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Den Beissreflex bändigen

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 17.06.2004
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) Utopie im Alltag: Nicht um den Fetisch »neue« Gesellschaft tanzen, sondern täglich die alten Spielregeln außer Kraft setzen (erschienen am 18.06.2004 in der Nummer 26/2004 der Wochenzeitung »Freitag«)

(2) Warum wiederholt sich linke Geschichte, seit es sie gibt? Warum gibt es seit Generationen einen gleichsam »natürlichen« Durchlauf individueller Biographien vom Revoluzzer über den Politikaster zum Privatier? Warum können wir hämisch über die angepassten Grünen oder Sozis jeder Couleur lästern und verhalten uns - mehr oder weniger - genauso?

(3) Die Antwort, die ich hier entfalten möchte, ist kurz: Weil wir Teil des Spiels sind. Es spielt uns. So wie wir uns im »Mensch-ärgere-dich-nicht« oder »Risiko« ereifern können, so im Spiel »Reform oder Revolution«, das heute ohnehin nur eines von »Konterreform und Konterrevolution« ist. Die Spielregeln sind gesetzt. Es wird Zeit, die Spielregeln - fangen wir bescheiden an - zu verstehen, um sie, wo immer es geht, zu umgehen.

(3.1) 17.06.2004, 22:15, Uwe Berger: Das einzige Gesetz ist die Schwerkraft, fangen wir an umgehend damit, anstatt dagegen, zu wirken. In der Regel hat das Spielbein immer ein Standbein oder man liegt schon auf dem Arsch.

(3.2) 13.09.2004, 18:02, Hans-Gert Gräbe: Fangen wir noch bescheidener an: Die Spielregeln zu verstehen, um zu entscheiden, welche zu umgehen bzw. wie sie zu ändern sind. Auf kontemplativer und auf faktischer Ebene - was sicher zeitlich nicht zusammenfallen wird.

(4)

alle wissen, wo's langgeht,
aber keiner weiß, warum *

(4.1) 17.06.2004, 19:39, Ano Nym:
dumdumm

jeder kaiser dem ich dienen wollte ist schon gehenkt
jedes schiff auf dem ich singen sollte ist schon versenkt
jeder säbel den ich schwingen wollte schon voller rost
ich bin nurn armer hund aber bin
ich wirklich von der leine los

aus: leine los.

ps. in kürze mehr.

(5) Der Kapitalismus produziert Leid. Das eigene oder das mitempfundene Leid berührt, demütigt, empört. Dabei ist Leid nicht notwendig Ausdruck unmittelbaren Mangels, sondern vor allem der Ohnmacht, nicht über die Möglichkeiten des Abstellens von Mangel verfügen zu können. Entwürdigend ist, augenscheinlich nichts tun zu können. Nichts tun? Natürlich können wir etwas tun, ist die linke Antwort. Die Lösung liegt im Zusammenschluss, um die eigenen Interessen ge-meinsam durchsetzen zu können. Hier beginnt das Drama.

(5.1) 17.06.2004, 22:12, Uwe Berger: An welche Empfindung heftet sich Identität. Wer wird im Drama zum Zuschauer bestimmt?

(5.2) 13.09.2004, 18:03, Hans-Gert Gräbe: Die je eigenen Interessen gemeinsam durchsetzen ???

(6) Die eigenen Interessen durchzusetzen, bedeutet, sie gegen andere Interessen durchzusetzen. Das war solange fortschrittlich, wie man die eigenen Interessen gleichzeitig als die allgemeinen wähnte, während »die Anderen« nur ihre Partialinteressen vertraten. Es war eine Entscheidung für die richtige Seite: »Which side are you on?« Wie ernüchternd ist es, zu erkennen, dass es die »richtige Seite« nicht gibt, dass alle »Seiten« nur ihre Partialinteressen vertreten. So sind die Regeln: Jeder hat seine Interessen, die durchzusetzen einschließt, dass Andere ihre Interessen nicht durchsetzen. Behaupte dich auf Kosten Anderer. »There is no alternative« - TINA.

(6.1) 17.06.2004, 22:37, Uwe Berger: Interessenkonflikte ergeben sich gegenseitig, weil beide Saiten dies so verfolgen. Ich kann auch daran ein Interesse finden mich am Genuß Anderer zu behaupten und ich werde mein Interesse daran in meinem Wirkungskreis durchsetzen. Niemand kann mich zwingen, in meinem Mitgefühl den Anderen leidend zu belassen (die meisten bestehen darauf, weil ihre Identität damit definiert ist). Das, was ist, ist die Alternative, gegenüber der Soheit einer Wahrgebung, ein Du verschuldigt sich tätig und der Gläubiger ist ein passivist. Imagine, there is no heaven; and all ist heart and heard.

