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Kapitalismus - Sintflut ohne Arche? (Teil 3 von 4)

Maintainer: Uli Weiss, Version 1, 10.11.2001
Projekt-Typ: geschlossen
Status: Archiv

Viele mögliche Varianten ...

(1) Gehen wir, um vielleicht doch noch eine Brücke zur Kurzschen Annahme des möglichen nichtkapitalistischen Entwicklungsweges zu schlagen, von der Situation zu Beginn des fordistischen 20. Jahrhunderts aus. Nehmen wir zugunsten seiner Denkweise auch an, nach 1917 hätten sich in Sowjetrußland diejenigen Kräfte innerhalb und außerhalb der Bolschewiki durchgesetzt, die noch vom Nachklang der Mentalitäten der "geborenen Sozialisten" (Marx), der Bauern der einstigen russischen Dorfgemeinde geprägt waren. Die anarchistischen, anarchosyndikalistischen, freiheitlich-kommunistischen, auf unmittelbare Selbstverwaltung orientierten revolutionären Strömungen waren in Russland ja tatsächlich ziemlich stark. Nicht nur wegen der notwendigen Behauptung gegenüber einer feindlichen Umwelt, sondern auch und primär aus Gründen der inneren Entwicklung gehen wir weiter davon aus, dass die Entwicklung einer großen Industrie unverzichtbar war. Unter diesen angenommenen Voraussetzungen fragen wir: Hätte auf der Basis der damals in Russland und international möglichen Entwicklung der materiellen Produktivkräfte eine Selbstverwaltung entstehen können? Wäre der Rückgriff auf Formen der Entfremdung in westlichen oder stalinistischen Formen also vermeidbar gewesen?

(2) Zur Beantwortung dieser Frage ist u.a. zu prüfen: Wäre auf der Basis der damals global möglichen Produktionsmittel die Entwicklung einer solchen Industrie möglich gewesen, die ohne massive Konzentration von Arbeitskräften auskommt, ohne deren extrem arbeitsteiligen Einsatz unter einem Befehl? Welche Kraft hätte Menschen zum Beispiel dazu bringen können, sich in unwirtliche kulturlose Gegenden zu begeben, sich jahre- und jahrzenhntelang unter großen Entbehrungen zu schinden? Auch tatsächlich vorhandener Pioniergeist und Heldentum, beides ging mit Askese einher, kann eine ganze Gesellschaft nicht dauerhaft tragen. Außerdem ist nach Brechts Galilei "unglücklich das Land, das Helden braucht". Wenn es nicht der stumme Zwang der Ökonomie, also nicht der Zwang zur Lohnarbeit, oder die offene Gewalt gewesen wäre (beides gab es in Russland/der Sowjetunion wie in allen anderen postfeudalen Gesellschaften), welche Kraft dann? Die häufige Antwort: "Mit einer wirklichen Selbstverwaltung wäre dies möglich gewesen. Im ersten Jahrzehnt der Sowjetmacht seien doch auch verschiedene Konzepte diskutiert worden. Gestützt auf starke anarchistische und linkskommunistische Bewegungen hätte sich die Industrie und die gesamte Gesellschaft anfänglich vielleicht langsamer, aber eben doch harmonischer mit einem nachhaltigen Fortschritt im materiellen und kulturellen Lebensniveau entwickeln können. Das wäre wirklich auf Sozialismus hinausgelaufen."

(3) Mit derartigen Einwänden wird immer wieder eine große Illusion formuliert, von der sich nicht nur Lenin verabschieden musste: Eine erstmalige industrielle Entwicklung, die sich nur auf die inneren Voraussetzungen einer Gesellschaft stützen kann, ist nicht auf einem sozialistischem Wege möglich, nicht auf dem der allgemeinmenschlichen Emanzipation, der Selbstverwaltung frei assoziierter Individuen. Sie ist nur in einer der widersprüchlich-barbarischen Formen gangbar, die die ganze Geschichte bis hin zum entfalteten Kapitalismus hervorbrachte. Das ist so, weil eben eine Industrie, die erst die materiellen Bedingungen allgemeiner menschlicher Freiheit schaffen kann, sich bis zu einem ganz bestimmten Punkt nicht anders entwickeln kann als mittels knechtender Arbeitsteilung in Lohn- oder Zwangsarbeit, weil dies eine Produktionsweise erfordert, die der Klassenspaltung der Gesellschaft und damit des Staates bedarf. Diesen Zwang kann keine politische Macht ignorieren.

(4) Egal, welche Freiheitsbewegung 1917 gesiegt hätte, früher oder später hätten sie vor dem gleichen Dilemma gestanden wie die Bolschewiki. Entweder sie tritt von der Bühne ab, oder sie tut genau das, was sie eigentlich nicht tun wollte. Jede Freiheitsbewegung, die die menschlichen Bedürfnisse nach materiellem und kulturellem Fortschritt gerecht werden wollte, musste der damals möglichen Form der Produktivkraftentwicklung, der tayloristisch-fordistischen, Raum verschaffen. Schuld daran ist nicht wie Kurz behauptet, ein allmächtiger allgemeiner kapitalistischer Weltgeist. Dass sich auch den siegreichen Revolutionären des 20. Jahrhunderts kapitalistische Formen von Produktion aufzwangen ist Ausdruck nicht eingebildeter oder von außen eingeredeter falscher Ideen, sondern Resultat realer Zwänge. Diese drängten unaufhaltsam zu einem bestimmten, letztlich bürgerlichen Denken (die diese Realität dann flankierte und beförderte) und nicht umgekehrt.

... aber keine sozialistische

(5) Egal unter welchem politischen Sytem, dem westlichen bürgerlich-demokratischen, dem einer versuchten sozialistischen Selbstverwaltung oder dem der offen terroristischen stalinistischer Art - fordistische Produktionsformen sind unvermeidbar mit extremer knechtender Arbeitsteilung, mit einer enormen Ausweitung der Regulierungsfunktionen des Staates (und nicht mit seiner Aufhebung) verbunden. Sie zerstört notwendig jegliches Element der Selbstverwaltung, das eventuell noch von vorkapitalistischen Produktionsweisen her überliefert ist.

(6) "Das ist eine mechanistische Geschichtsauffassung!", rufen bei diesem Argument meine Kritiker regelmäßig aus. Sie wenden ein, was abstrakt immer stimmt: "An jedem Wendepunkt ist die Geschichte offen. Immer sind verschiedene Entwicklungsvarianten denkbar. Es hängt doch von den konkreten menschlichen Aktivitäten ab, von den Massen und den einzelnen Führern, welche Variante schließlich gegangen wird." "Richtig", kann ich zu diesem "Einwand" nur sagen, "Seit 1917 waren in Sowjetrußland und anderen Ländern verschiedene Entwicklungswege denkbar. Jedoch standen alle damaligen miteinander konkurrierenden Gesellschaften, die um einen dynamischen zivilisatorischen Fortschritt rangen, vor der Notwendigkeit, eine Industrie zu entwickeln, und zwar eine tayloristisch-fordistische. Deshalb musste ihnen bei aller sonst möglichen Vielfalt der Entwicklungsformen eine ganz bestimmte Qualität des Fortschritts verschlossen bleiben, nämlich die, die sich auf Selbstverwaltung stützt. Die knechtende Arbeitsteilung, der Zwang zur Lohnarbeit, die Klassenspaltung, die Macht des Staates usw. konnten nicht aufgehoben werden. Deshalb ist allen im 20. Jahrhundert tatsächlichen und denkbaren Varianten gesellschaftlicher Entwicklung eines gemeinsam: Wie sie sich auch immer selbst verstanden, sie konnten keinen sozialistischen Charakter annehmen."

(7) Die Bolschewiki (wie jede andere denkbare revolutionäre Kraft) an der Macht, hatten keine andere Möglichkeit, als den 1914 verdammten Taylorismus (LW 20/145-47) nun 1918 als die Chance zu preisen, die materielle Grundlage für jeglichen zivilisatorischen Fortschritt zu schaffen. "Arbeiten lernen - diese Aufgabe muß die Sowjetmacht dem Volk in ihrem ganzen Umfang stellen. Das letzte Wort des Kapitalismus in dieser Hinsicht, das Taylorsystem, vereinigt in sich - wie alle Fortschritte des Kapitalismus - die raffinierte Bestialität der bürgerlichen Ausbeutung und eine Reihe wertvollster wissenschaftlicher Errungenschaften in der Analyse der mechanischen Bewegungen bei der Arbeit, der Ausschaltung überflüssiger und ungeschickter Bewegungen, der Ausarbeitung der richtigsten Arbeitsmethoden, der Einführung der besten Systeme der Rechnungsführung und Kontrolle usw. Die Sowjetrepublik muß um jeden Preis alles Wertvolle übernehmen, was Wissenschaft und Technik auf diesem Gebiet errungen haben. Die Realisierbarkeit des Sozialismus hängt ab eben von unseren Erfolgen bei der Verbindung der Sowjetmacht und der sowjetischen Verwaltungsorganisation mit dem neuesten Fortschritt des Kapitalismus." (LW 27/249f) Hinsichtlich der Rolle, die der Taylorismus-Fordismus im 20. Jahrhundert noch zu spielen hatte, und der Unvermeidbarkeit, sich zum Zwecke eines zivilisatorischen Fortschritts auf diesen zu stützen, erwies er sich jedoch als großer Realist.

