Home   Was ist ot ?   Regeln   Mitglieder   Maintainer   Impressum   FAQ/Hilfe  

Konflikt, Kooperation und Konkurrenz - Überlegungen zur Selbstzerstörung der Menschheit - Teil 1

Maintainer: Martin Auer, Version 1, 25.02.2002
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1)

Die größte Bedrohung kommender Generationen ist das Fortbestehen der Institution Krieg.

(1.1) Ja, richtig!!!, 26.02.2002, 18:08, Annette Schlemm: Genau deshalb müssen wir unseren Kopf wirklich anstrengen und uns überlegen, was schief läuft...
Ich werde hier in der Diskussion einbringen, was ich Martin zuerst schon per Mail schrieb.
Zuerst fiel mir auf, daß in der Fragestellung und der Methode, ALLES einbeziehen zu wollen, und auch ungefähr die Ansatzpunkte, gleichen sich Dein Text und meine beiden ersten Bücher sehr stark.Irgendwie liegt diese Betrachtungsweise wohl wirklich sehr nahe! Und ich freue mich natürlich sehr, einen Gleichgesinnten zu haben. Aber grad weil ich fast denselben Weg gegangen bin, wird mir natürlich sehr deutlich, wo ich bei der Arbeit bzw. inzwischen für mich neue und meiner Meinung nach auch angemessenere Inhalte und Vorgehensweisen gefunden habe. Deshalb ist grad wegen unsrer Nähe die Kritik so ausführlich ausgefallen...

(1.2) Ameisen, 11.12.2003, 11:00, Honigtopf Ameise: Wir Ameisen sehen das genau so!!!

(2)

Im Verlauf ihrer Entwicklung hat die Menschheit es gelernt, immer größere und konzentriertere Energiemengen zu bündeln und zur Umsetzung menschlicher Absichten einzusetzen. Spätestens seit der Entwicklung der Atomwaffen sind diese Energiemengen so groß, dass die Menschheit in Stand gesetzt ist, sich selbst auszulöschen. Dass die Massenvernichtungsmittel nicht zum Einsatz kommen, darf wohl als Grundvoraussetzung dafür angenommen werden, dass es zukünftige Generationen überhaupt geben wird. Die Abschaffung des Kriegs ist das erste, was künftige Generationen von uns zu fordern das Recht haben. Aber auch der gewaltige Energieumsatz der Menschheit in anderen Formen, von den fossilen Brennstoffen, Riesenstaudämmen und Atomkraftwerken angefangen bis zu Hochleistungsgetreidesorten und Kunstdünger erweist sich immer mehr als problematisch.

(3)

Zivilisation: exponentielle Steigerung des Energieumsatzes und der Arbeitsproduktivität

(3.1) Gewinnsteigerung, 11.12.2003, 11:02, Honigtopf Ameise: Wir haben unseren Absatz im letzten Jahr um 50% gesteigert!

(4)

In den Hunderttausenden von Jahren, in denen sich die Menschheit entwickelte und über die Erde ausbreitete, hat sich ihr Energieumsatz zunächst nicht von dem anderer fleischfressenden Säugetiere unterschieden. Der erste große Sprung kam mit der Zähmung des Feuers, das die Menschen nicht bloß zum Kochen, zum Härten von hölzernen Speeren und zum Desinfizieren benutzten, sondern auch für Treibjagden, bei denen sie zuweilen riesige Flächen abbrannten und ganze Tierherden auf einmal ausrotteten.[1] Mit dem Feuer hatten die Menschen zum ersten Mal die Möglichkeit, gewaltige Überschüsse über den augenblicklichen Bedarf zu „erwirtschaften“. Doch da diese Überschüsse in Form von schnell verderblichem Fleisch vorlagen, konnten diese Überschüsse noch nicht in die Zukunft investiert werden.

(5)

Erst mit dem Übergang zur Landwirtschaft vor ca. 10.000 Jahren begann die Epoche, in der der Energieumsatz der Menschheit, und damit die Produktivität der menschlichen Arbeit, ihre umweltverändernde Kraft, exponentiell zunahm bis zum Erreichen der Selbstvernichtungsfähigkeit.

(6)

Es ist im Grunde diese Steigerung der Fähigkeit, die Umwelt zu beeinflussen und zu verändern, was landläufig mit dem Wort Fortschritt bezeichnet wird.

(7)

Dieser Fortschritt ist nicht einfach eine technologische Entwicklung, bei der jeweils ein kluger Kopf eine Erfindung macht auf der Basis der Erfindungen vorangegangener kluger Köpfe. Der Fortschritt beruht in erster Linie auf einem Prozess der Konzentration der physischen und geistigen Kräfte von immer mehr Menschen. Erst durch diese Konzentration der Kräfte wurde es möglich, diese Erfindungen zu machen und in die Praxis umzusetzen.

(8)

Diese Konzentration der Kräfte wurde in der Epoche der Zivilisation, also den 10.000 Jahren seit dem Übergang zur Landwirtschaft, in der Hauptsache durch Krieg, Unterwerfung und Ausbeutung herbeigeführt.*

(9)

Natürlich interessieren uns diese Erscheinungen als Probleme der menschlichen Gesellschaft. Um ihre Wurzeln zu ergründen, wird hier die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft als ein Spezialfall der Selbstorganisation von Systemen betrachtet.

Selbstorganisation: Zufall und Gesetzmäßigkeit bei der Bildung der Materie

(10)

Unsere scheinbar so bunte und vielfältige Welt besteht aus wenigen, einander ähnlichen Grundbausteinen. Diese setzen sich zu unterschiedlichen und immer komplexeren Mustern zusammen. Muster sind Bereiche von erkennbarer Ordnung, die sich sowohl von Bereichen chaotischer Unordnung als auch von Bereichen toter Gleichförmigkeit unterscheiden. Diese Bereiche komplexerer Ordnung nehmen bei ihrer Bildung Energie auf und geben sie bei ihrem Zerfall an die Umgebung ab. Stabile Muster können Bestandteile komplexerer Muster werden. Instabile Muster zerfallen.

(10.1) Bla Bla Bla..., 11.12.2003, 11:04, Honigtopf Ameise: Ich und meine Gevolkschaft sehen ds genau so!

(11)

Schon bei der Bildung der Materie spielen die zwei Faktoren Zufall und Auslese eine Rolle. Zur Veranschaulichung stelle man sich eine große Anzahl einfacher Legosteine vor, die in einem großen Gefäß heftig geschüttelt werden. Durch das Schütteln werden einige Steine aneinander haften bleiben. Doch es werden sich nur dann Steine verbinden, wenn die Oberseite eines Steines (mit den Druckknöpfen) an die Unterseite eines Steins (mit den entsprechenden Öffnungen) gepresst wird. Und auch da nur solche, die parallel oder rechtwinklig aneinandergepresst werden (mit dem kleinen Spielraum, den die Elastizität des Plastiks bietet). Alle Steine, die durch Zufall in anderen Konstellationen aneinandergepresst werden, fallen wieder auseinander. Das zufällige Schütteln wird die Steine in allen nur denkbaren Winkeln und Konstellationen aneinander pressen, doch die inneren Eigenschaften der Steine selbst (mit rechtwinklig angeordneten Knöpfen an der Oberseite, ebenso gerichteten Öffnungen an der Unterseite und glatten Seitenwänden) wie auch die äußeren Bedingungen (Größe des Gefäßes, Intensität des Schüttelns) selektieren aus den unendlich vielen vom Zufall herbeigeführten Konstellationen die viel kleinere (aber vielleicht auch unendliche) Zahl von möglichen stabilen Konstellationen. Welche Konstellationen tatsächlich realisiert werden, lässt sich nicht voraussagen, aber es lassen sich Konstellationen nennen, die von vornherein unmöglich sind.

(11.1) "Auslese?", 26.02.2002, 18:09, Annette Schlemm: Ich würde hier nicht das Wort "Auslese" verwenden. Das ist ein Fachbegriff aus der Ebene der Biologie und gilt in der Physik höchstens metaphorisch. Da aber schon viel zu viele Leute vieles unzulässig aus einem in ein anderes Gebiet übertragen, würde ich es vermeiden, Begriffe übergreifend zu verwenden, die nicht wirklich aus dem gerade besprochenen Fachgebiet kommen oder aus einer allgemeineren Ebene. Wenn schon, kenne ich die Selektionstheorie für die Astronomie aus einem anderen Kontext (wo wirklich über Selektion der Galaxien gesprochen wird – von Leo Smolin). Wie könnte man das Wort "Auslese" hier ersetzen? Was Du meinst, ist für die Physik wirklich nur der Ausschluß des naturgesetzlich nicht Vorgesehenen. Naturgesetze geben vor, was (für welche Objekte mit welchen Eigenschaften) möglich ist und was nicht. Es kommt nicht zusätzlich noch ein Auslesefaktor hinzu, kein zusätzlicher Prozeß, wo noch mal der Umwelt entsprechen das Passende herausselektiert wird.

(11.1.1) Re: "Auslese?", 27.02.2002, 13:38, Martin Auer: Ich frage mich, ob hier wirklich ein prinzipieller Unterschied vorliegt oder ein gradueller. In der Biologie wird auch zunächst einmal alles ausgeschieden, was schon einmal gar nicht funktionieren kann - extrem mißgebildete Föten etwa. Auf der nächsten Ebene kommt es dann zur Auslese des besser angepassten gegenüber dem weniger gut angepassten. Mir ging's hier darum,Teilchen, Atome, Moleküle, Lebewesen gleichermaßen als Muster darzustellen - Muster unterschiedlicher Komplexität natürlich - auf die alle der gleiche Vorgang zutrifft: zufälliges Durchmischen der Elemente, Auslese der stabilen (bzw. relativ stabileren) Muster und Ausscheiden der instabilen (bzw. relativ instabileren) Muster. Bei weniger komplexen Mustern mag es nur den Gegensatz möglich/unmöglich geben. (Aber: auch bei Teilchen gibt es unterschiedliche Lebensdauer, also unterschiedliche Grade von Stabilität). Bei komplexeren Mustern gibt es Abstufungen vom Unmöglichen bis zum am besten Angepassten.

(11.2) Selbstorganisation?, 26.02.2002, 18:40, Christian Apl: möchte einen analogen Einwand - wie oben Annette - auf den Begriff der Selbstorganisation einbringen. Kann zwar jetzt nicht angeben, welches Fachgebiet da Besitzansprüche reklamieren könnte, aber schon das "Organisieren" scheint mir etwas ziemlich Menschliches zu sein, und erst recht die Selbstorganisation - das hat für mich alles viel mit Vereinbarung zu tun.

(12)

In den Quarks mit ihren sechs „Flavours“ und drei „Farben“ ist schon angelegt, zu welchen Teilchen sie sich verbinden können – und zu welchen nicht. Welche Quarks im Wirbel des Urknalls zusammenstoßen, ist zufällig. Doch zu Teilchen verbinden können sich nur solche, die zusammen „weiß“ sind, ein „rotes“, ein „grünes“ und ein „blaues“, oder ein Quark beliebiger „Farbe“ mit seinem Antiquark in der entsprechenden „Antifarbe“.[2] Verbinden können sie sich auch nur unterhalb einer bestimmten Temperatur des Universums. Es sind also innere und äußere Bedingungen, die selektieren.

(13)

In den materiebildenden Teilchen, den Protonen, Elektronen, Neutronen, ist angelegt, zu welchen Atomen sie sich verbinden können – und welche davon stabil bleiben. An welcher Stelle einer Supernova-Explosion welches Proton mit welchem Elektron zusammenstößt, ist zufällig. Aber nicht jedes beliebige Konglomerat von Protonen, Elektronen und Neutronen bildet ein Atom. Und nicht jedes Atom ist stabil. Nur bestimmte Zahlenverhältnisse sind möglich, bestimmt durch Ladung, Gravitation, starke und schwache Kernkraft.

(14)

In den Atomen mit ihren Bindungskräften (bestimmt durch die Zahl der Elektronen in der äußersten Schale) ist angelegt, zu welchen Molekülen sie sich verbinden können. Die Zahl der stabilen und wenigstens zeitweilig stabilen Elemente ist gering, 109 kennt man bis jetzt. Doch diese verbinden sich unter Energiezufuhr zu einer anscheinend unbegrenzten Vielzahl von Molekülen.

Leben: egoistische Gene oder Arterhaltung?

(15)

In den warmen Küstengewässern der jungen Erde bilden sich unter Zufuhr hoher Energien Kettenmoleküle mit katalytischen Eigenschaften. Katalysatoren beeinflussen durch ihre Gegenwart die Bildung anderer Moleküle, ohne selbst in die chemische Verbindung einzugehen. Es beginnt eine Phase, in der Katalysatoren Moleküle katalysieren, die wiederum Katalysatoren für andere Moleküle sind. Aus diesem Chaos heben sich bald Kreisläufe heraus, in denen etwa Molekül A die Moleküle B, C und D katalysiert, die ihrerseits wieder ein Duplikat von A hervorbringen. DNS-Ketten bringen Proteine hervor, die ihrerseits wieder DNS-Ketten zusammensetzen, die der ursprünglichen gleichen. Ab diesem Zeitpunkt können wir von Fortpflanzung sprechen. Wir sehen zwar noch keine abgegrenzten Individuen, aber erkennbare Kreisläufe, dynamische Muster, die sich in der Zeit wiederholen. Es ist klar, dass diese Replikatoren, eben weil sie sich replizieren, zum vorherrschenden Element werden, und andere Arten von sozusagen ziellosen Katalysatoren verdrängen. Am schnellsten vermehren sich diejenigen DNS-Ketten, die es mit Hilfe der von ihnen geschaffenen Enzyme am besten verstehen, aus den sie umgebenden Bausteinen möglichst genaue Duplikate ihrer selbst herzustellen, also zum Beispiel energiereiche Moleküle aufzubrechen und ihrem eigenen Kreislauf einzuverleiben. Es beginnt erkennbar zu werden, was Richard Dawkins den „Egoismus des Gens“ nennt.[3]

(15.1) Re: Leben: egoistische Gene oder Arterhaltung?, 03.03.2002, 19:16, Birgit Niemann: "Am schnellsten vermehren sich diejenigen DNS-Ketten,..." Ich wäre etwas vorsichtiger mit den DNS-Ketten. Plausibler ist für mich die Eigen'sche Hypothese von den Ur-RNA-Molekülen als ursprüngliche Nukleinsäure-Replikatoren. Das hängt mit der Tatsache zusammen, das RNS-Moleküle die beiden wesentlichen Eigenschaften Funktionalität und Speichermedium im selben Molekül vereinen. RNS-Moleküle wären demnach bei einer Art von ursprünglicher Replikation gar nicht unbedingt auf Proteine angewiesen. Die Trennung von Funktionalität (Proteine) und Speichermedium (DNS) scheint eher jüngeren Ursprunges und Ergebnis der Evolution von "RNS-Wesen" zu sein. Dazu passt auch die Tatsache, das RNS-Moleküle in allen rezenten Zellen noch immer die Kopplungsstellen zwischen Speicher (DNS) und Aktivität (Protein) einnehmen und im Grunde genommen gegenüber der DNS die aktiven und partikularen Formen der Gene darstellen, die durch Splicing auch eigenständige Möglichkeiten entwickeln, die nicht unbedingt auf den ersten Blick aus dem Genom herauslesbar sind.

(15.1.1) Re: RNS, 07.03.2002, 14:08, Martin Auer: Danke für den Hinweis. Das muss wirklich korrigiert werden.

(16)

„Das selbstsüchtige Gen“ ist ein provokanter Buchtitel und eine ziemliche Vereinfachung. Unter Gen verstehen wir den Abschnitt auf einer DNS-Kette, der für ein bestimmtes Protein codiert. Nun braucht es eine ganze Anzahl von Proteinen, um eine DNS zu produzieren, das heißt ein Gen alleine kann sich nicht fortpflanzen. Es ist also die DNS-Kette, die selbstsüchtig ist. Die Selbstsucht der DNS bezieht sich auf ihre Fortpflanzung und nicht unbedingt auf ihren Selbsterhalt. Und Selbstsucht darf in dem Zusammenhang natürlich nicht als psychologische Kategorie verstanden werden, sondern als ein Steuermechanismus, ein das Verhalten bestimmendes Programm.

(16.1) ein Gen alleine kann sich nicht fortpflanzen., 03.03.2002, 19:25, Birgit Niemann: Da sprechen einige sehr einfach gebaute RNS-Phagen und Transposons (springende Gene) dagegen. Auch während der Rekombination in der Meiose können es durchaus einzelne Gene sein, die sich durchsetzen (Dominanz). Der Zusammenhang, indem sie sich durchsetzen, ist natürlich der Zusammenhang eines Genoms, dessen kooperative Gesamttätigkeit einzelne Gene für ihre Durchsetzung geradezu benötigen. Man sollte Richard Dawkins Formulierungen hier durchaus ernst nehmen.

(16.1.1) Re: ein Gen alleine kann sich nicht fortpflanzen., 07.03.2002, 14:46, Martin Auer: Da wüsste ich gern noch mehr darüber.

(17)

Eine zufällige Veränderung einer DNS-Kette bleibt erhalten, wenn sie den Fortpflanzungserfolg dieser Kette, also die Produktion weiterer Duplikate, erhöht. Die Feststellung ist im Grunde eine Tautologie. Was sich vermehrt, vermehrt sich. Weniger tautologisch ist die Feststellung, dass diejenigen Muster sich schneller vermehren, die es besser verstehen, Energie einzufangen, und weniger Energie bei der Verdopplung verbrauchen. Sollte eine DNS einmal dahingehend mutieren, dass sie anders gebauten DNS-Ketten bei der Vermehrung hilft, so wird sie solche DNS-Ketten vermehren, die diese altruistische Eigenschaft nicht besitzen, und dieser schöne Zug wird wieder untergehen.

(18)

Zu den zufälligen Veränderungen, die der DNS nützlich sind, gehört die Entstehung einer Membran, eines Netzes aus Proteinfäden, das den katalytischen Kreislauf einschließt und vor dem Eindringen fremder Enzyme, die den Prozess stören könnten, oder gar die beteiligten Moleküle zum Rohstoff für einen fremden Kreislauf machen könnten, beschützt. Es entstehen abgegrenzte Individuen, Organismen, die dem Einfangen und Bewahren von Energie zum Zwecke der Vermehrung dienen. Dawkins betont, dass die Individuen nicht um ihrer selbst willen da sind, sondern nur der Vermehrung der Gene dienen, nur die Fortpflanzungsmaschinen ihrer Gene sind. Das Huhn ist die Methode des Eis, mehr Eier zu machen.

(19)

Wer hier wem dient, scheint mir freilich eine reine Frage der Interpretation zu sein. Wertfrei kann man sagen, dass die Individuen da sind, weil eine DNS sie codiert hat, und es nur solange weitere Individuen geben wird, solange sie ihre DNS weitergeben können. Um ihre DNS weitergeben zu können, müssen die Individuen eigennützig handeln. Den von Konrad Lorenz postulierten Arterhaltungstrieb[4] stellt Dawkins in Frage. Nicht das, was der Art nützt, setzt sich durch, sondern das, was der Fortpflanzung der einzelnen DNS-Ketten nützt.

(20)

Ein Beispiel: Bei fast allen sich geschlechtlich vermehrenden Arten gibt es ungefähr gleich viele Männchen wie Weibchen, obwohl wenige Männchen ausreichen würden, alle Weibchen zu befruchten und obwohl oft die Männchen nichts zur Brutpflege beitragen. Die Mehrzahl der Männchen sind also vom Standpunkt der Art unnütze Fresser. Die Art könnte den ihr zur Verfügung stehenden Lebensraum mit weniger Männchen und mehr Weibchen besser nutzen. Warum geschieht das nicht? Nehmen wir an, ein Männchen befruchtet zehn Weibchen, und nur eines von zehn Männchen kommt überhaupt zur Fortpflanzung. Dann könnte die Art auf 90% der Männchen verzichten. Nehmen wir weiters an, jedes Weibchen bekommt zehn Junge. Ein Weibchen, das zehn Töchter gebiert, wird hundert Enkel haben. Ein Weibchen, das zehn Söhne gebiert, von denen nur einer sich fortpflanzt, dafür aber mit zehn Weibchen, wird ebenfalls hundert Enkel haben. Die Eigenschaft, viele Töchter zu haben, hat also keine besseren Chancen, sich durchzusetzen, als die Eigenschaft, viele Söhne zu haben. Daher muss die Art mit den unnützen Fressern leben, ob es ihr nun nützt oder nicht.

(20.1) Zu Dawkins Egoistischen Genen, 26.02.2002, 18:12, Annette Schlemm: Du schreibst zuerst über egoistische Gene beiden ersten Lebensformen und schiebst gleich Beispiele aus der höheren Tierwelt ein, dann erfolgt wieder ein Übergang dazu daß dann Vielzeller aus Einzellern entstehen. Dawkin macht das auch so aber genau das (bei ihm) ist die irreführende Methode. Entweder ich spreche von der Ebene der Einzeller, die noch nicht in Populationen leben - dann hat das Individuum eine ganz andere Rolle als für Organismen, die sich innerhalb Populationen fortpflanzen. Das zu verwischen führt zu selbstgemachten Verwirrungen. Für die in Populationen lebenden Organismen ist - nach der inzwischen doch anerkannten Synthetischen Theorie - die Population die wesentliche Fortpflanzungseinheit. Der scheinbare Widerspruch, ob die Evolution nun dem Individuum oder der Art nützt, gibt zwei falsche Antworten vor. Letztlich klärt sich alles, wenn man die Existenz- und Entwicklungsweise der Population, den "Nutzen für die Population" betrachtet - auch wenn wir es sicher noch nicht in allen Einzelfällen durchschauen.
(Zur Verwendung der Theorien: Ich will ja nicht behaupten, daß die Synthetische endgültig bewiesen wäre. Aber es ist inzwischen doch so etwas wie ein Standard geworden und wenn ich abweiche, muß eher diese Abweichung als notwendig begründet und nachgewiesen werden als umgedreht. Dawkins ist für die Fachbiologie wirklich ein extremer Außenseiter - ihn als Standard zu bemühen, ist sehr riskant für das Weltbild. Nur, wenn ich wirklich daran glauben würde (bzw. es begründen könnte), daß er besser ist, würde ich mich überhaupt auf ihn beziehen. Oder ihn eben konsequent kritisieren.
Argumentativ könnte ich ihn "vorführen", um meine Abweichung von ihm zu verdeutlichen... Ich selber habe das immer weniger gemacht, sondern mich positiv auf die bezogen, von denen ich wirklich produktiv ausgehen kann. Wenn das für Dich wirklich Dawkin ist, wäre ich etwas enttäuscht.).

(20.1.1) Re: Zu Dawkins Egoistischen Genen, 27.02.2002, 13:39, Martin Auer: Ich weiß nicht, ob Dawkins in der Fachbiologie wirklich so ein Außenseiter ist. Jedenfalls in Amerika hat er ziemliches Gewicht. Aber das ist nicht entscheidend. Wie sich Dawkins ausdrückt, was er betont und was er eher übergeht, das ist sehr stark ideologisch geprägt, kein Zweifel. Dennoch ist die Frage, "Wie kann sich in der Evolution ein Verhalten durchsetzen, bei dem ein Individuum den Nachwuchs anderer, genetisch von ihm unterschiedener Individuen fördert?" ernst zu nehmen und muss beantwortet werden. In der weiteren Folge meines Artikels wird ja auch versucht, diese Antwort zu geben: Egoistische Kooperation, Verwandtenkooperation, Kooperation als kostspieliges Signal.

(20.1.1.1) Re: Zu Dawkins Egoistischen Genen, 03.03.2002, 19:46, Birgit Niemann: Dem kann ich nur zustimmen. Es ist nicht entscheidend, ob Dawkins ein Aussenseiter ist oder nicht, sondern ob er einen Gedanken vorstellt, der reale Zusammenhänge in der lebendigen Welt adäquat widerspiegelt. Das allerdings kann man Dawkins nicht absprechen. Es gibt auf allen biologischen Ebenen immer zwei grundsätzliche Möglichkeiten, die Zusammenhänge zu betrachten. Die eine ist der Blick vom Standpunkt des Systems. Diesen Blick nehmen die allermeisten Biologen und auch Biochemiker ein. Die andere Möglichkeit ist die Betrachtung der Zusammenhänge vom Standpunkt des Indivdiduums, das innerhalb von Systemen in der Regel als Funktionselement fungiert. Dies ist die Blickrichtung von Richard Dawkins. Beide Blickrichtungen reflektieren einerseits Widersprüche zwischen den in der Biologie immer selbstzweckhaften Systemen und ihren ebenfalls in der Regel selbstzweckhaften Funtkionselementen. Anderseits aber sind sie nicht gegensätzlich, sondern einander ergänzend.