(6.2) 13.09.2004, 18:16, Hans-Gert Gräbe: So etwas wie die Idee von der Existenz der "richtigen Interessen" hat eine sehr lange Geschichte. Du kannst sie wenigstens bis zum Hegelschen Staatsverständnis zurück verfolgen, dessen Konstruktivismus ja gerade seine Wurzel in einem objektivierbaren Vernunftbegriff hat. Selbst in einem (abendländischen) Konstrukt wie dem "Willen Gottes" findest du es wieder. Da sind wir dann schon beim alten Testament.
Ich stimme dir sehr zu, dass hier neu nachgedacht werden muss. Allerdings nicht ohne diese weit in vorkapitalistische Zeiten reichende Denktradition zur Kenntnis nehmen. Dieser Ansatz eines objektivierbaren Rationalismus ist tief in unserem Alltagsdenken verwurzelt. Bei einer derart langen historischen Tradition würde ich sogar vermuten bis in tiefere Sphären unserer Psyche. Ich weiß nicht, ob der Fokus auf TINA nicht was verstellt, was man lieber sehen sollte.
Übrigens gibt es hier wichtige Querverbindungen zum Korngrößendilemma, siehe http://www.opentheory.org/mtb-mawi.

(7) Das Denken in »Interessen« ist immer auch ein Denken in »Personen«. Die Guten und die Bösen. Linke haben dieses Denken befördert, und sie tun es noch. Populistische Empörung über die Einkünfte des Vorstandsvorsitzenden. Umverteilung von oben nach unten. Wer bekommt wie viel? Aber nur für die Fleissigen: Die Müßiggänger schiebt beiseite. Die Ausländer auch? Personalisierendes Denken hat keine Haltelinie zum Rassismus.

(7.1) Denken in »Interessen« -- immer Denken in »Personen«?, 19.06.2004, 17:04, Casimir Purzelbaum: "Das Denken in »Interessen« ist immer auch ein Denken in »Personen«."? – Jein, das Denken in Interessen ist auch möglich als Denken in »Charaktermasken« statt in »Personen« (auch wenn das in der etymologischen Bedeutung gewissermaßen übereinstimmt). Dagegen ist das Festhalten an der Verfolgung bestimmter Interessen immer das Festhalten bestimmter Personen, deren Gründe zu untersuchen und "abzuschaffen" wären. Will man denn die Spielregeln ändern, ohne die Charaktermasken zu entmachten, welche über deren Einhaltung wachen und sie mit allen Mitteln durchsetzen? Es gälte, die Personen von ihren Masken zu befreien bzw. sich befreien zu lassen. Aber könnte man die Menschen nicht ökonomischen/politischen Klassen nach dem Merkmal zuordnen, wie sehr sie an ihrer ökonomischen Charaktermaske "hängen"? Das hat nichts mit Rassismus zu tun, sondern mit der Entmachtung der Masken.

Das Denken in und die Ergründung von Interessen ist genau deshalb wichtig, weil ihnen sonst ihr selbst-produzierter Nährboden nicht entzogen werden kann.

(7.1.1) Re: Denken in »Interessen« -- immer Denken in »Personen«?, 21.06.2004, 23:53, Birgit Niemann: .... ohne die Charaktermasken zu entmachten ... Geht es nicht vielmehr um die Beseitigung der Reproduktionszyklen, welche die Charaktermasken erzeugen?

(7.1.1.1) Re: Denken in »Interessen« -- immer Denken in »Personen«?, 22.06.2004, 07:16, Casimir Purzelbaum: Ja, genau darum geht es bei der "Entmachtung der Masken" durch "Entzug" des sich selbst reproduzierenden Nährbodens der Interessen, welche sich in den berühmten Charaktermasken niederschlagen. Wenn man begreift, daß diese Interessen keine persönliche Angelegenheit sind, sondern der Form des Reproduktionszyklus entspringen und dienen, kann man auch begreifen, daß eine Bekämpfung von Personen nichts mit der "Entmachtung der Masken" zu tun hat, und daß "Denken in Interessen" gerade über die Kritik an »Personen« hinausweist, hin zur Analyse des Reproduktionszyklus.