(8) Die Herausbildung einer solchen Industrie ist jedoch mit dem Entstehen von Subjekten, von gesellschaftlichen Individuen, die sich selbst verwaltend sich zur Begründung einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft befähigen, unvereinbar. Deshalb waren Lenin und alle real-"sozialistischen" Nachfolger, hoffend auf der Basis der dann geschaffenen großen Industrie sei später die freie Entfaltung des Individuums, das Absterben des Staates und die Aufhebung der Lohnarbeit möglich, gezwungen, genau diese Individuen durch äußeren Zwang und Verlockungen (der Ökonomie der Warenproduktion oder der staatlichen Gewalt) den Anforderungen der tayloristisch-fordistischen Ökonomie anzupassen. Der große Irrtum, der heutige soziale Bewegungen schwer belastet, liegt nicht darin, dass dieser Weg wie zuvor oder parallel in der westlichen Welt beschritten wurde. Der Irrtum besteht in der in Ost und West weiterhin vorherrschenden Annahme, diese Entwicklung sei eine sozialistische (gewesen).

(9) Kurz hat den notwendigen Zusammenhang zwischen dem Aufbau einer fordistischen Großindustrie und dem notwendig kapitalistischen Charakter der Produktionsverhältnisse durchaus erfasst, und dementsprechend den bürgerlichen Charakter der östlichen Strukturen erkannt. Den Irrtum, dem er jedoch mit der Annahme eines möglichen Weges zur allgemeinmenschlichen Emanzipation unter Umgehung des Kapitalismus verfällt, ist im Verhältnis zum ML, der den Osten als sozialistisch qualifizierte, geradezu gigantisch.
Kurz ist zugleich Realist. Die Chance nämlich, dass heutige emanzipatorische Bewegungen, die er nicht sieht, an Erinnerungen an vorkapitalistische Zeiten anknüpfen und dadurch geschichtsmächtig werden könnten, sieht er eigentlich auch nicht. Diese Chance ist wahrscheinlich bereits vor Jahrhunderten vergeben worden.

(10) Auf 800 Seiten feststellend, dass sozusagen die Geschichte zu Ende ist und mensch nur noch auf die Katastrophe warten kann, bleibt Kurz bloß noch der schwarze Fluch auf die angeblich Schuldigen, auf Hobbes, Smith, Kant, Hegel und die anderen. Das Schwarzbuch ist hinsichtlich der Frage nach der möglichen Aufhebbarkeit des Kapitalismus durch eine sozialistisch-kommunistische Gesellschaft das Gegenteil von dem, was Kurz beabsichtigt und als was es meist gelesen wird. Es ist eine Affirmation des Kapitalismus.

Zeit? Genug da! Technik? Kommt irgendwie. Hunger? Ach wo!

(11) Auf den Seiten 648ff taucht auf einmal für den Leser überraschend und im Widerspruch zur Grundaussage des gesamten Werkes stehend folgende Idee auf: "Die Dritte industrielle Revolution führt aber nicht nur an die Grenzen des Kapitalismus, sondern an die Grenzen der bisherigen Geschichte überhaupt heran, indem sie den gesellschaftlichen Zeitfonds derart sprunghaft erweitert, dass er nicht mehr positiv für eine Minderheit im Gefüge fetischhafter Herrschaftsformen monopolisiert werden kann, sondern nur noch negativ als Gesellschaftskatastrophe der globalen 'strukturellen Massenarbeitslosigkeit' in Erscheinung tritt. Auf katastrophale Weise wird damit deutlich, dass objektiv (technisch und materiell) mehr als genug Zeit gesellschaftlich zu Verfügung stünde, um eine universelle 'horizontale' Vergesellschaftung ohne soziale Herrschaft zu ermöglichen, in der nur noch wenig Zeit für die Produktion der Güter erforderlich ist und alle Gesellschaftsmitglieder ständig an Kommunikations- und Entscheidungsprozessen über die sinnvolle Mobilisierung der Ressourcen teilnehmen, ja darüber hinaus noch über jede Menge Zeit für frei gewählte individuelle Zwecke verfügen könnten. Diese Möglichkeit ist aber gleichzeitig auch Bedingung [UW: wofür?, dafür, dass], d.h. der ungeheure Zeitfonds kann überhaupt nur durch eine 'horizontale' Vergesellschaftung positiv genutzt werden, die sich Staat und Markt gleichermaßen vom Hals schafft [...] also direkt kommunikativ, Politik und Ökonomie in sich aufhebt." (650)

(12) Der Leser, der vielleicht auch schon bereit war, den Kapitalismus als Irrtum anzusehen, muss vom Jubel darüber überrascht sein, dass dank der materiellen Errungenschaften der kapitalistischen Epoche nun eine sozialistische Ordnung begründbar sei. Doch auch Kurz vergisst nicht, dass er hinsichtlich des historischen Standortes des Kapitalismus beständig das Gegenteil behauptet hatte. So ist an fast gleicher Stelle zu lesen, dass die mangelnden Möglichkeiten einer drastischen Verkürzung der allgemeinen Arbeitszeit für diejenigen Menschen, die bereits vor dem Kapitalismus eine klassenlose Gesellschaft hätten begründen können, zwar irgendein Problem gewesen sein muss, aber eigentlich doch kein ernsthaftes. Das liest sich so: "Soziale Befreiung setzt [voraus ...] die direkte Kommunikation aller Beteiligten, bevor der Zweck ihres Tuns festgelegt ist, um diesen Zweck gemäß ihren Bedürfnissen selbst festzulegen. Erforderlich ist dafür einzig und allein ein genügend großer Zeitfonds, der nicht unmittelbar der Produktion selbst gewidmet sein muss. Auf niedrigeren Stufen der Produktivkraft-Entwicklung wäre somit eine direkte, kommunikative, 'horizontale' Vergesellschaftung erkauft mit einer Einschränkung der Produktion. Das heißt nicht, dass eine Gesellschaftlichkeit ohne vertikale Herrschaftsstruktur in der Vergangenheit etwa logisch unmöglich gewesen wäre. Denn verhungern hätte bei einem relativ hohen kommunikativen Aufwand selbst unter den Bedingungen geringer Produktivkräfte niemand müssen; und auch die Entwicklung von Naturerkenntnis, Technik usw. wäre dabei - entgegen den bürgerlichen Annahmen seit Kant - keineswegs stehengeblieben, sondern allenfalls langsamer, dafür aber auch nicht derart katastrophal verlaufen. Wir können es also nicht als 'objektive Notwendigkeit', sondern lediglich als empirischen Sachverhalt feststellen, dass sich die bisherige menschliche Entwicklung, den Kapitalismus eingeschlossen, in verselbständigten gesellschaftlichen Fetischformen und damit in vertikalen Herrschaftsstrukturen vollzogen hat, die den wachsenden gesellschaftlichen Zeitfonds irrational und weitgehend destruktiv monopolisierten." (649f)

(13) Wir verstehen das so: Die Herstellung des gemeinsamen Willens (etwa der verstreut lebenden und meist analphabetischen mittelalterlichen Produzenten?) hätte in der technikarmen Welt zwar eines enormen Zeitaufwandes bedurft, eines Aufwands, der auch noch von der unmittelbaren Produktionstätigkeit abgeht. Doch, wie Kurz souverän versichert, hätte in einer solchen vorkapitalistischen Selbstverwaltungsgesellschaft selbst dann, wenn von der Arbeitszeit noch ein enormer Teil abgeschnitten worden wäre, nicht nur niemand verhungern müssen. Naturerkenntnis und Technik wären auch noch auf eine zivilisierte Weise weiterentwickelt worden.

(14) Kurz nimmt irgendwie an, dass eigentlich schon bei Maschinenstürmern (warum nicht seit den alten Sumerern?) das Maß an Freizeit über den Grad gesellschaftlichen Reichtum der Gesellschaft hätte bestimmen und nicht das Maß an verausgabter Arbeitszeit. (MEW 42/601). Warum hat das damals den Menschen nur keiner gesagt? Der Sozialismus blieb also nicht etwa deshalb eine Utopie, weil es an dieser in der in der Produktivkraft der menschlicher Arbeit begründeten Möglichkeit mangelte, dass die freie Entwicklung des Individuums ins Zentrum allen Lebens und Arbeitens rückt, sondern schlicht deshalb, weil den Leuten damals die Kurzschen Erkenntnisse noch nicht zur Verfügung standen. Sie hätten sonst glatt den angenehmeren Weg als den durch kapitalistische "Kaudinische Joch" gewählt.

(15) So aber wurde die "seit Kant" verbreitete Auffassung geglaubt, die in einer Selbstverwaltungsökonomie unvermeidbaren häufigen Plenartagungen (auch heute in alternativen Projekten sehr beliebt) über die Klärung der Frage was, wer, wieviel, für wen, wie und ob überhaupt produziert werden soll, wären weder der Sättigung der Beteiligten noch der Technikentwicklung zuträglich. Alles Unsinn, diese völlig aus der Luft gegriffene Begründung für die Existenz von Herr- und Knechtschaft. Geschwätz bürgerlicher Ideologen! Niemand, so weiß Kurz aus erster Hand, wäre verhungert, wäre die Entwicklung nicht auf den Kapitalismus, sondern gleich aufs Reich der Freiheit hinausgelaufen.

