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Sozialstaatskritik

Maintainer: Sergej Netschajew, Version 1, 21.07.2003
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

These 1

(1) Zunächst ist zu bestimmen, in welchen gesellschaftlichen Verhältnissen der Sozialstaat seinen Platz hat, denn er ist nicht aus sich selbst heraus oder aus einer „Idee“ erklärbar.

These 2

(2) Das derzeitige gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen, d.h. ihre organisierte Produktion und Reproduktion regelt sich über den Warentausch, den Markt.

These 3

(3) Dabei wird Gleiches gegen Gleiches getauscht. Es handelt sich um die in den Waren vergegenständlichte Arbeitskraft oder Arbeitskraft selbst. Letztere allein betrachtet hat die faszinierende Eigenschaft, mehr zu schaffen, als zu ihrer eigenen Reproduktion notwendig ist. Derjenige, der die Arbeitskraft ankauft, gibt dem Arbeitskraftverkäufer lediglich das zur Reproduktion notwendige und eignet sich den beschriebenen Mehrwert an, bzw. realisiert ihn auf dem Markt. Dieser Prozess ist quasi endlos, solange der Arbeitskraftankäufer in der Konkurrenz besteht oder seine Geschäftstätigkeit aufgibt.

(3.1) Re: These 3, 21.07.2003, 13:44, Emil Schlenz: Da wird aber wohl nicht Gleiches gegen Gleiches getauscht, wenn der Verkäufer aus dem Unterschied zwischen Ankaufs- und Verkaufspreis seinen Lebensunterhalt fristet...

(3.1.1) Re: These 3, 21.07.2003, 14:47, Sergej Netschajew: Doch, es wird das kulturelle Minimum zur Reproduktion der Arbeitskraft (darauf spielst Du ja an, oder?) gegen das Resultat der Arbeitskraft getauscht, so called Ausbeutung. Das ist aber kein Verstoß gg. die Gleichheit, sondern ein Resultat ihrerseits.

(3.1.2) Re: These 3, 01.08.2003, 16:10, Ano Nym: Wenn nicht Gleiches gegen Gleiches getauscht würde - wie du vermeinst -, dann würde der Tausch schlechterdings nicht stattfinden. Denn er ist formell immer noch freiwillig; niemand muß ein Mehr gegen ein Weniger eintauschen. Niemand zwingt dich z.B., deine Arbeitskraft gegen den branchenüblichen Lohn einzutauschen; du kannst es auch bleiben lassen - mit den bekannten Folgen. Formal gesehen ist der Tauschakt ein freiwilliger.
Ihn dennoch zu kritisieren, und zwar ohne (wie z.B. moralisierende Globalisierungsgegner) zu behaupten, er sei "ungerecht", das ist jene dialektisch begründete Nasenlänge, die Marx und Adorno dem sich links dünkenden Mainstream voraus haben.

(3.1.3) Re: These 3, 01.08.2003, 16:11, Ano Nym: Nochmal: Die Gleichheit des Tauschs erwächst geradezu aus seiner Freiwilligkeit. Darin liegt sie als universelles Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft begründet.

(3.2) These 3, 21.07.2003, 19:40, roy rempt: • dabei wird verglichen und bewertet, egal ob vergleichbar und nach eigenem Ermessen und/oder entsprechend der kapitalistischen (besser kaputtalistischen) Regeln der Besitzenden und/oder Mächtigen - mein ich - roy.ly

(3.2.1) Re: These 3, 21.07.2003, 23:04, Sergej Netschajew: Das stimmt, muss ich noch hinzufrügen!

(3.3) Re: These 3, 30.07.2003, 00:03, Tilmann Klein: nein. der kapitalist gibt den proleten das, was er ihm geben will. sonst bräuchte es ja keinen staatlichen eingriff, der den kapitalisten beschränkt.

(3.3.1) Re: These 3, 03.03.2004, 22:50, Ano Nym: keiner zwingt den arbeitnehmer, für den arbeitergeber zu arbeiten. wie immer eine sache von angebot & nachfrage, und natürlich eine der selbstverantortung. der eingriff dient nur dazu die schwachen zu schützen, für deren arbeitskraft gerade kein bedarf besteht.