(7.1.1.1.1) Re: Denken in »Interessen« -- immer Denken in »Personen«?, 22.06.2004, 07:35, Casimir Purzelbaum: »Interessen« sind eben keine "rein psychologische" Kategorie und beschreiben keine "rein psychischen" Phänomene, sondern sie funktionieren hier quasi als Transmissionsriemen zwischen Ökonomie und Psyche. -- Daran kann man sich nicht vorbeidrücken, indem man das "Denken in »Interessen«" z.B. als personalisierendes oder potentiell-rassistisches Denken verteufelt.

(8) Für alles, was ist, gibt es einen Grund. Bleibt der Grund unsichtbar, müssen es die Personen sein. Wer kennt das nicht: Hauptsache, die Schuldfrage ist geklärt. Warum stellt nicht mal jemand das Denken in »Schuld« in Frage? Ganz einfach: Wir haben eine Austragungsform für den Personalisierungsdiskurs, die Demokratie. Demokratie ist die Regulationsform miteinander konkurrierender Interessen. So sind die Regeln. TINA.

(8.1) 13.09.2004, 18:25, Hans-Gert Gräbe: Demokratie bedeutet zumindest, im Gespräch miteinander zu sein und dafür Kommunikationsinfrastruktur zu haben, so unvollkommen das Ganze auch sein mag. Das halte ich für eine zentrale Errungenschaft menschlicher Kultur, an deren Zustandekommen der Zwang zur Kommunikation am Markt, also der seinerzeitige Übergang zu einer kapitalistischen Verfasstheit der Gesellschaft, einen entscheidenden Anteil hat. Das ist wahrscheinlich sogar das progressive Element von Kapitalismus.
Das stellt nicht in Frage, dass heute 1) mehr geht und 2) auch mehr gebraucht wird. An die Bedeutung von Demokratie als kultureller Errungenschaft der Menschheit sollte man sich dabei aber erinnern, sonst wird das Ganze ahistorisch und damit fragwürdig.

(9)

so lang wir noch tanzen können
und richtig echte tränen flennen,
ist noch alles offen,
ist noch alles drin

(10) Waren müssen getrennt produziert werden, damit sie auf dem Markt getauscht werden können. Das trennt auch die Produzenten. Konkurrenz ist die bestimmende Begegnungsform. Standort gegen Standort, Betrieb gegen Betrieb, jeder gegen jede. Kooperation gibt es nur, um die Position in der Konkurrenz zu stärken - und nicht umgekehrt. Auch unter Vielen empfinden wir uns als Monaden, als isolierte Individuen, die einander nicht trauen können.

(10.1) 17.06.2004, 22:41, Uwe Berger: Nur wer weiß, wo er bei sich ist, kann zum Anderen gehen ohne ihm störend zu erscheinen.

(11) In dem Maße wie wir den Spielregeln folgen, steigt die Entfremdung. Nicht das Eigene machen, sondern das, was der Sachzwang gebietet. Sich verkaufen, andere kaufen. Das war nicht immer so. Wir alle in Ost wie West kennen noch die Zeiten, als die Räume, die noch nicht von der Verwertungslogik durchdrungen waren, größer waren - im Osten mehr als im Westen. Ossis rieben sich nach der Wende verwundert die Augen, dass ihre sozialen Zusammenhänge rasant zerfielen. Wessis waren damit schon vertrauter. TINA.

(11.1) 17.06.2004, 22:46, Uwe Berger: Zuckerbrot und Peitsche bedürfen beide einer gewissen Nähe, um wirksam zu werden.

(11.2) 22.07.2004, 15:47, Hans-Gert Gräbe: Meinst du wirklich, dass eine so komplizierte und interdependente Welt wie diese ohne Spielregeln funktionieren könnte? Wenn du hier die Alienregeln meinst, dann solltest du das auch so schreiben, denn es geht nach meinem Verständnis genau um die Regeln, in denen wir leben. Um die Ausgestaltung einer gemeinsamen Infrastruktur und die Regeln, nach denen sie reproduziert wird.

(11.2.1) Zustimmung, 23.07.2004, 09:56, Stefan Meretz: Erkennen, dass wir unter entfremdeten Regeln leben und handeln, und diese in Frage zu stellen, ist Voraussetzung für neue Formen des sozialen Zusammenlebens - mit Regeln, die wir uns selbst schaffen und verändern.

