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Verwertung oder Leben

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 06.11.2005
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) Uli Weiß und Stefan Meretz arbeiten seit längerem im Berliner Arbeitskreis »Wege aus dem Kapitalismus« (WaK) und beschäftigen sich vor allem mit der Frage von Theorie- und Praxisformen jenseits von Politik und Verwertungslogik. Mit ihnen führten wir das folgende Gespräch.

(1.1) Audio-Dateien, 19.04.2007, 17:00, Stefan Meretz: Das Interview liegt inzwischen auch als Audioaufnahme zum Download vor (Länge knapp 43 Minuten):
- OGG (63 KBit/s, 19,3 MB)
- MP3 (64 KBit/s, 19,7 MB)

Wie seid ihr zum Arbeitskreis WaK gekommen?

(2) Uli: Ich war damals in der Berliner PDS verantwortlich für Theoriediskussionen und musste - wie auch andere - erleben: Gebunden an Parteiinteressen ist es unmöglich, Alternativen zur jetzigen kapitalistischen Gesellschaft zu suchen. Wir wollten aber eine fortschreitende Diskussion, in der es letztlich um die Frage geht: Was können wir sinnvollerweise tun? So gründeten wir den Demokratischen Presseclub, den Vorläufer von WaK.

(3) Stefan: Als Ingenieur und Informatiker habe ich mich schon länger mit dem Thema der Produktivkraftentwicklung beschäftigt. Mich interessierte besonders die Frage, ob man von einer dritten industriellen Revolution sprechen könne, die uns in Gestalt des Computers erreicht habe. So bin ich zur Bewegung der Freien Software gekommen und zum Oekonux-Projekt[1] wo diese Fragen diskutiert werden. Auf der Suche nach einer Berliner Regionalgruppe stieß ich auf die WaK, die sich erstaunlicherweise mit ähnlichen Fragen beschäftigte - obwohl die Gruppe zunächst nichts von Freier Software wusste.

Was war denn das Gemeinsame, das deiner Meinung nach auch bei Freier Software wichtig ist?

(4) Stefan: Das Gemeinsame war die Suche nach neuen Praxisformen jenseits der Verwertungslogik der Warengesellschaft. Damals war mir das nicht so klar, ich lief wie die Meisten mit Politikillusionen im Kopf herum. Okay, ich stand nicht mehr auf das alte Schema des Machteroberns, aber Politik machen, um seine Interessen durchzusetzen, war damals für mich noch aktuell. Entwaffenderweise meinte Uli damals dazu nur: »Das ist das falsche Feld«.

(5) Uli: Ja, das hatte ich nach meiner DDR-Staatsnähe und der Erfahrung im Westen - inklusive seiner linken politischen Strömungen - begriffen. Manche, auch in unserem WaK-Kreis, glauben, sonst keinen sozialen Wirkungsraum mehr zu haben, und drängen immer wieder unters Dach politischer Strukturen. Ich lebe in einer Gemeinschaft, die vier Generationen umfasst, aber auch diese sehr bunte Truppe ist nicht das »ganz Andere«. Da tauchten auf einmal die Free-Software-Leute auf. Das war für mich eine Wirklichkeit, die sozusagen zur Idee drängt.

Nun kann man doch aber nicht behaupten, dass die Freie Software eine Praxisform jenseits der Verwertungslogik sei?

(6) Stefan: Doch, das kann man: »Sie wissen es nicht, aber sie tun es«. Natürlich gibt es Apologeten, die das alles als wunderbar kompatibel mit dem Kapitalismus erklären können, und diese Erklärungen sind auch nicht völlig falsch. Doch beide Annahmen, entweder die Freie Software-Bewegung als »revolutionäres Subjekt« oder als einen Haufen nonkonformer Karrieristen zu betrachten, sind Projektionen. Sie zeugen von einer schrägen Vorstellung von Entwicklung: Entweder das Neue erscheint aus dem Nichts und ist sozusagen die »Revolution in Reinkultur« - das ist ein im Grunde bloß moralischer Standpunkt, der an das Verhalten der Individuen appelliert, aber nichts von Produktivkraftentwicklung kapiert. Oder das zugegebenermaßen irgendwie Neue ist nur ein besonders raffinierter Zugangsweg zu den Fleischtöpfen des Gehabten. Das ist statisches Denken, es blendet Widersprüche und reales Leben aus.