These 4

(4) Der Arbeitskraftverkäufer spürt diesen „Kuhhandel“ in doppelter Hinsicht: „DER FABRIKANT HAT SEINE SCHULDNER, DIE ARBEITER, IN DER FABRIK UNTER DEN AUGEN UND KONTROLLIERT IHRE GEGENLEISTUNG, EHE ER NOCH DAS GELD VORSTRECKT. WAS IN WIRKLICHKEIT VORGING, BEKOMMEN SIE ERST ZU SPÜREN, WENN SIE SEHEN, WAS SIE DAFÜR KAUFEN KÖNNEN: DER KLEINSTE MAGNAT KANN ÜBER EIN QUANTUM VON DIENSTEN UND GÜTERN VERFÜGEN WIE KEIN HERRSCHER ZUVOR, DIE ARBEITER JEDOCH ERHALTEN DAS SOG. KULTURLELLE MINIMUM. NICHT GENUG DARAN, DAß SIE AM MARKT ERFAHREN, WIE WENIG GÜTER AUF SIE ENTFALLEN, PREIST DER VERKÄUFER NOCH AN, WAS SIE SICH NICHT LEISTEN KÖNNEN. IM VERHÄLTNIS DES LOHNS ZU DEN PREISEN ERST DRÜCKT SICH AUS, WAS DEN ARBEITERN VORENTHALTEN WIRD“ (Horkheimer/Adorno) Einerseits nämlich durch die Ausbeutung des Arbeitskraftverkäufers und andererseits durch die Händler, bei denen sie sich die Produkte zu ihrer Erhaltung der Arbeitskraft erkaufen und die ja auch dort Mehrwert realisieren wollen!

(4.1) Re: These 4, 21.07.2003, 18:09, Hubert Herfurth: Wieso 'Kuhhandel', wenn doch Gleiches gegen Gleiches getauscht wird?
Die Anführungsstriche machen es m. E. nicht besser und was ist das "sogen. kulturelle Minimum" und wie grenzt es sich vom Wert der Ware Arbeitskraft ab? Wie können überhaupt noch die Unterschiede im Preis der Ware Arbeitskraft eingeordnet werden, wenn alles über das erwähnte Minimum läuft? Worüber - im historischen Vergleich -verfügt heute die durchschnittliche Arbeitskraft zumindest in den Zentren und welchen Sinn macht die moralische Seite der Kritik? M. E. steht sie bereits dem Gleichheitspostulat aus These 3 recht unversöhnlich gegenüber. Und worüber - natürlich hypothetisch - würden die Arbeiter in einem wirklich postkapitalistischen System verfügen können? Und ist das ökologische Problem keines was der Erwähnung bedarf? Aus meiner Sicht ist hier letztlich ein noch so radikales 'Mehr' viel zu wenig und damit der falsche Weg.
'Mehr' wollen bereits heute alle: die einen mehr Profit und die anderen mehr Lohn - bis heute war hier keine Lösung des Schlamassels zu entdecken - oder?!

(4.1.1) Re: These 4, 21.07.2003, 23:51, Sergej Netschajew: 'Mehr' wollen bereits heute alle: die einen mehr Profit und die anderen mehr Lohn - bis heute war hier keine Lösung des Schlamassels zu entdecken - oder?!
Klar. Das ist auch nicht die Kritik, sondern nur die Analyse, oder?

(4.1.1.1) Re: These 4, 22.07.2003, 22:30, Hubert Herfurth: Also Sergej, meine Fragen (insbesondere zum Kuhhandel, kulturellen Minimum etc.) waren durchaus ernst gemeint, so daß ich also auch Antworten erwarte.
Dein "klar" kann ich weder nachvollziehen noch vor dem Hintergrund deiner Ausführungen akzeptieren: Insbesondere mit dem Adorno Zitat begibst Du dich in - für mein Verständnis der Kritik der Politischen Ökonomie - sehr moralisches Fahrwasser, welches auch nicht mehr groß durch Tatsachen gespeist wird, wie deine sehr einseitigen historischen Vergleiche zeigen. Für mich gehören Analyse und Kritik zusammen, wie Marx es etwa in seiner Kritik... (z. B. 'das Kapital') gezeigt hat. Kritik ist auf keinen Fall etwas von außen herangetragenes....