(11.2.1.1) 23.07.2004, 13:01, Hans-Gert Gräbe: Stefan, ich weiß ja, dass du einen aktiv-handlungszentrierten Ansatz präferierst. Aber das mit dem "Regeln schaffen" ist mir denn doch etwas zu konstruktivistisch. Da kommt mir das Prozesshafte daran zu sehr unter die Räder. Jede(r) will etwas anderes, und am Ende kommt etwas heraus, das keine(r) gewollt hat... Auch die Alienregeln "haben wir uns" einmal geschaffen (d.h. sie hatten einen positiven Effekt auf die Entwicklung der Menschheit - siehe meine Argumentation zum Korngrößendilemma anderenorts). Regeln sind immer in eine zivilisatorische Struktur (im Sinne Spehrs) eingebettet, und nur um letztere kann es gehen. Da sind wir dann bei Gramsci.

(11.3) 13.09.2004, 18:38, Hans-Gert Gräbe: In dem Maße wie wir fremden Spielregeln folgen, steigt die Entfremdung. Das ist als Aussage dann eine Tautologie. Regeln sind nichtlokale Effekte einer kooperativen Vernetzung. Und diese Effekte haben auch ein gutes Stück Berechtigung jenseits von Argumenten der "Wertverwertung".
Vielleicht sollten wir uns erst einmal auf die kontemplative Ebene begeben und feststellen: "Aha, mein Beißreflex ist eben losgegangen. Interessant. Wie kam denn das eben?" Um so das Nützliche und Wichtige vom Unnützen und "uns wirklich Fremden" unterscheiden zu lernen und nicht das Kind mit dem Bade auszugießen.

(12) Eine andere Praxis setzt voraus, die eigene Eingebundenheit zu erkennen. Das Falsche ist nicht das Andere, ich bin es auch, es geht durch mich hindurch. Jede Handlung reproduziert das Ganze. Und hier beginnt die Alternative: Das Spielfeld verlassen, die Spielregeln außer Kraft setzen, nicht mehr mitspielen - wo immer es geht. Es geht nicht immer, aber sehr oft.

(13) Geht es nicht, dann ist das Falsche bei vollem Bewusstsein zu tun und nicht als das Richtige zu verbrämen. Denn es sind immer zwei Schritte: wahrnehmen und handeln. Geht das Zweite nicht, geht immer das Erste. Keine Selbstzensur, das Wahrnehmen, Empfinden und Erkennen nicht umdefinieren, sondern mit Bewusstsein klarmachen: »Ich müsste widersprechen, aber ich halte die Klappe, weil ich sonst rausfliege. Aber: Es ist falsch.« Das trennt Welten von einer Haltung, die das eigene Falsche zum Richtigen umdefiniert: »Widerspruch ist nicht nötig, denn ich bin ja nicht beteiligt.« Oder: »Der Andere ist Schuld, ich habe Recht.«

(14) Es geht um nicht weniger als um die individuelle Wieder-Aneignung von »einfach nur Mensch sein«. Auch wenn wir objektiv konkurrierende Warenmonaden sind, müssen wir uns nicht in jeder Situation so verhalten. Und müssen unser Verhalten schon gar nicht als das einzig Richtige rechtfertigen. Wir können einfach auch Mensch sein. Wir können Aufhören mit der gegenseitigen Beschädigung - die Verhältnisse sind unerträglich genug. Den inneren Kampfhund abschaffen, den Beißreflex zurücknehmen.

(15)

ich geb' nicht auf, ich geb' nur nach.
ich werf' die flinte in's korn,
und merk mir wo ich sie hingeschmissen hab',
neben meine abgeriss'nen Ohr'n

(16) Die Zeit der positiven Verteilungskämpfe ist vorbei, die Rückzugsgefechte werden noch andauern. Heute ist die Reform Konterreform. Auch die Zeit der positiven Gleichstellungskämpfe geht zu Ende, auch hier schaltet der Adressat, der Staat um, auf Separation, Repression, Befriedung. Der Staat ist kein Adressat mehr, Politik verliert ihre Gestaltungsmöglichkeiten.

(17) Was bleibt, ist die Selbstermächtigung jenseits von Staat und Markt, ist die Aneignung von Gütern, Dienstleistungen, Wissen und Räumen für das eigene Leben. Aneignung von unten statt Enteignung von oben. Selbstentfaltung statt Selbstverwertung. Freie Kooperation statt Vernichtungs-Konkurrenz.