(7) Uli: Ich erlebe oft als Einwand gegen meine Argumente: »Auch du - wie die Linux-Produzenten - lebst von einem funktionierenden Kapitalismus.« Muss ich denn erst obdachlos sein oder mich umbringen, damit meine Ideen annehmbar werden? Es ist schwer für Leute, die selbst nicht wenigstens in Ansätzen an solchen Lebenspraxen teilhaben, überhaupt nach den besonderen sozialen Formen fragen zu können, nach Formen des Neuen, die sich selbst noch im Alten befinden. In den frühen bürgerlichen Manufakturen steckte der materielle Keim einer ganzen neuen Gesellschaftsformation. Das wurde erst im Nachhinein klar. Ich will aber schon heute nach den möglichen Potenzen in unseren widersprüchlichen Praxen fragen und im Wissen darum handeln.

Was sind denn die Widersprüche - Kapital und Arbeit?

(8) Stefan: Das ist sicherlich ein Widerspruch, doch heute muss man sagen: ein Nebenwiderspruch. Das ist schockierend für Alt-Linke, weil sie darauf ihren Fortschrittsglauben gründen, in dem die 'Arbeit' irgendwie für das historisch Gute steht. Nun müssen sie aber zur Kenntnis nehmen: Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit gehört zwar untrennbar zum kapitalistischen System, weist aber nicht darüber hinaus. Er treibt zwar die Entwicklung der Warengesellschaft voran, enthält aber keine sie überschreitenden Potenzen. Auch immanent ist inzwischen mit 'Entwicklung' nichts Positives mehr verbunden, bedeutet sie doch nur Durchdringung aller menschlichen Lebenssphären mit der im Kern barbarischen Form des 'Sich-auf-Kosten-Anderer-Durchsetzens'. Wer sehen kann, sieht das heute in aller Klarheit. Dennoch wollen oder können viele das nicht zur Kenntnis nehmen. Sie verbieten es sich selbst, weil sie sich den Boden unter den Füßen wegziehen würden. Wer es nämlich sieht, versteht und spürt sofort, dass er oder sie mit Haut und Haaren drinhängt in dieser totalitären selbstreferenziellen Erniedrigungsmaschinerie. Und das ist schier unaushaltbar. Deswegen muss ich sozusagen aus Selbstschutz zum Beispiel an der 'Arbeit' als positivem Pol festhalten und wie irre »Arbeit für alle« fordern. Der Wunsch, auf der Seite der 'Guten' stehen zu wollen, ist verständlich, aber leider eine Illusion.

Was ist nun der 'wirkliche Widerspruch', wenn es 'Kapital versus Arbeit' nicht ist?

(9) Uli: Leben, ein schöpferisches Entfalten und Genießen menschlicher Mächtigkeit versus Lohnarbeit und Unternehmertum. Widersprüchlich war das immer. Die innerfamiliären Reproduktionstätigkeiten, meist von Frauen getragen, folgen einer anderen Logik als etwa die vorwiegend männlich besetzte Arbeit am Fließband, die dem Kapital direkt untergeordnet ist. Die kapitalistische Produktionsweise hatte über Generationen die Kraft, Leben zu tragen und die gesellschaftlichen Bedingungen des Lebens zu schaffen. Angesichts hoher Produktivität und damit sinkendem Bedarf an Arbeitskraft, das heißt an verwertbaren Menschen, geht das nun zu Ende. Verwertung versus Leben - das ist die heutige Situation. Das Leben schreit nach neuen sozialen Formen.

(10) Stefan: Für diesen quer durch jeden einzelnen Menschen gehenden Widerspruch kann man vermutlich viele Beschreibungen finden, im Oekonux-Projekt wurde er auf die 'Formel' gebracht: »Selbstentfaltung versus Selbstverwertung«. Selbstentfaltung verweist auf die schöpferischen Momente menschlicher Tätigkeit, also jene Aspekte, die Menschen immer noch an 'Arbeit' als Tätigkeitsform festhalten lässt. 'Arbeit' enthält aber nicht nur schöpferische Momente, sondern auch die der Verwertung und Erniedrigung. Das Verrückte dabei ist, dass das Schöpferische, also die Selbstentfaltung, verwertbar sein muss - und viele machen sich auch immer noch vor, dass das zusammengeht. Verwertung bedeutet aber Diktat des Marktes, bedeutet Entfremdung, bedeutet, dass ich mein Menschsein verwirke, wenn ich mich nicht verkaufe - übrigens egal, ob als Mitglied der Kapital- oder Arbeitsfraktion dieser kybernetischen Verwertungsmaschine. Dabei ist Erniedrigung der individuelle Modus des Sich-Durchsetzens gegen Andere. Da es sich um einen selbstreferenziellen Prozess handelt, bedeutet Erniedrigung Anderer auch immer Selbsterniedrigung. Im Fordismus konnte man diesen im Kern selbstzerstörerischen Mechanismus großzügig staatlich abfedern und durch Umverteilung ausgleichen. Das ist jetzt vorbei.