(20.1.2) Re: Zu Dawkins Egoistischen Genen, 25.03.2002, 12:25, Martin Auer: Hierzu ein höchst interessanter Artikel von D.S. Wilson und E. Sober: Re-introducing Group Selection to the Human Behavioral Sciences

(Achtung Neueinsteiger: Dieser Beitrag steht zwar wegen des Themas physisch weit vorne im Projekt, bezieht sich aber auf Fragen, die zum Teil erst weiter hinten diskutiert werden)

Die Autoren untersuchen die Diskussion um Gruppen-Selektion seit den 60ern. Bis dahin war man sozusagen naiv davon ausgegangen, dass Gruppenverhalten durch Gruppenselektion hervorgebracht werden muss: Eine Gruppe, die besser kooperiert, muss sich ja besser fortpflanzen als eine Gruppe, die schlechter kooperiert. (Darunter fällt auch Lorenz' Arterhaltungstrieb). Das Problem, das entsteht, wenn ein Trittbrettfahrer an den Vorteilen der Gruppe teilhat, ohne sich an den Kosten zu beteiligen, wurde nicht gesehen oder übergangen. Der Trittbrettfahrer hat einen Fortpflanzungsvorteil gegenüber den kooperativen Gruppenmitgliedern, folglich wird über kurz oder lang die Gruppe mehrheitlich aus Trittbrettfahrern bestehen und die Kooperativen werden aussterben.
Kritiker wie G.C. Williams, Dawkins und andere hielten der naiven Gruppenselektion entgegen, dass es ja Gene sind, die sich replizieren, und nicht Gruppen oder Arten, auch nicht Organismen. Wie erklärt sich dann überhaupt das Zustandekommen von Organismen? Gene schließen sich zum gegenseitigen Vorteil zusammen. Wie aber ist die innere Harmonie von Organismen zu erklären? Laut Dawkins' sitzen die Gene eines Organismus alle in einem Boot. Wie bei einem Bootsrennen ist die einzige Möglichkeit, zu den Siegern zu gehören, die, sich voll und ganz für die Mannschaft einzusetzen. Vermehren werden sich nur Gene, die alles dazu beitragen, dass ihre Mannschaft, der Organismus, gedeiht und sich vermehrt. Den Organismus, die "Fortpflanzungsmaschine", bezeichnet Dawkins als "Vehikel der Selektion".
Genau hier setzen Wilson und Sober an, indem sie Dawkins' Begriff des Vehikel ernst nehmen. Wenn Organismen keine Replikatoren sind, sondern Vehikel, warum können dann Gruppen keine "Vehikel der Selektion" sein? Dass sie Replikatoren wären, habe ja nie wer behauptet. Von einem Vehikel kann man dann sprechen, wenn alle darin befindlichen Individuen dasselbe Schicksal teilen, gemeinsam überleben oder gemeinsam untergehen. Dann kann im Wettbewerb zwischen den Vehikeln die Selektion an diesen übergeordneten Einheiten angreifen. (Innerhalb eines Vehikels haben Trittbrettfahrer keine Chance, sich auf Kosten der anderen zu vermehren, weil sie schnell das Boot zum Kentern bringen, also das ganze Vehikel zum Untergang verurteilen). Wenn also eine Gruppe so fest gefügt ist, oder auch durch äußere Umstände in eine solche gegenseitige Abhängigkeit gebracht ist, dass alle Mitglieder dasselbe Schicksal erleiden, und wenn diese Gruppe teil einer Population ähnlicher Gruppen ist, dann kann im Wettbewerb zwischen den Gruppen die Selektion direkt an den Gruppen ansetzen und zum Beispiel solche Gruppen begünstigen, deren einzelne Mitglieder kooperativer sind als die Mitglieder anderer Gruppen. Ist die Gruppe aber nicht so fest gefügt, ist die gegenseitige Abhängigkeit nicht so groß, dann können Trittbrettfahrer sich ausbreiten, weil die Selektion nicht mehr an der Gruppe ansetzt, sondern an den Individuen. Nun sind also die Individuen die Vehikel. Wilson/Sober bringen Beispiele von Genen innerhalb von Organismen, die versuchen, sich auf Kosten anderer Gene durchzusetzen und dadurch den Organismus schwächen. Wenn sie den Organismus nicht gleich ganz umbringen, dann entsteht innerhalb eines Organismus ein "soziales Dilemma" ganz ähnlich wie es in einer Gruppe entstehen kann [etwa beim Krähenbeispiel weiter hinten]. Der Organismus ist dann nicht mehr das Vehikel, an dem die Selektion ansetzt, sondern das einzelne Gen.
Man muss also jeweils immer sehr genau hinsehen um festzustellen, wo Gruppenselektion stattfinden kann und wo nicht. Im von mir in Absatz 20. wiedergegebenen Beispiel führt Williams an, dass Selektion zwischen den Gruppen ein starkes Übergewicht an Weibchen herbeiführen müsste, während Selektion innerhalb der Gruppe eine Gleichverteilung herbeiführen muss. Nun hat man inzwischen hunderte von Arten gefunden, sagen Wilson/Sober, bei denen es ein leichtes Weibchen-Übergewicht gibt. Hier muss also eine Kombination beider Kräfte im Spiel sein.
"Wenn man dieses elemantare Faktum [nämlich dass auch Gruppen Vehikel sein können] anerkennt, dann stellt sich Gruppenselektion als wichtige Kraft in der Natur heraus, und scheinbare Alternativen wie Verwandtenselektion und Reziprozität tauchen wieder auf als Sonderfälle von Gruppenselektion. [Zu meinem Bedauern führen sie Kooperationsbereitschaft als kostspieliges Signal nicht unter den Sonderfällen an] Das Ergebnis ist eine vereinheitlichte Theorie einer natürlichen Selektion, die an einer verschachtelten Hierarchie von Einheiten ansetzt."
Diese vereinheitlichte Theorie berechtigt aber nicht dazu, Gruppenselektion einfach als gegeben anzunehmen oder gar die Population als die wesentliche Fortpflanzungseinheit zu betrachten. Man muss in jedem Fall untersuchen ob die Umstände gegeben sind, die Gruppenselektion möglich machen.
"Menschen können der Möglichkeit nach den ganzen Bereich vom eigennützigen Individuum bis zum "Organ" eines übergeordneten "Organismus" auf der Gruppenebene umspannen. Menschliches Verhalten reflektiert nicht nur das Gleichgewicht zwischen den Ebenen der Selektion sonder es kann dieses Gleichgewicht auch verändern durch die Konstruktion sozialer Strukturen die den Effekt haben Unterschiede im Fortpflanzungserfolg innerhalb der Gruppe innerhalb von Gruppen zu reduzieren und so natürliche Selektion (und funktionelle Organisation) Diese sozialen Strukturen und die kognitiven Fähigkeiten die sie produzieren machen es möglich dass Gruppenselektion sogar unter großen Gruppen nichtverwandter Individuen wichtig sein kann."

Mir scheint, dass diese "vereinheitlichte Theorie" ein sehr gutes Instrumentarium darstellt, die Entstehung von Kooperation in ihrer Widersprüchlichkeit zu untersuchen.

(20.2) Unnütze Fresser?, 26.02.2002, 18:13, Annette Schlemm: "Unnütze Fresser" gibt es in der Biologie nie. Irgendeine Rolle haben die "unnützen" Männchen, auch wenn sie nicht in das von uns vorgegebene Bild der Erwartung eines Nutzens passen. Das unterscheidet gerade nur-biologisches Leben vom Menschlichen. Nur in menschlichen Gesellschaften können (und sollten) tatsächlich Individuen erhalten werden, die keinen Beitrag zur Reproduktion der Gesellschaft leisten (siehe http://www.thur.de/philo/kp/freiheit.htm) - und das ist auch gut so!!!!

(20.2.1) Re: Unnütze Fresser?, 27.02.2002, 13:49, Martin Auer: Entschuldige, aber mir scheint, das ist nur so eine Behauptung. Da müsstest du schon konkret sagen, welchen Nutzen.
Der Nutzen der Männchen generell für die Art (oder für die Weibchen) ist die geschlechtliche Fortpflanzung, die der ungeschlechtlichen überlegen ist. Und die ist aus den angeführten mathematischen Gründen nur um den Preis einer annähernd fifty-fifty-Verteilung der Geschlechter zu haben.
Das heißt: 50% Männchen zu haben ist besser als keine Männchen zu haben. 10% Männchen zu haben wäre besser, ist aber nicht zu machen. Daraus ergibt sich, dass 4/5 der Männchen unnütze Fresser sind. Gäbe es sie nicht, wäre die Energiebilanz für die Population günstiger.
Von zwei konkurrierenden Arten würde die, die ihre Nachkommenschaft in einem günstigeren Verhältnis - etwa 1:10 - auf die Geschlechter aufteilen könnte, den zur Verfügung stehenden Lebensraum schneller ausfüllen. Dennoch gelingt es keiner Art, sich einen solchen Vorteil zu verschaffen
Das Vorhandensein von ungefähr gleichvielen Männchen ermöglicht dann freilich auf einer nächsten Stufe die Beteiligung der Männchen an der Brutpflege. Der Nachteil wandelt sich dann in einen Vorteil, wie das in der Evolution ja immer wieder vorkommen kann. Das geschieht aber nicht bei allen Arten.

(20.2.2) Re: Unnütze Fresser?, 03.03.2002, 19:55, Birgit Niemann: Auch in anderen Primatengemeinschaften werden "unnütze Fresser" durchaus solange sinnlos mitgeschleppt, bis sie Fressfeinden oder anderen "Unfällen" zum Opfer fallen. Das ist kein Privileg von Menschen. Auch ist die Einbindung in ökologische Gesamtzusammenhänge eher eine Eigenschaft von Individuen in seit längerer Zeit durchoptimierten Ökosystemen. Wenn Individuen bestimmte Lebensräume neu besiedeln bzw. in sie einbrechen, dann wird es ganz deutlich sichtbar, das sie vor allem für sich selbst und die Vermehrung ihres Genomes da sind. Dann vermehren sie sich nämlich häufig rasant und sind für alle anderen im Ökosystem einzig und allein schädlich und haben für niemanden anderen irgend eine "Funktion". Zu den bekanntesten Beispiele gehören die historischen Kaninchenplagen in Australien und die von unseren lieben Haustieren stammenden großen Seuchen des Mittelalters.

Teufelskreise ohne Entkommen

(21)

Ein drastisches Beispiel bringen Wolfgang Wickler und Uta Seibt[5]:

(22)

„Krähen nisten in Kolonien und bauen ihre Nester mit Zweigen, die sie zusammentragen müssen. Hat in der Kolonie ein Nestbau begonnen, dann sind die nächstliegenden Zweige dort zu finden und werden auch von da geholt. An markierten Zweigen kann man sehen, daß sie eine umständliche Reise durch die Kolonie machen; obwohl schon einmal eingebaut, werden sie wieder weggenommen und woanders eingebaut, dort wieder weggenommen usw. Für ein Nest sind viele Zweige nötig, und es wird dazu immer wieder neues Material von ferne geholt; dennoch bestiehlt aber auch jeder jeden, weil es so naheliegend ist. Ohne diese überflüssigen Umschichtungen wäre das Nestbauen viel billiger und weniger zeitraubend. Aber eine Krähe, die das Stehlen unterließe und nur neue Zweige herbeitrüge, würde als einzige zuverlässige Material-Beschafferin von der ganzen Kolonie ausgebeutet. Krähen kennen keine Überwachung der »Übeltäter« und keine Strafen ... Wer stiehlt, bleibt im Vorteil; und dieser Individualvorteil übertrumpft den Gesamtvorteil. Solange alle Krähen ihr Baumaterial vom Wald holen, ist der Vogel im Vorteil, der seins von den Nestern der anderen nimmt; falls aber alle vorrangig das Material der Nachbarn plündern, werden nur dann überhaupt Nester fertig, wenn alle auch neues Material vom Wald holen.“

(22.1) Schadet Diebstahl?, 26.02.2002, 18:14, Annette Schlemm: Letztlich sind die Populationen "trotz des Diebstahls" gut reproduktionsfähig und nur das entscheidet - kein menschlich-moralisches Urteil. BEWERTUNG erfolgt hier nur nach Maßgabe des Reproduktionserfolgs - und das scheint für die Krähen (als Population) nicht schlecht auszusehen.

(22.1.1) Re: Schadet Diebstahl?, 27.02.2002, 13:58, Martin Auer: Aber die Frage darf wohl gestellt werden, ob der Reproduktionserfolg der Krähen wegen oder trotz ihres diebischen Verhaltens zustande kommt. Wir können eine Energiebilanz aufstellen und feststellen, dass die Krähen Energie verschwenden, dass ihr Reproduktionserfolg größer sein könnte, wenn sie in diesem Teufelskreis nicht gefangen wären.

(22.1.1.1) Re: Schadet Diebstahl?, 03.03.2002, 19:59, Birgit Niemann: Die entscheidende Frage ist auch hier, welche Krähen haben Reproduktionserfolg? Das wird innerhalb des Schwarmes, zwischen den Indivdiuen sicher sehr unterschiedlich sein.

(23)

Ein weiteres Beispiel[6]: Wenn Löwenmännchen einen Harem übernehmen, sind sie während der ersten drei Monate Löwenjungen gegenüber sehr aggressiv und töten sie fast immer. Erst später werden sie zu fürsorglichen Vätern, die den Jungen gegenüber sogar duldsamer sind als die Mütter. Der Grund dafür ist einfach: Im Durchschnitt verlieren die Löwen den Harem nach zwei bis drei Jahren wieder an ihre Nachfolger. Sie haben nur wenig Zeit, Junge zu zeugen. Trächtige oder säugende Löwinnen kommen nicht in Brunst. Die Löwen töten also die Jungen ihrer Vorgänger, damit die Löwinnen schnell wieder brünstig werden, also um sich selbst Nachwuchs zu sichern (natürlich sind sie sich dessen nicht bewusst). Für die Spezies der Löwen ist das sehr schlecht. Denn die Sterblichkeit unter Löwenjungen ist sowieso sehr hoch, in der ostafrikanischen Steppe bei ca. 80%. Ein Viertel verhungert, ein weiteres Viertel verunglückt oder fällt Feinden zum Opfer. Die Löwen können unter diesen Bedingungen ihre Zahl gerade konstant halten. Taucht ein neuer Feind auf, wie zum Beispiel der Mensch, ist der Bestand ihrer Art hochgradig gefährdet. Die Löwen täten also im Interesse kommender Generationen gut daran, den Kindermord abzuschaffen. Doch das können sie nicht. Ein Löwenmännchen, das durch Mutation die Eigenschaft erhalten würde, zu den Jungen der Vorgänger genauso gutmütig zu sein wie zu den eigenen, hätte kaum die Chance, überhaupt eigenen Nachwuchs zu bekommen, vor allem nicht eigene Söhne, denen es seine Gutmütigkeit vererben könnte. Die Löwen stecken in einem Teufelskreis, dem sie ebenso wenig entkommen können wie die Krähen. Indem jedes Löwenmännchen seinen eigenen Nachwuchs fördert, trägt es dazu bei, den Nachwuchs aller Löwenmännchen, also letztlich auch den eigenen, zu verringern. Könnten die Löwen miteinander ein Abkommen treffen, keine Kinder zu töten, könnte jedes einzelne Männchen mehr Nachkommen haben. Doch Löwen können keine Versprechungen machen und keine Verträge schließen, ebenso wenig wie die Krähen.

(23.1) Und wieder mal das Löwenbeispiel..., 26.02.2002, 18:15, Annette Schlemm: Tja: auch das ist durch die Konzentration auf die Reproduktion der Population erklärbar. Der neue Vater ist aller Wahrscheinlichkeit ein besserer Genträger als der vorherige (sonst hätte der ja überlebt) - deshalb ist es für die Population "besser", wenn der bessere Vater mehr Nachkommen hat.

(23.1.1) Widerspruch zwischen innerartlicher Selektion und Umweltselektion, 27.02.2002, 14:04, Martin Auer: Das ist jetzt sicher nicht richtig. Der neue Vater ist schlicht und einfach jünger. Auch der beste Genträger wird einmal alt. Und unter den heutigen Bedingungen ist es für die Population sicher schlecht, dass sie ihre Fortpflanzungsrate durch Kindsmord herabsetzt. Die Löwen sind schließlich vom Aussterben bedroht. Wie du oben sagst: Entscheidend ist der Reproduktionserfolg!
Das Problem ist folgendes: Ein Pelzgen kann durch eine Mutation blockiert werden. Bei einer Klimaerwärmung oder der Ausbreitung der Population in ein wärmeres Klima haben die Individuen mit blockiertem Pelzgen einen größeren Fortpflanzungserfolg und die Population kann so mit der Zeit den hinderlichen Pelz loswerden. Das Kindsmordverhalten kann die Population aber nicht loswerden, auch wenn die Umweltbedingungen sich so verändern, dass eine höhere Fortpflanzungsrate dringend erforderlich wäre. Denn wenn das Kindsmordverhalten bei einem männlichen Individuum durch Mutation blockiert wird, hat dieses Individuum einen schlechteren Fortpflanzungserfolg als die anderen Männchen. Daher kann sich diese Mutation in der Population nicht ausbreiten.
Das Kindsmordverhalten wird eben nicht durch die Umweltbedingungen selegiert, sondern - ebenso wie das Zahlenverhältnis der Geschlechter .- durch die Mathematik der Fortpflanzung. Zwischen diesen Selektionsfaktoren muss man unterscheiden.
Denn die innerartliche Selektion (Selektion durch Anforderungen der Fortpflanzung, Partnerwahl, des Zusammenlebens in der Gruppe/Herde/Gesellschaft) kann durchaus in Widerspruch zur Umweltselektion geraten. Das sehen wir auch später bei der Diskussion des Handicap-Prinzips.

(23.1.1.1) Re: Löwenbeispiel, 27.02.2002, 14:19, Martin Auer: Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass alles, was die Evolution hervorgebracht hat, gut ist (im Sinn von perfekt angepasst). Alles, was man sagen kann, ist: Was existiert, war bis heute gut genug angepasst, um existieren zu können. Die Lebenswelt ist voller Kompromisse und Halbheiten. Bis heute sind unsere Blutgefäße der Belastung durch den aufrechten Gang nicht gewachsen. Folge: Krampfadern und Hämorrhoiden. Die Wirbelsäule ist auch nur so eine Notlösung. Wie kann es auch anders sein. Wir sind als Fische entworfen worden, dann zu einer Art Brücke auf vier Beinen umgebaut und dann auf die Hinterbeine gestellt worden. Lauter Notlösungen. Notlösungen können über Äonen bestehen und sich fortpflanzen, aber wehe, es tauchen plötzlich etwas besser angepasste Notlösungen auf, wenn etwa australische Beuteltiere von eingeschleppten Placentatieren verdrängt werden.

(23.1.1.1.1) Re: Notlösung, 03.03.2002, 20:06, Birgit Niemann: Mir gefällt der Begriff "Notlösung" in diesem Zusammenhang nicht. Er ist nur richtig, wenn man das perfekt Angepasste als Normalität und Selbstverständlichkeit betrachtet. Wie Du selbst ausführst und was ich inhaltlich teile, ist Perfektion aber nicht Normalität, sondern Ergebnis zeitlich sehr langer Wechselwirkung zwischen einer relativ konstanten Umwelt und Organismen. Deshalb würde ich lieber von ausreichend angepasst, um sich fortzupflanzen, reden.

(23.1.1.1.1.1) Re: Notlösung, 07.03.2002, 15:02, Martin Auer: "Notlösung" ist hier nur als drastischer, illustrativer Ausdruck verwendet und ist selbstverständlich salopp vermenschlichend und unwissenschaftlich. Die geschätzten Leserinnen und Leser mögen sich Anführungsstrichlein hinzudenken. :)

(23.1.1.1.1.1.1) Re: Notlösung, 09.03.2002, 11:56, Birgit Niemann: Das habe ich mir schon gedacht, deshalb möchte ich hinzufügen, warum ich für solche durchaus verständlichen Vereinfachungen überhaupt sensibel bin. Das hat nichts mit "Krümelkackerei" zu tun, sondern damit, das gegenwärtig die Vorstellung vom "perfekten Menschen" in den ganzen Embryo-Verwertungs-Debatten und beim Aufbrechen der aktuellen ethischen und juristischen Möglichkeiten der biotechnischen Menschenverwertung arg strapaziert wird. Gerade die falschen Vorstellungen von der Perfektion erzeugenden "Mutter Natur", die in der Allgemeinheit so verbreitet sind (Stichwort: Überleben der Tüchtigsten und eben auch "Notlösung") werden dabei für meine Begriffe ziemlich missbraucht. Das gibt die Biologie aber in ihrer Gesamtheit so vereinfacht gar nicht her, was man gut begründen kann, wenn man die biologischen Verhältnisse kennt. Deshalb ist es mir wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Perfektion den Lebewesen nicht von allein innewohnt, sondern Ergebnis von Konkurrenz um Ressourcen ist und das es auf Perfektion eigentlich gar nicht in erster Linie ankommt, weil "das Tüchtige" sich einzig und allein auf den Reproduktionserfolg bezieht. Wenn z.B. so etwas wie individuelle Liebe und gegenseitige Unterstützung die wichtigste Vorraussetzung für den Reproduktionserfolg wäre, dann wären diejenigen die "Tüchtigsten" die Liebe und gegenseitige Unterstützung am konsequentesten praktizieren, "unabhängig" (natürlich nicht absolut) von sonstiger Perfektion. Allerdings durchkreuzen sich in der wirklichen Welt immer die verschiedensten Reproduktionsstrategien von Millionen gleich- und verschiedenartiger Individuen. Deswegen werden die konkurrierenden Verhältnisse auf und zwischen allen möglichen Ebenen von der buntesten Vielfalt kooperierender Verhältnisse auf und zwischen allen möglichen Ebenen durchbrochen. Deshalb halte ich es für einen wesentlichen analytischen Akt bei der Untersuchung realer Lebensprozesse als erstes zu identifizieren, wer sind die handelnden Individuen, mit wem konkurrieren sie um was und mit wem kooperieren sie warum? diese Sichtweise liegt zum Beispiel auch Richard Dawkins zugrunde und ich halte es für keinen Zufall, dass ausgerechnet ein Verhaltensbiologe einen solchen Ansatz entwickelt. Ganz nebenbei gesagt erkenne ich in einer solchen Betrachtungsweise auch die Frage: Wer oder was setzt wie seine Interessen gegen und mit wem durch? die mir in der steinzeitmarxistischen Geschichtsausbildung, die mir originärem DDR-Menschen mit der schulischen "Muttermilch" als historischer Materialismus glücklicherweise eingetrichtert wurde, unschwer wieder.

(24)

Solche Teufelskreise sind in der Natur keine Ausnahme, man begegnet ihnen auf Schritt und Tritt. Die Evolution der Gene nimmt keine Rücksicht auf das Wohlergehen der Art. Sie nimmt auch keine Rücksicht auf das Wohlergehen der Individuen, so paradox das vielleicht im ersten Augenblick klingt. Aber wäre ohne Schmerzempfinden unser Leben nicht glücklicher – wenn auch kurz? Zu kurz vermutlich, als dass wir uns überhaupt fortpflanzen könnten. Individuen ohne Schmerzempfindung werden äußerst rasch hinwegselegiert.

(25)

Der Fortgang der Evolution ließ Einzeller sich zu Vielzellern zusammenschließen. Die Zellen büßten dabei sowohl ihre potentielle Unsterblichkeit als auch ihre Unabhängigkeit und Vielseitigkeit ein, wurden aus individuellen Jägern zu austauschbaren Fließbandarbeitern, die nur einen winzigen Teil des Lebensprozesses bewältigten und alleine überhaupt nicht mehr lebensfähig waren. Und der Gesamtorganismus, der nun als Individuum auftrat, war nun ebenso todgeweiht wie die ihn konstituierenden Zellen. Das Privileg der potentiellen Unsterblichkeit behielten allein die Fortpflanzungszellen.[7]

(25.1) Einzeller - Mehrzeller; nach der ersten selbsterzeugten Umweltkatastrophe!, 26.02.2002, 18:16, Annette Schlemm: Der eigentliche Gag dieser Entwicklung ist meiner Meinung nach die Geschichte, daß die ersten Einzeller sich mit der Sauerstoffproduktion selbst schadeten (Sauerstoff als Zellmaterialzerstörer) - die erste "Umweltkatastrophe" setzte ein. Wie überlebte das Leben? Indem es sich erstens im Zellinnern gegen die schädlichen Wirkungen des Sauerstoffs schützen "lernte" und zweitens aus der nun erzeugten Sauerstoffatmosphäre noch Vorteile durch neuartigen Energieumsatz zog...

(25.1.1) Re: Einzeller - Mehrzeller; nach der ersten selbsterzeugten Umweltkatastrophe!, 27.02.2002, 14:20, Martin Auer: Ein sehr gutes Beispiel für die Widersprüchlichkeiten der Evolution.

