbstredend kann ich Ihnen keine konkreten Ratschläge für Ihre persönliche Situation geben. Aber ich möchte Ihnen die Seite http://www.autofrei.de empfehlen. Dort finden Sie viele Tipps, u.a. auch die Broschüre "autofrei leben! - aber wie? Wir holen Sie da raus..." mit jeder Menge Ratschlägen und Hinweisen:# http://www.autofrei.de/wb/pages/verein-aktiv/ver%F6ffentlichungen.php

(20) 3.) Es gibt flächendeckend sehr viele Proteste gegen die Folgen der Mobilität - ein Blick in die kommunale Berichterstattung jeder x-beliebigen Tageszeitung genügt: Bürgerinitiativen, Unterschriftensammlungen, Leserbriefe, sei es gegen Lärm und Dreck, gegen die Gefährdung von Leib und Leben, gegen die Zerstörung von Wohnqualität, für sichere Fußwege für Schulkinder etc.pp. Daran ändert auch nichts, daß sehr viele der solchermaßen Protestierenden den Gegenstand ihres Protests selber verursachen. Denn das ist eben genau die für die Warengesellschaft typische Bewußtseinsspaltung, die uns logischerweise auch hier begegnen muß.

(21) 4.) Es gibt darüber hinaus eine "radikale Fraktion" von Leuten, die sich bewußt vom Auto verabschiedet haben und dies als Befreiung erleben. So existieren z.T. seit vielen Jahren eine Reihe von Initiativen, die sich explizit und konkret gegen den Automobilis-Muß wenden: Autofreie Wohngebiete sind entstanden, weitere in Planung, Gruppen wie NAIV (NichtAutofahrerInteressenVertretung) oder Carwalker, Aktionsformen wie Critical Mass oder Reclaim the Streets bilden sich heraus und sammeln Erfahrungen im direkten Widerstand gegen den alltäglichen Auto-Terror. Die Initiative "autofrei leben" ist der bisher einzige überregionale Zusammenhang, der sich ausdrücklich dem Kampf gegen den Autowahn widmet. Sie formuliert als Ziel: "Eine Welt, in der die Menschen nicht mehr rasen - nicht aufeinander drauf, nicht aneinander vorbei und nicht voreinander weg. Eine Welt, in der die Menschen Zeit haben - füreinander, für sich selbst und für die Natur, deren bewußter Teil sie sind und sein wollen. Eine Welt, in der die Menschen nicht mehr durch das Hamsterrad von Wirtschaftswachstum und Geldvermehrung gehetzt werden. Eine Welt, in der nach menschlichem Maß gewirtschaftet wird und in der die Menschen auch im übertragenen Sinn ganz anders miteinander verkehren."

(22) 5.) Dies alles bewegt sich in einem "günstigen Umfeld". Denn es gibt beispielsweise ein sehr verbreitetes Unbehagen am herrschenden Diktat der Schnelligkeit. Der kalte Takt der toten, abstrakten Zeit ist Folge und Existenzbedingung der Warenproduktion - das, was wir unsere Innere Uhr nennen, ist aber konkret, ist warm, ist Leben. Die Sehnsucht nach dem Ausspannen, Abschalten-Können ist groß. Keiner hat Zeit. Wer sich hinstellt und sagt: "Ich habe Zeit - ich muß nicht schnell sein" wird, auch wenn er möglicherweise gleich dem arbeitsscheuen Gesindel zugerechnet wird, doch innerlich sehr beneidet.

(23) 6.) Es gibt auch eine nicht unbeachtliche Anzahl von Menschen, die sich dem herrschenden Arbeits- und Konsumwahn gegenüber mehr oder weniger distanziert verhalten, weil sie für sich persönlich andere Vorstellungen von Lebensqualität entwickelt haben, die nicht oder nur noch teilweise mit den täglichen Diktaten der Marktwirtschaft kompatibel sind.