Das ist doch etwas krass formuliert, gibt es nicht sehr viele 'Gutmenschen', die nur Bestes wollen?

(11) Uli: Das bürgerliche Individuum hat große Angst vor menschlicher Vereinnahmung. Es befürchtet, schwach und ausnutzbar zu sein. Zugleich ruft es nach menschlicher Gemeinschaft. Wird dies vorgeführt - als Märchen etwa im Kino in »Good by Lenin«, »Die wundersame Welt der Amelie« oder »Gegen die Wand« - oder schlägt gar mal eine große Liebe zu, geht kurz 'das Herz auf'. Sofort aber dressiert man sich selbst wieder auf die Verwertungs- und Herrschaftsnotwendigkeiten hin. Die Sache ist hoffnungslos, Theorie ohnmächtig, solange es nicht Praxen gibt, in denen wenigstens in Ansätzen erahnbar wird, dass seelisch wie materiell die menschliche Existenz auf andere Weise als über Verwertung gesichert werden kann.

(12) Stefan: Der abwertende Begriff »Gutmensch« bringt genau den perversen Zusammenhang auf den Punkt: Ich will ein guter Mensch sein, kann es aber nicht. Und weil ich es nicht kann, gehört die Vorstellung vom 'guten Menschen' denunziert und lächerlich gemacht. Niemand fragt aber danach, warum es nicht möglich ist, ein guter Mensch zu sein und was das überhaupt ausmachen würde, wie eine entsprechende Gesellschaft aussähe usw. Der Gedanke, dass es anders sein kann, muss verdrängt werden.

Wird hier nicht wieder eine Utopie gefordert, etwa ein neu in Stand gesetzter Sozialstaat?

(13) Stefan: Die einzige wirkmächtige Utopie ist der Neoliberalismus. Ja, ganz ernst, es handelt sich nicht um ein Verschwörungsprogramm finsterer Kapitalisten - diese Annahme ist nicht nur wegen seiner antisemitischen Konnotation daneben -, sondern um ein Heilsversprechen. Dem gefesselten Menschen, dem vorher vom Wärter das Essen eingelöffelt wurde, wird gesagt: Deine Bevormundung ist zu Ende, ich binde dich nicht nur los, sondern ich gebe dir auch einen Knüppel in die Hand, damit du deinesgleichen erschlagen kannst - und dich selbst gleich mit. Jenen, denen das Erschlagen 'zu weit' geht, erscheint das paternalistische 'Versorgt-werden' inzwischen wieder in einem hellen Licht. Dass Freiheit auch noch etwas anderes bedeuten kann, als die Freiheit, seine Haut zu Markte zu tragen und zu diesem Zwecke den Nebenmenschen auszustechen, fällt den meisten gar nicht ein.

(14) Uli: Im Arbeitsamt, der angeblichen Brücke in den ersten Arbeitsmarkt, wird ein Arbeits- und Knechtschaftsverhältnis simuliert. Für eine Institution wie das AMS in Österreich gilt wohl Vergleichbares. Nicht einmal die Angestellten dort wahren noch den Schein, es hätte den behaupteten Sinn. Alle wissen: Der Kaiser ist nackt. Der Sozialstaat verliert die auch für ihn erforderliche Verwertungsbasis. Nun, die bürgerliche Gesellschaft produziert nicht nur den ihr entsprechenden Horror, sie zerschlägt auch ihre eigenen Illusionen, auch die 'sozialistischen'. Das Problem: Wie im »Engel« von Benjamin und Klee sehen die Leute, vom Wind der Geschichte getrieben, voller Entsetzen die Trümmer, die sie selbst hinterlassen. Warum drehen sie sich nicht um, werden nicht selbstbewusste Gestalterinnen und Gestalter ihrer Verhältnisse? Genau dies tun aber viele Leute gerade aus dem Zentrum menschlicher Mächtigkeit heraus, dem Hightech-Bereich. Die Linux-Freaks etwa lösen den Widerspruch zwischen ihren menschlichen Potenzen und der Verwertungslogik und Rechtsform, in die der Markt sie zwingt, auf ihre Weise. Sie machen 'einfach' ihr eigenes Ding. So entsteht mit einer hochkomplexen nützlichen Sache, zu der alle Zugang haben - das ist ja Linux -, zugleich ein neuer sozialer Raum. Das zielt faktisch auf die Auflösung der alten vom Wert bestimmten Herrschaftsstrukturen. Das ist eine wichtige Botschaft: Es geht auch anders und nicht nur am Rande der Gesellschaft, etwa auf elendem materiellen Niveau in landwirtschaftlichen Selbstversorgungskommunen - vor denen ich allerdings Hochachtung habe.