(26)

Als die Atmosphäre des jungen Planeten sich mit immer mehr Ozon anreicherte, das die Ultraviolettstrahlung abschirmte, entstand bald Mangel an den mithilfe dieser UV-Strahlung erzeugten komplexen Substanzen, aus denen die Replikatoren ihre Energie bezogen. So gewannen Mutanten, die mithilfe von Chlorophyll Energie aus dem sichtbaren Sonnenlicht beziehen konnten, einen gewaltigen Selektionsvorteil. Das führte - im Rückblick gesehen unvermeidlich - dazu, dass von den Chlorophylllosen sich einige darauf spezialisierten, sich solche Pflanzenzellen einzuverleiben. Ebenso unvermeidlich erscheint es, dass auch diese tierischen Zellen schon bald von anderen tierischen Zellen als Lieferanten von Halbfertigprodukten ausgebeutet wurden. Auch wir Menschen sind nicht imstande, alle Eiweiße, die wir brauchen, auch nur aus Pflanzenbestandteilen aufzubauen – geschweige denn aus anorganischen Stoffen und Sonnenlicht. Einige Eiweiße müssen wir als Halbfertigprodukte aus tierischer Nahrung beziehen. Für das einzelne Lebewesen ist es ein gewaltiger Vorteil, sich schon vorgefertigter Eiweiße und Aminosäuren zu bedienen. Aber bei jedem Fressvorgang werden nur 10% der in der Beute enthaltenen Energie verwertet, 90% verpuffen als Abwärme oder werden ausgeschieden. Ob das der Biosphäre als Ganzes eines Tages zum Nachteil gereichen könnte, ist nicht leicht zu beantworten.

Das Gefangenendilemma

(27)

Ein bekanntes Paradigma für die oben beschriebenen Teufelskreise ist das Gefangenendilemma, 1950 von M.M. Flood und M. Dresher entwickelt. Hier meine Version:

(27.1) Re: Das Gefangenendilemma, 26.02.2002, 18:17, Annette Schlemm: Gefangenendilemma ist ein typisches Gleichgewichtsmodell – Evolution beruht auf und verstärkt immer Ungleichgewichte/ Fließgleichgewichte...

(27.1.1) Evolution beruht auf und verstärkt immer Ungleichgewichte/ Fließgleichgewichte..., 07.03.2002, 15:18, Martin Auer: Kein Zweifel. Doch was bedeutet das? Indem ein Teil des Systems nach einem Gleichgewicht strebt, werden andere Teile des Systems aus dem Gleichgewicht gebracht und streben nun ihrerseits wieder nach dem Gleichgewicht. Also sind Gleichgewichtsmodelle zur Untersuchung von Teilaspekten/Phasen in diesem Prozess doch wohl sinnvoll. Schon beim wiederholten (iterierten) Gefangenendilemma zeigt sich, wie vorher erfolglose Strategien nun erfolgreich werden können. (Siehe z.B. Axelrod 1984, The evolution of cooperation).

(28)

In Samarkand wurden einmal zwei Diebe gefangen, die eine Gans gestohlen hatten. Timur Lenk ließ sie in zwei verschiedene Zellen sperren, so dass sie sich nicht miteinander verständigen konnten. Dann ging er zum ersten und sagte: ‘Höre, ihr zwei habt eine Gans gestohlen, dafür gebühren euch 20 Stockhiebe. Es ist nicht angenehm, aber man überlebt es. Nun weiß ich aber sicher, ihr habt nicht nur diese Gans gestohlen, sondern auch zwei goldene Becher aus meinem Palast. Dafür könnte ich euch hinrichten lassen. Das hätte für mich nur einen Nachteil: Ich würde so meine goldenen Becher nicht wiederbekommen. Ich könnte das Geständnis aus euch herausfoltern, aber ich habe mir etwas anderes ausgedacht. Pass genau auf: Wenn du den Diebstahl der Becher gestehst, und verrätst, wo ihr sie versteckt habt, dann lasse ich nur deinen Komplizen hinrichten, dich aber lasse ich laufen. Ihm werde ich freilich dieselbe Möglichkeit bieten. Wenn er gesteht, und du nicht, dann lasse ich ihn laufen, und du wirst hingerichtet. Es könnte natürlich sein, dass ihr beide gesteht. In diesem Fall könnte ich natürlich keinen von euch laufen lassen. Aber ich würde gnädig sein und jedem von euch nur die rechte Hand abhacken lassen.’

(29)

‘Und wenn keiner von uns gesteht?’ fragte der Gefangene, der übrigens wirklich mit seinem Komplizen gemeinsam auch die Becher gestohlen hatte.

(30)

‘Nun’, sagte Timur, ‚dann würde es bei den 20 Stockschlägen für die gestohlene Gans bleiben.’

(31)

Nennen wir die zwei Gefangenen Ahmed und Bülent. Ahmed könnte so überlegen: Wenn er, Ahmed, gesteht, ist es für Bülent besser, auch zu gestehen, sonst wird Bülent hingerichtet. Wenn Ahmed nicht gesteht, ist es für Bülent auch besser, zu gestehen, denn dann wird Bülent freigelassen. Also weiß Ahmed, dass Bülent gestehen wird. Also wird auch Ahmed gestehen, denn sonst wird er hingerichtet. Sollte es aber sein, dass Bülent nicht gesteht, umso besser für Ahmed, denn dann wird er freigelassen.

(32)

Das Ergebnis ist, dass beide gestehen und beiden die Hand abgehackt wird, wo sie doch beide mit zwanzig Stockschlägen hätten davonkommen können.

Wie entstehen Kooperation und Solidarität?

(33)

Wie können nun in dieser grausamen Welt Kooperation und Solidarität entstehen?

(33.1) Re: Wie entstehen Kooperation und Solidarität?, 03.03.2002, 20:09, Birgit Niemann: Ganz einfach, weil Kooperation auf allen biologischen Ebenen sich als erfolgreichste Strategie, Konkurrenz zu gewinnen, erwiesen hat. Das gilt selbst für den Radsport, denn im Radsport gibt es schon lange keine Einzelfahrer mehr, sondern nur noch kooperative Gruppen, die ihre individuellen Einsätze so miteinander abstimmen, dass der Beste der Erste wird. Der Gewinn geht dann wieder an alle kooperativ Beteiligten. Deshalb sind die Radfahrer innerhalb ihrer Gruppen solidarisch und zu allen Anderen stehen sie als Kooperationsgemeinschaft in Konkurrenz.

(33.1.1) Re: Ganz einfach, weil Kooperation auf allen biologischen Ebenen sich als erfolgreichste, 07.03.2002, 15:25, Martin Auer: Ja schon, nur ist es eben nicht "ganz einfach", wie das Krähen- und Löwenbeispiel zeigt, oder verallgemeinert das Gefangenendilemma. Das sind eben Hindernisse, die erst einmal überwunden werden müssen. - Wie kommen im Radsport die Teams zustande? Unter welchen Umständen zerbricht die Kooperation wieder? Wer macht warum mit und wie lange?

(33.1.1.1) Re: Ganz einfach, weil Kooperation auf allen biologischen Ebenen sich als erfolgreichste, 09.03.2002, 12:39, Birgit Niemann: Unbestreitbar hast Du recht. Ich habe übersehen, dass die obige Frage Wie lautete und nicht Warum. Das Warum ist hier einfach und im Wie liegt die Tücke des Details. Der Witz ist aber, in der geistfreien Welt sind alle wirklichen Lösungen eben auch erfolgreiche Lösungen. Deshalb lassen sich in der geistfreien lebendigen Welt auch die Vielfalt und die für ihre Entstehung notwendigen Bedingungen hervorragend untersuchen, was ich für eine wichtige Vorraussetzung für die erfolgreiche Realisierung anderer Lösungen halte.

(34)

„Ich werde darlegen, dass eine vorherrschende Eigenschaft, die in erfolgreichen Genen erwartet werden muss, rücksichtslose Selbstsucht ist. Dieser Gen-Egoismus wird gewöhnlich ein egoistisches Verhalten des Individuums hervorrufen“,

(35)

schreibt Dawkins in seinem berühmten Buch. Und weiter:

(36)

„Wenn man betrachtet, wie die natürliche Selektion funktioniert, scheint zu folgen, dass alles, was durch natürliche Selektion evolviert ist, selbstsüchtig sein sollte. Also müssen wir erwarten, wenn wir das Verhalten von Pavianen, Menschen und allen anderen lebenden Geschöpfen betrachten, dass sich dieses Verhalten als selbstsüchtig erweisen wird. Wenn wir finden, dass unsere Erwartung nicht zutrifft, wenn wir beobachten, dass menschliches Verhalten wahrhaft altruistisch ist, dann werden wir etwas Rätselhaftem gegenüberstehen, etwas, das einer Erklärung bedarf“.[8]

Kooperation aus Egoismus

(37)

Erklärungen gibt es auf mehreren Ebenen: Einfache Kooperation kann aus purer Selbstsucht entstehen: Kühe auf der Weide streben bei Gefahr zueinander. Für jede Kuh gilt: Je weiter sie von anderen Kühen entfernt ist, umso größer ist der Bereich, in dem sie für ein eventuelles Raubtier die nächste Kuh wäre, und daher von dem Raubtier angegriffen würde. Je näher sie an anderen Kühen steht, umso kleiner wird ihr Gefahrenbereich und umso größer die Chance, dass eine der anderen Kühe angegriffen wird. Indem jede Kuh versucht, auf Kosten der anderen zu überleben, erhöhen sich die Überlebenschancen für alle, denn ein Raubtier greift nur ungern eine geschlossene Gruppe an.[9]

(38)

Antilopenweibchen leben in großen Herden und synchronisieren ihre Gebärzeiten. Ihre Jungen erscheinen dann gleichzeitig und in großer Anzahl, und das einzelne ist im Fall eines räuberischen Angriffs weniger gefährdet.[10]

(39)

Schon etwas komplexer ist das Verhalten des Warnens: Viele Vögel, die in Gruppen oder Schwärmen leben, stoßen, wenn sie einen Feind erblicken, einen Warnruf aus. Das ist erstaunlich, denn der Warner lenkt die Aufmerksamkeit des Feindes auf sich und gefährdet sich dadurch. Allerdings würde der Warner sich durch eine isolierte Flucht noch mehr gefährden. Besser ist es, den ganzen Schwarm aufzuscheuchen und im Schutz des Schwarms zu fliehen.[11]

(40)

Verhaltensweisen, die der Gruppe nützen, können sich also nur dann durchsetzen, wenn sie auch unmittelbar einen Fortpflanzungsvorteil für das Individuum bedeuten. Wenn das nicht der Fall ist, wenn das Verhalten also „echt“ altruistisch ist, kann es sich nicht durchsetzen, weil es ja die Fortpflanzung von Individuen fördert, die den altruistischen Zug nicht haben.

(40.1) echt altruistisch, 03.03.2002, 20:20, Birgit Niemann: An dieser Stelle frage ich mich, was "echt altruistisch" eigentlich sein soll und warum das vorteilhaft sein soll. Kamikaze-Krieger haben z.B. jeden Egoismus aufgegeben. Sie stürzen sich freiwillig für etwas Drittes in den Tod. Selbst wenn sie dafür im Vorfeld Geld oder etwas anderes kassiert haben, dann kommt das ihren Familien und nicht ihnen selbst zugute. "Echter Altruismus" ist mir daher suspekt. Schon deshalb, weil Egoismus (im negativen Sinne) und Selbstentfaltung beide die gleiche Grundlage besitzen, nämlich ein(e) Selbst(sucht). Wer jeglichen Egoismus aufgibt, ist auch zu Selbstentfaltung nicht mehr fähig.

(40.1.1) Re: echt altruistisch, 07.03.2002, 15:29, Martin Auer: Das "echt" steht ja hier auch unter Anführungszeichen. Eben weil Dawkins, Wickler/Seibt und andere sich solche Mühe geben, "scheinbar" solidarisches oder kooperatives Verhalten als "in Wahrheit" egoistisch zu "entlarven". (Kennt sich noch jemand aus, welche Anführungszeichen wie gemeint sind?)

(40.1.1.1) Re: echt altruistisch, 09.03.2002, 12:47, Birgit Niemann: Worauf ich aufmerksam machen wollte ist folgendes: Egoismus, Altruismus und Selbstentfaltung sind keine Entweder/Oder-Gegensätze. Alles drei sind mögliche Verhaltensstrategien, die auf derselben strukturellen Grundlage fußen. Nämlich auf dem Vorhandensein eines reflektierenden Gehirns, das ich auch gern als geisterzeugendes Gehirn bezeichne. Der Verwendung des reflektierenden Gehirnes durch individuelle Organismen, die einen Selbstzweck verfolgen, bringt unter bestimmten Bedingungen eben egoistisches Verhalten, unter anderen Bedingungen eben altruistisches Verhalten und unter wieder anderen Bedingungen Selbsentfaltung hervor. Mir persönlich wäre eine reale Welt am liebsten, in der sich für mich selbst mit ein und demselben Verhalten die größtmögliche Schnittmenge zwischen allen drei Strategien erzielen lässt. Wenn wir eine Welt, in der solche Bedingungen für alle gelten, errichten könnten, wären wir meiner Ansicht nach dem marx'schen Idealzustand ziemlich nahe. Woraus sich ergibt, dass vor der Errichtung zu identifizieren ist, was uns denn tatsächlich (und nicht eingebildet) daran hindert. Andernfalls sind wir bei der Errichtung auf den Faktor Zufall angewiesen und zu Erfolglosigkeit verurteilt. Bei der analytischen Durchdringung der wirklichen Welt steht uns für meine Begriffe immer wieder unser wichtigstes analytisches Instrument (der Geist) im Wege, der im Gegensatz zum wirklichen Leben sich immer wieder an scheinbaren Entweder/Oder-Konflikten abarbeitet, während das echte Leben doch ein Meister der produktiven Kompromisse des "Sowohl/Als auch" ist. Das echte dialektische Denken fällt der abstrakten Ratio eben sehr viel schwerer, als dem ganzheitlichen und sinnbildlichem ursprünglichen Geist, der dem wirklichen Leben viel näher ist. Woraus sich die Frage ergibt, warum hat sich die abstrakte Ratio in den letzten 2000 Jahren in Form von Wissenschaft denn überhaupt so erfolgreich in der Menschenwelt durchgesetzt, dass sie fast gar nichts anderes mehr gelten lässt?

(41)

Kooperation unter Verwandten

(42)

Es gibt allerdings eine Ausnahme: Wenn das altruistische Verhalten die Fortpflanzung von Verwandten fördert, dann besteht die Chance, dass auch diese Verwandten über den altruistischen Zug verfügen.Meine Gene habe ich mit statistischer Wahrscheinlichkeit zur Hälfte von meinem Vater, zur Hälfte von der Mutter. Das giltauch für meine Geschwister. Doch müssen die nicht die gleichen Hälften geerbt haben. Im Schnitt wird bei jedem meiner Geschwister die Hälfte der Gene mit den meinen identisch sein. Ein Neffe oder eine Nichte haben im Schnitt ein Viertel meiner Gene. Wenn bei mir ein altruistischer Zug vorliegt, beträgt die Chance z.B. ¼, dass er auch bei meiner Nichte vorliegt. Die Hilfsbereitschaft gegenüber Verwandten kann sich dann durchsetzen, wenn ihr Nutzen für die Verwandten entsprechend größer ist als die Einbuße, die der eigene Nachwuchs dadurch erleidet. Meine Nichten und Neffen teilen im Schnitt 25% meiner Gene, meine Kinder 50%. Also muss der Nutzen für Neffen und Nichten mehr als doppelt so groß sein als die Einbuße für eigene Kinder, damit das Verhalten sich durchsetzen kann. So findet man zum Beispiel Vogelarten, wo Männchen, die kein Weibchen finden, ihren Eltern helfen, die Geschwister aufzuziehen. Das Verhalten kann sich durchsetzen, weil meine Geschwister mit mir genau so verwandt sind wie meine Kinder, sie haben im Schnitt 50% der Gene mit mir gemeinsam. Solche Brutpflegehelfer finden sich bei Vögeln, Krebsen, Fischen und auch Säugetieren.[12]

(43)

Die Soziobiologie setzt das Verhalten der Lebewesen in Beziehung zu den Verwandtschaftsverhältnissen unter ihnen. Die kompliziertesten Verwandtschaftsgrade werden berechnet und daraus Voraussagen getroffen, wie viel das Individuum unter verschiedenen Bedingungen in diese oder jene Beziehung „investieren“ sollte, um den größtmöglichen Fortpflanzungserfolg seiner Gene zu erzielen. Und tatsächlich finden sie, dass die Tiere sich oft genug den Ergebnissen der Berechnungen entsprechend verhalten. Ich möchte es noch einmal hervorheben: Die Verbreitung oder Nichtverbreitung von Kooperation oder Konkurrenzverhalten hängt von der Wahrscheinlichkeit ab, mit der solches Verhalten Individuen fördert, die es ebenfalls aufweisen, also die Gene, die zu diesem Verhalten beitragen. Die Wahrscheinlichkeit ob diese speziellen Gene beim geförderten Individuum vorhanden sind, hängt davon ab, welchen Anteil das geförderte Individuum an der Gesamtheit der Gene des Förderers hat. Im Ergebnis verhält sich das Individuum, als ob es daran interessiert wäre, einen möglichst hohen Prozentsatz all seiner Gene in Umlauf zu bringen. Natürlich betonen die Forscher, dass es sich dabei um ein quasirationales Verhalten handelt und dass den Tieren der Sinn ihres Verhaltens selbst nicht bewusst ist. Meist in der Einleitung und vielleicht noch einmal am Schluss des Buches. Dazwischen verwenden sie gern eine Sprache, die den Eindruck erweckt, die Tiere und Pflanzen wären berechnende Kaufleute, die bestrebt sind, ihren Profit (ihren Fortpflanzungserfolg) zu maximieren. Das mathematische und begriffliche Instrumentarium, das die Ökonomen erarbeitet haben, um Verhältnisse zwischen ihren Nutzen maximierenden Individuen zu analysieren, eignet sich für die Soziobiologie sehr gut. Hier zeigt sich schon, dass hier Parallelen nicht nur zwischen den beiden Wissenschaften, sondern eben auch zwischen den von ihnen untersuchten Bereichen der Wirklichkeit bestehen. Und in beiden Bereichen kann, wie noch zu zeigen sein wird, die Maximierung des individuellen Nutzens dem Gesamtnutzen abträglich sein.

(44)

Ameisen: Weltherrscher durch Verwandtenkooperation

(44.1) Was soll das?, 26.02.2002, 18:21, Annette Schlemm: Was soll uns dieses Beispiel sagen????????
Es ist immer die Frage, worin man die Parallelen sieht, welche Brille man sich vorher aufgesetzt hat. Und dann das Problem: Inwieweit nützen Parallelen aus der Biologie überhaupt dazu, Menschen zu verstehen?!?!?!?!?! Schon diese Methode ist nicht selbstverständlich, sondern seeeeehr erklärungsbedürftig. Genauso wie wir Menschen nicht aus ihren physikalischen Eigenschaften ERKLÄREN (auch wenn kein aus dem Fenster fallender Menschenkörper das Fallgesetz verletzt), genauso kann man meiner Meinung biologische Eigenschaften nicht zur Erklärung spezifisch menschlichen Verhaltens heranziehen. Das wird Biologismus. (Anders ist es, wenn eine andere Art von historisch-logischer Analyse der im Verlaufe der biotischen Evolution enstandenen Merkmale gemacht wird, wie von Klaus Holzkamp bei der Analyse des Psychischen. Das wird aber methodisch völlig anders gemacht, als beliebig möglichst passende "parallele" Beispiele heranzuziehen).
Aus diesem Grund hat es auch keinen Zweck, wenn ich z.B. eine andere biologische Weltsicht der von Ihnen kolportierten entgegen stellen würde (wie es auch Kropotkin gemacht hat) - diese Ebene der Argumentation geht fehl.
Ich kann allerdings erwähnen, daß ich dies in meinem ersten Buch beinahe so gemacht habe. Da habe ich mir zumindest die Überzeugung erarbeitet, daß das "Wesen der Evolution" eben gerade nicht nur in Konkurrenzprozessen gesehen werden muß und kann, sondern synthetische, kooperierende, harmonisierende etc. Prozesse mindestens ebenso wichtig sind. Deshalb bin ich mir bei den biologischen Diskussionen hier auch so sicher... #Ich hatte ja nie Biologismus betrieben, aber versucht, aus ALLEN Bereichen allgemeinere Züge zu erkennen (Selbstorganisationskonzept) und dann Schlußfolgerungen für Menschen zu ziehen. Aber auch das hat sich in meinem 2. Buch, wo es dann um die Gesellschaft und Menschen gehen sollte, als nicht praktikabel erwiesen. D.h. gegangen wäre es schon, aber es stimmte nicht.# Ich erkannte selber, daß ich mein in 10 Jahren gewachsenes Wissen dazu eher selbstkritisch hinterfragen sollte und mußte noch mal neu anfangen, vieles über die Gesellschaft und die Menschen zu lernen, was nicht in das Schema der systemtheoretischen Konzepte paßte. Seit zwei Jahren schließlich bin ich damit noch einen Schritt weitergegangen (übrigens nach Hinweisen eines kritischen Lesers meines ersten Buches) und habe viel über "den Menschen" gelernt, aus dem sich systematisch die Unzulässigkeit der bisherigen Versuche, aus Biologie oder allgemeinen Konzepten etwas Wesentliches dazu zu sagen, ergibt. Wenn im Nachhinein gesehen dann trotzdem "alles stimmt" – es also evolutionstheoretische Übergänge vom Tierischen ins Menschliche gibt, wenn auch die Selbstorganisationskonzepte die abstraktesten Muster nicht ganz falsch wiedergeben, ist das nicht schlecht. Aber es gibt keine angemessene Erklärungsrechtfertigung aus diesen Bereichen heraus für das Gesellschaftliche.

(44.1.1) Re: Was soll das?, 27.02.2002, 14:23, Martin Auer: Du schreibst: "genauso kann man meiner Meinung biologische Eigenschaften nicht zur Erklärung spezifisch menschlichen Verhaltens heranziehen".
Schon wahr. Nur muss man zuerst einmal eben herausfinden, was am Menschenwesen spezifisch menschlich ist. Und wie soll ich das anders herausfinden als durch Vergleich? Wenn sich herausstellt, dass wir bestimmte Verhaltensweisen mit, sagen wir, Bären, Fledermäusen und Affen teilen, aber nicht mit Fröschen und Amseln, dann sollten wir erforschen, ob es sich nicht um spezifisches Säugetierverhalten handelt. Wenn wir Verhaltensweisen finden, die wir mit Ameisen und Bienen teilen, aber nicht mit Bären und Haien, dann sollten wir fragen, ob es sich nicht um Verhaltensweisen handelt, die typisch für soziale Lebewesen sind. Ich glaube nicht, dass wir a priori feststellen können, was am Menschenwesen spezifisch menschlich ist.

(44.1.1.1) Re: Was soll das?, 03.03.2002, 20:35, Birgit Niemann: "Und wie soll ich das anders herausfinden als durch Vergleich?" Schön, dass Du das so selbstverständlich dahinsagst. Dieses Argument kann nicht oft genug wiederholt werden, denn es gibt keine wirkliche andere Möglichkeit, tatsächliche Unterschiede herauszufinden. Alles andere verbleibt in der virtuellen Spekulation.

(44.1.1.1.1) Re: Was soll das?, 05.03.2002, 21:19, Stefan Meretz: Dieses Argument wird auch durch häufige Wiederholung nicht richtig. Gerade durch Vergleich werde ich qualitative Unterschiede nicht herausfinden. Ich kann so nur an der erscheinenden Oberfläche verbleiben und diese begrifflich "verdoppeln". Der einzig mir sinnvoll erscheinende Zugang ist, zwar vom vorfindlichen IST auszugehen, dieses aber nicht durch Vergleich, sondern durch Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte, der Entwicklungslogik, qualitativ zu bestimmen und dann von anderen Formen abzuheben. Dann hast du auch eine Chance, die qualitative Besonderheit der gesellschaftlichen Natur des Menschen zu verstehen. Durch Vergleich kommst du darauf nie, sondern landest bei scheinhaften, oberflächlichen Gleichheiten wie du es passend bei der "Ameisen-Gesellschaft" illustriert hast.

(44.1.1.1.1.1) Re: Was soll das?, 06.03.2002, 07:48, Birgit Niemann: Die Richtigkeit einer Methode hängt nicht davon ab, ob Du sie gut und richtig findest oder nicht, sondern davon, ob sie zu adäquaten Erkenntnissen beiträgt. Niemand behauptet, das Vergleich sich auf äußere Erscheinungen beschränkt. Ich weiß nicht, warum Du Dir diese Beschränkung permanent ausdenken musst, als ob sich diese Schranke von allein aus der Methode ergibt. Gerade wenn man die analysierten IST-Zustände und ihre rekonstruierten Enstehungsgeschichten verschiedener Vergesellschaftungsprozesse miteinander vergleicht und so beide Methoden miteinander koppelt, dann kann man sehr schnell erkennen, was an Vergesellschaftungsprozessen allgemeinen und was spezifischen Charakter hat. Gerade die Ameisengesellschaft kann uns eine Menge über unsere Zukunft erzählen. Diese Art Zukunft läuft auch schon längst (selbstverständlich einschließlich aller menschlichen Spezifik) und geht im Augenblick gerade in die nächste Phase über. Die wirklichen Anzeichen dafür und die Prozesse dahin kann man natürlich komplett ignorieren, wenn man keine Idee für deren Verständnis hat und selbst damit im Augenblick nur wenig konfrontiert wird. Was uns von der Ameisengesellschaft unterscheidet ist, das wir die Zukunft, die sich aus der Logik blinder Organisationsprozesse ergibt, sehr wohl verhindern könnten. Allerdings gibt es immer weniger Anzeichen dafür, dass wir es tun.