(4.1.2) Re: These 4, 10.02.2004, 00:21, wilfried berghahn ??: Anmerkung zur Wertbestimmung der Arbeitskraft: Das Konstrukt eines kulturellen Surplus ist in der Tat problematisch. Marx bestimmt den Wert der Arbeitskraft vom Standpunkt der Reproduktionsfähigkeit des kapitalistischen Systems; Subsistenzlöhne sind somit hinreichend. Unter der Prämisse atomistischer Märkte für Arbeitskräfte ist diese Annahme auch hinreichend plausibel. Lediglich in (überzyklischen)Prosperitätsphasen dürfte es dann zu einer systematischen Divergenz zwischen dem Wert und dem Preis der Ware Arbeitskraft kommen. Legt man hingegen monopolisierte Märkte für Arbeitskräfte zugrunde, dann dürfte selbst in der Situation einer (überzyklischen) Krisenphase der Reproduktionsniveau oberhalb der Subsistenz liegen.

These 5

(5) Dies führt zu Armut und zu Ausschluss von dem „Reichtum der Nationen“ Aber nicht nur dies. Durch die Konkurrenz sind die Unternehmen/Unternehmer unter Druck, ständig vom Markt verdrängt zu werden. Sie sind daher bestrebt, möglichst geringe Produktionskosten zu haben. Dies erreichen sie entweder durch „Drangsalierung“ der Arbeitskraftverkäufer (Lohnsenkung, länger Arbeitszeit, weniger Urlaub) oder durch Produktivkraftsteigerungen, heißt Erfindungen/technische Fortschritte, welche es erlauben schneller zu produzieren. Maschinen und Technik sind aufgrund ihrer Konstitution sogar noch viel effizienter, weil sie nicht streiken, Urlaub machen, krank werden etc., sondern höchstens mal gewartet werden müssen. Durch Produktivkraftsteigerungen wird Menschenmaterial also unnütz und entlassen („Rationalisierungen“). Armut und Ausschluss sind wiederum Folge.

(5.1) These 5, 21.07.2003, 19:44, roy rempt:
• eine These mit 'Dies' zu beginnen (bezugnehmend auf die/eine vorige These) halte ich für unschlau, da Bezugnehmende so zu viel Text brauchen, um darzustellen, was sie aussagen wollen.
- roy.ly

(5.2) Re: These 5, 29.07.2003, 12:18, Tilmann Klein: das ist a) doppelt-gemoppelt. was ist denn \\\"armut\\\" nichts anderes als der ausschluss von den mitteln der bedürfnisbefriedigung? b) ist der auschluss bereits vorausgesetz: wieso sonst sollte jemand in die fabrik gehen und schuften?

These 6

(6) Dem Staat, der die Marktvergesellschaftung verwaltet, d.h. (durch)setzt, könnten „die Armen“ eigentlich auch ziemlich egal sein, würden diese in ihrer Zahl nicht stetig wachsen und in ihrer Verzweiflung artikulieren, revoltieren. Zweitens handelt der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ für alle ökonomischen Protagonisten und gewährleitet optimale Verwertungsbedingungen. Menschliche Arbeitskraft, die brach liegt und verkümmert, könnte durchaus wieder später gebraucht werden. Oder von vornherein aus armen Verhältnissen stammende Menschen werden durch die finanziell schlechte Situation vom Arbeitsmarkt oder von Bildungsmöglichkeiten ausgeschlossen, haben aber Talente, die gut verwertbar wären.