Wie soll sie also aussehen, die Alternative?

(15) Stefan: Das eigene Leben selbst bauen, nur jenseits der Verwertungslogik - also im Prinzip das Freiheitsversprechen des Neoliberalismus minus Verwertung. Das 'Minus' hat es aber in sich, denn es greift die Totalität der Warengesellschaft an, genauer gesagt ihre Formen. Es bedeutet: ohne Markt, Staat, Geld, Arbeit, geschlechtliche Sphärenspaltung, Politik usw. Dass unter den Formen von Ware und Wert nur das zählt, was sich zu klingender Münze machen lässt, hat auch Auswirkungen auf die 'Inhalte', die den Wert transportieren. Es ist also nicht 'einfach' nur 'die Form wegzulassen' und sonst so weiterzumachen wie bisher. Etliche Dinge wie Atomkraftwerke und Waffenschmieden müssen schlicht stillgelegt werden. Wenn sie nicht mehr zur Verwertung taugen, wozu sollten sie noch bleiben?

(16) Es ist eine andere Form der gesellschaftlichen Regulation zu schaffen, eine andere Form der Vergesellschaftung. Markt, Staat, Geld & Co. haben als reine, inhaltsleere Formen allerdings nicht nur Herrschaftscharakter, sondern sie regeln ja auch effektiv etwas. Das bedeutet, dass die Funktionen dieser Formen geprüft werden müssen: Was davon brauchen wir, was kann entfallen? Zum Beispiel brauchen wir eine Form der gesellschaftlichen Vermittlung, wir brauchen aber keinen Ersatz für Banken und Geld. Was ansteht, ist ein Durchdeklinieren der gesellschaftlichen Funktionen im Hinblick auf ihre Formbestimmtheit. Ich vermute, dass wir in der Regel auf eine Doppelgesichtigkeit treffen werden, also auf eine Kombination von Entfremdung und Nützlichkeit. Dazu ein Beispiel: Heute muss ich mich persönlich nicht um die gesellschaftliche Regulation kümmern. Über Markt, Geld, Politik usw. läuft sie hinter meinem Rücken ab. Das ist Entlastung und Hölle zugleich. Wie muss also eine gesellschaftliche Regulation beschaffen sein, die ihren individuell entlastenden Charakter behält und gleichzeitig ihre existenzielle Drohung - »Wenn du dich nicht erfolgreich verkaufst, steigst du ab« - verliert? Die akademisch und finanziell gebundenen Wissenschaften können solche wirklich existenziellen Fragen überhaupt nicht stellen.

Aber gibt es nicht bereits Alternativprojekte, teilweise sogar mit wissenschaftlicher Unterstützung? Ich denke da etwa an Biohöfe...

(17) Stefan: Ja, die gibt es, und ich will nicht, dass sie verschwinden. Nur haben die gängigen Projekte nicht viel mit gesellschaftlichen Alternativen zu tun. Sie müssen sich auf dem Markt bewähren, etwa mit landwirtschaftlich-handwerklicher Produktion, um ihr Projekt zu erhalten. Und sie bieten keine Perspektive, weil das agrarisch-handwerkliche Niveau der Produktivkraftentwicklung historisch hinter uns liegt und nicht vor uns. Auch deswegen reichen die Hightech-Projekte der Freien Software viel weiter. Die Produktionsmittel wurden zwar irgendwann einmal gekauft, doch die stehen auf dem Schreibtisch und die Produkte gehen über das Netz. Auch sind die im Bereich der Freien Software entwickelten Kommunikations- und Regulationsformen wesentlich interessanter. Sie haben globalgesellschaftlichen Charakter und führen praktisch vor, was es heißt, sich gesamtgesellschaftlich zu organisieren und zu planen. Ein Beispiel für Selbstplanung statt Zentralplanung.