(44.1.1.1.1.2) Re: Gerade durch Vergleich werde ich qualitative Unterschiede nicht herausfinden., 06.03.2002, 20:18, Martin Auer: Ich rede nicht vom Aufzeigen oberflächlicher Ähnlichkeiten sondern vom Vergleichen. Vergleichen heißt testen auf Gleichheit oder Ungleichheit, im weiteren Sinn dann das Quantifizieren der Ungleichheiten. Meiner Meinung nach die grundlegende Operation wissenschaftlichen Denkens bzw. des Denkens und Wahrnehmens überhaupt. Wir vergleichen im Experiment den Zustand vorher mit dem Zustand nachher, wir vergleichen die Hypothese mit dem Ergebnis des Experiments und so weiter. Wir vergleichen, wenn wir eine Entstehungsgeschichte rekonstruieren, die verschiedenen Phasen, die wir abgerenzen können.
Auch ich meine, dass das Aufzeigen von Ähnlichkeiten (sagen wir mal zwischen Ameisengesellschaft und Menschengesellschaft) noch keinen großen Ekenntnisgewinn bringt. Ich habe geschrieben: "Wenn sich herausstellt, dass wir bestimmte Verhaltensweisen mit, sagen wir, Bären, Fledermäusen und Affen teilen, aber nicht mit Fröschen und Amseln, dann sollten wir erforschen, ob es sich nicht um spezifisches Säugetierverhalten handelt. Wenn wir Verhaltensweisen finden, die wir mit Ameisen und Bienen teilen, aber nicht mit Bären und Haien, dann sollten wir fragen, ob es sich nicht um Verhaltensweisen handelt, die typisch für soziale Lebewesen sind. " Und mit erforschen meine auch ich die "Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte".
Und ich hoffe, dass aus meiner Darstellung doch mehr hervorgeht als: "Guckt mal, die Ameisen führen Krieg und die Menschen führen auch Krieg." Ich hoffe, doch auch die zugrunde liegende Logik dargestellt zu haben.

(44.1.1.1.1.2.1) Re: Ich hoffe, doch auch die zugrunde liegende Logik dargestellt zu haben., 07.03.2002, 07:40, Birgit Niemann: Wobei die Frage nicht zu umgehen ist, ob Ameisen und Menschen aus vergleichbaren Gründen Kriege führen, ober ob diese äußerlich einander so ähnlichen Strategien aus völlig unterschiedliche Gründen und Ursachen resultieren, die rein gar nichts miteinander zu tun haben.

(45)

Die eindrucksvollsten Ergebnisse zeitigt die Verwandtenkooperation bei den Ameisen. Bei den Ameisen schlüpfen aus befruchteten Eiern Weibchen (fruchtbare Königinnen oder unfruchtbare Arbeiterinnen), aus unbefruchteten Eiern Männchen. Alle Ameisengeschwister bekommen vom Vater den gleichen Chromosomensatz, also identische Gene, von der Mutter ein jeweils zufälliges Gemisch der großmütterlichen und großväterlichen Gene. Daher teilen Ameisenschwestern im Schnitt nicht 50% der Gene, sondern 75%. Jedes Verhaltensmerkmal, das die eigene Mutter beziehungsweise ihren Nachwuchs fördert, hat also besonders große Chancen, damit auch wiederum Trägerinnen dieses Verhaltensmerkmals zu fördern. So erklärt sich, dass Ameisen-Arbeiterinnen zugunsten einer kleinen Anzahl fruchtbarer Schwestern auf eigenen Nachwuchs verzichten. Das macht es möglich, dass die Schwestern verschiedene Arbeiten im Stock untereinander aufteilen. Ein Teil dieser Arbeitsteilung ist altersbedingt, das heißt Arbeiterinnen machen in der Jugend Innendienst und übernehmen am Ende des Lebens den gefährlichen Außendienst. Aber sie können es sich auch leisten, für verschiedene Dienste unterschiedliche Körperformen zu entwickeln, die sie für andere Dienste untauglich machen. Bei manchen Arten gibt es Wächterameisen mit einer speziellen Kopfform. Ihre Köpfe dienen als Verschlüsse, als Pfropfen für die Eingänge. Bei vielen Arten gibt es besonders großeSoldatinnen. Bei der Honigtopfameise stellen sich bestimmte Arbeiterinnen als Nahrungsspeicher für den Winter zur Verfügung. Mit auf Erbsengröße angeschwollenen Hinterleibern hängen sie als Honigtöpfe in den Vorratskammern. Am bizarrsten ist vielleicht das Verhalten der Camponotus-Ameisen in Malaysia, die man als lebende Bomben bezeichnen könnte: Zwei große Drüsen mit giftigem Sekret laufen von ihren Kauwerkzeugen bis zum Ende ihres Hinterleibs. Wenn die Ameisen im Kampf gegen feindliche Ameisen oder einen Fressfeind in Bedrängnis geraten, ziehen sie ihre Hinterleibsmuskeln gewaltsam zusammen, sodass ihre Körperwände aufgesprengt werden und sich das Gift plötzlich auf den Feind ergießt. Zugunsten des Stocks das Leben zu opfern ist für die Ameisen kein großes Problem, und ähnliche Kamikaze-Verhaltensweisen finden sich bei vielen Arten.

(45.1) und ähnliche Kamikaze-Verhaltensweisen finden sich bei vielen Arten., 03.03.2002, 20:43, Birgit Niemann: Zum Beispiel auch bei Menschen. Das ist ein interessantes Phänomen. Warum schlägt der menschliche Geist unter bestimmten Umständen dieselben Strategien ein, wie ein Ameisengenom? Es würde sich lohnen, dass einmal etwas näher auseinanderzunehmen. Schon deshalb, weil dieses Phänomen offensichtlich in der menschlichen Evolution und Geschichte stärker wird. Kein Schimpanse ist z.B. so dusslig einen echten Zweikampf zu wagen. Zweikämpfe gibt es nur als ritualisierte Rangkämpfe, die nur unter ungeeigneten Bedingungen zu Todesfällen führen (z.B. im Arnheimer Zoo und selbst das war ein "Dreikampf" von Zweien gegen Einen). Tödliche Überfälle auf fremde Artgenossen wagen Schimpansen nur, wenn sie eindeutig in der Mehrheit sind (sie handeln hier als Individuum wie die Ameise als Kolonie). Alles andere wäre lebensgefährlich, weil selbst der Gewinner schwere Verletzungen erleiden würde. Erst Menschen erfanden den Zweikampf (der ein zu 50% sicherer Tod ist), den sie als Heldentum verehrend verstärkten. Heute sind sie so weit, das Kamikaze (zu 100% ein sicherer Tod) keine japanische Ausnahmeerscheinungen mehr sind. Das kann doch kein Zufall sein.

(45.1.1) Re: und ähnliche Kamikaze-Verhaltensweisen finden sich bei vielen Arten., 07.03.2002, 16:49, Martin Auer: Kamikaze-Verhalten ist nun bei Ameisen durch Verwandten-Kooperation relativ leicht zu erklären: Wenn die Kamikaze-Arbeiterin den Fortpflanzungs-Erfolg ihrer königlichen Schwestern fördert, fördert sie auch die Verbreitung der Kamikaze-Veranlagung, die auch in den Genen ihrer Schwestern mit hoher Wahrscheinlichkeit codiert ist.
Beim Menschenwesen mit seinen gänzlich anderen Fortpflanzungsstrukturen funktioniert diese Erklärung nicht. Stellen wir uns zwei junge Mütter mit ihrem jeweils ersten Kind vor. In einer gefährlichen Situation opfert Mutter A ihr Leben zugunsten des Kindes, Mutter B rettet sich und verliert das Kind. Mutter A wird keine weiteren Nachkommen mehr haben, die ihre Opferbereitschaft weitervererben könnten, und ob das Kind ohne Mutter durchkommt, ist auch fraglich. Mutter B kann noch viele Kinder haben, die ihren Unwillen, sich zu opfern, weitervererben. Die Situation ist nicht ganz die gleiche für Mütter, die schon mehrere Kinder haben, für Mütter im nicht mehr gebärfähigen Alter, für Väter in unterschiedlichen Lebensphasen. Doch wir sehen schon die Schwierigkeit, Opferbereitschaft genetisch zu verankern.
Die japanischen Kamikaze und auch die palästinensischen Selbstmordattentäter waren bzw. sind meist junge Männer, die noch keine Kinder haben. Sie können ihren Opferwillen nicht auf ihre Kinder vererben. Ihr Opfer müsste den Fortpflanzungserfolg jeweils eines Geschwisters, (das ja im Schnitt nur zu 50% Träger der für den Opferwillen verantwortlichen Gene wäre), auf mehr als das Dopppelte erhöhen, oder von zwei Geschwistern um mehr als 50% oder von drei Geschwistern um mehr als jeweils 30%, um eine Chance zu haben, sich in der Population auszubreiten. Kann man das annehmen? Haben in einer Situation wie heute im Westjordanland nicht die (je nach Standpunkt) "Feigen" oder "Vernünftigen" den höheren Fortpflanzungserfolg als die "Märtyrer"? Müssten nicht Mütter, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass all ihre Söhne den Märtyrertod für ihr Land (ihr Volk, ihren Glauben, ihren Führer, ihre Sache) sterben, schon längst ausgestorben sein?
Wenn man also keine drastische Erhöhung des Fortpflanzungserfolges für die Familien der Kamikaze annehmen kann, wie kann dieses Verhalten sonst zustande kommen? Entweder müssen wir annehmen, dass dieses Verhalten trotz einer genetischen Veranlagung zur Selbsterhaltung zustande kommt, etwa durch Virenbefall oder eine sonstige krankhafte Veränderung im Hirn, oder etwa durch rationale Überlegung oder auch durch eine Indoktrination, die stärker ist als der Selbsterhaltungstrieb ("Membefall"?). Oder wir müssen nach weiteren Momenten für eine genetisch fixierte Kooperationsbereitschaft suchen, die über die bisher untersuchten ("Egoistische Kooperation", "Verwandtenkooperation") hinausgehen. Gerade für die genetische Fixierung der Opferbereitschaft scheint mir das in der Folge behandelte Zahavi'sche "Handicap-Prinzip" als Erklärungsmodell besonders einleuchtend. Doch möchte ich hier, um Mitlesende nicht zu verwirren, erst einmal nur darauf verweisen und später noch einmal auf das Opfer zurückkommen.

(45.1.1.1) Re: und ähnliche Kamikaze-Verhaltensweisen finden sich bei vielen Arten., 09.03.2002, 21:14, Birgit Niemann: "Kamikaze-Verhalten ist nun bei Ameisen durch Verwandten-Kooperation relativ leicht zu erklären: Wenn die Kamikaze-Arbeiterin den Fortpflanzungs-Erfolg ihrer königlichen Schwestern fördert, fördert sie auch die Verbreitung der Kamikaze-Veranlagung, die auch in den Genen ihrer Schwestern mit hoher Wahrscheinlichkeit codiert ist." Das genau ist eine Betrachtung vom Standpunkt der Ameisengesellschaft, die allerdings wiederum über ein Individuum (befruchtete Königin) reproduziert wird. Betrachtet man aber die Ameisenwelt vom Standpunkt der Arbeiterin bzw. Kriegerin, sieht das Leben doch ziemlich armselig aus. Da erinnert es doch vor allem an eine übermächtige "schöne Maschine" die der einzelnen Ameise entfremdet entgegentritt, obwohl sie doch durch das individuelle Handlen vieler solcher Ameisenindividuen erzeugt wird. Gut, Ameisen gehen daran nicht psychisch zu Grunde, weil sie vermutlich keine anders gepolte Psyche haben. Aber eine Woche individuelles Leben voller Arbeit und selbstmörderischen Krieg wurde im Laufe der Ameisenevolution gegen ein vollwertiges reproduktives Leben ausgetauscht. Das ist für das Individuum ein Verlust und es muss sich evolutionär gegen die Interessen der Individuen durchgesetzt haben. Deshalb teile ich die freundliche Sichtweise nicht. Auch zeigt folgende Beschreibung von Wilson und Hölldobler, dass der Übergang vom individuellen Leben zur Kolonie kein freundlicher gewesen sein kann:"Rangordnungskämpfe kommen sogar zwischen Arbeiterinnen derselben Kolonie vor. ...... Konflikte erreichten ihren Höhepunkt, nachdem die Königin entfernt wurde. Die am stärksten konkurrierenden Arbeiterinnen in diesen königinlosen Kolonien verbrachten mehr Zeit damit, sich gegenseitig zu bedrohen und aufeinander einzudreschen, als die Brut zu versorgen. Die Leptothorax-Arbeiterinnen zeigen eine so starke Eigenständigkeit, dass die dominantesten unter ihnen selbst in Anwesenheit der Königin 20 Prozent der Eier legen. Solche Eier sind unbefruchtet und entwickeln sich daher zu Männchen, falls sie überhaupt überleben. Hochrangige Arbeiterinnen ehalten auch regelmäßig mehr Futter, und das ermöglicht ihnen, große mit Eiern gefüllte Eierstöcke zu entwickeln." Also auch hier, wer sich noch vermehren kann, entwickelt eigenständigen Egoismus und Königinnen hindern andere aktiv daran, sich selbst zu vermehren. Das sieht für mich mehr nach Unterdrückung als nach freundlicher Verwandtenbegünstigung aus, die allerdings im Ergebnis scheinbar dabei herauskommt, wenn man das Opfern des Individuums dabei großzügig übersieht. Vererbt wird hier für meine Begriffe vor allem die Fähigkeit der Königin, die Reproduktion ihrer Kinder zu unterdrücken, bis das diese überhaupt keine Chance mehr hatten, befruchtet zu werden.

(45.1.1.1.1) Re:Betrachtet man aber die Ameisenwelt vom Standpunkt der Arbeiterin bzw. Kriegerin, sieht das Leben doch ziemlich armselig aus., 30.03.2002, 10:45, Martin Auer: Ja, und genau da springt der Hund in die Scheiße, bzw. liegt der Hase in der Pfeffersoße: Wir Menschen werten Kooperation als etwas Positives, aber auch Individualität. Perfekte Kooperation führt aber, jedenfalls in der biologischen Evolution, zur Aufgabe der Individualität. Man vergleiche auch die (vermenschlicht betrachtete und in Anführungszeichen gesetzte!) "Lebensqualität" einer Leberzelle mit der eines unabhängigen Pantoffeltierchens. Oder eben einer Ameise mit einer Dolchwespe. An den Ameisen können wir studieren, wie erfolgreich (nahezu) perfekte Kooperation sein kann, aber auch, welcher Preis möglicherweise dafür zu bezahlen ist.
Denn die Kooperation der Ameisenschwestern ist nicht von der Königin erzwungen worden. Man kann z.B. errechnen, welches Verhältnis zwischen fortpflanzungsfähigen Weibchen und Männchen günstiger wäre für die Fortpflanzung der Gene der Königin, und welches besser für die Fortpflanzung der Gene der Arbeiterinnen (die ja auch Gene eines oder auch verschiedener Väter haben). Es hat sich herausgestellt, dass das tatsächliche Geschlechterverhältnis zu Gunsten der Arbeiterinnen tendiert.

(45.1.1.1.1.1) Re:Betrachtet man aber die Ameisenwelt vom Standpunkt der Arbeiterin bzw. Kriegerin, sieht das Leben doch ziemlich armselig aus., 03.04.2002, 00:18, Birgit Niemann: "Perfekte Kooperation führt aber, jedenfalls in der biologischen Evolution, zur Aufgabe der Individualität." Diesen Blickwinkel würde ich nicht auf die Biologie beschränken. Wenn ich mir den Funktionalisierungsdruck eines Kapitalsystems auf seine menschlichen Funktionselemente anschaue, dann sehe ich die gleiche Entwicklung. Was anderes sonst ist der Zwang zur Selbstvermarktung, der zu Selbstperfektionierung und Selbstmanagment zwingt, der das Zumutbare weit überschreitet. Gegenwärtig erreichen wir die Schwelle, in der die Selbstoptimierung nicht nur den Geist betreffen wird, sondern technisch auf die Gene übergreift. Wenn ich mich frage, was Ameisenkolonien und Kapitalsysteme gemeinsam haben, dann sehe ich, das beide über ein "blindes" Bezugssystem (Genom und Kapital) vergesellschaftet werden. Das Verwerfen der Individuen zugunsten der übergeordneten Gemeinschaft scheint also vor allem eine Eigenschaft von "blind" ablaufenden Vergesellschaftungsprozessen zu sein. Die Triebkraft dabei ist die Konkurrenz auf der jeweiligen neuen Ebene. Denn Ameisenkolonien konkurrieren mit anderen Ameisenkolonien und Einzelkapitale konkurrieren mit anderen Einzelkapitalen um die jeweils notwendigen Ressourcen. Das, und nichts anderes erzeugt den Perfektionierungsdruck auf die Funktionselemente der sich auf ihrer eigenen Konkurrenzebene ebenfalls wie Indivdiuen verhaltenden übergeordneten Systeme. Nimm die Konkurrenz weg, dann fällt der Optimierungsdruck flach. In der Biologie finden wir dann "lebende Fossilien" und auf der sozialen Ebene führt das zu langfristig konservativen und stabilen Gesellschaften, ohne all zu viel "Fortschritt" (z.B. das Reich der Mitte, China). Ganz anders sieht die Situation aus, wenn der Vergesellschaftungsprozess nicht nach blinden Regeln läuft, sondern mit Hilfe des reflektierenden Gehirns beginnt, eine bewußte Komponente zu enthalten. Innerhalb der Primatenevolution findet sich z.B. mit wachsender Gehirngröße ein "Demokratisierungsprozess". Von allen Affen sind die Schimpansen die demokratischsten Affen. Dieser Prozess scheint sich in der Menschwerdung fortgesetzt zu haben. Er findet erst sein Ende, als die Individuenzahl innerhalb der menschlichen Gesellschaften dank der Landwirtschaft so anstieg, dass ihre bewußte und persönliche Koordination nicht mehr möglich war und auf geistiger Ebene ebenfalls "blinde" Prozesse das Übergewicht am Vergesellschaftungsprozess bekamen. Dazu zählen meines Erachtens neben dem Markmechanismus auch die großen Religionen, die die Menschen in Herde und Hirten (denen die Pflege des kollektiven geistigen Bezugssystems vorbehalten war) trennten, nicht aber den Schamanismus und die anderen ursprünglichen Formen von individueller Spiritualität.

(45.1.1.1.2) Re: und und es muss sich evolutionär gegen die Interessen der Individuen durchgesetzt haben., 30.03.2002, 10:56, Martin Auer: Tja, da müssen wir uns jetzt fragen, was wir als die Interessen des Individuums ansehen wollen: Die Interessen des Organismus oder die Interesssen seiner Gene? ("Siehste!" würde Dawkins hier sagen.) Die Evolution bevorzugt nicht die, die das interessantere, erfülltere oder angenehmere Leben führen, sondern die, die sich besser fortpflanzen, Punkt, aus. Und wenn ich mit meinen Kindern 50% der Gene gemeinsam habe, mit meinen Schwestern aber 75%, dann können sich meine Gene schneller verbreiten, wenn ich selber keine Kinder kriege, sondern meiner Mutter helfe, Schwestern aufzuziehen. Also wird sich diese Eigenschaft, zugunsten von Schwestern auf Kinder zu verzichten, ausbreiten. Dass ich damit einen Teil meiner Individualität aufgebe, und zum Organ eines Organismus werde - tja, die, die das nicht wollen, und auf eigenen Kindern beharren, haben Pech gehabt: Sie werden im Lauf der Generationen von den weniger individualistischen Schwestern überschwemmt und verdrängt. Die Aufgabe der Individualität, die Degradierung zum Organ liegt vielleicht nicht im "Interesse" der Arbeiterin, aber sehr wohl im "Interesse" ihrer Gene.

Innerhalb des Organismus können weiterhin Widersprüche bestehen. Wenn es insgesamt von Vorteil ist, auf eigene Kinder zu verzichten, so kann es doch noch vorteilhafter sein, nicht ganz und in jeder Situation darauf zu verzichten. Selbstverständlich haben Stöcke, in denen im Fall des Tods der Königin eine Arbeiterin die Fortpflanzungsfunktion übernehmen kann, einen Vorteil gegenüber Stöcken, wo das nicht der Fall ist. Und selbstverständlich haben Arbeiterinnen, die im Fall des Falles um dieses Vorrecht kämpfen, einen Fortpflanzungsvorteil gegenüber solchen, die sich nicht aggressiv darum bewerben. Und so kann man den Verästelungen des Widerspiels von Kooperation und Konkurrenz noch weiter nachgehen, wenn man will. Das würde hier aber zu weit führen.

Die Evolution kümmert sich also nicht um die Lebensqualität, sondern nur um den Fortpflanzungserfolg. Ich habe an anderer Stelle ja schon geschrieben: Ein Leben ohne Schmerz und Angst wäre sicher angenehmer. Aber all diese unangenehmen Regungen erhöhten die Überlebenschancen und damit den Fortpflanzungserfolg unserer Vorfahren und deshalb haben wir sie jetzt. Und auch die kulturelle Evolution kümmert sich nicht um die Lebensqualität der Menschen in einer Gesellschaft, sondern nur um die Fähigkeit der Gesellschaft, sich erweitert zu reproduzieren. Das ist ja der eigentliche Clou dieses Artikels. Ich will darauf hinaus, dass wir die Entwicklung der Gesellschaft nicht der spontanen Selbstorganisation, also der kulturellen Evolution überlassen sollten. Im Fall der menschlichen Gesellschaft wurde die Degradierung der Individuen zu Organen eines Organismus tatsächlich erzwungen, wie später ausgeführt. Hier nur ein Wort oder zwei zur Freiwilligkeit: Ein sumerischer Bauer, der für den Tribut an den Herrscher und seine Krieger schuftete, mag gelegentlich mit Angehörigen noch freier Nomadenstämme konfrontiert gewesen sein. Er mag seufzend sein eintöniges Leben mit dem ungebundenen, abenteuerlichen Leben des Nomaden verglichen und sich gewünscht haben, auch so leben zu können. (Ich werde später in diesen Artikel einen Abschnitt über Erich Fromms Theorie des Gesellschaftscharakters einfügen, die erklärt, warum er es vielleicht auch nicht getan hat). Er konnte aber auch sehen, dass diese Nomaden auf der Verliererstraße waren, dass sein König einfach mächtiger war als sie, und ihre Zukunft über kurz oder lang so aussehen würde wie sein jetziges Leben. Und so mag er den Gedanken an Rebellion gleich wieder aufgegeben haben.

(45.1.1.1.2.1) Re: und und es muss sich evolutionär gegen die Interessen der Individuen durchgesetzt haben., 03.04.2002, 00:47, Birgit Niemann: "Tja, da müssen wir uns jetzt fragen, was wir als die Interessen des Individuums ansehen wollen: Die Interessen des Organismus oder die Interesssen seiner Gene?" Dabei kommen wir wohl nicht umhin festzustellen, dass "zwei Seelen in der Brust" der vielzelligen Individuen leben, deren Interessen sich zwar z.T. überschneiden, die aber in anderen Punkten weit auseinanderfallen. Für den Einzeller ist noch alles in Butter. Die Interessen des Genoms und des Individuums fallen komplett zusammen. Jede Reproduktion des Genoms, verdoppelt auch das Individuum. Keiner von beiden wird dahingerafft und es gibt nur den Zufallstod. Im Vielzeller ist dann allerdings Schluss mit dieser idealen Kooperation zwischen beiden Interessenlagen. Hier wird deutlich, dass die Interessen des Genoms sich durchsetzen, und die Individuen funktionieren müssen bevor sie verworfen werden. Das gilt sowohl für die Zellen, die total funtkionalisiert und in den programmierten Selbstmord getrieben werden, wenn sie dem Organismus nicht mehr nützlich sind, als auch für den Organismus, der vorprogrammiert stirbt, wenn das Genom in ausreichender Zahl reproduziert ist. Mit dem reflektierenden Gehirn kriegten die Interessen des Individuums später in der Evolution sogar einen eigenen Interessenvertreter, der eine selbstständige Handlungs- und "Kommando"ebene eröffnete. Kaum dass dieser begann, die ihm zugrunde liegenden Lebensprozesse analytisch zu durchdringen, fand er sich auch schon funktionalisiert durch die übergeordnete Gesellschaft wieder.

(45.1.1.1.2.2) Re: und und es muss sich evolutionär gegen die Interessen der Individuen durchgesetzt haben., 03.04.2002, 00:58, Birgit Niemann: "Die Evolution kümmert sich also nicht um die Lebensqualität, sondern nur um den Fortpflanzungserfolg." Aber die Individuen kümmern sich sehr wohl um ihre Lebensqualität. Denn die Möglichkeit, Plackerei loszuwerden, ist eine der subjektiven Ursachen für den Ursprung von Sklaverei. Und es kann einem sterblichen Individuum herzlich egal sein, ob sein Genom weiter lebt, wenn nur die eigene Lebensqualität in Ordnung ist. Das trifft insbesondere auf Organismen zu, die einen starken geistigen Interessenvertreter ihrer Individualität besitzen, wie wir Menschen. Natürlich führt eine solche Haltung schnell zum Aussterben. Insbesondere dann, wenn Kinder nicht mehr zu Lebensqualität dazugehören. Genau das sehen wir ja auch in den wohlhabenden Industrieländern, in denen den postmodernen Spaßmonaden nichts wichtiger ist, als die Inszenierung ihres Lebens als Gesamtkunstwerk.