Moralisierende Anklagerei - oder die Suche nach Bedingung allgemeinmenschlicher Emanzipation

(16) Immerhin, auch Kurz hat davon gehört, dass eine bestimmte Produktivität der Produktionsmittel, das damit verbundene Verhältnis von (notwendiger) Arbeitszeit und Freizeit etwas mit der Denk- und Realisierbarkeit einer sich auf hohem Zivilisationsniveau entwickeltenden Selbstverwaltung frei assoziierter Individuen zu tun haben könnten. In seiner Wut auf die unvermeidbar kapitalistische Form, in der die Technikentwicklung von der Dampfmaschine bis zur tayloristisch-fordistischen Produktion durchlaufen werden muss, kann er das nicht zur Kenntnis nehmen.

(17) Er klagt die kapitalistische Weise von Produktion in einer Art an, als seien die Produktionsmittel, der sonstige materielle Reichtum, die menschlichen Fähigkeiten und Mentalitäten, alles was unter kapitalistischen Verhältnissen entstanden ist, mit diesen Produktionsform untrennbar identisch, auf ewig mit dem bürgerlich-liberalen Virus infiziert. Dass die materiellen und menschlichen Produktivkräfte auf einem bestimmten Niveau ihrer Entwicklung zur unersetzbaren Bedingungen für die Aufhebung genau jener Form werden könnten, unter der sie entstanden, das ist nach dem Kurzschen Bannfluch über den Kapitalismus undenkbar.

(18) Käme dann die angekündigte Sintflut, wären die Fähigkeiten Noahs, die sich ja in der Zeit der Sünde und nicht im verlorenen Paradies bildeten, nicht zu gebrauchen. Und die Arche, falls sie aus kapitalistisch produzierten Material und nicht aus dem aus zu Adams Zeiten geschlagenen Holz gebaut wurde, könnte unmöglich ein neues Land erreichen.
Solche Anklagerei im Stile des Schwarzbuches des Kapitalismus (die gleiche Methode wird auch im Schwarzbuch des Kommunismus praktiziert) macht den Gegenstand der Wut unverständlich und trägt keinen Gedanken zur Beantwortung der Frage bei, durch welche Art emanzipierter Lebens- und Arbeitsweisen und auf welcher materieller Grundlage diese Barbarei aufhebbar sein kann.

(19) Vor einigen Jahren war in der Zeitschrift Krisis über linke Kritik des kapitalistischen Systems zu lesen: Ihr Elend besteht darin, "dass sie keine historische Praxis [...] darstellen, keinen Anfang machen, keinen Übergang finden, sich dem Normal- und Massenbewusstsein nicht erklären kann und deswegen zu einem esoterischen Dasein verdammt bleibt [...] Sie schweigt wie das Grab über die konkrete Aufhebung der fetischistischen, vom Wert gesetzten Formbestimmtheit kapitalistischer Reproduktion. [... weil] die Frage der Aufhebung auseinandergerissen wird in die reine Negation einerseits [...] und in einen inhaltlich völlig leeren, erst postkapitalistisch (nach dem 'Sturz' der kapitalistischen Macht) in Gang zu setzenden Praxis-Pragmatismus der 'befreiten Gesellschaft' andererseits. [...] Wenn die Potenzen, die der Kapitalismus selbst hervorgebracht hat, in der kapitalistischen Form nur noch destruktiv erscheinen und wirken, muss angegeben werden können, wie diese Potenzen denn als aufgehobene anders wirken und durch Institutionen direkter gesellschaftlicher Kommunikation jenseits der bürgerlichen, warenförmigen Vergesellschaftung reguliert werden sollen. Das ist bereits Voraussetzung, damit eine Aufhebungsbewegung überhaupt in Gang kommen kann." Das stimmt und das liest sich wie eine Kritik des Schwarzbuches. Wer schreibt so etwas: Robert Kurz (1997, 51ff )

(20) Weiter: Der alte Arbeiterbewegungs-Marxismus habe "dieses Problem schlicht umgangen [...] Er organisierte sich nicht reproduktiv und lebensweltlich antikapitalistisch, sondern bloß politisch, als historisch abstrakte 'Willenskundgebung' ohne reale reproduktive Verankerung, und damit als 'politische Partei'." (ebd. 53)[11] Dieser "Antikapitalismus erscheint nicht [...] als formulierbare, ansatzweise darstellbare sozialökonomische Reproduktion und Daseinsform jenseits des Kapitalismus [...] sondern als bloß indirekte Mobilisierung der abstrakten Negation, die nicht an und für sich schon nicht-wertförmig ist, sondern auf ein zunächst äußerliches abstraktes Ziel, einen transzendenten vermeintlichen Umschlagspunkt hinarbeitet. [...] De facto war dies in Wahrheit das Programm der wertförmig immanenten sozialen Reform in den Metropolen und der 'nachholenden Modernisierung' an der kapitalistischen Peripherie."(ebd. 54)

(21) "Das Problem, das hier aufscheint, ist das der 'Keimform'" erklärt Kurz im Jahre 1997 im völligen Gegensatz zum Schwarzbuch und verweist sofort auf etwas, was er 1999 gleichfalls völlig anders sieht, auf die angemessene wissenschafltichen Methodik zur Problemlösung: "Der historische Materialismus hat analytisch bewiesen und anerkannt, dass die bürgerlich-warenförmige, kapitalistische Vergesellschaftung als Keimform im Schoße der feudalen Gesellschaft entstanden ist. [...] Als in den bürgerlichen Revolutionen 'die feudale Hülle gesprengt' wurde, war die bürgerliche, warenförmige Gesellschaftlichkeit schon praktisch da; nicht bloß indirekt als politische und negatorische Kraft, sondern direkt und positiv als reale sozialökonomische Reproduktionsform. Die politische Bewegung ging der neuen Reproduktionsform nicht als abstrakte und symbolische Willenskundgebung voraus, sondern war im Gegenteil ihre sekundäre Konsequenz und ihre notwendige Erscheinungsform." (ebd. 54f) Er stellt sich in Analogie dazu die Aufgabe, die Kapitalismuskritik "theoretisch und praktisch an die sozialökonomische Keimform einer Transformation heranzuführen, die einen Weg aus den fetischistischen Strukturen heraus findet."(ebd. 57) Was ist zwischen 97 und 99 geschehen, haben wir es mit einem doppelten Kurz zu tun oder bedingt einer den anderen und wir verstehen es bloß nicht?.

Mikroelektronik und die sozialen Räume der Emanzipation ...

(22) Kurz formulierte 1997 ein wesentliches Kriterium, woran die Keimformen zu erkennen seien. "Es kommt nicht auf zentralistische Kontrolle, sondern auf die Konstitution und Entwicklung sozialer Räume der Emanzipation an." (ebd. 66) "Soziale Räume der Emanzipation", konstituierbar bereits im Kapitalismus! Gut formuliert. Die Keimformen wären demnach nicht in sachlich gegebenen Angelegenheiten zu finden, nicht in Gegenständen an sich. Nicht in freiheitlichen Mentalitäten, die irgendwann in der Geschichte (angeblich) vorhanden, inzwischen vergessen, nun doch noch irgendwie ihre Wirkung zeigen könnten. Keimformen werden vielmehr durch soziale Beziehungen einer besonderen Art, durch menschliche Praxis einer bestimmten Qualität konstituiert.

(23) Diese Auffassung ist nur insofern noch mit dem Schwarzbuch kompatibel, als er auch hier die Geschichte nach Vorläufern einer über den Kapitalismus hinausweisenden Gesellschaft durchforstet. Aber während er hier seine (schwindenden) Hoffnungen an soziale Kämpfe beim Übergang zum Kapitalismus bindet und den sich entfaltenden Kapitalismus als Vernichtung gerade dieser "Keimformen" ansieht, trifft er 1997 eine entgegengesetzte Aussage. Hier verweist er auf solche materiellen Produktivkräfte, die mit dem fortgeschrittensten Kapitalismus erst entstehen und deren Gebrauch solche sozialen Beziehungen, die zu Keimformen einer anderen Gesellschaft werden können, überhaupt erst möglich machen.

(24) Wird also der Kapitalismus als Terrain des Entstehens von Voraussetzungen für einen erfolgreichen sozialistischen Umbruch angesehen oder nur als deren Vernichtung? Die gegensätzlichen Antworten darauf begründen nicht nur unterschiedliche Vorstellungen von einer sozialistischen Gesellschaft. Sie führen letztlich zu einander ausschließenden Aussagen über die Möglichkeit der sozialistischen Aufhebung des Kapitalismus überhaupt.
Hat der 99er Kurz vergessen, was der andere zuvor noch wusste? Die jeweils besondere Art sozialer Beziehungen von Individuen (auch die, die soziale Räume der Emanzipation begründen können) sind immer auch an bestimmte materielle Bedingungen geknüpft. Wo diese Bedingungen nicht mehr oder noch nicht existieren, lassen sie sich nicht bewahren, rekonstruieren oder schaffen.

(24.1) 21.12.2001, 17:45, Ano Nym: Kanibalismus ist auch eine Art sozialer Beziehung :-) Und auch ans Materielle geknüpft... Fressen und gefressen werden.