(18) Was ihr fordert, ist eigentlich die absolute Zumutung. Die Leute sollen erstens verstehen, dass die Entwicklungspotenzen des Kapitalismus ausgeschöpft sind, sollen zweitens einsehen, dass daran die klassische Form des Einflusses - Reform oder Revolution - nichts ändert, sollen drittens eine Alternative befördern, die im Moment vor allem daraus besteht, was alles nicht mehr sein wird, und sollen viertens akzeptieren, dass es keinen unmittelbaren Sprung ins Paradies gibt - wer soll das aushalten?

(19) Stefan: Das ist eine gute Frage, eine verdammt ernste, sehr persönliche. Ich vermute, dass es darauf sehr viele unterschiedliche Antworten gibt, auf jeden Fall keine allgemeine. Zunächst gehört sehr viel dazu, die Wirklichkeit offen wahrzunehmen. Wenn du einmal nüchtern siehst, was sich da abspielt, steht sofort die Frage nach der persönlichen Handlungsalternative im Raum. Wenn die nicht auf der Hand liegt und ich mich nicht 'vertrösten' kann auf später, auf die Revolution, die richtige Regierung oder sonstwas, dann ist es eine wahre Heldentat, der Wahrheit so ins Auge zu schauen. Diese Erkenntnis bedeutet nämlich einzusehen, dass ich das Gegebene unmittelbar nicht verändern kann bzw. alles, was in Reichweite meiner Möglichkeiten liegt, nicht wirklich die Grundlagen der Warengesellschaft berührt. Gesellschaftliche Größenordnung erreicht meine Einflussnahme nur im Zusammenschluss mit Anderen, die gleichfalls eine gesellschaftliche Alternative zur Verwertungs- und Erniedrigungslogik des Kapitalismus anstreben. Zum Erkennen gehört, dass die gesellschaftliche Alternative nicht in den bzw. vermittels der bestehenden Formen geschaffen werden kann, sondern nur jenseits von ihnen. Um zu leben, muss ich mich aber gleichzeitig darin bewegen und muss alte Formen aktiv reproduzieren. Als Agent meines eigenen Lebens muss ich ein Doppelleben führen, muss die Schizophrenie aushalten, dass es nichts Richtiges im Falschen gibt. Ich muss permanent Falsches tun, um überhaupt die Möglichkeiten für Richtiges zu schaffen. Garantien habe ich für nichts. Das Richtige kann sich als falsch erweisen. Die Grenzen sind fließend. Trotzdem kann ich mein persönliches Projekt anpacken. Niemand hindert mich, ein Doppelleben zu führen oder mich alimentieren zu lassen oder diesen Widerspruch auf irgendeine andere Weise aushaltbar zu machen.

(20) Uli: Das ganze Leben ist eine Zumutung. Ich bin eine, vor allem mir selbst gegenüber [lacht]. Aber ernsthaft: Die bürgerliche Gesellschaft verbaut einem zunehmenden Teil von Menschen die Möglichkeit, in und von ihr einigermaßen zu leben. Auch immer mehr Leute in den Metropolen fallen da einfach raus - und kein höheres Wesen wird sie halten, schon gar nicht der Staat. Sie geraten zunehmend in die Situation von Menschen der so genannten Dritten Welt. Dort zerschlägt die Kapitalisierung die traditionellen Lebensstrukturen, aber anders als in der westeuropäischen Geschichte kann ihnen der Kapitalismus keine neue Lebensperspektive bieten. Und in den Metropolen ist es in dieser Hinsicht fast noch schlimmer, weil die Zerstörung dieser traditionellen Strukturen schon viel länger zurückliegt. Das Problem ist globalisiert: Kapitalförmigkeit und Leben werden zu Gegensätzen, die einander ausschließen. Ob das nun die Wasserversorgung, das Gesundheitswesen oder den Transport betrifft - die Reihe der Beispiele ist endlos.