(45.1.1.2) Re: und ähnliche Kamikaze-Verhaltensweisen finden sich bei vielen Arten., 10.03.2002, 23:54, Birgit Niemann: "Beim Menschenwesen mit seinen gänzlich anderen Fortpflanzungsstrukturen funktioniert diese Erklärung nicht." Nein, auch ohne Dein Gedankenexperiment ist klar, dass das Kamikaze-Verhalten beim Menschen nicht vom Genom kodiert wird. Darauf wollte ich gar nicht hinaus. Gerades deshalb ist die Frage, warum und unter welchen Umständen verhält sich ein Mensch wie eine Ameise, um so interessanter. Ob die jungen Männer, die Kamikaze werden, noch keine Kinder haben, ist nicht so sicher. aber es spielt keine Rolle, für ihr wirkliches Verhalten. Was bringt sie dazu, ihr einziges Leben wegzuwerfen? Zumal sie wissen, dass es ihr einziges ist. Bei den Japanern ist die Antwort klar, es ist die Gesellschaft vermittelt über die Familie, die das Verhalten erwartet hat. Bei den Palästinensern kann ich das noch am ehesten nachvollziehen. Die werden so an die Wand gedrückt, dass sie kaum noch Lebenschancen haben. Doch auch die Attentäter vom 11. September waren Kamikaze. Im Grunde genommen ist das die Vollendung des Kriegshelden, die wir hier beobachten können. Der Kriegsheld wird aber immer von der Gemeinschaft gemacht und gebraucht. Die menschliche Gesellschaft aber wird nicht vom Genom organisiert. Schon der Ausdruck "Opferwillen" zeigt das an, denn Wille und Geist sind nicht zu trennen. Hier wird deutlich, dass eine übergeordnete Gesellschaft auch auf geistiger Ebene dazu tendiert, das Individuum zu opfern. Es stellt sich die Frage, wann und unter welchen Bedingungen?

(45.1.1.2.1) Re: und ähnliche Kamikaze-Verhaltensweisen finden sich bei vielen Arten., 23.09.2002, 18:17, Casimir Purzelbaum: Der Vergleich zwischen dem Kamikaze-Verhalten bei Ameisen und Menschen hält dem Sprung zwischen den Ebenen (biologisch/gesellschaftliche) durchaus stand wenn man diese nicht vermischt: Der Kamikaze-Aktivist trägt durch sein doktrinär begründetes Verhalten (vielleicht) nicht zur Verbreitung seiner Gene bei, aber durchaus zur Verbreitung seiner Doktrin! Dies gilt sowohl für die Japaner ("vermittelt über die Familie"), als auch für Palästina (vermittelt über die "Widerstandsbewegung"), als auch für Nazi-Deutschland (Vermittlung über diverse Organisationen inkl. Staatsapparat).

Die "übergeordnete Gesellschaft tendiert" also nicht "auch auf geistiger Ebene dazu, das Individuum zu opfern", sondern vor allem (oder gar nur) auf dieser Ebene.

(45.1.1.2.1.1) Re: und ähnliche Kamikaze-Verhaltensweisen finden sich bei vielen Arten., 23.09.2002, 20:43, Birgit Niemann: Dein letzter Satz stimmt, wenn mann den Vergesellschaftungsbegriff nur für den Menschen reserviert. Die menschliche Gesellschaft tendiert unter bestimmten Bedingungen natürlich nur auf geistiger Ebene zur Hervorbringung von Kamikaze-Verhalten, weil die genetische Ebene schon sehr lange nicht mehr das Veränderungstempo der menschlichen Gesellschaft bestimmt. In Wahrheit hat sie es natürlich noch nie bestimmt, denn als das noch der Fall war, war es eben noch keine menschliche Gesellschaft. Aber wie Du vielleicht aus meiner Diskussion mit Stefan am Rande mitgekriegt hast, gehe ich von folgendem Gesellschaftsbegriff aus: Eine Gesellschaft ist eine abhängig-kooperative ReProduktionsgemeinschaft gleichartiger Individuen. Das gibt mir die Möglichkeit, Vergesellschaftungsprozesse auf verschiedenen Lebensebenen in ihren konkreten Eigenschaften miteinander zu vergleichen, um Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Vergesellschaftprozessen auszumachen. Das "auch" bezog sich also darauf, dass nicht nur genetisch programmierte Vergesellschaftungsprozesse, wie in der Ameisenkolonie, sondern eben auch geistig programmierte bzw. "kapital" organisierte Vergesellschaftungsprozesse, wie in der Menschengesellschaft, dazu tendieren können, Kamikaze-Verhalten bei ihren "Funktionselementen" zu selektieren bzw. sozial zu erzwingen, wenn Dir selektieren zu biologisch klingt.

(46)

Die Ameisenkolonie wird oft als Superorganismus bezeichnet, weil sich die Individuen wie Organe eines größeren Superindividuums verhalten. Das macht ihren großen Erfolg aus. Von 750.000 bekannten Insektenspezies sind 13.500 Spezies staatenbildend. 9500 davon sind Ameisen, der Rest sind Termiten und soziale Bienen und Wespen. Doch diese 2% aller Insektenspezies machen 50% der Biomasse aller Insekten aus! Warum? Hölldobler und Wilson führen folgendes Argument an: Man stelle sich 100 einzeln lebende Wespen (Ameisen stammen von Wespen ab) neben einer Kolonie von 100 Ameisen vor. Jede Wespenmutter muss ein Nest graben, ein Beutetier fangen und eintragen, ein Ei darauf legen und das Nest verschließen. Wenn sie bei einer einzigen dieser Arbeiten versagt, waren auch alle anderen Arbeiten vergebens. Die Ameisen teilen die Arbeiten auf Spezialistinnen auf. Wenn eine versagt oder gefressen wird, springt eine andere ein. Der Erfolg ist nahezu garantiert. Im Kampf können die Ameisen-Soldatinnen draufgängerisch bis zum Selbstmord sein. Eine Wespenmutter sollte sich auf einen Kampf nur einlassen, wenn sie ihn gewinnen kann, Kamikaze-Aktionen stehen sowieso außer Frage. Selbst wenn bis zum Ausfliegen der jungen Ameisenköniginnen von den 100 Ameisen 99 ihr Leben lassen müssen, werden die ausfliegenden Schwestern den Verlust mehr als ausgleichen, die Arbeit der 99 wird nicht verloren sein. Wenn 99 Wespenmütter ihr Leben lassen, bevor sie ihren Nachwuchs bis zum Ende versorgt haben, wird nur die Arbeit der letzten überlebenden nicht verloren sein. „Es scheint, dass Sozialismus unter bestimmten Bedingungen wirklich funktioniert“, schreiben Hölldobler und Wilson. „Karl Marx hatte nur die falsche Spezies.“[13]

(46.1) Sozialismus, 07.03.2002, 08:01, Birgit Niemann: „Es scheint, dass Sozialismus unter bestimmten Bedingungen wirklich funktioniert“, schreiben Hölldobler und Wilson. „Karl Marx hatte nur die falsche Spezies.“ Was man an diesem Zitat genau erkennen kann ist, dass Wilson und Höldobler eben nicht begriffen haben, dass das Wesen des Sozialismus nicht Arbeitsteilung und Spezialisierung an sich ist, sondern der theoretische Versuch, die eigene Arbeitsteilung und Spezialisierung so zu beherrschen, dass ihre negativen Folgen für die Individuen (opfern der Individuen zugunsten der neuen Gesamtheit) eben nicht eintreten, sondern umgekehrt gerade das Funktionieren der Gesamtheit die erweiterte Freiheit der (die Gesamtheit erzeugenden) Individuen bedingt. Das aber steht jedem selbstorganisierten Kooperations-Ergebnis gleichartiger Individuen in der geistfreien Welt diametral entgegen und ist selbst in der primär vom Geist organisierten Menschenwelt bisher auch nur ansatzweise und zeitweilig gelungen. Was für die Schwierigkeit der Aufgabe spricht, oder dafür, dass auch in der Menschenwelt blinde (geistfreie) Organisationsprozesse bei der Erzeugung von Arbeitsteilung und Spezialisierung am Werk sind.

 

(47)

Konkurrenz und Kooperation ergänzen einander

(48)

Die Weiterentwicklung der Arten, die immer weiter gehende Differenzierung des Lebens wird also durch Konkurrenz vorangetrieben, Konkurrenz innerhalb der Arten und zwischen den Arten. Doch diese Konkurrenz bringt auf vielen Ebenen Kooperation hervor, und kooperative Spezies wie die Ameisen und – wie wir sehen werden – die Menschen, gehen als „Sieger“ aus dieser Konkurrenz hervor.

(49)

Krieg bei sozialen Insekten

(50)

Bei all ihrer Eignung zur Kooperation kennen auch die Ameisen Konkurrenz und Kampf sowohl innerhalb der Kolonie als auch zwischen den Kolonien. So kann es sein, dass mehrere Königinnen gemeinsam eine Kolonie begründen, weil sie so schneller das Stadium erreichen, wo ihre Töchter Brutpflege und Nahrungsbeschaffung übernehmen können. Doch sobald die Kolonie gefestigt ist, beginnt der Kampf um die Vorherrschaft unter den Königinnen, aus dem eine als die alleinige Stammmutter hervorgeht. Vor allem zwischen verschiedenen Spezies und auch zwischen den Kolonien ein und derselben Spezies herrscht oft erbarmungsloser Krieg. „Wenn Ameisen Nuklearwaffen hätten, würden sie wahrscheinlich innerhalb einer Woche das Ende der Welt herbeiführen“.[14]

(51)

Warum ist unter Ameisen Krieg die Regel, und zwar, wie Hölldobler/Wilson es beschreiben, gekennzeichnet durch „rastlose Aggression, territoriale Eroberung und völkermörderische Auslöschung benachbarter Kolonien wann immer möglich“?[15]

(52)

Für die folgenden Überlegungen sind nicht Hölldobler/Wilson verantwortlich sondern ich allein:

(53)

1) Ameisenkolonien können zwar nicht unbegrenzt wachsen, aber die Spanne zwischen der kleinstmöglichen noch funktionierenden Kolonie und der größtmöglichen ist enorm, kann das Hundertfache, Tausendfache oder noch mehr betragen. Kaum eine Ameisenkolonie erreicht tatsächlich die theoretisch mögliche größte Ausdehnung, praktisch jede Kolonie könnte noch größer werden. Praktisch jede Kolonie könnte also ein noch größeres Territorium brauchen. Auch bei einem Singvogelpärchen hängt die Größe der Brut, die es aufziehen kann, bis zu einem gewissen Grad von der Größe des Territoriums ab, das dem Pärchen zur Verfügung steht. Aber es gibt ein maximales Territorium, das das Pärchen überhaupt bearbeiten kann, und jede Gebietseroberung darüber hinaus hätte keinen Sinn und würde nur unnützen Kräfteverschleiß bedeuten. Für die Ameisen aber gilt, dass eine Kolonie, die nicht auf unbegrenztes Wachstum aus wäre, der maßlosen Mutante gegenüber ins Hintertreffen geraten muss. Desgleichen eine Kolonie, die ihr Territorium nicht mit Mandibeln und Klauen verteidigt.

(54)

2) Ameisenkolonien können sich das Kriegführen leisten. Sie können es sich leisten, weil sie, wie schon oben ausgeführt, die Fortpflanzung an ihre königlichen Schwestern delegieren. Einzeln lebende Wespen oder Singvogelpärchen oder andere territoriale Tiere können sich eine tödliche Niederlage nicht erlauben. Jede Fortpflanzungschance wäre dahin. Sobald eine Niederlage abzusehen ist, ist Flucht die bessere Alternative, denn dann besteht immer noch die Chance, ein unbesetztes Territorium zu finden oder einen schwächeren Konkurrenten, den man vertreiben kann. Für eine Ameisenkolonie kann ein Krieg sich auch dann lohnen, wenn Tausende auf dem Schlachtfeld sterben.

(54.1) die Fortpflanzung an ihre königlichen Schwestern delegieren, 03.03.2002, 20:53, Birgit Niemann: Delegieren ist eine nette Auffassung. Bis vor kurzem war mir z.B. nicht bekannt, dass es unter Ameisen ebenfalls Rangordnungskämpfe gibt. Das hatte mich echt überrascht, weil ich Rangkämpfe immer für eine Sache des Gehirnes gehalten habe und Ameisen ja ihr 500 Zellen großes Gehirn mehr als Meßinstrument, denn als Handlungsorganisator benutzen dürften. Interessant ist wiederum zu betrachten, unter welchen Ameisen es denn Rangkämpfe gibt. Nämlich unter noch fortpflanzungsfähigen Weibchen. Es handelt sich also offensichtlich nicht um ein nettes "wegdelegieren" sondern um eine Konkurrenz um die Fortpflanzungsposition. Das macht sowohl vom Standpunkt des egoistischen Genomes Sinn, als auch vom Standpunkt des Individuums. Denn Ameisenköniginnen können unter Umständen bis zu 20 Jahren alt werden, während Arbeiterinnen im Durchschnitt eine Woche leben.

(54.1.1) Re: die Fortpflanzung an ihre königlichen Schwestern delegieren, 08.03.2002, 08:58, Martin Auer: Nach Hölldobler/Wilson ist es nicht so, dass (sozusagen!) die Königin den Arbeiterinnen die Fortpflanzungsposition entrissen hat, sondern - wegen der besonderen Verwandtschaftsverhältnisse - tatsächlich umgekehrt: "...but your are connected to your sisters by three fourths of your genes. A bizarre new arangement is now optimal: in order to insert genes identical to your own into the next generation, it is more profitable for you to raise sisters than it is to raise daughters. Your world has been turned upside down. How can you best reproduce your genes? The answer is to become a member of a colony. Give up having daughters, and protect and feed your mother in order to produce as many sisters as possible. So the best succinct advice to give a wasp is: become an ant."

(54.1.1.1) Re: die Fortpflanzung an ihre königlichen Schwestern delegieren, 09.03.2002, 21:36, Birgit Niemann: Wie bereits ausgeführt, kann man solche Prozesse immer von verschiedenen Seiten interpretieren. Dabei kommen unterschiedliche Sichtweisen heraus, die sich nicht gegenseitig ausschließen müssen, sondern durchaus Ergänzungen sind. Auch und gerade dann, wenn sie sich aus den gegensätzlichen Interessen von Individuen und neuer Gesamtheit, die sich selbst wiederrum auf ihrer neuen Ebene ebenfalls als Individuum verhält, ergeben. Als individuelle Wespe würde ich es jedenfalls vorziehen, ein "lebendes Fossil" zu werden, statt zum Ameisendasein fortzuschreiten. Diese Art von Entscheidung ist der Wespe allerdings nicht möglich.

(55)

3) Der dritte Grund spielt wahrscheinlich eine geringere Rolle als die ersten beiden, wird aber auch mit zur kriegerischen Veranlagung der Ameisen beitragen: In Ameisenkriegen geht es nicht nur um Territorien, die ja erst noch bejagt oder sonst bearbeitet werden müssen, sondern es gibt im feindlichen Stock oft auch unmittelbar etwas zu holen. Viele Ameisen legen Vorräte an. Die schon erwähnten Honigtopf-Ameisen stehlen zum Beispiel eben diese lebenden Honigtöpfe und verleiben sie dem eigenen Stock ein. Oft werden Puppen und Larven gestohlen. Sie werden dem eigenen Stock einverleibt und müssen sich in den Dienst von Königinnen stellen, mit denen sie nicht verwandt sind. Manche Ameisenarten versklaven auf diese Art sogar Angehörige fremder Ameisenspezies.

(55.1) Ameisenarten versklaven sogar Angehörige fremder Ameisenspezies., 03.03.2002, 20:58, Birgit Niemann: An dieser Stelle wird deutlich, dass mit den hübschen Berechnungen von den halben und dreivierteln gemeinsamen Genen bestenfalls ein Teil der Wirklichkeit erfasst wird. Denn wieviele Gene haben die versklavten Arbeiterinnen mit den sklavenhaltenden Kriegerinnen gemein? Trotzdem kooperieren die Sklaven mit den Sklavenhaltern indem sie sie füttern und deren Nachwuchs heranziehen.

(55.1.1) Re: Trotzdem kooperieren die Sklaven mit den Sklavenhaltern, 07.03.2002, 21:17, Martin Auer: Das, glaube ich, ist nicht so rätselhaft. Die versklavten Ameisen tun einfach das, was sie immer tun. Sie haben kein besonderes Programm, das ihnen sagt: "Kooperiere mit den Sklavenhaltern". Sie können bloß die Sklavenhalter nicht von ihren Artgenossen unterscheiden, sobald ihre eigene Königin weg ist und der eigene Nestgeruch nicht mehr vorhanden ist. Solches "Fehlverhalten" kommt immer wieder vor, wenn Lebewesen in untypische Situationen geraten. Die Evolution programmiert die Lebewesen immer nur für typische Situationen. Sobald z.B. ein Experimentator eine ungewöhnliche Situation herstellt, werden der Eier beraubte Nester mit Honig versorgt, werden Gipseier bebrütet oder Graugänse auf Männer mit Vollbart geprägt. Mutter Natur kann sich nicht um alles kümmern. Vögel meiden schwarz-gelb gestreifte Insekten - und lassen sich so die Fruchtfliegen entgehen. Ein Vogel, der Fruchtfliegen von Wespen und Bienen unterscheiden könnte, hätte wohl einen Vorteil: eine Beutetierart mehr. Vielleicht wäre aber der Aufwand so groß, dass es sich nicht lohnt.
Was würde geschehen, wenn irgendwo eine Mutante auftaucht, die auf die Sklavenhalterameisen nicht hereinfällt? Die Mutante wäre zunächst fortpflanzungsneutral, könnte sich also in einer Population gleichberechtigt mit dem nicht-unterscheidungsfähigen Allel ausbreiten. Sobald es zu einer Versklavung kommt, würde ein Teil der versklavten Arbeiterinnen die Kooperation verweigern, was einen leichten Nachteil für die Sklavenhalter bedeuten würde. Doch die Königin der versklavten Arbeiterinnen ist ja getötet worden. Einen unmittelbaren Fortpflanzungsvorteil für die unterscheidungsfähigen Ameisen kann es also nicht geben. Es kann nur durch die leichte Schwächung des Sklavenhalterstocks eine leichte Verringerung des Risikos versklavt zu werden für die Stöcke anderer Königinnen in der Nachbarschaft geben, die möglicherweise ebenfalls die Anlage zur Unterscheidungsfähigkeit in ihrem Erbgut haben. Die Unterscheidungsfähigkeit wird es also nicht so leicht haben, sich durchzusetzen. Und nun stellt sich die Frage, wie hoch der Aufwand an Gehirn- und Sinnesleistung für diese Unterscheidungsfähigkeit wäre.
Es kann also sein, dass die Opfer der Sklavenhalterameisen einfach noch nicht so weit sind, die Unterscheidungsfähigkeit entwickelt zu haben. Es kann aber auch sein, dass der Aufwand im Vergleich zur Verbesserung des Fortpflanzungserfolgs einfach zu hoch wäre.

(55.1.1.1) Re: Trotzdem kooperieren die Sklaven mit den Sklavenhaltern, 08.03.2002, 08:43, Martin Auer: Leider ist es zu spät, den vorhergehenden Kommentar zu korrigieren. Bitte den zweiten und dritten Absatz einfach zu ignorieren!

(55.1.1.2) Re: Die versklavten Ameisen tun einfach das, was sie immer tun., 09.03.2002, 10:44, Birgit Niemann: Nein, so einfach kann man sich die Sache nicht machen. Zuerst einmal muss man die Frage beantworten, warum tun die Ameisen das, was sie tun? Womit die gesellschaftliche Funktionsteilung (bei den Menschen auch Arbeitsteilung genannt) gemeint ist. Das betrifft die Frage, wodurch wird die Ameisenfunktionsteilung vermittelt? Die entsprechenden Forscher haben ein sehr komplexes System von Signalmolekülen gefunden, über die die Ameisen ihre Funktionsteilung kommunizieren bzw. steuern und regulieren. Auch die Vergesellschaftung der Ameisen ist also über ein (der einzelnen Reproduktionsgemeinschaft inhärentes) gemeinsames (hier molekulares) Bezugssystem vermittelt. Hier beginnen die "Nicht-Selbstverständlichkeiten". Warum verstehen die Sklavenarbeiter die "chemische Sprache" der Sklavenhalter, obwohl es sich um verschiedene Arten handelt? Welche chemischen Signale (und Rezeptormoleküle samt neuronaler Regelkreise) sind für artenübergreifendes "Verstehen" verantwortlich und welche Moleküle sorgen für die spezifische Unterscheidung zwischen Nestgenossinnen und Fremden? Zumal die Unterscheidung zwischen Eigen und Fremd ein zentrales Problem in allen kooperativen biologischen Prozessen ist. Besonders für die kriegführenden Ameisen, die ja zwischen Freund und Feind sehr genau unterscheiden können müssen. Sind die Signale austauschbar? Wenn ja warum und unter welchen Bedingungen? Beim Menschen ist das sehr einfach. Marco Polo musste nur chinesisch (oder sonstwas) lernen, dann konnte er sich in das soziale Gefüge in Asien erfolgreich und sinnvoll einfügen. Wenn das Verständnis der "Sprache" aber genomisch (über Rezeptormoleküle) kodiert ist, stellt sich die Frage, wie kann das Individuum, in diesem Fall die Ameise, im individuellen Leben "umprogrammiert" werden? Müssen die Sklavenarbeiter überhaupt die "chemische Sprache" der Sklavenhalter verstehen, oder gibt es noch andere regulative Prozesse der Funktionsteilung? Warum hat sich in der immerhin bereits 120 Millionen Jahren andauernden Ameisenevolution nicht ein "Unverständnis" zwischen den Arten herausselektiert? Oder hat es das etwa doch und die Sklavenhalter-Ameisen sind ein Relikt bzw. ein soziales "lebendes Fossil"?. Das sind Fragen, die Wilson und Hölldobler in ihrem zusammenfassenden und allgemeinzugänglichen Ameisenbuch höchstens am Rande antippen. Leider habe ich auch nicht die Zeit und die Muße, ihnen in der Fachliteratur nachzugraben. Allerdings fallen sie mir Dank meiner eigenen molekularbiologischen Kenntnisse wenigsten auf, so dass ich gezielt darauf achten kann, ob in der unübersehbaren Fülle der geschriebenen Bücher eine leicht zugängliche zusammenfassende Arbeit erscheint, die solche Fragen behandelt.

(55.1.2) Re: dass mit den hübschen Berechnungen von den halben und dreivierteln gemeinsamen Genen bestenfalls ein Teil der Wirklichkeit erfasst wird, 07.03.2002, 21:37, Martin Auer: Das wird besonders deutlich, wenn wir die Kooperation und Kommunikation zwischen den Arten betrachten, etwa das verblüffende Beispiel von Honigdachs und Honiganzeiger oder andere Symbiosen. Oder die Kooperation und Kommunikation zwischen Blütenpflanzen und ihren Bestäubern. Oder zwischen fruchttragenden Pflanzen und den früchteverzehrenden Arten, die so die Samen verbreiten. Das ganze Feld der Kooperation zwischen den Arten ist in dem Artikel noch gar nicht angerissen, ebensowenig wie das der Kommunikation zwischen den Arten. Wo in der Umwelt relevante Unterschiede vorhanden sind, bringt Wahrnehmungsfähigkeit einen Fortpflanzungsvorteil. Wo in der Umwelt Wahrnehmungsfähigkeit vorhanden ist, kann die Produktion von Signalen einen Fortpflanzungsvorteil bringen. Die rote Farbe vieler Früchte signalisiert: "Friss mich!". Die schwarzgelbe Farbe von Bienen und Wespen signalisiert: "Friss mich nicht!" Beide Signale ermöglichen eine Kooperation zwischen unterschiedlichen Arten, zwischen Pflanze und Tier, zwischen Tier und Tier, die gegenseitigen Nutzen bringt. Die Arten, die für einander Umwelt sind, züchten einander. Später werde ich darauf zu sprechen kommen, wie die beiden Hälften einer Art, die beiden Geschlechter, einander züchten (selegieren). (Man verzeihe den etwas inkohärenten Charakter dieses spätabendlichen Kommentars.)