(17.1) 22.07.2004, 15:50, Hans-Gert Gräbe: Das ist etwas sehr einseitig auf die individuelle Seite konzentriert. Nehmen und Geben. Freiraum und Verantwortung. In meinen Emanzipationsthesen geht es da um ein Viereck aus Vertrauen und Freiraum sowie Verantwortung und Kompetenz.

(17.1.1) 23.07.2004, 09:59, Stefan Meretz: Es ging mir um "Utopie im Alltag". Mal ohne gesellschaftlichen Entwurf;-)

(17.1.1.1) 23.07.2004, 13:09, Hans-Gert Gräbe: Und du meinst, das kann man auseinanderhalten? Selbstentfaltung etwa ist für mich die Form, Kompetenzentfaltung das Wesen. "Utopie wird zur realen Macht, wenn sie die Massen ergreift." Aber diese Massen werden sich kaum an den Formen begeistern.

(17.2) 13.09.2004, 18:45, Hans-Gert Gräbe: Ich wiederhole mich, aber was soll's: Es geht primär nicht um lokale Phänomene wie Selbstentfaltung, sondern um globale Phänomene kooperativer Strukturen. Hegels Staatstheorie zu kritisieren bedeutet nicht, dass es die von ihm beschriebenen Phänomene nicht gibt, sondern dass ein anderer Verständniszugang gewählt werden muss. Das war auch Marxens Position, der "nur" den Hegel vom Kopf auf die Füße stellen wollte. Das reicht heute nicht. Nach These (Hegel) und Antithese (Marx) ist es hohe Zeit für eine Synthese, welche die Mehrskaleneffekte der Dynamik der Koevolution von Allgemein- und Partialinteressen in den Blick bekommt.

(18) Aneignung kann zweierlei bedeuten. Zunächst einfach »Wegnahme«: angefangen vom Mundraub, über unbezahlt-Zugang-verschaffen und die Raubkopie bis zum Haus-besetzen. Die Grenzen von der Subversion zum bloß individuellen unter-den-Nagel-reissen sind fließend. Diese Form der Aneignung lebt vom Funktionieren der Warengesellschaft, sie schafft nicht Neues. Sie ist eine einfache Negation des Bestehenden.

(19) Neues zu Schöpfen, darum geht es bei der doppelten Negation, der Aufhebung von alltäglichen Formen der Warengesellschaft. Die Reichweite solcher Aufhebung ist unterschiedlich. So verzichten Tauschringe auf die Geldform, tauschen jedoch einfache Arbeitszeit-Äquivalente ohne Ansehen der Qualifikation - geringe Reichweite. Umsonstläden hingegen brechen mit dem Tausch als Vermittlungsform von Herstellen und Verbrauchen - größere Reichweite.

(20) Freie Software als drittes Beispiel schöpft in neuer Weise Neues und verteilt die Güter auf neue Art. Das Alltagsmittel Computer wird vom Konsumgut zum Produktionsmittel. In kollektiver Selbstorganisation werden nützliche Produkte geschaffen - für mich und gleichzeitig für alle. Selbstentfaltung, Vergegenständlichung der individuellen produktiven Kraft, genau das zu tun, was mir entspricht, ist der Antrieb. Da gibt es kein Drittes, keinen Markt, keinen Tausch, kein Geld im Herstellungsprozess, der mit Verteilung und Nutzung zusammenfällt. Hier kommt eine neue Qualität zur Geltung: Ich kann mich nur entfalten, wenn auch die Anderen sich entfalten und umgekehrt. Die Anderen sind meine Entfaltungsbedingung anstatt auszustechende Konkurrenten.

(21) Natürlich gibt es weitere Voraussetzungen, die in »alter Form« organisiert sein wollen: das Geld zum Leben, für den Computer, den Alltag. Und natürlich gibt es Versuche, beides miteinander zu verbinden. Auch hier gilt: Sich nüchtern klar machen, was geht und was nicht. Viele entscheiden sich bewusst, die Entwicklung Freier Software im Alltag klar zu trennen von der notwendigen Geldbeschaffung als Lohnarbeiter oder Firmenbetreiber. Sie haben erkannt oder intuitiv erspürt, dass Selbstentfaltung und Selbstverwertung nicht zusammengehen. Andere gehen mit dem Balanceakt anders um. Moralische Vorschriften, bei Linken sonst so beliebt, sind hier fehl am Platze.