(25) Lassen etwa die bestimmten materiellen Voraussetzungen menschlicher Existenz keine sozialistischen (also herrschaftsfreien) Formen von Praxis zu, kann keinerlei außerökonomische Kraft die Gesellschaft die Herstellung sozialistischer Beziehungen oder auch nur deren Keimformen erzwingen. Der Zusammenbruch des Ostens (als behauptete sozialistische Gesellschaft) widerlegt nicht, sondern bestätigt Marxsche geschichtsmaterialistische Erkenntnisse wie die, dass die Handmühle "eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten" ergibt (MEW 4/130) oder die, dass das Recht nie höher sein kann "als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft" ( MEW 19/21). Dabei ist weder die Handmühle ein feudales, noch die Dampfmühle ein kapitalistisches Ding. Es ist "nur" so, dass der massenhafte Gebrauch von Dampfmaschinen einer solchen Produktionsweise bedarf, die erst ab der kapitalistischen Formation möglich wird.

(26) Kurz spricht nun von einer ganz bestimmten "Produktivkraft der sozialen Emanzipation von den fetischistischen Formen des Werts" (1997, 60). Das müsste also eine solche Produktivkraft sein, die genau jene Art der Praxis ermöglicht, mittels derer der Kapitalismus tatsächlich aufgehoben und eine Gesellschaft der allgemeinmenschlichen Emanzipation begründet werden kann. Welche ist diese bei Kurz? Diejenige, die fußend auf einer Produktivkraftentwicklung seit Anwendung der Dampfkraft bis zur Blüte der fordistischen Industrien schließlich entstand: die Mikroelektronik. Ein angenommener Erfolg der Maschinenstürmer, die Verhinderung des Kapitalismus, - so behaupte ich - hätte deren Entstehen unmöglich gemacht.

(27) Kurz verweist 1997 darauf, dass erst die Mikroelektronik (z.B. in Verbindung mit der Solartechnik) den über Jahrhunderte scheiternden antikapitalistisch-alternativen Lebens- und Arbeitsweisen eine solche Geschichtsmächtigkeit verleihen könnte, die sie nicht wieder notwendig vom Streben nach allgemeinmenschlicher Emanzipation abrücken lassen muss.

(28) So interpretiere ich jedenfalls Kurz' Aussagen zur möglichen sozialen Relevanz der Mikroelektronik und seine Erklärung, dass vor der sogenannten dritten industriellen Revolution Alternativprojekte nur die Perspektive eines schlechten Austeigertums hatten. Heute stünden sie nicht mehr notwendig vor dem Dilemma: Entweder sie integrieren sich wieder ins normale kapitalistische Geschäft oder sie vegetieren eine Zeitlang um den Preis von Askese und eines Sich-selbst-Einmauerns. Die Mikroelektronik ist also nach Kurz eine "universelle Rationalisierungs- und Kommunikationstechnologie, die an die Schwelle einer höheren, nicht mehr systemimmanenten Art der Transformation geführt hat [...] die mikroelektronische Revolution [... kann] zur Produktivkraft der sozialen Emanzipation von den fetischistischen Formen des Werts werden." (Kurz 1997, 60) "Die Verbindung von Mikroelektronik und solarer Energie eröffnet die Möglichkeit, dass Menschen sich dem Kapitalismus (teilweise, schrittweise) entziehen können [...] Der Raum des Entzugs ist kein äußerer, territorialer mehr, sondern ein innerer und sozialer Raum [...] kein Auszug aus der Vergesellschaftung in die Primitivität mehr, wie es noch das produktivkraftkritische und im schlechten Sinne 'romantische' Aussteigertum Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre dargestellt hatte. Im Gegenteil: In den Poren und auf den Trümmern der archaisch werdenden kapitalistischen Vergesellschaftung können die Keimformen einer nicht mehr warenförmigen Reproduktion blühen, die in Austausch und Auseinandersetzung mit dem Kapital treten, ihr Existenzrecht behaupten und die kapitalistische Reproduktion schließlich ganz überwinden." Menschen können sich heute "mitten im kapitalistischen Terrritorium für einen Teil ihrer Reproduktion den kapitalistischen Zumutungen entziehen, indem sie kapitalistisch produzierte Mikroelektronik und Solartechnik für nichtkapitalistische Reproduktionsformen einsetzen." (ebd. 65f)

... oder Katastrophenszenarium

(29) Statt derartiger diskussionswürdiger Überlegungen bietet das Schwarzbuch eine Katastrophen-Ästhetik. Wo der eine Kurz mit dem Kapitalismus entstehende Keimformen menschlicher Emanzipation sucht und findet, sieht der andere nur ein galaktisches Schwarzes Loch, eine Gesellschaft, aus der nichts, aber auch gar nichts hervorscheinen kann, das auf etwas Neues, auf Zukunft weist. Diese Gesellschaft ist eine Hölle von einer solchen Gravitationskraft, die alles, was sich ihr auch nur nähert, hoffnungslos in sich hineinzieht und sozusagen zum Elementarteilchen, zur warenproduzierenden Monade "verwurstet" (so ein Lieblingswort von Kurz (1999, 28) und Krisis).

(30) Was bleibt? Das Warten auf die Supernova, auf die Explosion des Ganzen, und die nicht begründbare Hoffnung, dass sich im Moment des großen Blitzes die menschlichen Monaden plötzlich zu einer wundervollen neuen Gemeinschaft zusammenfinden. In der Stunde des jüngsten Gerichts müssten die Auserwählten von tiefer Erinnerung an die hoffnungsvolle vorkapitalistische Gemeinschaftlichkeit ihrer Urväter erfüllt sein und vom heiligen Zorn auf die Vertreiber aus dem göttlichen Paradies, die bürgerlichen Ideologen. Nichts, was der Kapitalismus hervorbrachte, kann von irgendeiner positiven Bedeutung sein für die Konstituierung dieser neuen Welt. Das einmal akzeptiert, kann der Leser alles vergessen, was Kurz 1997 über Keimformen usw. schrieb. Hauptsache er weiß, der Kapitalismus ist schlecht und nichts weiter und wird demnächst katastrophal verenden. Der eventuell immer noch vorhandenen Wunsch, sich anders als eifernd oder ästhetisierend mit seiner Wirklichkeit auseinanderzusetzen, kann dann dank des Schwarzbuches auch zugunsten der Gedankenfreiheit aufgegeben werden. (792)

(31) Er gewinnt stattdessen mindestens drei Weisheiten der höheren Art: Die erste, die nach dem Jahrhundertfehlschlag besonders den Ossi überrascht: Wenn diese Welt kommt, dann wird alles ganz einfach sein. "Die Aufgaben [...] sind von geradezu ergreifender Schlichtheit. [... Sie könnten] längst mit Leichtigkeit" gelöst werden. (782) Die zweite schöne Gewissheit: Diese Welt wird herrlich sein, wunderbarer noch als der mittelalterliche Paradiesvorhof. Die dritte Weisheit allerdings kann die Laune verderben, doch wer liest schon bis zur Seite 791: "Am wahrscheinlichsten ist es gegenwärtig allerdings, dass die Zukunftsmusik wirklich ausgespielt hat."
"Na ja", könnten die Leser, die nun wissen, was ihnen das dicke schwarze Buch sagen wollte, mit dem 97er Kurz sagen: "Es ist doch nix mit den Linken. Schweigen wie das Grab, wenn es um die Fragen geht wie man aus dieser Gesellschaft herauskommen und wo man landen könnte. Dass er darüber etwas sagen könne, war halt so'ne Kurzsche Idee. Schnell wieder vergessen."

Entkoppelung der Reproduktion von der Warenproduktion

(32) Doch ehe wir im Weltschmerz abtauchen, schauen wir uns noch einmal näher an, was da seit 1997 noch so im Schwarzen Loch verschwunden ist. Kurz erläutert, welchen Charakter die Produktivkräfte haben müssten, die die Möglichkeiten eines teilweisen Entzugs aus dem Kapitalismus in einen besonderen sozialen Raum bieten und zwar mit der Perspektive der völligen Überwindung der kapitalistischen Reproduktion.

(33) Erstens müssten es Produktivkräfte sein, die "Armeen der Arbeit" und gesellschaftliche Zentralisation im großen Stil unnötig machen. Sie müssten eine Reproduktion in dezentraler Form auf der höheren Entwicklungsstufe einer kommunikativ vernetzten dezentralen Struktur ermöglichen. Kurz erinnert sogar daran (vermutlich hat er doch zuviel Kant gelesen, siehe 649f, und ihn dann wieder vergessen), dass dies in der Geschichte zwischen Dampfmaschine und blühendem Fordismus unmöglich war, heute aber mittels der "Werkzeugmaschinen, Steuerungstechnologien und Kommunikationsmittel" machbar wäre. "Der alte Arbeiterbewegungs-Marxismus konnte für seinen etatistischen und zentralistischen Begriff der Transformation in gewisser Weise den Stand der Produktivkräfte selbst ins Feld führen: Von den Zeiten der Dampfkraft und Eisenbahn aus zur Blüte der fordistischen Industrien waren die Aggregate der wissenschaftlich-technischen Potenzen tatsächlich nur in einem relativ großen gesellschaftlichen Maßstab darstellbar. [...] Die mikroelektronische Revolution führt demgegenüber nicht nur die lebendige Substanz des Kapitals, die abstrakte 'Arbeit', ad absurdum; sie setzt auch die gesellschaftliche Zentralisation durch Staaten und Märkte zu einer archaischen, unangemessenen Organisationsform herab und macht die Gigantomanie der Moderne lächerlich. [...] Die fortgeschrittensten Kapazitäten von Werkzeugmaschinen, Steuerungstechnologien und Kommunikationsmitteln sind im kleinen Maßstab mobilisierbar und benötigen keine 'Armeen der Arbeit' und keine gesellschaftliche Zentralisation mehr. Die Reproduktion kann zu einer dezentralen Form zurückkehren, aber nicht mehr zu den voneinander vergleichsweise isolierten dezentralen Reproduktionsformen der Agrargesellschaft, die nur äußerlich durch Strukturen der Herrschaft verbunden waren, sondern auf höherer Entwicklungsstufe zu einer allseitig kommunikativ vernetzten dezentralen Struktur." (Kurz 1997, 64f)

(34) Zweitens sind Keimformen der neuen Gesellschaft dort zu finden, wo die Güter nicht zum Zwecke der Mehrwert- bzw. Profitproduktion hergestellt werden, nicht als Waren, sondern zur Befriedigung konkreter bekannter Bedürfnisse, Produktionsformen also, in der es keine wertbildende abstrakte Arbeit, Lohnarbeit, mehr gibt. Die "ökonomische Aufspaltung (sogar der Individuen selbst) in ein Produzenten- und ein Konsumenten-Interesse" (ebd. 77) würde damit beendet.