(55.1.2.1) Re: wenn wir die Kooperation und Kommunikation zwischen den Arten betrachten, 09.03.2002, 11:03, Birgit Niemann: Auf die Kommunikation zwischen den Arten ist die Verwandtenselektion überhaupt nicht anwendbar. Man sollte das beides nicht miteinander vermischen. Zwischenartliche Kooperationen (z.B. Symbiosen) sind koevolutionäre Vorgänge, die auf aktuellem gegenseitigem Nutzen beruhen, der sich darin ausdrückt, dass die jeweilige Vermehrung der Kooperationspartner gegenseitig begünstigt wird. Der aktuelle gegenseitige Nutzen wirkt sich also auf genomischer Ebene aus. Das Hochspannende daran ist, dass der gegenseitige Nutzen bei Geist-erzeugenden Wesen auch für den kooperativen Gruppenzusammenhang gleichartiger Individuen anfängt eine Rolle zu spielen. Dort beginnt er sich allerdings von der genomischen Ebene (Fortpflanzungserfolg) durch Verselbsständigung langsam abzukoppeln, indem das Individuelle Wohlbefinden zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses rückt und eine neue (geistige) Egoismus-Ebene aufmacht. Aktueller gegenseitiger Nutzen auf geistiger Ebene aber wird nicht mehr Koevolution, sondern Bündnispolitik genannt.

(56)

Unter den Ameisen gibt es also Krieg, weil er sich für sie unter den besonderen Umständen, unter denen sie leben, besonders lohnt. Im Gegensatz zum bloß territorialen Singvogelpärchen ist die Ameisenkolonie von ihrer Struktur her expansiv.

(56.1) ist die Ameisenkolonie von ihrer Struktur her expansiv., 09.03.2002, 19:14, Birgit Niemann: Warum Ameisenkolonien expansiv sein müssen, hast Du weiter oben aufgezeigt. Der Grund aber, warum sie überhaupt expansiv sein können, ist ihre Gesellschaftlichkeit. Wegen der voneinander abhängigen Funktionsteilung und wegen des Kommunikationssystems, dass in der Lage ist, unerhört große individuelle Mitgliederzahlen arbeitsteilig zu koordinieren, erweitert sich die Reichweite erheblich. Ein Singvogelpaar muss für seine Reproduktion alles mit zwei Individuen erledigen. Das beschränkt dessen expansive Reichweite und ein mögliches Risikoverhalten erheblich. Auch die Reichweite einer ursprünglichen Jäger und Sammlergruppe ist territorial beschränkt. Die Jäger- und Sammlerstruktur mit der Ratsversammlung aller Beteiligten kann ebenfalls nur eine begrenzte Anzahl Leute koordinieren. Wobei die Gruppengröße natürlich grundlegend von den verfügbaren Nahrungsressourcen und den Schutznotwendigkeiten abhängt. Aber eben gerade mit der wachsenden Zahl der Mitglieder von Gesellschaften wurden andere Organisationsformen nötig. Gerade das Zweistromland und Ägypten machen das sehr deutlich. Auch die Prozesse um die Bildung des Irokesenbundes sind hervorragend geeignete Studienobjekte. Überall, wo die Anzahl der zu koordinierten Leute über einen Schwellenwert hinauswuchs, wurden die Gesellschaften umstrukturiert. Keine einzige Gesellschaft blieb dabei egalitär, egal wie die spezifische Entwicklung auch aussah. Wobei "das Egalitäre" in den Jäger- und Sammlergruppen natürlich Rangunterschiede einschloß, was aber nicht annähernd ein Ausmass erreichte, wie die späteren Herrschaftsstrukturen. Die Koordination über den Markt ist ebenfalls in der Lage, riesige Anzahlen von von arbeitsteilig zusammenhängenden Mitgliedern zu koordinieren. Und auch die Marktwirtschaften sind wesentlich expansiver als andere Menschengesellschaften. Sowohl die griechische (Alexander) und erst recht die römische. Vom modernen Kapitalismus ganz zu schweigen. "Zufällige" äußerliche Ähnlichkeit oder verschiedene Varianten einer vergleichbaren Reproduktionsstrategie? Auch etwas anderes ist "zufällig" außerlich ähnlich. Das Kommunikationsystem der Ameisen läuft über Moleküle und kann nur über geeignete Proteinrezeptoren erfolgen. Das Bezugssystem wird also im wesentlichen vom Genom kodiert. Das Genom aber ist ein blinder Organisator von Lebensprozessen. Das Bezugssystem der Marktwirtschaft ist die Verwertung des Wertes. Das Kapital aber ist ebenfalls ein blinder Organisator von Lebensprozessen. Noch eine "zufällige" Ähnlichkeit besteht zum Beispiel darin, dass im Ameisenhaufen das Indivdiuum komplett für das Wohl der Gesellschaft geopfert wird. Das Individuum hat sein eigenes Selbst völlig verloren. Aber auch die Ameisengesellschaft muss einmal als Gemeinschaft "gleichberechtigter" Individuen, die alle als Individuen einen Vorteil hatten, begonnen haben. Erst in der Historie des Vergesellschaftungsprozesses wurden sie zu "Kamikaze" und verloren ihr Selbst, indem sie funktionalisiert wurden. Und nun werfen wir einen Blick auf unsere eigene historische Entwicklung. Auch hier sehen wir heute die "Durchfunktionalisierung" des marktwirtschaftlichen Individuums bis hin zum Selbstmanagment der flexiblen Menschenmonade. Auch ein "sozialverträgliches Ableben" ist als makabrer Scherz längst in der Welt. Auch hier also werden ehemals "gleichberechtigte" Individuen ihres Selbstes beraubt und funktionalisiert. "Zufällige" Ähnlichkeit der äußeren Erscheinung? Oder könnte es vielleicht damit zusammenhängen, dass blinde Organisatoren in beiden Fällen den Prozess maßgeblich koordinieren? Auch wenn die spezifische Entwicklung und Dynamik sich für den blinden "stofflichen Organisator" Genom und den blinden "virtuellen Organisator" Kapital gravierend und grundlegend unterscheiden. Und das die Individuen im einen Fall gar nicht wissen wer sie sind und im anderen Fall Bewußtsein hervorgebracht haben, weshalb Menschen eigentlich einen viel stärkeren Egoismus bzw. Selbstentfaltung"trieb" besitzen müssten als Ameisen, die nur auf den Egoismus ihres Genoms zurückgreifen können. Das aber koordiniert längst nicht mehr primär das Individuum, sondern die ganze Ameisengesellschaft.

(57)

Lohnend ist dieser Expansionimus freilich nicht für die Art als Ganzes, sondern für die Fortpflanzung der Gene der jeweiligen Kolonie. Bislang hat allerdings diese innerartliche Aggression den gigantischen Erfolg der Gattung anscheinend nicht merklich bremsen können.

 

(58)

Sobald Arbeitsteilung vorhanden ist, entsteht ein Selektionsdruck in Richtung immer größerer Flexibilität des Verhaltens und immer verbesserter Kommunikation. Bei den Ameisen geschieht diese Kommunikation vor allem durch Duftstoffe, Pheromone, mit denen sie sich gegenseitig steuern. Es ist diese Flexibilität, die so erstaunliche und menschenähnliche Verhaltensweisen ermöglicht wie zum Beispiel das Anlegen von Pilz- und Pflanzengärten, das Melken und Pflegen von Blattläusen (Ameisen bringen die Blattläuse sogar in den Stock, um sie da zu überwintern, und bringen sie im Frühjahr wieder auf die Weide) und sogar rudimentären Werkzeuggebrauch.

(58.1) Re:  rudimentären Werkzeuggebrauch., 09.03.2002, 19:37, Birgit Niemann: Der Begriff Rudiment ist meines Erachtens hier falsch angewendet. Ein Rudiment ist ein Überrest einer ehemals sinnvollen Struktur. Als ersten Ansatz von Werkzeuggebrauch bei Ameisen aber fällt mir nur das Blockieren von Nestausgängen anderer Ameisen mittels Steinchen ein. Und das Vernähen von Blättern bei "häuserbauenden" Ameisen, wofür sie Blätter als Baustoff und ihre eigenen Puppen als Werkzeuge verwenden. Das ist nicht rudimentär, sondern mehr ist den Ameisen einfach nicht möglich, weil der Gebrauch von "vom Körper abgelösten" Werkzeugen meines Erachtens eine Sache des Gehirnes ist. Dafür ist Reflektion nötig. Sonst ist nur sehr reflexartige Nutzung von Gegenständen möglich.

(58.1.1) Re:  rudimentären Werkzeuggebrauch., 10.03.2002, 14:16, Martin Auer: Sagen wir also besser "ansatzweisen" Werkzeuggebrauch.

(59)

Honigtopf-Ameisen jagen Termiten. Wenn eine Honigtopf-Späherin eine Termitengruppe entdeckt, läuft sie zurück zum Nest und hinterlässt dabei eine Duftspur. Wenn sie Nestkolleginnen begegnet, stößt sie sie mit dem Körper an. So rekrutiert sie einen Beutetrupp, der sich auf den Weg zu den Termiten macht. Gibt es in der Nähe einen anderen Stock von Honigtopf-Ameisen, laufen einige vom Trupp wieder zurück und rekrutieren eine weitere Abteilung, die zum gegnerischen Stock eilt und die dortigen Ameisen in eine Konfrontation verwickelt, ihre Divisionen also beim Stock bindet, um sie daran zu hindern, selbst unter den Termiten Beute zu machen.

(60)

Honigtopf-Ameisen lassen sich allerdings nur selten auf blutigen Kampf ein. Habe ich oben gesagt, dass Ameisen sich das Kriegführen leisten können, so können sie es sich doch nicht unbegrenzt leisten. Auch hier ist im Vorteil, wer eigene und gegnerische Kräfte abschätzen und einen unnützen Kampf vermeiden kann. Honigtopf-Ameisen haben das „gelernt“ und ihre Auseinandersetzungen beschränken sich meistens auf Imponier- und Droh -Turniere. Ist aber eine Kolonie ungefähr zehnmal so stark wie die gegnerische, fällt sie erbarmungslos über sie her und vernichtet sie. Denn wer imstande ist, die eigene Überlegenheit zu erkennen und rücksichtslos auszunutzen, erhöht natürlich auch seine Fortpflanzungschancen.

Kooperation aus Einsicht?

(61)

Der vorige Abschnitt sollte zeigen, zu welch großartigen Erfolgen Kooperation führen kann. Bis jetzt kennen wir aber nur egoistische Kooperation und Kooperation unter Verwandten.Und die Erfolge der Ameisen sind darauf zurückzuführen, dass sie „verwandter“ sind als andere. Menschliche Gesellschaften bestehen aber gerade seit dem Beginn der Zivilisation keineswegs nur aus engen Verwandten. Kommt Kooperation unter nicht eng verwandten Menschen also nur trotz der biologischen Veranlagung zum Egoismus vor? Dawkins scheint dieser Meinung zu sein: „Seien Sie gewarnt, dass, wenn Sie, wie ich, wünschen eine Gesellschaft zu errichten, in der Individuen großzügig und selbstlos für das Gemeinwohl tätig sind, Sie wenig Hilfe von unserer biologischen Natur erwarten dürfen.“[16]

(61.1) Re: Kooperation aus Einsicht?, 26.02.2002, 18:19, Annette Schlemm: Wie entstehen Kooperation und Solidarität? Wieso diese Frage und nicht umgekehrt? Weil wir zuerst das "Grausame" sehen. Das ist aber eine Frage des zugrunde gelegten Paradigmas. Wir können es auch umgekehrt sehen: Zuerst die unwahrscheinliche Harmonie und Geordnetheit, die vorhandene Kooperation etc sehen und uns dann wundern, daß das eben doch nicht so reibungslos abläuft, wie wir vielleicht wollen. Dawkin verwirrt hier nur, bzw. ist ein typisches Beispiel von manipulativer Argumentation (weil er eben seine unangemessene Methode, d.h. das Übertragen von Mechanismen von untergeordneten Prozessen auf andere, eigentlich qualitativ völlig davon unterschiedene, und seine falsche Grundlage hier wieder einsetzt. Wenn die Prämissen aber schon falsch sind, stimmen alle Argumente nicht mehr).
Es hat sich inzwischen auch herausgestellt, daß historisch NICHT etwa die sozialdarwinistische Interpretation der Gesellschaft NACH dem biologischen Darwinismus entstand - sondern im Gegenteil die kapitalistische Wolfsgesellschaft den Biologen eine Brille aufsetzte, die auch in der Natur seitdem nur noch Konkurrenz erkennen konnte (vorher gabs durchaus andere Traditionen...).

(61.1.1) Re: Kooperation aus Einsicht?, 27.02.2002, 22:58, Martin Auer: Also, ich versuche gar nicht , Konkurrenz oder Kooperation als das Eigentliche und das andere als die Abweichung zu sehen. (Die "grausame Welt" , von der ich in Absatz 33 spreche, ist nicht ganz unironisch gemeint.) Die Konkurrenz zwischen Wespen und Ameisen bringt bei den Ameisen die Kooperation hervor, die sie zur überlegenen Gattung machen. Die Kooperation innerhalb des Ameisenstaats verschärft die Konkurrenz zwischen Ameisenstaaten (Ameisen sind wegen ihrer besonderen Form der Kooperation nicht bloß territorial, sondern expansionistisch).
In der kapitalistischen Wirtschaft etwa haben wir das Phänomen, dass die Konkurrenz zwischen den Unternehmen zu immer verbesserter Kooperation innerhalb der Unternehmen zwingt.

(61.1.1.1) Re: Kooperation aus Einsicht?, 09.03.2002, 21:51, Birgit Niemann: Also erzwingt auch hier die Konkurrenz die Perfektion. Noch eine "zufällig" gleichaussehende Erscheinung.

(61.2) Re: wenig Hilfe von unserer biologischen Natur erwarten dürfen, 03.03.2002, 21:09, Birgit Niemann: Hier geht Dawkins meiner Ansicht nach mit seiner eigenen Theorie durch. Auch die Kooperationen derjenigen unserer engsten Verwandten, die den gemeinsamen Vorfahren noch am ähnlichsten sind, sind mit Gen-zentrierten Modellen nicht zu erklären. In Bonobo-Gesellschaften sind es die Kooperationen nicht verwandter Weibchen, die die wesentliche Struktur der Gesellschaft bilden. Auch bei anderen Schimpansen sind die Bündnisse nicht auf Verwandschaftsbeziehungen beschränkt. Bündnisse, die nicht genetisch bedingt sind, sondern vom Gehirn realisiert werden, benötigen anderen (diesmal virtuellen) Kitt. Da ist der Ursprung von Vertrauen, Freundschaft und Versöhnung zu suchen. Der Primatologe Franz de Waals ("Der gute Affe" und "Wilde Diplomaten") hat sich mit diesem Thema bevorzugt beschäftigt. Es lohnt sich, ihn zu lesen, denn es wird deutlich, das wir auch auf diesem Gebiet die wesentlichen Eigenschaften schon aus der "Natur" mitgebracht haben, sofern man die Menschen denn als "unnatürlich" bezeichnen will.

(62)

Diese Meinung lässt sich durchaus begründen. Das Menschenwesen ist tatsächlich weniger instinktgesteuert als alle anderen Tiere. Man könnte also durchaus, wie Dawkins der Ansicht sein, dass das dem Menschenwesen die Freiheit gibt, sich vom Diktat der Gene zu befreien und trotz der egoistischen Veranlagung einer höheren Einsicht folgend zu kooperieren.

(62.1) Egoistische Veranlagung???, 26.02.2002, 18:27, Annette Schlemm: Was heißt hier "trotz der egoistischen Veranlagung"??? Was wäre, wenn die kooperative Veranlagung hier sogar IN den Genen drin steckt- wenn genau das (eine bestimmte Art von Kooperation) die Menschen auf dieser Ebene von anderen Tieren unterscheidet??? Es gab Millionen Jahre des Übergangs vom Vor-Menschlichen zum Menschlichen. Was ist da in den Genen passiert? Nur das größere Gehirn, aufrechter Gang etc. eingespeichert? Nur das Jagen? Wer kann das eindeutig behaupten? Es gibt - leider eben nur wenig verbreitet - da durchaus andere Ansichten ( http://www.thur.de/philo/kp/naturmensch.htm).

(62.1.1) Re: Egoistische Veranlagung???, 27.02.2002, 23:08, Martin Auer: "Trotz der egoistischen Veranlagung" sagt Dawkins, nicht ich. Aber wie Dawkins sagen das Moralphilosophen durch die Jahrhunderte, und ich würde sagen, es ist die gängige Auffassung schlechthin: Erziehung, Gesetze, Strafandrohungen müssen das Menschenwesen, das von Natur aus egoistisch ist, zu einem gesellschaftlich akzeptablen bzw. mit der Gemeinschaft verträglichen verhalten zwingen.
"Was wäre, wenn die kooperative Veranlagung hier sogar IN den Genen drin steckt- wenn genau das (eine bestimmte Art von Kooperation) die Menschen auf dieser Ebene von anderen Tieren unterscheidet???"
Abwarten, darauf komm ich schon noch. Genau das will ich in der Folge zeigen: wie die Fähigkeit zur Kooperation in das menschliche Erbgut gelangt sein könnte.
Wir können die Menschheit wie sie ist betrachten und feststellen, "Ein Mensch ist kein Mensch", also ein einzelnes Menschenwesen ist nicht überlebensfähig, Robinson ist ein Mythos, wir sind sowohl psychisch als auch im Erwerb unseres Lebensunterhalts auf die Gemeinschaft angewiesen.
Doch müssen wir uns die Frage stellen: Wie konnte es dazu kommen? Wenn das "Kooperationsgen" (Ist nur Spaß, ich weiß schon, das kann kein einzelnes Gen sein)in einer Population einmal verankert ist, dann gibt es kein Problem: Die Fürsorge für fremden Nachwuchs fördert ebenfalls Träger des Kooperationsgens, genauso wie die Fürsorge für eigenen Nachwuchs. Aber wenn das Kooperationsgen infolge Mutation erstmals auftritt - wie kann es sich verbreiten? Das altruistische Individuum fördert mit seiner Kooperationsbereitschaft ja Individuen und deren Nachwuchs, in deren Erbgut das Kooperationsgen noch nicht enthalten ist. Und die für andere aufgewendete Energie geht dem eigenen Nachwuchs, der das Kooperationgen hat, verloren!!! Das ist die Crux! Das Problem muss gelöst werden!

(62.1.1.1) Re: Das verlorene "Kooperations-Gen", 03.03.2002, 21:22, Birgit Niemann: "Das Problem muss gelöst werden!" Da ist doch schon gar nicht mehr so sehr viel zu lösen. Es gibt Beispiele von unfallverletzten Menschen, die alle Gene noch besitzen aber Schädigungen in bestimmten Stirnlappen-Gehirnbereichen haben, die komplett gesund und intelligent sind, aber unfähig, sich innerhalb von Kooperationen zurückzunehmen. Sie handeln total egoistisch und nur nach eigenem Nutzen, weil sie unfähig sind ein Schuldgefühl (was die Vorraussetzung für Verantwortung ist) zu entwickeln. Die menschliche Kooperativität in den Genen zu suchen, würde ich für einen echten Biologismus halten, im Gegensatz zu vielen falschen biologistischen Einordnungen, die ich mir immer gefallen lassen muss. Wie weiter oben gesagt, ist schon die Schimpansenkooperativität nicht mehr primär genetisch zu begründen. Da begann etwas Geistiges, was die Menschen noch massiv ausgeweitet haben. Wenn man über die Rolle von Genen dabei nachdenkt, dann besteht die Rolle der Gene dabei eher darin, den Bau- und Schaltplan für ein schuldfähiges Gehirn zu kodieren.

(62.1.1.1.1) Re: Das verlorene "Kooperations-Gen", 07.03.2002, 22:54, Martin Auer: Moment mal: Wenn die Verletzung einer bestimmten Hirnregion ein Menschenwesen unfähig zum Empfinden von Schuldgefühlen macht, so sagt das überhaupt nichts darüber aus, ob die Fähigkeit zum Empfinden von Schuld angeboren (also genetisch determiniert) oder vom Individuum erworben ist. Es gibt Menschen, die alle Gene noch besitzen, denen aber eine Straßenbahn die Beine abgefahren hat. Nichtsdestoweniger waren sie genetisch dazu determiniert, Beine zu haben.
Im Gehirn sind sowohl angeborene als auch individuell erworbene Verhaltensweisen beheimatet. Man müsste schon zeigen, dass die betreffende Stirnlappenregion ursprünglich "tabula rasa" ist und erst durch Erfahrung, Erziehung oder dergleichen "beschrieben" wird.

(62.1.1.1.1.1) Re: Das verlorene "Kooperations-Gen", 09.03.2002, 20:18, Birgit Niemann: Dein Einwand gefällt mir. Er zwingt micht weniger flapsig dahinzureden und genauer zu verdeutlichen, was ich meine. Also erst einmal meine ich Schuld hier nicht im Sinne von Sünde oder so etwas, sondern im Sinne von gegenseitiger Leistungsverpflichtung. Das Gefühl der Verpflichtung entsteht in uns, wenn irgendjemand uns etwas "Gutes" tut, ohne das er es aus irgend welchen Gründen muss. Wir fühlen uns bemüßigt, diese "Schuld" zurückzuzahlen. Großzügigkeit von Leuten, die wir nicht leiden können, lehnen wir sogar häufig ab, weil wir ihnen nichts schuldig sein wollen. Das festigt die Bündnisse und den interpersonalen Zusammenhang in Kleingesellschaften. Dieses Gefühl von Verpflichtung aber entspringt einer virtuellen Bewertung der aktuellen Leistungen eines Anderen für uns. Kein Genom aber kann virtuelle Bewertungen kodieren. Gene können nur "stoffliche Bedeutungen" kodieren, mehr können sie nicht. Das bedeutet natürlich nicht, das Genome kein Verhalten kodieren können, denn jedes Verhalten wird durch physiologische Kettenreaktionen (bzw. physiologische Regelkreise), die oft einfach nur durch äußere Signale ausgelöst werden können, realisiert. Aber auch das sind keine virtuellen Bewertungen, sondern eben ausgelöstes Verhalten. Wobei auch die Auslöser erlernt werden können. Selbstverständlich liegen auch dem vom Gehirn erzeugten "Schuldgefühl" stoffliche (genomkodierte) Prozesse (vielleicht bevorzugt angelegte "Neuronenverschaltungen") zugrunde. Das Genom aber kann hierfür allein die "Hardware" liefern. Die natürlich nicht funktioniert, wenn ein dafür notwendiges Gen mutiert ist oder fehlt. Mit dem Inhalt der darauf laufenden virtuellen "Software" der Leistungsverpflichtung hat das Genom aber nichts zu tun. Deshalb vermeide ich es, von Verhalten, das über virtuelle Bedeutungen gesteuert wird, so zu sprechen, als wäre es in Genen kodierbar. Schließlich kommt auch niemand auf den Gedanken, zu sagen, das Windows 2000 vom Prozessor kodiert wird, obwohl es von den Eigenschaften des Prozessors abhängt, ob Windows 2000 darauf laufen kann. Das Computer-Beispiel bitte ich hier nur als Sinnbild bzw. Metapher zu betrachten und nicht als Gleichsetzung. Es lässt sich daran nur die Trennung und das Zusammenspiel zwischen Hard- und Software noch besser verdeutlichen, als am Gehirn, das ja die verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten munter durcheinandermixt. So nun hoffe ich, mich halbwegs verständlich gemacht zu haben, denn das Zusammenspiel von Angeborenen und Erlerntem ist ein schwieriges Thema mit vielen noch offenen Fragen. Wobei gerade das Verantwortungsverhalten ja auch in der Sozialisation tatsächlich auch ohne Verletzungen überhaupt nicht ausgebildet werden kann.