(21) Nun fordert aber die gleiche Verwertungslogik von einem kleinen Teil von Menschen - gerade in den Hightech-Bereichen, in Design, Unterhaltung usw. - Fähigkeiten, die ihre ganze menschliche Substanz berühren: kooperative, wissenschaftliche, künstlerische, spielerische. Was in der bürgerlichen Form der pure Horror ist: du musst dich buchstäblich mit Herz und Seele auf dem Markt verkaufen, das ist zugleich eine wunderbare Kraft, die den menschlichen Traum verwirklichen kann: Mit wenig und dann auch noch interessanter Arbeit über einen großen sachlichen Reichtum verfügen! Diesen Reichtum in die Wert- und Herrschaftsform, in die bürgerliche Rechtsform zu pressen, ist nicht nur widersinnig. Es ist auch ein Problem für die kapitalistische Produktionsweise, die diesen Widerspruch nicht mehr beherrschen kann. Marx sagte das in den »Grundrissen«[2] glänzend voraus, und André Gorz[3] entdeckt genau dies in der Wirklichkeit von heute. Die Gleichzeitigkeit dieser menschlichen Kraftentfaltung und der zunehmenden Unmöglichkeit, vom Kapitalismus leben zu können - in den 'Metropolen' wie in der 'Peripherie' - das drängt zum Bruch, zu Lösungen, und die können wir beim besten Willen nicht voraussagen. Wir stecken mitten drin in dieser Widersprüchlichkeit. Ob bewusst oder nicht, uns, die wir ja mit unserem Leben ganz verschiedenen Praxen, Projekten angehören, den wertförmigen und denen ganz anderer Logik, uns zerreißt es bald. Also nicht wir fordern, nicht wir stellen Zumutungen auf, sondern das Leben selbst tut es.

Ihr habt ein »persönliches Projekt« vorgeschlagen, könnt ihr dafür Kriterien nennen?

(22) Stefan: Einige habe ich bereits genannt: Verwertungsfreiheit, Marktfreiheit, Politikfreiheit, Herrschaftsfreiheit. Das verstehe ich als Ziele, als Orientierungspunkte für das Handeln. Kein Projekt hat das in Reinkultur. Finanzen müssen sichergestellt, Interessen wollen politisch durchgesetzt sein etc. Wichtig ist mir, dass es sich wirklich um je mein Projekt handelt und nicht um irgendeines da draußen, von dem ich mich auch wieder verabschieden kann. Aus meinem Projekt kann ich nicht einfach abhauen. Ich muss mich schon ernsthaft der Verantwortung stellen: Ziehe ich das jetzt durch oder lasse ich es bleiben. Alles hängt von mir ab, ich entscheide, es ist mein Projekt, es ist mein Leben.

(23) Im Zentrum steht für mich auf jeden Fall die Selbstentfaltung. Das bedeutet, genau das zu tun, was für mich das Richtige ist, was mir gemäß ist, was mein Projekt ist. Gleichzeitig - und das ist zentral für die Selbstentfaltung - muss ich leibhaftig kapieren, dass meine Entfaltung die der Anderen voraussetzt. Das erste Moment, das Entfalten der Persönlichkeit, wird durchaus von den diversen Esoteriken angesprochen und damit, wenn man so will, wieder in Warenform gebracht. Das ist natürlich voll kompatibel mit der Logik bei IBM, die sagt: »Tue was du willst, Hauptsache, du bist profitabel«. Aber genau da liegt eben auch der Unterschied von Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung: Selbstverwirklichung kann ich kaufen, sie ist begrenzt, setzt auf eine imaginäre 'Eigentlichkeit' des Menschen, die verwirklicht werden will, sein 'wahres Wesen' etc. Selbstentfaltung hingegen geht von einem dynamischen Prozess aus, in dem jedes erreichte Ziel Voraussetzung für neue Entfaltungsschritte ist. Dabei geht es nicht bloß um das 'produktive Schöpfen', also eine Art verklausulierten Produktivismus. Das menschliche Leben ist in seinen Entfaltungsformen unbegrenzt und unendlich vielfältig, das können kulturelle, genießerische, kommunikative, aber eben auch produktive Formen sein. Die Warengesellschaft kann so etwas nur in der Warenform vermitteln, also zu den Leuten bringen, die es dann 'kaufen' müssen, um es zu bekommen. Eine freie Gesellschaft ist in der Vermittlung - wenn man so will - unmittelbarer: von Mensch zu Mensch. Wenn die Leute massenhaft im Sinne der Selbstentfaltung 'ihr Ding machen' würden - ohne auch nur irgend etwas sonst zu ändern -, dann sähe es hier schon ganz anders aus. So hat leider das Persönliche stets nur den Charakter eines 'Hobbys', für das ich eben nur genug Geld brauche, um es verwirklichen zu können - oder, was das Ideal vieler Leute ist: den Charakter eines 'zum Beruf gemachten Hobbys'. Dass dieses Ideal zum Höllentrip werden kann, merken viele erst später.

Wie sieht das denn bei euch aus, was ist euer persönliches Projekt?