(35) Alle diese Kriterien fasst Kurz in einem Begriff zusammen: Entkoppelung der Reproduktion von der Warenproduktion. Es geht nicht darum (wie das in der Revolutionstheorie des ML gefordert und im Osten praktiziert wurde), die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel einer soziologisch bestimmten Gruppe (der Bourgeoisie) zu entreißen und an eine andere Gruppe (an die tatsächlichen oder selbsternannten Repräsentanten der Arbeiterklasse) zu übergeben, ein Staatseigentum und eine "sozialistische" Warenproduktion zu kreieren. Es geht vielmehr um eine Lostrennung des sozialen Raums emanzipatorischer Kooperation von Warenaustausch, Geldbeziehungen und abstrakter Leistungsverrechnung. "Es geht darum, Elemente und Keimformen einer 'mikroelektronischen Naturalwirtschaft' zu entwickeln." (ebd. 73)

(36) Wie und wo kann sich nach dem Kurz von 1997 also eine solche emanzipatorische Bewegung organisieren und die Keimform einer alternativen Reproduktion entwickeln?
Ein Anfang sei in denjenigen Sektoren der Reproduktion zu suchen bzw. zu machen, "die in der unmittelbaren Reichweite von sozialen Initiativen liegen" und in denen "die Produktion von Gütern und Dienstleistungen [...] nicht allzu tiefgestaffelt und in die kapitalistische Arbeitsteilung verwoben" (ebd. 81), also dort, wo die Identität von Produzent/Konsument bereits unter kapitalistischer Umgebung partiell möglich ist. Dies ist dort der Fall, wo die produzierten Güter direkt in die Konsumtion eingehen, an den Endpunkten der Reproduktion. Hier sind Produkte herstellbar, die nicht in eine weitere gesellschaftliche Arbeitsteilung eingehen und die demzufolge selbst unter den herrschenden Bedingungen sich nicht unbedingt als Waren darstellen müssen. "Die Organisation einer emanzipatorischen Bewegung kann daher weder allein von den Strukturen der kapitalistischen Arbeitsteilung (Betrieben) noch allein von einer territorialen Basis (Wohngebieten) ausgehen, sondern sie muss bereits die (anti-)ökonomische Keimform einer alternativen Reproduktion enthalten. Eine solche emanzipatorische, das Privateigentum an den Produktionsmitteln überwindende Keimform 'mikroelektronischer Naturalwirtschaft' ist aber nicht an beliebigen Punkten der (zunächst in kapitalistischer Form vorgefundenen) Strukturen der Reproduktion darstellbar, sondern nur an den Endpunkten: dort wo die Produktion in die Konsumtion übergeht. Denn nur an diesen Endpunkten ist die Konstitution eines sozialen Raums der Kooperation möglich, deren Tätigkeit nicht wieder auf den Markt zurückführen, sondern in ihren Resultaten von den Beteiligten selbst konsumiert werden." (ebd. 76f)

Die gesamte Reproduktion aufrollen und emanzipatorisch umformen

(37) Kurz findet in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft und in heutigen Strukturen solche Produktions- und Lebensformen, die er als Vorläufer der Entkoppelung von der Warenproduktion oder als deren erste praktische Schritte ansieht. Kooperativen, Genossenschaften (Vorläufer: Konsum- und Wohnungsgenossenschaften), seit der 68er Revolte "Volksküchen", autonom verwaltete Versammlungsräume, Kommunikationszentren, Jugendzentren, selbstverwaltete Häuser, Kinderläden. Kurz vergisst dabei nicht die Beschränktheit und die möglichen gegensätzlichen Perspektiven solcher kooperativer Formen, die zunächst höchst praktischen Zwecken der persönlichen Kostensenkung und der Erleichterung des Alltags dienen. Sie können Endpunkt einer marginalen Selbsthilfe, eine Ergänzung des kapitalistischen Systems (oder Element seiner Modernisierung - UW) sein, also keinen darüberhinausweisenden emanzipatorischen Impuls entwickeln. Sie können aber auch Ausgangspunkte für die Eroberung eines Stücks Unabhängigkeit von der "abstrakten Arbeit" und einer die gesamte Reproduktion erfassenden Aufhebungsbewegung sein, die "von den Dienstleistungen und den direkt in die Konsumtion eingehenden Endprodukten ausgehend dem Markt seine historische Beute wieder entreißen muss, um von diesen Endpunkten aus die gesamte Reproduktion aufzurollen und emanzipatorisch umzuformen, bis sie bei den Grundstoffen angelangt und das warenproduzierende System aufgehoben ist." (ebd. 78)

(38) Kurz benennt das, was es in seinem Schwarzbuch-Kapitalismusbild gar nicht geben dürfte: materielle Produktivkräfte und Fähigkeiten, die mit dem Kapitalismus entstanden sind und die es zukünftig erst möglich machen, dass die o. g. marginalen Formen kooperativer, nichtwarenförmiger Befriedigung menschlicher Bedürfnisse bis zur Aufhebung des warenproduzierenden Systems vorangetrieben werden könnten. Dabei wird die Alternativbewegung der 70er und 80er Jahre kritisiert, deren Vorstellungen einer anderen Produktions- und Lebensweise mit einer Verteufelung der "Mikroelektronik, Computer und Potentiale der Automatisierung in der industriellen Produktion" verbunden waren. Diese wollten die sozialen Emanzipation also "nicht an die Aufhebung der 'abstrakten Arbeit' binden, sondern umgekehrt an deren Rückführung auf ein historisch tieferes Niveau". (ebd. 60)

(39) Kurz will dagegen "in diesem Punkt zu Marx zurückkehren, also [...] die Partei der mikroelektronischen Produktivkräfte gegen die Produktionsverhältnisse des Kapitals nehmen", dabei aber nicht wie der ML vergessen, dass "die Kritik an Naturwissenschaft, Technik und Industrialismus nicht bloß reaktionär und irrational ist, sondern auch keineswegs zu Unrecht den destruktiven und repressiven Charakter der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung moniert [...] Es gilt also, die Partei der mikroelektronischen Produktivkräfte gegen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu ergreifen, gleichzeitig aber den destruktiven Gebrauchswert der kapitalistischen Produktions- und Konsumstruktur aufzuheben." (ebd. 61f)

(40) "Das sozialökonomische 'Aufrollen' des gesamten Systems der Reproduktion kann man sich zunächst [...] so vorstellen, dass z.B. mehrere solcher Initiativen gemeinsam einen vorgelagerten Sektor, der für sie bis dahin noch eine Zulieferung aus dem Markt dargestellt hat, in ihren nicht warenförmigen Zusammenhang integrieren. [ ... ] Das ökonomische Grundproblem besteht dabei darin, dass vorgelagerte Tätigkeiten nicht mittels Warentausch und Geldbeziehung verbunden werden, sondern dass eine vermittelte Identität von Produzenten und Konsumenten auf erweiterter Stufenleiter hergestellt wird." (ebd. 88)

Identität von Produzenten und Konsumenten

(41) Wie ist diese Identität denkbar? "Es geht dabei nicht um eine grundsätzliche betriebswirtschaftliche Spezialisierung, sondern um eine polytechnische Funktionsteilung, die z.B. personell alternierend sein kann; selbst über Regionen und Kontinente hinweg [... Es geht nicht um] Austausch abstraktifizierter Äquivalente in einer bloß naturalen Form [...Bartergeschäfte], sondern um eine rein stofflich-technische Funktionsteilung, bei der es nur darauf ankommt, dass innerhalb eines Funktionszusammenhangs die notwendigen Dinge in der notwendigen Quantität und Qualität hergestellt werden. [...Es käme zu einer] rein am Bedarf der Beteiligten orientierten [...] Identität von Produktion und Konsumtion [...] Für eine Übergangszeit könnte man sich vorstellen, dass z.B. bestimmte Produktionen teilweise nicht-warenförmig für einen autonomen Zusammenhang und teilweise auch für den Markt geleistet werden. [...] Überhaupt muss noch einmal betont werden, dass die genannten Beispiele zwar auch im einzelnen praktiziert werden können [...], dass aber eine gesellschaftliche Wirksamkeit nicht in erster Linie durch die allmähliche Verallgemeinerung praktischer Einzelbeispiele erreicht werden kann. [...] Vielmehr muss es das Ziel sein, eine Art Programm oder den Umriss einer Antwort auf die unvermeidliche 'Was tun?'-Frage einer neuen sozialen Bewegung auszuarbeiten. [...] Entscheidend ist jedenfalls, dass erst durch soziale Bewegungen hindurch Ideen für eine umwälzende Praxis eine gesellschaftliche Gestalt gewinnen können. Nur wenn viele Menschen gleichzeitig und an vielen Orten beginnen, 'aus der Spur zu springen', weil sie nicht mehr in der bisherigen Weise leben wollen und können, wird die theoretische Möglichkeit zur tatsächlichen gesellschaftlichen Praxis. [...Dafür ist notwendig], dass rechtzeitig das Problem eine Aufhebung des warenproduzierenden Systems theoretisch konkretisiert und eine Debatte darüber entfaltet wird." (ebd. 88f)