(24) Dies nun ist das eigentlich Spannende. Denn auch wenn die wenigsten von denen, die solche Vorstellungen und Lebensstile entwickeln, dies mit unmittelbar politischen Motiven verbinden, so sind das doch beachtenswerte Momente einer sich herausbildenden emanzipatorischen Bewegung neuer Art. Typisch für diese Bewegung ist, daß sie mit dem Hinterfragen des Alltags beginnt, also mit dem, was klassische altlinke "Politik" in trauter Übereinstimmung mit der herrschenden Ideologie als "privat" und "unpolitisch" abzutun gewohnt ist. Einfach anfangen, anders zu leben - individuell, besser noch kollektiv. Austesten, wie weit das gehen kann, gemeinsame Spielräume phantasievoll und in Auseinandersetzung mit der "feindlichen Umwelt" ausweiten...

Exkurs: Die Sprengkraft der Frage nach der Lebensqualität

(25) Emanzipatorische Bewegung heute in den kapitalistischen Zentren - das ist die Herausbildung und der Kampf um solche neuen Vorstellungen von Lebensqualität, die sich nicht von der schönen Maschine der Wertverwertung vereinnahmen lassen.

(26) Es geht um das Recht auf ein glückliches und erfülltes Leben für alle Menschen auf der Erde. Der Kampf um dieses Recht beginnt mit der Frage: Was ist eigentlich Lebensqualität? In dieser Frage steckt heute enorme gesellschaftliche Sprengkraft. Sie beinhaltet nach wie vor die alte und aktuell gebliebene Forderung nach dem universellen Zugang zu Nahrung, Wohnung, Gesundheit und Bildung für alle Menschen. Aber sie erschöpft sich schon lange nicht mehr darin. Sie kann nicht bei der Forderung nach "gerechter Verteilung des Kuchens" stehenbleiben, sie stellt vielmehr die Frage nach der Beschaffenheit des angeblichen Kuchens selbst. Sie verlangt Rechenschaft darüber, was die Gesellschaft eigentlich hervorbringt, in der wir leben, materiell und ideell.

(27) In dieser vielerorts und an tausend Themen entlang aufbrechenden Debatte spricht sich langsam - wie auch sonst - die Erkenntnis herum: "weniger, langsamer, schöner, besser". Dieser Bewußtwerdungsprozeß muß nicht in einen gesellschaftlichen Umbruch "nach vorne" münden, aber er kann es, wenn es gelingt, ihn mit der grundsätzlichen Infragestellung des Systems der blinden Wertverwertung, des Systems von Arbeit, Ware, Wert und Geld zu verbinden.

(28) Revolutionen haben bekanntlich unter anderem auch die Voraussetzung, daß Massen von Menschen nicht mehr so weiterleben wollen als bisher. Davon sind wir heute einerseits sehr weit entfernt. Denn die große Mehrheit der Menschen verwechselt ein Leben zwischen der wechselweisen Erniedrigung durch Arbeit und Konsum hartnäckig mit Lebensqualität. Trotzdem entwickelt sich andererseits neues revolutionäres Potential in Keimform an vielen Orten, in vielen Herzen und Hirnen. Es entsteht auf höchst spannende und subversive Weise dort, wo der angebliche Reichtum der Waren- und Arbeitswelt als Armut, als Gefängnis, als Verhöhnung des Menschen begriffen wird.

(29) Dort, wo Fragen gestellt werden wie diese:

Der mögliche Beitrag wertkritischer Analyse in der Auseinandersetzung um Lebensqualität

(30) Zur Beantwortung solcher Fragen hat die arbeiterbewegungs-marxistische Mehrwertkritik bekanntlich nichts beizutragen. Wohl aber die Wertkritik. So kann die Mehrwertkritik z.B. nichts beitragen zur Erhellung des Widerspruchs zwischen unserer "biologischen Uhr" und der kalten Vertaktung der Zeit unter den Zwängen der Wertverwertung - also zur Aufklärung des herrschenden Diktats der Schnelligkeit. "Viele Menschen empfinden ihr 18. Lebensjahr als die Mitte ihres Lebens, gleichgültig, ob sie 40 oder schon 70 sind." In Extremsituationen scheint alles wie in Zeitlupe abzulaufen. "Für ein Lebewesen gibt es offenbar keine objektive Zeit" Der Mensch hat eine innere Uhr, diese befindet sich "in Kollissionskurs mit unserer Nonstop-Gesellschaft". (Alle Zitate aus GEO 4/99)