(24) Stefan: Ich habe mich entschieden, bei der Gewerkschaft ein dreijähriges Projekt im Bereich Freier Software durchzuziehen. Ich tauche damit tiefer ein in die Widersprüchlichkeit zwischen Verwertungslogik und Entfaltungsmöglichkeiten als früher. Nach zwei Jahren haben sich meine Erwartungen weitgehend bestätigt - Paradies und Hölle liegen eng beieinander! Mein gut gefülltes Arbeitszeitkonto ermöglicht mir anschließend eine längere Auszeit. Dann werde ich mich wohl wieder intensiver mit der Informationstheorie und dem 'Informationskapitalismus' beschäftigen. Das alles ist mir möglich, weil ich mich vor Jahren zur Teilzeitarbeit entschlossen habe. Mein Projekt ist es also - ganz unbescheiden -, Denkformen zu entwickeln, die uns denkend, fühlend und ganz praktisch aus dem Kapitalismus herausbringen. Es ist allerdings furchtbar schwer, eigene Erfahrungen, dass es auch anders geht, so zu erklären, dass auch Andere daraus 'Honig saugen' können. Die meisten schaffen es nicht, anders zu denken, weil sie keine anderen Erfahrungen gemacht haben, weil sie also nicht erahnen können, wie es sich anders anfühlen könnte. Diese Ahnungen, wie ich sie etwa aus der Freien Software kenne, braucht man aber, um aus den ewig gleichen Denkformen aussteigen zu können, um es anders zu machen, um neue Erfahrungen zu sammeln usw. - der Kreis schließt sich also.

(25) Uli: Mein Projekt? Ich bin mit den Großprojekten, mit den Entwürfen von Avantgarden - welcher Art auch immer - sehr vorsichtig geworden. Mein Projekt: Ich lasse mich auf Leben ein, im ganz unmittelbaren Sinne, und ich betreibe Theorie in Bezug auf die dabei gesammelten Erfahrungen. Das heißt, ich versorge Kinder, betreue die Urgroßmutter, handwerkele, kämpfe gelegentlich mit Kartoffeln, Obst und Gras, organisiere gemeinsame Ferien für Verwandte und Freunde aller Altersklassen, aber auch Exkursionen etwa zu Orten, an denen die innere Logik eines normalen Kapitalismus besonders auffällig wird, und ich mache Seminare zu Fragen, die in meinen Lebens- und Diskussionskreisen drängend erscheinen. Das ist spannend, oft aber sehr ernüchternd, vor allem wenn ich sehe, wie viele tolle Menschen allergrößte Schwierigkeiten haben - trotz aller materiellen Möglichkeiten und trotz ihres ausgeprägten Wunsches danach -, sich in dieser Weise auf Menschliches einzulassen. Ich will es, zusammen mit ein paar anderen Leuten, auch einmal auf den Begriff und vielleicht auch in Form von Erzählungen bringen, in welchen Praxisformen diejenigen subjektiven Voraussetzungen wachsen können, die für die Konstitution einer neuen Gesellschaft unverzichtbar sind. Ich arbeite mich dabei wieder an den widersprüchlichen Kommunismusvorstellungen von Marx - er bleibt offenkundig der größte Herausforderer - ab und an den unabgegoltenen Hoffnungen von Dostojewski bis ... [macht eine Geste mit der Hand und lacht].

Wie kann ich mir den Alltag gestalten, ohne mich darin schon derart aufzubrauchen, dass mir keine Kraft mehr bleibt für mein »persönliches Projekt«?

(26) Stefan: Zunächst finde ich es wichtig, dass die Spaltung der Gesellschaft in eine - meistens Frauen zugewiesene - private Sphäre und eine immer noch vorherrschend von Männern bestimmte öffentliche Sphäre nicht noch einmal individuell reproduziert wird. Also etwa nach Art der Politmacker, die zu Hause ihr Weibchen sitzen haben, das fürs Wohlfühlen zuständig ist - wobei die Geschlechter da ja im Grunde sozial definiert sind und inzwischen sich durchaus von den biologischen Geschlechtern unterscheiden können. Diese Konstellation ist übrigens kein Privileg der heterosexuellen Beziehung. Das andere Extrem, alle gesellschaftlichen Zusammenhänge auszublenden, die Suche nach dem Glück im bloß privaten Bereich, das haut genauso wenig hin.

Warum, es findet doch massenhaft statt?