(42) Kurz weiß, dass diese "Identität als gesamtgesellschaftliche natürlich nicht möglich, aber vermittelt durch Institutionen direkter gesellschaftlicher Kommunikation [...] durchaus denkbar" ist. Direktheit bezieht sich hier auf die "Sprache und die 'Diskussion über' alle Angelegenheiten der Reproduktion; im Unterschied zu einem indirekten, abstrakten, fetischistischen, subjekt- und sprachlosen Medium, wie es der Wert darstellt. Diese völlig andere Art der Vermittlung muss jedoch selber erst vermittelt, geübt, ausprobiert, erweitert und verfeinert werden usw., und deshalb bedarf es auch der Keimformen, die dort ansetzen, wo das Verhältnis von Produktion und Konsumtion greifbar wird ohne dazwischengeschobene Instanzen." (ebd. 77)

(43) Diese Keimformen entwickeln sich nicht nur in o. g. Selbstverwaltungen. Es ist zu ergänzen, dass sie im spezifischen Gebrauch der fortgeschrittensten Produktionsmittel im Kapitalismus und den damit untrennbar verbundenen geistigen Fähigkeiten selbst eine Basis haben - wenn auch eine bürgerlich geprägte. Kurz stellt diesen Zusammenhang nicht ausdrücklich her, nennt aber solche Eigenschaften: So hat die heutige Möglichkeit personell alternierender Funktionsteilung im unmittelbaren Fertigungsprozess zur Voraussetzung, dass das "basale know-how als Wissen verallgemeinert ist und [...] zumindest bei bestimmten Techniken die Präzision und 'Geschicklichkeit' mehr in programmierten Maschinen liegt als in persönlicher Übung." (ebd. 88)

(44) Gegen den Einwand, es könnten "autonome Reproduktionsformen niemals die hohe Kapitalintensität und den ungeheuren Grad der kapitalistischen Arbeitsteilung konterkarieren, ohne sofort auf ein primitives Niveau der 'Effizienz' abzusinken", argumentiert Kurz: Der besondere "Charakter der mikroelektronischen Produktivkräfte [...macht] ein hohes Potential der Produktivität in kleinem Maßstab anwendbar". (ebd. 91)

Gefährliche Vergesslichkeit?

(45) Genug zitiert. Dieser Rückgriff auf 1997 zeigt hinreichend, dass es Kurz einst bewusst war, dass mit dem Kapitalismus genau solche materiellen Produktivkräfte und geistige Fähigkeiten entstanden sind bzw. entstehen, auf deren Grundlage das Streben nach einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft keine Utopie mehr sein muss. Er wusste auch, dass diese Produktivkräfte der sogenannten dritten industriellen Revolution nur auf der Basis einer bestimmten vorherigen industriellen Entwicklung entstehen konnten und können. Wenn zugleich anerkannt wird, dass die Geschichte dieser Industrie global nur eine kapitalistische sein konnte (die real-"sozialistische" hier inbegriffen), dann gilt im globalen Sinne die alte geschichtsmaterialistische Marxsche Erkenntnis: Die volle Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise ist die unverzichtbare materielle Bedingung für erfolgreiche sozialistisch-kommunistische Umwälzungen der Gesellschaft.

(46) Die kapitalistische Entwicklung war und ist unvermeidbar immer auch mit Verlust, mit Barbarei verbunden. Wer Kapitalismus als Ende der Geschichte ansieht, für den kann es eine gewisse Rechtfertigung geben, diesen als historischen Irrtum, als Vernichtung aller Bedingungen menschlicher Freiheit zu charakterisieren. Anders ist es, analysiert man ihn vom Standpunkt eines Sozialisten, also von dem der möglichen Aufhebung des Kapitalismus. Dann ist wie im Kommunistischen Manifest schonungslose Anklage kapitalistischer Barbarei mit dem Jubel darüber verbindbar, dass gerade mit diesem Kapitalismus die Voraussetzungen menschlicher Freiheiten entstehen. Kurz hat 1999 diesen Zusammenhang, von dem der 1997er Artikel handelte, wieder zerrissen und behandelt auch Marx als bürgerlich-liberalen Ideologen.

(47) Warum? Sollte es ihm nur darum gehen, den Kapitalismus auf 800 Seiten bei naiven Gemütern nach Kräften anzuschwärzen, dann müsste er wissen, dass eine verkürzte, moralisierende Kritik am Kapitalismus gefährlich ist. (Siehe Kurz über den angeblichen Antikapitalismus von Faschismus, Arbeiterbewegung und Real-"Sozialismus".) Warum greift er doch zu dieser Methode und schüttet voller Zorn diskussionwerte Erkenntnisse, zu denen er und Krisis in der Vergangenheit bereits kamen, wieder zu.

(48) Wäre dies reine Vergesslichkeit, lohnte die Beschäftigung damit nicht. Doch diese Methode findet anders als der 97er Artikel Anklang, spricht also eine verbreitete Denkweise an. Interessantes Theoretisieren über Keimformen im Stile von Antiökonomie und Antipolitik ist offenkundig gegenwärtig ungeeignet, Menschen bemerkenswerter Zahl anzuregen, die Mühe (den Spaß daran kann nur erleben, wer es bereits betreibt) und das Risiko auf sich zu nehmen, von der Kritik an barbarischen Seiten des Kapitalismus zur konkreten Suche nach grundsätzlichen Alternativen überzugehen.

(49) Als Ursache der mangelnden Resonanz auf den 97er Versuch oder dessen glatter Ablehnung dürfte Kurz das ungebrochene ideologische Eingebundensein der meisten Menschen in den Kapitalismus angesehen haben. Das Schwarzbuch kann nun als Versuch gelesen werden, diese geistige Fixierung auf die gegebenen Verhältnisse aufzubrechen. Und die Resonanz scheint zu bestätigen: nicht die Orientierung auf eventuell positive Möglichkeiten, die neue Gesellschaft zu begründen findet Widerhall, sondern der Schwarzbuch-Versuch, den bürgerlichen Weltgeist als solchen sozusagen direkt anzugreifen, ihn zerstören zu wollen, indem er als Teufelswerk, als schuldig an allem menschlichen Elend denunziert wird.

(50) Was erfreulich erscheint, ist jedoch das eigentliche ernste Problem und dieses liegt meines Erachtens nicht hauptsächlich bei Kurz, sondern eben in der Resonanz in der deutschen Gesellschaft selbst. Nicht die Suche nach positiven Alternativen zum Kapitalismus setzt diese teilweise in Erregung, sondern das Entfachen von Wut gegen ein Schweinesystem, das Beschwören einer baldigen Katastrophe, das Beschämen der Lohnarbeiter als "verhausschweinte" Menschen, das Toben gegen Liberalismus und bürgerliche Aufklärung und die Mobilisierung einer im Mittelalter angeblich vorhandenen und leider vergangenen Ehre von urwüchsigen Volksbewegungen. Dieser Versuch, den ideologischen Panzer bürgerlichen Denkens zu knacken, geschieht im Stile einer vormarxschen Kapitalismus-Kritik. Das ist selbst Ideologie und genau danach - wie nach einer Religion - greifen verunsicherte Menschen.

(51) Kurz erwartet zu Recht von den traditionellen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft und dem alten Kampf der Arbeiterbewegung (Parteien und Gewerkschaften samt ihrer bürgerlichen Hierarchien) und der damit verbundenen verkürzten Kapitalismuskritik keine Zukunft mehr. Seine Alternative? Eine ebensolche Kapitalismuskritik! Und gerade die Tatsache, dass dies Resonanz findet, sagt Übles über den Zustand der deutschen Gesellschaft aus und lässt Schlimmes erahnen.

Revolten gegen den bürgerlichen Weltgeist

(52) Kurz kennt und sucht keine selbstbewussten Akteure, die ausgehend von heutiger Zivilisation eine neue Gesellschaft begründen könnten, die also zu einer Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse fähig wären. Er kennt und sucht auch nicht (mehr) Formen sozialer Auseinandersetzungen, in denen sich Menschen soziale Räume der Emanzipation schaffen und sich selbst dabei zu solchen Akteure entwickeln könnten. Er orientiert faktisch auf die begriffslose Wut von Opfern eines automatischen Subjekts. Solche Wut kann tatsächlich zur Revolte, nicht aber zu einer Revolution im Sinne einer allgemeinmenschlichen Emanzipation treiben.