Das Handicap-Prinzip

(63)

Wie es scheint, gibt es aber doch Hilfe von unserer biologischen Natur. Um das darzulegen, ist es allerdings nötig, ein wenig auszuholen. Vergegenwärtigt man sich, wie stark der Druck der Selektion durch die Umwelt[17] die Lebewesen drängt, möglichst viel Energie zu gewinnen und sie möglichst sparsam auszugeben, dann muss einem eine ganze Klasse von Erscheinungen in der Natur äußerst merkwürdig vorkommen. Das Männchen des Argusfasans hat so übermäßig lange Schwanzfedern, dass es fast schon flugunfähig ist.[18] Warum werden die Federn immer länger, warum bevorzugt die Evolution nicht Männchen mit kürzeren Schwanzfedern? Warum wurde das Geweih des Riesenelchs so breit und schwer, dass es höchstwahrscheinlich das Aussterben dieser Art verursachte? Warum entwickelten sich die Eckzähne des Säbelzahntigers so unmäßig, dass auch diese Art vom Antlitz der Erde verschwunden ist? Der Biologe Amotz Zahavi stellte Anfang der 70er Jahre eine Theorie auf, die er das Handicap-Prinzip nannte.[19] Ein Paradiesvogel, der trotz fast ein Meter langen Schwanzfedern überlebt, muss ein besonders kräftiger Flieger sein, besonders gut darin sein, Raubfeinden zu entkommen, Futter zu finden, Krankheiten abzuwehren etc. Wenn ein Weibchen auf Grund einer Mutation Gefallen an Männchen mit besonders langen Schwanzfedern findet, wird es automatisch besonders gute Flieger etc. als Nachkommen haben und ihnen, wenn weiblich, die Vorliebe für lange Schwanzfedern vererben. Sowohl diese Vorliebe wird sich durchsetzen – bei den Weibchen – als auch die langen Schwanzfedern – bei den Männchen. Viele sexuelle Werbesignale der Männchen sind solche Behinderungen. Männchen verzichten in der Zeit der Werbung auf Tarnfärbung und entwickeln auffallend bunte Signalfarben. Sie führen aufwändige Werbetänze vor, machen sich durch lauten Gesang auffallend, kopieren sogar völlig überflüssig die Gesänge anderer Vögel und sogar die Geräusche von Kettensägen oder startenden Autos. Indem sie sich selbst Behinderungen auferlegen, demonstrieren sie ihren Kräfteüberschuss. Die Männchen der Laubenvögel von Neuguinea bauen 1 Meter hohe geflochtene Hütten von 2 ½ Metern Durchmesser und schmücken deren Umgebung mit bunten Gegenständen, Früchten, Schmetterlingsflügeln und dergleichen die sie nach Farben geordnet auslegen. Diese Hütten haben keinerlei Überlebenswert für den kleinen unscheinbaren Vogel. Sie sind absolute Kraftvergeudung, brotlose Kunst. Sie dienen nur dazu, dem Weibchen die überschießenden Kräfte des Männchens zu demonstrieren. Das Weibchen „weiß sofort, dass das Männchen kräftig ist, da die Laube hundertmal soviel wiegt wie es selbst und manche der Dekorationselemente, die es aus zig Meter Entfernung herbeischleppen musste, halb so schwer sind wie sein eigener Körper. Das Weibchen weiß auch, dass das Männchen genügend Geschicklichkeit besitzt, um Hunderte von Stöcken und Zweigen ... zu verflechten. Es muss ein gutes Gehirn besitzen...“ und so weiter.[20]

(63.1) Re: Das Handicap-Prinzip, 01.03.2002, 09:42, Matthias Grabowski: Ich hab bemerkt das sie ein gewisses Frauenproblem haben oder besser gesagt das ihr Selbstbewußtsein so im Ar... ist das man das kaum glauben kann. Natürlich achten Frauen auf das äußere aber , ich mein , tuen sie das nicht ? Wenn man ein gesundes Selbstbewußtsein hat dann kann man sich gegen egal welche Männer durchsetzen. Sie sollten zu einer Selbsthilfegruppe gehen und daran teilnehmen ... und nach einiger Zeit haben sie bereits ein gesundes Selbstbewußtsein und können jede Frau bekommen die sie wollen. Gruß aus Krefeld

(63.1.1) Re: Das Handicap-Prinzip, 02.03.2002, 10:36, Martin Auer: Danke für den Tipp.

(63.1.2) Re: das sie ein gewisses Frauenproblem haben, 03.03.2002, 21:29, Birgit Niemann: Da scheint doch jemand tatsächlich eine wissenschaftliche Theorie vom individuellen Innenleben nicht unterscheiden zu können.

(64)

Dass es im wesentlichen die Männchen sind, die Werbesignale aussenden, liegt an dem oben dargelegten funktionalen Männchenüberschuss. Je weniger die Männchen zur Brutpflege gebraucht werden, umso krasser sind die Behinderungen, mit denen sie prahlen. Männchen, die zur Brutpflege benötigt werden, können sich solche Extravaganzen weniger leisten, beziehungsweise können sich ihre Weibchen solche extremen Vorlieben nicht leisten. Auch die Männchen züchten in gewissem Maß mit ihren Vorlieben bestimmte Eigenschaften an den Weibchen heran. Doch je größer der funktionale Männchenüberschuss, umso mehr sind es die Weibchen, die die Eigenschaften der Männchen heranzüchten.

(65)

Auch beim Menschenwesen finden sich eine Fülle von selbstschädigenden Verhaltensweisen, die sich durch Zahavis Handikap-Prinzip erklären lassen. Tätowierungen und Schmucknarben beispielweise sind ein Beweis, dass ihr Träger oder ihre Trägerin Schmerzen ertragen können und über ein gutes Immunsystem verfügen. Wer kein gutes Immunsystem hat, wird vom Wundfieber hinweggerafft. Das Trinken von Alkohol gehört zu dieser Art von Signalen oder das Rauchen von Tabak, das Trinken von Kerosin bei Kung-Fu-Kämpfern oder die Sitte der männlichen Einwohner der Pazifik-Insel Malekula, hohe Türme zu errichten und dann von einem Seil am Fuß gehalten herabzuspringen, so dass das Seil den Sturz abfängt, kurz bevor der Wagemutige mit dem Kopf auf den Boden prallt. „Wer den Sturz übersteht, hat bewiesen, dass er Mut besitzt, richtig rechnen kann und ein guter Baumeister ist“.[21]

(66)

Hilfe für Nichtverwandte als kostspieliges Signal für gute Erbanlagen

(66.1) kostspieliges Signal, 03.03.2002, 22:30, Birgit Niemann: Also ehrlich, ich würde eher über den Nutzen von guten Bündnissbeziehungen nachdenken wollen als über kostspielige Signale. Obwohl man in der Biologie ja grundsätzlich niemals nie sagen darf.

(67)

Was hat Zahavis Handikap-Prinzip nun mit Kooperation zu tun? Schauen wir einen Augenblick zu unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen:

(68)

„Bei nichtmenschlichen Primaten teilen Erwachsene nur selten ihre Nahrung untereinander, mit Ausnahme von Müttern, die im allgemeinen mit ihren Jungen teilen. In der Schimpansengesellschaft jedoch teilen auch nicht miteinander verwandte Erwachsene oft miteinander, auch wenn sie es bevorzugt mit Verwandten oder nahen Freunden tun. In Gombe kann man Teilen am häufigsten beim Fleischfressen beobachten, wenn der Besitzer in Reaktion auf eine ausgestreckte Hand oder sonstige Bettelgebärde zulässt, dass ihm ein Stück Fleisch abgenommen wird – oder gar selbst ein Stück abreißt und dem Bittenden überreicht.“[22]

(69)

Fleisch ist für Schimpansen zwar eine wertvolle Nahrung, aber kein lebensnotwendiger Nahrungsbestandteil, eher eine seltene Delikatesse. Schimpansen erjagen nur eher selten ein Kolobusäffchen oder ein Buschschwein. Warum also behalten erfolgreiche Jäger diese seltene und nur mit großer Ausdauer und Geschicklichkeit zu erlangende Delikatesse nicht für sich?

(70)

Auch in menschlichen Sammler- und Jäger-Kulturen ist es hauptsächlich Fleisch, was geteilt wird. Pflanzennahrung sammelt ein jedes für sich oder für die Familie. Bei den Hadza in Ostafrika wird auch nur Großwild auf die ganze Gruppe aufgeteilt. Großwildjagd bringt zwar gelegentlich große Mengen Fleisch, ist aber riskant und unverlässlich. Die verlässlichere Strategie ist die Jagd auf Kleinwild. Mit ein paar erlegten Hasen oder Vögeln kann „mann“ aber nicht so gut seine Stärke und Gewandtheit beweisen wie mit einem erlegten Büffel. Der Zweck der Jagd ist also in erster Linie die Demonstration überschüssiger Kraft.[23] Dabei geht es nicht um die subjektive Motivation des Jägers, also was er sich dabei denkt oder was er dabei fühlt, sondern um die objektive Funktion als Signal. Der Jäger mag nur das Wohl seiner Gruppe im Sinn haben und an Statusgewinn keinen Gedanken verschwenden. Dennoch haben erfolgreiche Jäger hohen Status und werden von Frauen bewundert, bekommen mehr Nachkommen und können ihnen ihre Gruppenfürsorglichkeit vererben.

(70.1) Dennoch haben erfolgreiche Jäger hohen Status und werden von Frauen bewundert, 03.03.2002, 21:36, Birgit Niemann: Es gibt aber noch einen anderen Aspekt. Nämlich den der Festigung der Männergemeinschaft. Aus Gegenden, wie Neuguinea, wo es nicht mehr so reichlich großes Jagdwild gibt, wird berichtet, dass Männer gemeinsam Jagen gehen und die Jagdbeute auch gemeinsam an Ort und Stelle verzehren und an ihre Frauen und Kinder dabei keinen Gedanken verschwenden. Das Ganze gleicht einem modernen Treffen am Bier-Stammtisch, wo Männer außerhalb ihrer Familien (manchmal auch gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Familien) ihre Freundschaften pflegen und im Extremfall manche auch das letzte Geld versaufen.

(71)

Bei den BaMbuti (Pygmäen) im Kongo ist ein junger Mann erst heiratsfähig, wenn er mindestens eine Antilope allein erlegt hat. Wenn die Jungen Männer von ihren Bräuten reden, prahlen sie damit, dass sie den Schwiegereltern nicht bloß eine Antilope, sondern einen Büffel, ja gar einen Elefanten zum Geschenk machen werden. Und dass ein einzelner Mbuti-Jäger einen Elefanten erlegt, kommt auch tatsächlich vor.[24]

(72)

Wenn die Umweltselektion also auf ökonomischen Energieeinsatz und Maximierung des persönlichen Fortpflanzungserfolgs hinarbeitet, so kann die sexuelle Selektion im direkten Gegensatz dazu auf demonstrative Energieverschwendung hinarbeiten – und nichts anderes ist die Unterstützung von Nichtverwandten vom Gesichtspunkt des selbstsüchtigen Gens aus. Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man bedenkt, dass das selbstsüchtige Gen die Energieverschwendung beim anderen Geschlecht provoziert, damit seine eigene Fortpflanzungsmaschine Energie sparen kann.

(72.1) Umweltselektion versus sexuelle Selektion, 03.03.2002, 21:44, Birgit Niemann: Hier habe ich so mein Problem mit den Abgrenzungen. Weibchen gehören im Leben von Männchen (bei sexuellen Wesen natürlich nur) zu den wichtigsten Umweltfaktoren bzw. Ressourcen. Auch Sexuelle Selektion ist deshalb Selektion durch die Umwelt. Sie ist nur ein Spezialfall, indem ein einziger Selektionsfaktor betrachtet wird. Zweifellos gehören die Weibchen neben dem Futter und den Feinden zu den wichtigsten Umweltfaktoren überhaupt, deshalb ist es auch berechtigt, sie herausgehoben zu betrachten. Aber sie steht nicht im Gegensatz zur Umweltselektion. Denn auch hier ist nicht richtig, dass es um ökonomischen Energieeinsatz geht. Selbst unter Bakterienkonkurrenz gewinnt der, der sich am schnellsten vermehren kann und nicht der mit dem effektivsten Stoffwechsel.

(72.1.1) Re: Umweltselektion versus sexuelle Selektion, 07.03.2002, 23:08, Martin Auer: Natürlich kann ich die Weibchen als Teil der Umwelt der Männchen betrachten, wenn ich will. Aber auch die anderen Männchen, die Jungen, die Eltern usw. kann ich dann zur Umwelt rechnen - Wenn ich die Art als Einheit betrachte, deren Entwicklung ich untersuchen will, dann hat es schon einen Sinn, zwischen äußeren Faktoren (anderen lebenden Arten, Bodenbeschaffenheit, Klima) und inneren Faktoren (Verhältnis zwischen den Geschlechtern, Verhältnis zwischen den Generationen usw.) zu unterscheiden.

(72.1.1.1) Re: Umweltselektion versus sexuelle Selektion, 09.03.2002, 20:38, Birgit Niemann: Die Umwelt eines Organismus ist nicht eine Frage der Betrachtung. Sie ist für den betreffenden Organismus auch ohne den Betrachter vorhanden. Nur für das Verständnis des Betrachters ist es wesentlich, welchen Umweltfaktor er bevorzugt betrachtet. Selbstverständlich gehören auch andere Männchen, Jungen und Elteren und ausnahmslos alle anderen Lebewesen zur Umwelt eines Individuums. Ihrer aller Tätigkeiten sind am Zustandekommen des Selektionsdruckes beteiligt. Natürlich kann man nicht alle Gleichzeitig betrachten. Da hat der Geist seine Grenzen. Das ändert aber nichts daran, das sie alle gleichzeitig wirken, wenn auch in unterschiedlichen Ausmaß. Gegen die unterscheidende Betrachtung habe ich mich auch gar nicht ausgesprochen. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass sexuelle Selektion auch Umweltselektion ist und nicht etwas grundsätzlich anderes. Gerade die wichtigsten Umweltfaktoren (Weibchen, andere Männchen, Fressfeinde, Beutetiere, Eltern, Bündnispartner etc.) üben natürlich die stärksten Selektionsdrücke auf Individuen aus.

(72.1.2) Re: Selbst unter Bakterienkonkurrenz, 07.03.2002, 23:09, Martin Auer: Aber ist nicht effektiver Stoffwechsel eine ganz wesentliche Voraussetzung für schnelle Vermehrung?

(72.1.2.1) Re: Selbst unter Bakterienkonkurrenz, 09.03.2002, 20:40, Birgit Niemann: Wenn er denn tatsächlich in schnellere Vermehrung mündet, dann selbstverständlich. Doch Unter Effektivität verstehe ich vor allem den Ausnutzungsgrad vorhandener Energiequellen.

(73)

Aber es muss auch noch einmal betont werden, dass diese sexuelle Selektion zu demonstrativen Kraftverschwendung auch ein Teufelskreis sein kann, ähnlich wie andere Ausprägungen innerartlicher Selektion (Kindsmord beim Löwen). Beim Säbelzahntiger und beim Riesenelch hat sie, wie schon angedeutet, zum Aussterben dieser Arten geführt. Irgendwann sagt die Umweltselektion: Jetzt ist Schluss, so geht’s nicht mehr weiter.

(73.1) Irgendwann sagt die Umweltselektion: Jetzt ist Schluss, so geht’s nicht mehr weiter., 03.03.2002, 21:54, Birgit Niemann: Das wage ich zu bezweifeln. Die häufigste Ursache für das Aussterben von Arten dürfte die Verdrängung durch andere Arten sein. (Wenn nicht gerade ein Komet herunterkommt oder die Sintflut das Schwarze Meer wieder auffüllt. Was beides eher seltene Ereignisse sind) Auch die gehandicapten können sehr gut überleben, solange sie keine sich schneller vermehrenden oder ihnen das Futter wegfressenden Konkurrenten haben. Oder wenn sie selbst schneller gefressen werden, als sie Junge nachproduzieren können. Auch innerhalb einer Art kann ich mir solche Verdrängungsstrategien gut vorstellen. Es sind mittlerweile zahlreiche Arten bekannt, in denen die Männchen ein und derselben Art diametral verschiedene Fortpflanzungstrategien einschlagen. Bei manchen Fischarten "tarnen" sich sogar einige Männchen als Weibchen, um so getarnt in's Revier eines dominanten Männchens Einlass zu finden und schnell die weiblichen Eier zu besamen. Auch bei Primaten finden sich solche individuellen Strategien. Denn oft genug sind gerade die dominanten Männchen so sehr mit Rangkämpfen beschäftigt, das die "charmanten" Weibchenumgarner am Ziel sind, bevor die dominanten "Machos" es überhaupt merken. Auch wir Menschen können von solcherlei unterschiedlichen Strategien ein ewiges Lied singen.

(73.1.1) Re: Die häufigste Ursache für das Aussterben von Arten dürfte die Verdrängung durch andere Arten sein., 07.03.2002, 23:14, Martin Auer: Eben das ist Umweltselektion.

(73.1.2) Re: Auch die gehandicapten können sehr gut überleben, solange sie keine sich schneller vermehrenden oder ihnen das Futter wegfressenden Konkurrenten haben., 07.03.2002, 23:15, Martin Auer: Eben. Nur solange.

(74)

Der Drang, etwas zu bewirken

(75)

Nun ist das Menschenwesen von allen Tieren das mit dem flexibelsten Verhalten, das am wenigsten instinktgebundene. Sein Verhalten wird nicht bloß durch genetisch vererbte Programme gesteuert, sondern auch durch den Problemlösungsapparat und Erfahrungsspeicher im individuellen Gehirn. Der wird allerdings seltener eingesetzt als man annehmen möchte. Einmal gefundene Lösungen werden als Gewohnheiten gespeichert und immer wieder wiederholt, auch wenn bessere Lösungen möglich wären. Von anderen Individuen gefundene Lösungen werden nachgeahmt. Erfahrungen und daraus resultierende Verhaltensweisen früherer Generationen werden durch Erziehung aufgenommen und verinnerlicht und an die nächste Generation weitergegeben. Dabei spielt natürlich das Sprachvermögen des Menschenwesens eine große Rolle. Das ganze Repertoire an nicht individuell erarbeiteten, sondern übernommenen Verhaltensweisen und Anschauungen, das einer bestimmten Gruppe gemeinsam ist und sie von anderen Gruppen unterscheidet, macht das aus, was man die Kultur einer Gruppe (einer Gesellschaft) nennt.

(76)

Dass menschliches Verhalten also durch individuelle Erfahrungen und kulturelle Normen gesteuert ist, heißt aber nicht, dass das Menschenwesen von seinen Instinkten frei wäre. Noch immer zwingt der Hunger es zu essen. Aber die Art, wie es sich das Essen verschafft, ist ihm, im Gegensatz zu weniger komplexen Tieren, nicht angeboren. Noch immer gerät das Menschenwesen in Zorn, wenn es angegriffen wird, und verteidigt sich, doch ob es dazu die Fäuste verwendet, Waffen oder Worte, das steht ihm frei. Und so weiter. Wir können nicht sagen, dass der Fresstrieb beim Menschen „schwächer“ wäre. Er drängt genauso gebieterisch auf Erfüllung wie bei jedem anderen Tier. Nur die Durchführung überlässt er den kognitiven Fähigkeiten des Menschenwesens. Eine Kuh kann nur Gras fressen und Wiederkäuen, sie kann sich nicht auf Nüsse umstellen oder Hasen jagen, wenn das Gras knapp wird. Das Menschenwesen kann all das und noch mehr, aber essen muss es. Dem Tier liefert der Instinkt die Problemlösungen. Dem Menschenwesen stellt der Instinkt (der Trieb) die Aufgabe, und überlässt die Lösung der Kultur, der Gewohnheit oder der Intelligenz. Die Aufgabe ist aber noch immer dieselbe wie beim Tier: Bleib am Leben, pflanze dich fort und sorge für deine Nachkommen.

(76.1) Verhaltenssteuerung - tierisch und menschlich... kann man das auseinander ableiten?!, 26.02.2002, 18:28, Annette Schlemm: Verhaltenssteuerung des Menschen. Ja, hier wirds leider nicht besser. Du bist bei der von Dir aufgenommenen Literatur immer in einem Teufelskreis geblieben. Aus einer bestimmten Perspektive heraus ist es naheliegend, wirklich nur in Erfahrung und Problemlösung des Spezifische des Menschen zu sehen. Das geht aber meiner Meinung nach am spezifisch Menschlichen total vorbei. Um das zu erläutern, bräuchte ich jetzt aber mindestens 10 Seiten. Schau doch wirklich mal bei den eben genannten URLs vorbei (Hauptseite dieses Themas ist: http://www.thur.de/philo/kp/krps.htm). Daraus ergibt sich, daß die "Aufgabe" eben NICHT "dieselbe ist wie beim Tier". Auch die "rein körperlichen" Bedürfnisse wie Nahrung aufnehmen haben eine andere Qualität als bei den Tieren: "kooperativ-vorsorgender Charakter"....

(76.1.1) Re: Verhaltenssteuerung - tierisch und menschlich... kann man das auseinander ableiten?!, 26.02.2002, 21:48, Swen Osterkamp: Verbindung beider Ansätze - Vielleicht kann man euer beider Ansätze - exterm ausgedrückt "Tierische und menschliche Verhaltenssteuerung" sind analog zu betrachten (zumindest auf der abstrakten Ebene als Selbstorganisation)" und "tierische und menschliche Verhaltenssteuerung unterscheiden sich qualitativ" verbinden, und zwar mittels der Maslow'schen Bedürfnispyramide. Er geht dabei davon aus, daß es 5 Stufen von Bedürfnissen gibt. Physiologische B., Sicherheitsb., soziale B., Wertschätzungsb., Selbstverwirklichungsb., wobei ein Bedürfnis erst dann verhaltenssteuernd wird, wenn die darunter liegenden Stufen befriedigt sind. Vielleicht kommen also Menschen aufgrund ihrer Lebensumstände einfach leichter zu den höher liegenden Bedürfnissen als Tiere, haben also eher die "Muße" und die Motivation, vorsorgend (~Stufe 2) und kooperativ (~Stufe 3) zu agieren ?

(76.1.1.1) Re: zu den höherliegenden Bedürfnissen als Tiere, 03.03.2002, 22:06, Birgit Niemann: Was genau sind denn höherliegende Bedürfnisse, würde ich hier gern einmal wissen?

(76.1.1.1.1) Re: zu den höherliegenden Bedürfnissen als Tiere, 07.03.2002, 20:18, Swen Osterkamp: Ganz knapp gesagt: Stufe 1: physiologische Bedürfnisse - Nahrung, Stufe 2: Sicherheitsb. - Nahrungserwerb ohne Gefahr für Leib und Leben, Nahrungsvorräte anlegen - Stufe 3: soziale B. - Bejahung durch andere, sozialer Interaktion, Stufe 4: Bedürfnisse nach Wertschätzung - erreichbar durch Statussymbolbesitz (-> die "demonstrative Energieverschwendung" bei Martin), Leistung oder Teilen; Stufe 5: Selbstverwirklichung - z.B. künstlerischer Ausdruck. Die konkreten Ausprägungen sehen je nach "Gesellschaft" natürlich anders aus, und wahrscheinlich hört es auch mit Stufe 5 nicht auf.

(76.1.1.1.1.1) Re: zu den höherliegenden Bedürfnissen als Tiere, 09.03.2002, 20:45, Birgit Niemann: Das ist eine schöne Aufzählung. Aber warum ist ein Bedürfnis nach Wertschätzung "höher" und ein Bedürfnis nach etwas zu essen "niedriger"? Was bringt Dich zu dieser Wertung der verschiedenen Bedürfnisse? Der zeitliche Abstand ihrer Entstehung vom Ursprung des Lebens? Die Tatsache ob es sich aus physioloigschen oder geistigen Prozessen ergibt? Die Frage, ob es für das eigene Selbst ist oder auch anderen nützt oder was ist Dein Maßstab für "hochwertig"?

(76.1.1.1.1.1.1) Re: zu den höherliegenden Bedürfnissen als Tiere, 10.03.2002, 14:04, Swen Osterkamp: Super Frage / Einwand ! Die Idee ist: Ein Bedürfnis kann erst dann handlungsleitend werden, wenn die der darunterliegenden Stufen befriedigt sind. Wer nichts zu essen hat, kann auch keine Vorräte anlegen. Wer keine Vorräte hat, kann auch nichts teilen, usw. Das fällt dann mit dem zeitlichen Abstand von der Entstehung einer Art zusammen. (Und das Tolle daran finde ich, daß mit den höheren Bedürfnissen wie Anerkennung z.B. durch Teilen oder Streben nach Selbstverwirklichung erstens das Individuum ein erfüllteres Leben hat, zweitens dank Solidarität die Grundlage für Befriedigung seines Eßbedürfnisses auch in schlechten Zeiten schafft, und drittens die ganze Art profitiert ! Wobei der erste "Vorteil" meinem humanistischen Wertmaßstab entspringt und Du ihn von daher meinetwegen auch streichen darfst.

(76.1.1.1.1.1.1.1) Re: zu den höherliegenden Bedürfnissen als Tiere, 11.03.2002, 00:18, Birgit Niemann: Ich will ihn gar nicht streichen. Auch ich ziehe es vor, auf der Grundlage von Sattheit (was etwas anderes ist als Übersättigung) zu philosophieren und frei zu kooperieren. Auch ich sehe die Befriedigung der abgeleiteten Bedürfnisse gerade als Garanten für die Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse. Gerade für dieses "Tolle" sind sie ja entstanden. Worum es mir ging, war den Maßstab der Wertigkeit zu erfahren. Weil die Begriffe "hochwertig" und "niederwertig" eben sehr dicht an "lebenswert" sind. Und "lebenswert" ist heute, im Zeitalter der Verwertung menschlicher Embryonen, ein wichtiger Begriff für das Verständnis und die Beeinflussung wirklicher Prozesse.

(76.2) Bleib am Leben, pflanze dich fort und sorge für deine Nachkommen., 03.03.2002, 22:02, Birgit Niemann: Man nennt dass die drei biologischen Grundbedürfnisse, die ein Organismus (sei er Mensch oder Bakterie) befriedigen muss, die da lauten: ernähre, schütze und vermehre dich. Alles andere baut sich als Strategie darum herum.

(76.2.1) Re: Bleib am Leben, pflanze dich fort und sorge für deine Nachkommen., 10.03.2002, 14:18, Swen Osterkamp: Hier sehe ich eigentlich auch schon eine Hierarchie an Zielen: Oberziel: Vermehre Dich. Dazu nötig: Sorge für die Nachkommen. Deshalb zuallererst: Ernähre Dich. An nächster Stelle: Schütze Dich, usw. (s.o.) - Funktional gesehen eine Strategie, individuell als (abgeleitetes/"höheres") Bedürfnis verspürt. So kommen wir doch zusammen, oder ?