(6.1) Re: These 6, 30.07.2003, 00:00, Tilmann Klein: verwalten, setzen und durchsetzen sind verschiedene sachen. #verwalten: da gibt es einen markt, getrennt vom staat #durchsetzen: wieder gibt es den markt getrennt vom staat, der ist noch nicht allgemein und da hilft der staat nach #setzen - das ist das richtige. der statt schafft die ökonomischen charaktere von kapitalist und arbeiter. die "invsible hand" ist eine ideoligische erfindung. #dein "erstens" ist doch resultat aus dem "zweitens". als ideeller gesamtkapitalist sorgt der staat, dass der von ihm eingerichtete lade läuft - dazu gehört auch der soziale frieden. #also: der staat setzt die gesellschaftlichen verhältnisse, will sie haben und sorgt sich darum, dass sie bestehen bleiben.

(6.1.1) Re: These 6, 30.07.2003, 00:01, Tilmann Klein: öchl.. die "Tipps zum formatieren" sind ja wohl ein witz. formatieren tun die garnix. naja.

(6.1.1.1) Re: These 6, 01.08.2003, 16:17, Ano Nym: Du mußt aber auch vor und nach dem "#" je ein Leerzeichen setzen, damit der Zeilenumbruch wirksam wird ...

(6.1.2) Re: These 6, 23.10.2005, 20:00, Thomas Reck: Den Staat als willensfähigen Akteur zu charakterisieren erscheint mir problematisch. Ob der Staat in Zeiten globaler Finanzmärkte als 'ideeller Gesamtkapitalist' betrachtet werden kann scheint mir höchst zweifelhaft. Ist es nicht vielmehr so, daß der Staat sich zunehmend des eigenen Kapitals beraubt? Führt nicht Staatsverschuldung und damit einhergehender Schuldendienst zur Verschiebung der Marktmacht des Staates hin zu privaten Geldgebern? Liegt nicht einer der Kardinalfehler der politischen Klasse in dem - aus meiner Sicht völlig absurden - Festhalten an der Vorstellung nationalstaatliche Politik würde Wirtschaft (und die damit verbundenen Themen) wirkungsvoll steuern können? Ist es nicht in höchstem Maße fahrlässig die Menschen Glauben zu machen, es sei nur das Drehen einiger weniger Weichen notwendig, um alle wirtschaftlichen Probleme zu lösen?

These 7

(7) Um also sozialem Protest vorzubeugen einerseits und optimal alles Menschenmaterial verwertbar zu erhalten andererseits, ist es – so ein Staat über die Ressourcen verfügt – sinnvoll, gewisse Existenzminima zu schaffen und den Zugang zu Bildung und Wissenschaft zu gewährleisten (z.B. durch BAföG).

These 8

(8) Das nennt man Sozialstaat. Er ist also ein Korrektiv zu den Auswirkungen kapitalistischer Vergesellschaftung in bürgerlichen Nationalstaaten, die sich ihn leisten können und wollen. Er ist die zweite Seite der Medaille, die Kapitalismus heißt (erstere heißt Liberalismus). Er kann sicherlich materielle Lebensbedingungen kurzfristig verbessern. Es ist jedoch nicht sonderlich emanzipatorisch für ihn einzutreten. Ziel kann es nur sein, für ein soziales Zusammenleben, was die Bedürfnisse der Menschen befriedigt, einzutreten. D.h. die ganze Veranstaltung kritisieren und nicht nur deren einzelne Geschäftsordnungen.

(8.1) Re: These 8, 21.07.2003, 13:47, Emil Schlenz: Kluger Kommentar, für jemand, der nicht darauf angewiesen ist...

(8.1.1) Re: These 8, 21.07.2003, 14:47, Sergej Netschajew: Woher weißt Du das???

(8.2) Re: These 8, 29.07.2003, 12:20, Tilmann Klein: was bitteschön korrigiert denn der sozialstaat? klar, er ersetzt das totale elend des arbeiters durch ein relatives elend. warum? das hast du doch auch schon ansatzweise gesagt: um die klasse zu erhalten. der sozialstaat ist ein mittel zum erhalt der klassengesellschaft. so einfach ist das: was man dann davon zu halten hat, ist doch wohl klar.


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