(53) Einer solchen möglichen Revolte wirft Kurz einen Köder hin, an dem die Empörten ihr Mütchen kühlen könnten: den kapitalistischen Weltgeist, der angeblich alles verbrochen hat. Es sind die (bürgerlichen) Intellektuellen, die Hobbes, Hegel, Marx - letzterer insofern er liberal infiziert sei - und ihre Nachfolger bis zur Gegenwart. Es sind die Leute, die immerhin die sachliche Frage nach den inneren Zusammenhängen und nach der Machbarkeit von gesellschaftlichen Entwürfen stellten und stellen. Wie sehr sie sich auch voneinander unterschieden und irrten, diese Frage und die Versuche, darauf zu antworten, das vereint sie. Genau das ist es, was wütend dreinschlagende Revolten nicht interessieren kann. Die Bedenklichkeit selbst ist es, worauf sie ihre Wut richten. Solche Revolten sind bestens geeignet, zum Spielball ganz anderer Interessen zu werden.

(54) Wer geschichtliche Erfahrungen, speziell deutsche, beachtet und einen Augenblick darüber nachdenkt, welche Bündnisse auf der Basis derartiger Kapitalismuskritik möglich sind, welche "sozialistischen" Bewegungen diese Kritik geistig flankieren könnte, dem oder der kann das kalte Grauen kommen. Die Möglichkeit einer solchen Entwicklung ist weder Kurz noch einem Weltgeist zuzurechnen. Die spätkapitalistische neoliberale Wirklichkeit selbst drängt die Verunsicherten zu diesem falschen Bewusstsein. Doch Kurz, ausgerechnet er, der im Schwarzbuch auch Zusammenhänge zwischen einer verkürzten Kapitalismuskritik und Antisemitismus darlegt, gibt in dem gleichen Werk dieser heute wieder denkbaren deutschen Bewegung Stoff. Er befördert eine diffuse Wut, die keinen positiv zu gestaltenden Gegenstand findet, die sich in einer Ästhetik des Untergangs erfüllt oder Menschen in falsche Gemeinschaftlichkeiten treiben kann. Ich befürchte, dass dies kein völlig falsches oder überzogenes Urteil ist.

(55) Kurz teilt mit dem Schwarzbuch nur wieder genau das Manko der Linken, das er 1997 gut formulierte: Über mögliche konkretere Auswege aus dem Kapitalismus schweigen sie wie das Grab. Dieses Schweigen durch praktische Suche nach Alternativen und theoretische Diskussion darüber zu beenden, nicht aber das Entfachen diffuser Wut, das ist die eigentliche Aufgabe von Sozialisten.

Nicht Keimformen eines neuen Lebens, sondern solche der Zerstörung

(56) Wenden wir uns noch einmal dem 97er Versuch zu, diese Grabesstille zu stören. Liegt das wirklich vollkommen quer zum Schwarzbuch? Obwohl er im Artikel Antiökonomie und Antipolitik in die völlig andere Richtung schreibt, ist auch hier die Schwarzbuch-Denkweise - Zukunft nur vor dem Hintergrund eines den Kapitalismus zerstörenden inneren Automatismus denken zu können - präsent. Nachdem Kurz nämlich seine anregenden Gedanken zur Entkoppelung sozialer Räume aus den Mechanismen der kapitalistischen Warenproduktion entwickelt, nachdem er dargestellt hat, dass mit der Mikroelektronik den emanzipatorischen Bewegungen eine tragfähige Produktivkraft zur Verfügung stehen könnte, bindet er diese Potenz wieder an ihre Krisen produzierende, zerstörerische Kraft. Die Mikroelektronik könne "zur Produktivkraft der sozialen Emanzipation von den fetischistischen Formen des Werts werden", doch nur "in demselben Maße, wie die mikroelektronische Revolution zur Produktivkraft der Krise für das warenproduzierende System wird". (Kurz 1997, 60)

(57) Hier taucht die Mikroelektronik als Keimform des Zerstörens des Kapitalismus auf. Sie treibt diesen in einen neuartigen Konflikt mit seiner wesentlichen Existenzvoraussetzung, der beständigen Verwertung von Kapital. Das ende nun diesmal bestimmt in der Selbstzerstörung des Kapitalismus. Später wird im Manifest gegen die Arbeit präzisiert: Es verschwinde die (Lohn-)Arbeit und damit die Basis der Verwertung. Das sei die Endkrise.

(58) Neben all den Gedanken über mögliche Elemente des Neuen noch innerhalb der kapitalistischen Epoche wird auch vom 97er Kurz eine wesentliche Funktion der sogenannten Keimformen in der inneren Vernichtung der kapitalistischen Gesellschaft gesehen. Es sind nicht Elemente, die von sozialen Bewegungen in praktischer Gestaltung eines neuen Lebens und Arbeitens bewusst genutzt und umgeformt werden und die auf diese Weise von ihrer kapitalistischen Hülle befreit werden. Es sind vielmehr Entwicklungen, die einer sozialen Bewegung gar nicht bedürfen, die, gleich einem automatischen Subjekt, den Kapitalismus zerstören. Diese Denkweise, die in Antiökonomie und Antipolitik nicht im Zentrum steht, aber eben doch als Hintergrund präsent ist, wird im Schwarzbuch bloß konsequent durchgeführt. Resultat: Das subjektlose Ende des Kapitalismus wird als eine unausweichliche, namenlose Katastrophe "gedacht". Weder über diese noch über das Danach kann irgend etwas ausgesagt werden. Kein Ansatzpunkt, der Menschen außer zu diffuser Wut zu einem eigenen positiven Engagement anregen könnte.

(59) Mit seinen Überlegungen zu den Räumen sozialer Emanzipation, die sich auf Errungenschaften der bürgerlichen Epoche stützen, hatte Kurz einen Weg eingeschlagen, auf dem Sozialismus-Kommunismus als eine tatsächliche Lebensmöglichkeit denkbar werden könnte und zwar ausgehend von den Erfahrungen und Fähigkeiten der Menschen, die sie im Kapitalismus sammeln. Nachdem er die linke Schwäche überwinden wollte, über die konstruktive Seite einer den Kapitalismus aufhebenden Bewegung, wie das Grab zu schweigen, lässt er die halb geöffnete Grabplatte wieder fallen und begibt sich erneut auf die reine Suche nach den subjektlosen inneren Zerstörungskräften des Kapitalismus, ordnet die Frage nach den Keimformen wieder einem abstrakten Antikapitalismus unter. Konsequenterweise kommt der Begriff "Keimform" im Schwarzbuch nicht vor.

(60) Diese schlechte Negation kann wirklichen Keimformen und damit verbundene soziale Bewegungen nicht kennen. Sie erzählt nur von Zersetzung und von etwas unbegreifbarem Anderen. Da Kurz aber doch Bilder für seine Zukunftshoffnung liefern will, greift er zu dem unvermittelt Guten des freiheitlich maschinenstürmenden Geistes, das vor dem großen Bösen in der Geschichte schon vorhanden war. (Auch der ML bastelte sich nach dieser Methode ein motivierendes Geschichtsbild: Ein Stück Spartakus, ein Stück Thomas Münzer, die revolutionären Arbeiter sowieso. Das ging so bis er schließlich seine Identitäten bei M. Luther und Friedrich II. fand. Jedenfalls war das Gute immer schon da, nur halt vom unnatürlich Bösen unterdrückt, das aber nun endgültig seinem Untergang geweiht.)

(61) Das Bild eines parasitären, faulenden und sowieso sterbenden Kapitalismus kennen wir schon von Lenin (LW 22/304ff). Wir wissen, dass ein solcher Antikapitalismus auf dem Boden dessen verbleibt, was er eigentlich zerstören will. Doch zu Lenins Zeiten konnte mit diesem Kapitalismusbild immerhin noch eine höchst widersprüchliche, aber doch zivilisationsverträgliche Entwicklung befördert werden. Mit einem derartigen Antikapitalismus ist heute jedoch nichts mehr zu holen, jedenfalls nichts, was nur irgendwie mit Zivilisation zu tun haben könnte. Nachdem er 1997 mit einem halben Schritt herausgetreten war, verfällt Kurz mit seinem großen schwarzen Verdammungswerk wieder diesem Antikapitalismus. Statt der Orientierung auf mögliche soziale Räume der Emanzipation wirft er einer angenommenen Revolte die bürgerlichen Ideologen zum Fraß hin. Die bekennenden Apologeten der spätkapitalistischen Gesellschaft können sich darüber nur kranklachen. Ohne Sorgen, dass dadurch tatsächlich die kapitalistischen Grundlagen ihrer Existenz bedroht werden könnte, stellen sie dem Schwarzbuch-Autor ihre Zeitungen und Sender zur Verfügung.

Marx, auch ein Prophet der Endkrise?

(62) Wie sieht es in diesen Fragen mit dem Marxschen theoretischen Erbe aus? Kurz bezieht sich wechselweise und häufig nicht nachvollziehbar positiv und ablehnend auf ihn. Die Gewissheit, dass sich der Kapitalismus letztlich selbst zerstören und damit der Weg für die neue Gesellschaft frei würde, schien Marx gegeben zu haben. So wird seine Erkenntis vom tendenziellen Fall der Profitrate vielfach wie folgt gelesen: Sie sei der Generalschlüssel für das Begreifen der Unvermeidbarkeit einer Endkrise des Kapitalismus. Diese Tendenz laufe auf einen fixierbaren historischen Punkt hinaus, von dem an sich das Kapital überhaupt nicht mehr oder nur um den Preis der Vernichtung der ganzen Zivilisation verwerten könne. Die unvermeidbare Selbstzerstörung des Kapitalismus wird als der Ausgangspunkt der dann gleichfalls unausweichlichen sozialistischen Umwälzung angesehen.