(76.2.1.1) Re: Bleib am Leben, pflanze dich fort und sorge für deine Nachkommen., 11.03.2002, 00:22, Birgit Niemann: In einer Welt ohne (Fress)-Feinde und ohne Unfalltod wäre die Prämisse: "ernähre Dich" ausreichend. Deshalb ist sie die allergrundlegendste. Das "vermehre Dich", hat allerdings gerade die Feinde hervorgebracht, weshalb das "schütze Dich" ebenfalls unabdingbar wurde. Fakt ist jedenfalls, dass die Vernachlässigung eines der drei Prämissen ausreicht, um ein Lebewesen samt seinen Nachkommen, verschwinden zu lassen. In der wirklichen Welt müssen daher alle drei ziemlich gleichrangig befriedigt werden.

(77)

Analog zum Fresstrieb darf man annehmen, dass dem Menschen kein spezifisches Programm angeboren ist, um das andere Geschlecht zu beeindrucken. Der Instinkt schreibt dem Menschenwesen nicht vor: Lass dich tätowieren! oder: Geh auf Großwildjagd! oder: Stürz dich an einem Seil in die Tiefe.

(77.1) Lass dich tätowieren! Geh auf Großwildjagd! Stürz dich an einem Seil in die Tiefe!, 03.03.2002, 22:41, Birgit Niemann: Alle drei Strategien haben durchaus einen gemeinsamen Kern. Er heißt: Imponierverhalten. Nun könnte man darüber sinnieren, ob Imponierverhalten ein spezifisch angeborenes Programm ist und nur die Mittel nach den jeweils passenden Umständen ausgewechselt werden.

(78)

Erich Fromm hat in seiner Auseinandersetzung mit Konrad Lorenz über die menschliche Aggression von den menschlichen Leidenschaften gesprochen. Er hat in seiner klinischen Tätigkeit als Psychotherapeut festgestellt, dass dem Menschen ein tiefer Drang innewohnt, etwas zu bewirken, eine Spur in der Welt zu hinterlassen. „Wirken zu können bedeutet, dass man aktiv ist und nicht nur andere auf uns einwirken, dass wir aktiv und nicht nur passiv sind. Letzten Endes beweist es, dass wir sind. Man kann dieses Prinzip auch so formulieren: Ich bin, weil ich etwas bewirke.“[25]

(78.1) Fromm sei Dank!, 26.02.2002, 18:25, Annette Schlemm: Fromm ist als kleine "Korrektur" schon nicht schlecht. Ich würde seine Erkenntnis (etwas bewirken wollen als Bedürfnis) einordnen in die Diskussion der Handlungsfähigkeit, wie in der Kritischen Psychologie behandelt (siehe die empfohlenen URLs). (Das Konzept der Kr.Ps. hat den Vorteil, daß es das Neue auch wirklich im Anschluß an das Biologische ERKLÄRT und nicht wie Fromm irgendwoherzaubern muß).

(79)

Schon kleine Babys wollen etwas bewirken. Überall auf der Welt gibt es die Babyrassel, mit der schon die Kleinsten Lärm erzeugen können. Kinder stellen mit großem Eifer Bausteine zu hohen Türmen aufeinander – und stoßen sie mit großer Freude am Krach wieder um. „Kleine Ursache – große Wirkung“ ist das Prinzip, das Spielzeuge und auch nicht zum Spielen gedachtes interessant macht: den hoch hüpfenden Gummiball ebenso wie den Lichtschalter.

(80)

„Auch der Erwachsene hat das Bedürfnis sich selbst zu beweisen, dass er fähig ist, eine Wirkung auszuüben. Es gibt mannigfache Möglichkeiten, sich dieses Gefühl zu verschaffen: man kann im Säugling, der gestillt wird, einen Ausdruck der Befriedigung hervorrufen, im geliebten Menschen ein Lächeln, im Sexualpartner eine Reaktion, man kann im Gesprächspartner Interesse wecken. Das gleiche kann man durch materielle, intellektuelle oder künstlerische Arbeit erreichen. Aber man kann dasselbe Bedürfnis auch befriedigen, indem man über andere Macht gewinnt, indem man ihre Angst miterlebt, indem der Mörder die Todesangst auf dem Gesicht seines Opfers beobachtet, indem man ein Land erobert, indem man Menschen quält, und einfach dadurch, dass man zerstört, was andere aufgebaut haben. Das Bedürfnis, eine Wirkung zu erzielen, kommt in den interpersonalen Beziehungen ebenso zum Ausdruck wie in der Beziehung zu Tieren, zur unbelebten Natur und zu Ideen. In der Beziehung zu anderen besteht die grundsätzliche Alternative darin, dass man entweder die Macht in sich fühlt, Liebe hervorzurufen oder Angst und Leiden zu bewirken. In der Beziehung zu Dingen besteht die Alternative darin, entweder etwas aufzubauen oder es zu zerstören. So entgegengesetzt diese Alternativen sind, sie sind nur verschiedene Reaktionen auf das gleiche existentielle Bedürfnis: etwas zu bewirken.

(81)

Wenn man sich mit Depressionen und Langeweile beschäftigt, stößt man auf reiches Material, aus dem hervorgeht, dass das Gefühl, zur Wirkungslosigkeit verdammt zu sein - das heißt, zu einer völligen vitalen Impotenz, von der die sexuelle Impotenz nur einen kleinen Teil darstellt -, eines der schmerzlichsten und vielleicht fast unerträglichen Erlebnisse ist und dass der Mensch fast alles versuchen wird, um es zu überwinden - von Arbeitswut oder Drogen bis zu Grausamkeit und Mord.“

(82)

Das allgemein gehaltene Programm „Bewirke etwas!“ kann sich also kreativ oder destruktiv auswirken. Fromm zielt hier schon ab auf das Gegensatzpaar „Biophilie“ und „Nekrophilie“ („Liebe zum Leben“ und „Liebe zum Tod“), die er als Extrempunkte menschlicher Leidenschaften sieht – gewissermaßen als Korrektur und Weiterentwicklung zu Freuds „Eros“ und „Thanatos“.[26]

(83)

Fromm sieht den Drang, etwas zu bewirken, nicht als angeborenen Trieb, sondern als „existenzielles Bedürfnis“. Zu diesen zählt er auch das Bedürfnis nach Orientierung und Hingabe, nach Verwurzelung und Einheit. Ihre Wurzeln sieht er in den besonderen Bedingungen menschlicher Existenz: „Mit diesem Bewusstsein seiner selbst und mit dieser Vernunft begabt, ist sich der Mensch seiner Getrenntheit von der Natur und von anderen Menschen bewusst; er ist sich seiner Machtlosigkeit und seiner Unwissenheit bewusst; und er ist sich seines Endes bewusst: des Todes.“[27]

(84)

Das ist freilich eine philosophische Erklärung und keine naturwissenschaftliche. Die Hypothese, dass es sich um ein durch sexuelle Selektion angezüchtetes Programm handelt, ist die einfachere, steht im Einklang mit anderen Erkenntnissen der Evolutionsbiologie und kommt mit weniger Annahmen aus. Wobei noch zu betonen ist, dass die beiden Erklärungen einander nicht vollständig ausschließen. Die subjektive Motivation für eine Handlung muss mit ihrer objektiven Wirkung nicht unbedingt in Beziehung stehen. (Sex führt zur Fortpflanzung, auch - und gerade! -, wenn die Sexualpartner nicht wissen, woher die kleinen Kinder kommen. Subjektiv betreiben sie Sex aus Spaß an der Freude, das objektive Ergebnis sind Nachkommen. Ob ich Knoblauch esse, weil er eine heilige Pflanze ist, oder weil er mir schmeckt, oder weil ich von seiner Heilkraft weiß – seine antibiotischen Bestandteile werden in jedem Fall ihre keimtötende Wirkung entfalten. Ob ich einen Baum male, weil ich „halt Lust dazu habe“, weil ich den Gott des Baumes ehren will, weil ich mein Haus schmücken will, weil ich einem Mädchen imponieren will oder weil ich damit meine inneren Ängste beschwichtigen kann – an der Aussagekraft des Bildes über meine visuellen, manuellen und koordinativen Fähigkeiten wird das nichts ändern wie auch darüber, dass auch all meine anderen Fähigkeiten oder Lebensumstände so sind, dass ich es mir leisten kann, einen Teil meiner Zeit dieser brotlosen Kunst zu widmen.)

(85)

Demonstrative Energieverschwendung ist also der evolutionsbiologische Sinn des von Fromm empirisch festgestellten Drangs, etwas zu bewirken. Als demonstrative Energieverschwendung lassen sich viele menschliche Verhaltensweisen deuten, die unter dem Gesichtspunkt der Umweltselektion und der Selbstsucht des Gens keinen Sinn ergeben. Das reicht von den vielfältigen, den Anthropologen gut bekannten Formen der Selbstverstümmelung (Tätowierung, Beschneidung, Ausbrechen von Zähnen, Vergrößerung von Ohrläppchen, Lippen, Hals) bis zur Kopfjagd und zum Menschenopfer. Das reicht vom Aufteilen der Jagdbeute bis zum Potlatch, dem Verschenkfest der amerikanischen Ureinwohner. Noch heute kann es vorkommen, dass ein indianischer Geschäftsmann anlässlich der Hochzeit einer Tochter all seinen Besitz, vom Fernseher bis zum Cadillac verschenkt und stolz in einem von Möbeln und Kunstgegenständen entblößten Haus zurückbleibt. Es gab aber auch die scheußlichere Form des Potlatch, wo konkurrierende Häuptlinge einander übertrumpften, indem sie nicht nur den anderen mit Nahrung voll stopften und ihn beschenkten, sondern auch große Mengen an Gebrauchsgütern verbrannten oder sonst vernichteten, um zu zeigen, dass sie es sich leisten konnten. Und noch scheußlicher die aztekische Form, bei der Kaufleute, die keine Gefangenen opfern konnten, extra zu diesem Zweck angeschaffte Sklaven abschlachteten. Aber auch der demonstrative Konsum („conspicuous consumption“) gehört hierher, das Tragen von wertvollem Schmuck und teurer Kleidung und das Fahren von Autos, deren PS-Zahl nie ausgenützt werden kann. Es gehören hierher aber auch menschliche Äußerungen vom übermütigen Juchzer bis zum Koloraturgesang und zur Symphonie, vom fröhlichen Hopsen bis zum Ballett, vom Schmücken der Gebrauchsgegenstände mit unnützen Verzierungen, die ihre Funktion in keiner Weise verbessern, bis zum Malen abstrakter Bilder und zum Verhüllen von Monumentalgebäuden. Zum Adel der Kunst gehört es ja, dass sie nutzlos ist, reine Kunst, also pure, ungetrübte Energieverschwendung, die sich sogar von der „angewandten“ Kunst abgrenzt und diese in eigene Museen verbannt.

(85.1) und der Selbstsucht des Gens keinen Sinn ergeben, 03.03.2002, 22:50, Birgit Niemann: Vielleicht hängt das einfach nur damit zusammen, dass der Geist seinen eigenen, von der Selbstsucht des Genoms unabhängigen, Egoismus entwickelt? Wenn griechische Philosophen enteignete Sklavenarbeit in reflektierenden Geist verwandeln, um ihn letzendlich in Papyrii zu verewigen, dann ist das doch wirklich ein anderer Egoismus, als der des Genoms. Wenn sie z.B. mit ihren Sklavinnen schlafen, sind sie auch nicht unbedingt an Kindern, die sie mit durchfüttern müssen, interessiert, sondern an ihrer individuellen im Gehirn lokalisierten Lust. Auch hier ist es nicht genomischer Eigennutz, der die Handlungen leitet.

(85.2) Das reicht vom Aufteilen der Jagdbeute bis zum Potlatch, dem Verschenkfest..., 03.03.2002, 22:56, Birgit Niemann: Weder das Teilen von Jagdbeute noch der Potlatch ist Eigenverschwendung. Das teilen der Jagdbeute sichert Bündnisse, auf die ein Primat (ob Mensch oder Schimpanse) nicht verzichten kann, wenn er nicht arm d'ran sein will. Auch Geschenkfeste haben die Funktion, in einer voneinander abhängigen Gemeinschaft "ungesunde", weil neid- und streitfördernde, materielle Unterschiede wieder auszugleichen. Das kann vielleicht individuell psychologisch als eigenverschwendender Luxus betrachtet werden, aus der Sicht der Gemeinschaft ist es höchst sozial stabilisierend. Das aber dürfte für rivalisierende Menschengruppen von entscheidender Bedeutung gewesen sein. Weil vom Zusammenhalt auch die Verteidigungsfähigkeit abhängt.

(86)

Eine Frage muss noch beantwortet werden: Wenn die Funktion des Drangs, etwas zu bewirken die ist, dem anderen Geschlecht die Qualität unserer Erbanlagen zu beweisen, warum können wir dann mit Akten der demonstrativen Kraftverschwendung auch das eigene Geschlecht beeindrucken? Warum bewundern auch Männer erfolgreiche Boxer, auch Frauen große Tänzerinnen? Die Antwort scheint mir diese zu sein: Wenn Handlung X geeignet ist, beim anderen Geschlecht Bewunderung hervorzurufen, dann haben nicht nur diejenigen gute Chancen beim anderen Geschlecht, die eine natürliche Neigung zu Handlung X haben, sondern auch die, die Handlung X nachahmen können. Wer erfolgreiches Verhalten bewundert, hat damit eine gute Voraussetzung, es selber zu erlernen. Für einen Pfau besteht keine Veranlassung, das prächtige Rad seines Nebenbuhlers zu bewundern. Er kann ihm beim besten Willen nicht mehr nacheifern oder ihn gar übertrumpfen, dazu ist es zu spät, da Pfauenfedern angeboren sind. Wenn ihn die Prachtentfaltung des Nebenbuhlers nicht kalt lässt, wird sie ihn entweder aggressiv machen oder einschüchtern. Da sich beim Menschen aber demonstrative Energieverschwendung nicht im physischen, sondern in erlernbarem Verhalten niederschlägt, macht es Sinn, wenn wir unsere Fähigkeit, erfolgreiches Verhalten nachzuahmen, auch auf diesem Gebiet anwenden.

(87)

Dieser angeborene Hang zur demonstrativen Energieverschwendung ist die biologische Voraussetzung, die die rasante Entwicklung unterschiedlichster menschlicher Kulturen mit ihren Blüten und ihren Auswüchsen als Motor angetrieben hat. Es genügt uns nicht, das Lebensnotwendige zu tun, wir wollen darüber hinaus gehen, uns „selbstverwirklichen“, unsere „Fähigkeiten entfalten“. Dass wir das wollen, ist uns angeboren, wie wir das tun, hängt davon ab, welche Möglichkeiten uns die Umstände bieten, sowohl die physischen als auch die gesellschaftlichen.

(88)

Für die Kultur des Krieges bedeutsam ist, dass sich dieser Drang eben auch im Streben nach Ruhm und Ehre auf dem Schlachtfeld niederschlagen kann. Zwar findet die männermordende Schlacht oft weit entfernt von den daheimgelassenen Frauen statt, doch wenn der Kriegsheld aus der Schlacht zurückkehrt, ist ihm die Gunst der Frauen gewiss.Auch der Unterlegene, auch der Verwundete findet seineVerehrerinnen, wenn er nur tapfer war. Helden à la Alexander der Große oder Napoleon konnten sowohl die kreative als auch die destruktive Seite des Drangs, etwas zu bewirken ausleben: Sich die Liebe des eigenen Volkes, der eigenen Armee erwerben, und beim Feind Hass und Angst hervorrufen, töten und brandschatzen und ein Weltreich schaffen, die politischen Verhältnisse ordnen, das Leben von Millionen in neue Bahnen lenken.

(89)

Doch letztlich liegt dem Streben nach Schlachtenruhm nichts anderes zugrunde als dem Drang, sich bei der Tanzbodenrauferei hervorzutun, beim Fußball zu glänzen oder ein Popstar zu werden.

(89.1) Streben nach Schlachtenruhm, 03.03.2002, 23:12, Birgit Niemann: Also da ziehe ich es vor, den ursprünglichen Krieg lieber als Ausbreitungs-, Verteidigungs- und Konkurrenzstrategie zu betrachten, statt als überschießenden Wirkungsdrang. Was nicht bedeutet, dass für den Krieg ein kultivierter Hang zum Heldentum nicht instrumentalisiert werden kann. Bei den sklavenhaltenden Völkern kriegt der Krieg noch eine neue Funktion, nämlich die der Arbeitskraftbeschaffung. Gerade die Athener haben sich doch mit Solon Gesetze geschaffen, die es verboten haben, Griechen durch Schuldknechtschaft von anderen Griechen versklaven zu lassen. Denen blieb doch gar nichts anderes übrig, als sich Sklaven kriegerisch zu beschaffen. Die Spartaner wiederrum waren in ganz Griechenland verachtet, weil sie andere Griechen (Messener) versklavt haben. Das hat die Spartaner natürlich auch nicht daran gehindert, denn wen hätten sie sonst versklaven sollen. Sie kamen an Fremdlinge nicht so gut heran. Womit wir wieder beim Eigennutz der Geistes der griechischen Patriarchen wären, deren Gesellschaft ohne Sklaven überhaupt nicht mehr funktioniert hätte. Ganz zu schweigen von den späteren Römern die den Krieg, gleich Alexander, schon ziemlich imperial betrieben haben, wodurch die "kriegsimportierte" Sklavenarbeit so billig wurde, dass mit den großen Sklavenlatifundien die ganze römische Bauernschaft kaputt gemacht wurde. Das lässt sich doch wirklich nicht alles auf überschießenden Wirkungsdrang reduzieren.

(90)

Von Natur aus ist das Menschenwesen also weder kriegerisch noch friedlich. Ihm ist ein Drang, etwas zu bewirken, angeboren, der sich kreativ oder destruktiv manifestieren kann. Die destruktive Manifestation dieses Drangs ist eine Voraussetzung, die Krieg ermöglicht, aber nicht verursacht. Es hängt von der Struktur der Gesellschaft ab, welche Ausprägung dieses Drangs Individuen erfolgreich sein lässt, welche also in der jeweiligen Gesellschaft vorherrschend wird.

(90.1) Natur des Menschen, 26.02.2002, 18:24, Annette Schlemm: Hier kann ich Dir sehr zustimmen. Aber wenn Du wirklich das aussagen willst, müßte Deine Argumentation anders laufen. Viel mehr von vornherein gegen Dawkin. So, wie es jetzt dasteht, sieht es etwas hilflos aus: "Ja, eigentlich ist ja alles in der biologischen Natur ziemlich egoistisch-konkurrenzbezogen - aber für die Menschen will ich das ja nicht, also hoffe ich mal drauf, daß Fromm Recht hat"

(90.1.1) Re: Natur des Menschen, 27.02.2002, 23:37, Martin Auer: O weh, da wäre also jetzt meine ganze Argumentation in die Binsen gegangen. Das sollte eigentlich der Kern meiner Darstellung sein, aber ich habe das anscheinend nicht verständlich dargelegt. Hier wollte ich die Frage, die durch Dawkins aufgeworfen wird, beantworten: Es ist die Geschlechterdualität und die gegenseitige Abhängigkeit der Geschlechter voneinander, die die Kooperationsbereitschaft über die Verwandtenkooperation hinaus hervorbringt. Indem Großzügigkeit und Kooperationsbereitschaft als "kostspieliges Signal" (Zahavis Handicap-Prinzip) wirken, kann das eine Geschlecht beim anderen Geschlecht diese Großzügigkeit und Kooperationsbereitschaft herausselegieren. Das sollte auch die Frage beantworten, die du oben stellst:
"Was wäre, wenn die kooperative Veranlagung hier sogar IN den Genen drin steckt- wenn genau das (eine bestimmte Art von Kooperation) die Menschen auf dieser Ebene von anderen Tieren unterscheidet??? Es gab Millionen Jahre des Übergangs vom Vor-Menschlichen zum Menschlichen."
Genau das: der Egoismus des Gens (denk ruhig Anführungszeichen dazu, wenn du magst) führt über die Geschlechterdualität zur Kooperationsfähigkeit in Form des genetisch verankerten und sozial formbaren Bedürfnisses etwas zu bewirken.

(90.1.1.1) Re: Geschlechterdualität, 03.03.2002, 23:28, Birgit Niemann: "Es ist die Geschlechterdualität und die gegenseitige Abhängigkeit der Geschlechter voneinander, die die Kooperationsbereitschaft über die Verwandtenkooperation hinaus hervorbringt." Also hier muss ich wieder meine Zweifel anmelden. Geschlechterdualität gibt es zwischen allen sexuellen Arten, nicht nur innerhalb von Primaten. Nur den Primaten ist aber der Mensch entwachsen, obwohl auch Delphine und vielleicht auch Elephanten immerhin ein Ich-Bewußtseins hervorgebracht haben. Es ist vielmehr die Bündnispolitik auf geistiger Ebene, die die Verwandtenkooperation durchbricht. Innerhalb der Evolution der Primatenordnung ist diese Entwicklung gut zu verfolgen. Das Handicap-Prinzip bei dieser Geschichte so stark in's Spiel zu bringen, scheint mir nicht gerechtfertigt. Schimpansengesellschaften sind bereits über geistige Bündnisse strukturiert, obwohl die Weibchen die Kinder so gut wie allein aufziehen. Männchen beteiligen sich nur in Ausnahmefällen. Ihr Gruppenbeitrag liegt eher in der Sicherung des Territoriums gegenüber fremden Artgenossen, das können sie nur als Männergemeinschaft. Weibchen beteiligen sich daran nur, wenn sie steril sind und keine Jungen am Hals haben.


(91)


(92)

(93)

* Dass diese drei Erscheinungen hier in einem Atemzug genannt werden, heißt nicht, dass sie untrennbar verbunden sind. Es gibt Erscheinungsformen des Kriegs, die nicht der Unterwerfung des Gegner dienen und daher auch nicht zu seiner Ausbeutung, und natürlich wurden und werden nicht nur unterlegene Kriegsgegner ausgebeutet. Trotzdem gehören die drei Phänomene eng zusammen, wie noch zu zeigen sein wird.

(94)


(95)


(96)

(97)

[1]

(98)

(99)

[2] Hawking 1988, S. 89 ff.

(100)

(101)

[3] Dawkins 1989

(102)

(103)

[4] Lorenz 1963

(104)

(105)

[5] Wickler/Seibt 1977

(106)

(107)

[6] ebenda

(108)

(109)

[7] „Schon mein Lehrer Bertalanffy hat ja darauf aufmerksam gemacht, dass erst mit der Vielzelligkeit der Tod als Programm in die Welt kam, mit dem Nervensystem der Schmerz, mit dem Bewusststein die Angst, und, wie wir hinzufügten, mit dem Besitz die Sorge.“ Riedl 2000

(110)

(111)

[8] Dawkins 1989, Übersetzung M.A.
„I shall argue that a predominant quality to be expected in a successful gene is ruthless selfishness. This gene selfishness will usually give rise to selfishness in individual behavior” “If you look at the way natural selection works, it seems to follow that anything that has evolved by natural selection should be selfish. Therefore we must expect that when we go and look at the behavior of baboons, humans, and all other living creatures, we shall find it to be selfish. If we find that our expectation is wrong, if we observe that human behavior is truly altruistic, then we shall be faced with something puzzling, something that needs explaining.”

(112)

(113)

[9] Wickler/Seibt 1977

(114)

(115)

[10] ebenda

(116)

(117)

[11] ebenda

(118)

(119)

[12] ebenda

(120)

(121)

[13] Hölldobler/Wilson 1994

(122)

(123)

[14] ebenda

(124)

(125)

[15] ebenda

(126)

(127)

[16] Dawkins 1989, Übersetzung M.A.
„Be warned that if you wish, as I do, to build a society in which individuals cooperate generously and unselfishly towards a common good, you can expect little help from biological nature.”

(128)

(129)

[17] Darwin hat den Begriff „natürliche Zuchtwahl“ oder „natürliche Selektion“ geprägt, um sie von der Selektion durch menschliche Züchter abzugrenzen. Dem Begriff „natural selection“ hat er den Begriff der „kin selection“ gegenübergestellt, also der Selektion durch Familienverhältnisse. Das ist nicht ganz logisch, denn „kin selection“ sollte eigentlich als eine Untergeordnete Kategorie der „natural selection“ gesehen werden. Innerhalb der natürlichen Selektion sollte man unterscheiden zwischen Umweltselektion, also Selektion durch äußere Faktoren wie Klima, Struktur der Landschaft und andere lebende Arten (Futterpflanzen, Beutetiere, Raubfeinde, Nahrungskonkurrenten) und innerartlicher (intraspezifischer) Selektion, also Selektion durch Sexualpartner, Anforderungen des Familien-, Gruppen-, Herdenlebens usw.

(130)

(131)

[18] Riedl 2000

(132)

(133)

[19] Zahavi 1975

(134)

(135)

[20] Diamond 1992

(136)

(137)

[21] ebenda

(138)

(139)

[22] Goodall 1990

(140)

(141)

[23] Key/Aiello 1999

(142)

(143)

[24] Turnbull 1961

(144)

(145)

[25] Fromm 1973

(146)

(147)

[26] Freud

(148)

(149)

[27] Fromm 1973


Valid HTML 4.01 Transitional