(31) Die Mehrwertkritik kann das nicht erfassen. Sie kann es bedauern, wie jede bürgerliche Sicht. Sie kann sagen, das muß anders werden, aber sie kann nicht sagen wie. Die Wertkritik dagegen erklärt die "objektive Zeit" als eine Notwendigkeit der Warenproduktion. Der Wert bestimmt sich nach dem Quantum der vergegenständlichten abstrakten Arbeit, die bar jeder qualitativen Bestimmung ist, also rein quantitativ zu bestimmen ist. Diese Bestimmtheit ist die objektive Zeit. Die objektive Zeit ist eine "Errungenschaft" der Warengesellschaft. Unsere Biologie rebelliert dagegen. Gut zu leben, eine Lebensweise in Übereinstimmung mit unserer inneren Uhr zu finden, heißt die Warenproduktion zu überwinden.

(32) Oder eben das Thema Auto: Zu der allseits unbestrittene These, daß es das Aus für den Planeten hieße, wenn alle Menschen soviel Autos hätten wie in den sogenannten hochentwickelten Ländern, fällt der Mehrwertkritik nur ein hilfloses "Es muß halt sinnvoll produziert werden" ein. Aber auf Dauer nur noch einen Bruchteil der Autos von heute zu produzieren, den Irrsinn der Mobilität zu überwinden, das ist nur sinnvoll außerhalb von Warenproduktion und Arbeitsfetischismus.

(33) Der Mehrwertkritik bleibt es sogar unbegreiflich, warum der herrschende Mobilitätswahn überhaupt ein solcher sein soll. Zu der Vorstellung, daß Menschen beispielsweise vorsätzlich kein Auto haben wollen, weiß sie lediglich unisono mit dem Alltagsbewußtsein zu rufen: Kein Verzicht! Dabei gibt es so viele unterschiedliche Motive dafür, die alle damit zu tun haben, daß man endlich aufhören will, zu verzichten.

(34) Auf der zweiten bundesweiten Konferenz "autofrei leben!", zu der sich 1999 in Weimar 250 Menschen versammelt haben, wurden solche Motive zusammengetragen wie: Kontaktmöglichkeiten im öffentlichen Verkehr - Natur genießen - weniger Verantwortung für die Gefährdung von Menschenleben haben - Spaß am Anderssein - ich habe mehr Bewegung - mein Reden und mein Handeln sollen mehr übereinstimmen - seitdem ich kein Auto mehr habe, bin ich gesünder geworden - ich will bewußt langsamer leben - ich möchte kein unfreiwilliger Organspender sein - meine Kinder fahren nicht gerne Auto - meine Stadt soll schöner werden - Auto fahren macht einsam - ich will die Landschaft betrachten - Autos sind häßlich - ich habe eine gute Ausrede, weil ich meine Schwiegermutter nicht mehr vom Bahnhof abholen muß...

(35) Die Mehrwertkritik kann "etwas nicht haben" immer nur als Ausdruck von Zukurzkommen und Ungerechtigkeit verstehen, nicht als Gewinn und unterscheidet sich insofern nicht vom trivialen Alltagsbewußtsein. Dabei ist MarxistInnen im Prinzip bekannt, daß Freiheit immer auch Freiheit von etwas ist. Die Wertkritik hingegen weiß, daß sich die Widersprüche der Warenproduktion heute auf allen gesellschaftlichen Ebenen bis hinein in die einzelnen Individuen entfalten. Wir erleben und durchleben ein gespaltenes Irresein nicht nur der Gesellschaft als ganzes, sondern auch der und des Einzelnen. Das offenbart sich nirgendwo so deutlich als im Mobilitätswahn.

(36) Es steht nicht weniger auf der Tagesordnung als die Herausbildung neuer Vorstellungen, neuer Konzeptionen und neuer Praktiken der Befreiung. Der Kampf gegen den dem Kapitalismus innerlichen Mobilis-Muß kann ein wichtiges Experimentierfeld dafür werden, möglicherweise sogar mehr.


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