(63) Marx ging bis in die 1850er Jahre von einer "Identität der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie und der sozialen Revolution aus" (Dutschke 1969, 21) Er war überzeugt, dass Wirtschaftskrisen "Revolutionen erzeugen", während bei einer "allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln, [...] von einer wirklichen Revolution keine Rede sein [kann ...]. Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese." (MEW 7/98f) Er brauchte die Erfahrungen mehrerer Krisen und deren Analyse, um zu verstehen, dass Wirtschaftskrisen, die u.a. ein Resultat der Tendenz zum Fall der Profitrate sind, nicht Todeskrämpfe, sondern Existenz- und Entwicklungsbedingungen des Kapitalismus sind. Wer heute seine Hoffnung auf Sozialismus an das den Kapitalismus angeblich zerstörende Wirken des tendenziellen Falls der Profitrate bindet, hat nicht nur die geschichtliche Erfahrung gegen sich, sondern könnte auch mit Marx' Hilfe theoretisch einiges nachholen.

(64) Doch redet nicht auch der reife Marx von einem Zusammenbrechen des Kapitalismus? Die Entwicklung seiner Produktionsweise, so sagt er voraus, werde einen qualitativ bestimmbares Niveau erreichen, auf dem "die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen[bricht], und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß [...] selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift" erhält. (MEW 42/601)

(65) Wann ist das nach Marx der Fall? Dann, wenn die große Industrie durch Automatisierung ein Niveau erreicht hat, auf dem die Arbeit "nicht mehr so als in den Produktionsprozess eingeschlossen [erscheint], als sich der Mensch vielmehr als Wächter und Regulator zum Produktionsprozess selbst verhält. [... Der Arbeiter] tritt neben den Produktionsprozess, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper - in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint. Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne. Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. [...] Die freie Entwicklung der Individualitäten und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit, um Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffne Mittel entspricht."(ebd.)

(66) Über diese Aussage können Menschen, die einen Ausweg aus dem Kapitalismus suchen, heute trefflicher streiten, als je zuvor. Ich interpretiere sie so: Marx charakterisiert hier einen Punkt, an dem der Kapitalismus seine zivilisationsverträglichen Potenzen ausgespielt hat. Die kapitalistische Produktionsweise ist dann nicht mehr eine notwendige Form der Produktion gesellschaftlichen Reichtums, eines extrem widersprüchlichen zivilistorischen Fortschritts. So gesehen ist z.B. mit der Mikroelektronik historisch erstmalig genau das im Entstehen, was Marx als qualitative materielle Bedingung einer sozialistisch-kommunistischen Produktionsweise erkannte. Das massenhafte Heraustreten der Produzenten aus dem unmittelbaren Fertigungsprozess, ihr Erheben zu Wächtern und Dirigenten der Produktion, damit die Aufhebung der knechtenden Formen von Arbeitsteilung, der geschlechtsspezifischen Unterdrückung, des kapitalistischen Privateigentums, von Klassen und Staat - all dies ist unter den herrschenden kapitalistischen Bedingungen zwar noch nicht wirklich. Von den materiellen Voraussetzungen her jedoch ist es erstmalig massenhaft möglich.(Weiß 2000)

Aufhebung des Kapitalismus oder dessen "schlechte Negation"

(67) Was Marx hier beschreibt, kann nicht als das Szenarium eines Zusammenbrechen des Kapitalismus etwa durch Weltwirtschaftskrisen und Kriege verstanden werden, sondern eher als das Entstehen von materiellen Bedingungen der neuen Gesellschaft. Kurz' erfreuliche Überlegungen zu den Keimformen im konstruktiven Sinne sind mit dieser Sicht kompatibel. Seine Interpretationen des Wesens der Keimformen als das einer zerstörerischen Kraft jedoch sind dies nicht. Damit hebt er auf, was er zuvor wusste: Auf der Basis der Mikroelektronik ist eine nachhaltige Konstitution des souveränen gesellschaftlichen Individuums möglich, das sich bereits innerhalb einer kapitalistischen Umwelt durch die Entkoppelung von der Warenproduktion soziale Räume der freien Entwicklung verschafft und damit eine völlig neue Art und einen unmittelbar menschlichen Maßstab für die Produktion von Reichtums setzt. Hier wird eine Möglichkeit menschlicher Zivilisation geschaffen, der gegenüber die bisherige Aneignung von Mehrwert als dominierende Triebkraft der Produktion zu einer miserablen Grundlage wird.

(68) Kurz stützt mit seinen 97er Überlegungen zu den Keimformen im positiven Sinne ein bestimmtes Marx-Verständnis: Nicht ein durch die inneren Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus unvermeidbar bedingtes Nicht-Mehr-Weiterkönnen markiert das Ende des Kapitalismus. Die materiellen Bedingungen vorausgesetzt, kann dies nur durch ein erfolgreiches praktisches Konstituieren von sozialen Freiräumen durch das gesellschaftliche Individuum (das sich damit zugleich entwickelt) erfolgen. Auf diesem Wege wird eine auf Wert gegründete Produktionsweise für die menschliche Zivilisation funktionslos. Nur durch diesen Prozess ist Kapitalismus aufhebbar. Nur so ist ein "Zusammenbrechen" (eine unglückliche Metapher im Verhältnis zum Begriff "Aufheben") des Kapitalismus als Weltsystems denk- und realisierbar. Kein Staat, auch keine Diktatur des Proletariats kann, nachdem etwa die Kapitalisten enteignet und vertrieben sind, dies vollbringen - das gesellschaftliche Individuum und seine sozialen Räume begründen.

(69) Es gibt hier kein Nacheinander von politischer Revolution und Umwälzung der Produktionsweise - so wie im ML dargestellt und wozu Marx durchaus auch Anlass gab - MEW 7/33; 19/28; 28/507f. Ausgehend von den Keimformen, den Kurzschen Räumen sozialer Emanzipation und unter der Bedingung ihrer beständigen Verteidigung gegenüber der alten "miserablen Grundlage" können sich die gesellschaftlichen Individuen in ihren freien Assoziationen auf ihrer eigenen ökonomischen Grundlage konstituieren. In dem Maße, in dem sie sich vernetzen und aus der Marginalität heraustreten, begründen sie keinen neuen Staat, keine neue Macht, die gegenüber irgendwelchen Menschen äußere Zwänge durchzusetzen hätte. Sie lösen im Gegenteil jegliche Staatlichkeit auf, indem sie unmittelbar eine neue Gesellschaftlichkeit begründen.

(70) Kurz' Überlegungen in Antiökonomie und Antipolitik (das Schaffen von sozialen Räumen der Emanzipation, die eine Gesellschaftlichkeit jenseits bürgerlicher Ökonomie und Politik begründen) ergäben in dieser Sicht einen revolutionären sozialistischen Sinn. Was Kurz aber im Schwarzbuch betreibt, ist keine Kritik am Kapitalismus vom Standpunkt seiner Aufhebbarkeit. Die angebliche Radikalität ist eine, mit der gerade das bürgerliche Feuilleton etwa der Süddeutschen und des Neuen Deutschlands glänzend leben kann.

(71) Kurz und der Krisis sind allerdings zuzutrauen, dass sie an ihre eigenen Schritte hin zum geschichtsmaterialistischen Denken wieder anküpfen können und die Öffentlichkeit daran teilhaben lassen. Die interessanten 97er Positionen scheinen, wenn auch sehr selten, auch noch im Schwarzbuch hervor. Nachdem Kurz zum Beispiel wie ein Buchhalter des Elends "bewies", hinsichtlich "des Lebensstandards, der Mußezeit und des Wohlbefindens der Mehrheit" (19) sei es den Menschen im Kapitalismus bis "heute in nahezu jeder Hinsicht schlechter gegangen als im 14. und 15. Jahrhundert" (15f), bringt er dann doch Überraschendes zur Sprache: Die kapitalistische Modernisierungsgeschichte habe "die menschlichen Potenzen über alles frühere Maß hinaus gesteigert hat; nicht bloß die technischen Fähigkeiten, sondern in vieler Hinsicht auch das Abstraktions- und Reflexionsvermögen."(14) Er hat nur vergessen, dass es eben solche im Kapitalismus entstehenden Fähigkeiten der Individuen sind, ohne die sich das gesellschaftliche Individuum, das den Kapitalismus aufzuheben vermag, nicht konstituieren kann und dass nicht im Mittelalter, sondern in den jetzigen konkreten sozialen Entwicklungen die Felder und Formen der Auseinandersetzungen zu suchen und zu finden sind, durch die die "sozialen Räume der Emanzipation" eröffnet werden. Es wäre gut, Kurz erinnerte sich wieder daran.

(72) Weiter zum 4. Teil...

Anmerkungen (Fortsetzung)

(73) [11] Kurz' Vorwurf trifft auch den Real-"Sozialismus". Er organisierte sich zwar durchaus reproduktiv und lebensweltlich, tat dies aber und musste dies tun als nachholendes bürgerlich-kapitalistisches Projekt. Er war wie die alte sozialdemokratische und kommunistische Arbeiterbewegung reproduktiv verankert in der bürgerlichen Gesellschaft.


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