(21.1) 22.07.2004, 15:52, Hans-Gert Gräbe: So wie die damals neue kapitalistische Lohnarbeit die historisch ältere familiäre Reproduktionsarbeit als Voraussetzung hat, so hat auch die nun ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit drängende Infrastrukturarbeit, das Schaffen der Bedingungen, ein funktionierendes System der produktiven Arbeit bisheriger Dimension zur Voraussetzung.

(22) Eine neue Qualität von individueller und allgemeiner Aneignung ist erreicht, wenn es uns gelingt, unser Leben jenseits von Geld und Markt täglich herzustellen. Wenn es uns gelingt, die vielen Inseln, die es bereits gibt, zu vernetzen. Wenn das Produkt der einen Insel zum Material der nächsten wird. Wenn es gelingt, uns individuell und kollektiv die dafür notwendigen Fähigkeiten anzueignen - vom praktischen Tun, über das Schaffen verlässlicher Infrastrukturen zum Organisieren unserer Kommunikation.

(22.1) 22.07.2004, 15:55, Hans-Gert Gräbe: Nach meinem Verständnis ist die Netzartigkeit die Form, der infrastrukturelle Charakter aber das Wesen der neuen Strukturen. Es geht um die "Beherrschung der Macht der Agentien". Sowohl auf individueller, als auch (das m.E. bleibt bei dir ausgeblendet) auf gesellschaftlicher Ebene. Stichwort Nachhaltigkeit, Ökologie etc. Und eben auch Reproduktion des Wissenspools der Menschheit.

(23)

so wird es tag und nicht anders,
so wird es ein leben,
wenn wir nicht
wie tote fliegen kleben
an dem süssen leim,
zu dem man schicksal sagt

(24) Ich plädiere für eine wahrnehmende Distanz zum eigenen Tun, für einen Überblick über Handlungsmöglichkeiten. Für das alltägliche Handeln ist es ein Unterschied, ob ich mich von der Entfremdungslogik aufsaugen lasse, sie verinnerliche und wieder hinaustrage und Andere damit unter den gleichen Druck setze, unter dem ich stehe. Oder, ob ich distanziert und ohne moralischen Zeigefinger auf mein eigenes Tun schaue, um es genau nach solchen quasi-automatischen Wiedergaben fremder Sachzwänge abzusuchen - auf das ich es beim nächsten Mal vielleicht lassen kann oder wenigstens nicht mehr als »richtig« oder »gerecht« rechtfertigen muss, vor mir und anderen.

(25) Trete ich erst einmal zurück, erwerbe ich mehr Überblick, erkenne ich Verwertungslogiken als Sachzwänge, so entdecke ich zunehmend Entfaltungsmöglichkeiten als Handlungsoptionen. Das sind die Ansätze, die mit Anderen zur Geltung gebracht werden wollen. Das ist nicht einfach, schwerer sicher als auf beliebige Schuldige zu verweisen oder mich fordernd an Staat und Politik zu wenden. Diese Haltung hat jedoch den ungeheuren Vorteil, dass sie nicht auf Opferbereitschaft setzt. Jede Opferbereitschaft ist irgendwann erschöpft oder wird verwandelt in einen Durchsetzungsvorteil im Rangeln um die Macht. Diese Haltung sucht nach Widersprüchen in einer zerfallenden Gesellschaft, die täglich bedient werden will und gleichzeitig nach Neuem schreit. Sie entwickelt aus der Ablehnung der entfremdenden Formen unseres Alltags neue Praxisformen, Keimformen im Alten, die das Alte aufnehmen, ohne in ihm aufzugehen, weil sie nach einer anderen Logik funktionieren: der Logik Mensch. Und die kennt eigentlich jede und jeder.

(26)

* Alle Zitate sind entnommen aus Liedtexten von Gerhard »Gundi« Gundermann

(26.1) auf den Grund geht, 18.06.2004, 14:10, Uvvell H:W:Berger: mit der Seilschaft Rund. und findet
Grund nur, wo sich´s bindet.
mit bimmelbammelful am Seil
verdingt, wie durch Fortunas Lucke.
es schwingkt schon d´G´seilschaft
vvershingkt auf´´mal die Glûcke
der shrek ist los
vers eil´! und allem vor :)frohst_lucke

(26.2) 28.06.2004, 08:49, Ano Nym:
more gundi at:
http://www.coforum.net/index.php?Gerhard_Gundermann

(26.3) 19.07.2004, 23:50, Ano Nym:
All das Lächeln, all die Schläge die du in der Welt verteilst, hol`n dich irgendwann ein, wenn du dich noch so beeilst... gg.


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