(27) Stefan: Ja, aber es macht nicht glücklich. Die 68er und folgende Bewegungen brachen aus der privaten Enge des vermieften Sumpfes des Hochfordismus und seiner sozial-kulturellen Stagnation aus. Danach wurde so ziemlich jede Variante eines Weges zum Glücklichsein ausprobiert - vom Polit-Kader über die Eso-Sekte bis hin zum Eigenheim oder zum Minister. Diese inzwischen historischen Erfahrungen sind heute sehr präsent: Irgendwie bringt es das alles nicht. Und das bedeutet für mich individuell ein Dilemma: Es gibt keinen Trick zum Glücklichwerden. Das liegt ganz einfach daran, dass ich nun einmal ein gesellschaftlicher Mensch bin, der seine Individualität und Persönlichkeit nur gesellschaftlich entfalten kann. Die Warengesellschaft kennt aber nur die isolierten Einzelnen, die erst über den Markt in eine soziale Verbindung zu Anderen treten. Diese Vermittlung über Arbeit, Geld und Konsum bleibt immer unbefriedigend, weil sie mir nicht wirklich erlaubt, meine Gesellschaftlichkeit zu leben. Und hier genau liegt auch der Unterschied von Verwirklichung und Entfaltung.

Jetzt weiß ich aber immer noch nicht, was man anders machen kann...

(28) Stefan: Mein Vorschlag ist, den Verhältnissen - und zwar den individuellen wie auch den gesellschaftlichen - möglichst klar ins Auge zu blicken und sich nichts vorzumachen. Leichter gesagt als getan, wirst du sagen. Klar, es gibt Myriaden von Fallen, und es gibt ein nachvollziehbares Bedürfnis, die eigene Gesellschaftlichkeit dadurch zu leben, dass ich in den Formen der Gesellschaft aufgehe. Bildhaft gesprochen steht die Gesellschaft permanent vor mir und legt mir bestimmte Dinge nahe: Kaufe das, denke jenes, heilige die Arbeit, steche deinen Konkurrenten aus usw. Es anders zu wollen, heißt, den nahe gelegten Formen zu widerstehen und andere zu erfinden, es jeden Tag anders zu machen - ohne sofort das Ganze ändern zu können. Ich habe das vorher spielerisch »Sein-eigener-Agent-sein« genannt.

(29) Aber ich gebe dir ein Beispiel für ein solches 'Nahelegen': Alltäglich wird Anpassung nahe gelegt. Anpassung wechselt zwischen aktivem Eingehen auf gesetzte Forderungen und widerstandslosem Hinnehmen von Angebotenem: Die 'richtige' Antwort bei einer Prüfung geben; nicht widersprechen im Angesicht der Demütigung Anderer; sich erfolgreich in der Warteschlange für Konzerttickets nach vorne drängeln; im unsäglichen Hollywood-Film bei der Rettung der Familie berührt sein; durch eine besonders gelungene Bemerkung andere blass aussehen lassen; und unendlich mehr. Die Frage ist hier nicht 'falsch oder richtig', es geht nicht um Verhaltensvorschriften. Es kann klug oder dämlich sein, sich auf Kosten anderer durchzusetzen. Das ist keine moralische Frage! Entscheidend ist jedoch, wie ich mich selbst zu meinen eigenen Handlungen und Gefühlen stelle: Rechtfertige ich sie als 'richtig' oder weiß ich, dass mein Handeln unter anderen Bedingungen so nicht sein müsste. Fange ich an, das ideologische Konstrukt, das mit den Gefühlen im Film transportiert wird, zu akzeptieren oder weiß ich um seine Falschheit und Verlogenheit. Der wesentliche Schritt der Anpassung findet also nicht im praktischen Tun statt, sondern vollzieht sich im Kopf. Meistens ist das auch kein abrupter, sondern ein schleichender Übergang vom »Ich konnte ja nicht anders« bis zum »Das ist genau richtig so«. Ich plädiere also für Sensibilität sich selbst und Anderen gegenüber. Wahrnehmen statt Wegblenden, sich zu den eigenen Handlungen verhalten, anstatt sie zu rechtfertigen, die Bedingungen ansehen, anstatt in Begriffen von Schuld zu denken und zu personalisieren. Auch wenn ich hier immer vom Einzelnen, von mir, spreche, ist das keine bloß individuelle Angelegenheit. Das Besondere ist jedoch, dass ich das Denken dieser Ambivalenz individuell vollziehen muss. Das nimmt mir keiner ab. Projekte, Gruppen und Freunde können sehr hilfreich sein, um diese Dilemmata herauszufinden, aber das setzt sehr viel Vertrauen voraus. In der Regel sind linke Gruppen und Projekte so aber nicht 'gestrickt'.

(30) Uli: Für den, der Alternativen sucht, ist es geradezu eine existenzielle Frage, sich in der Weise, wie das Stefan beschreibt, wirklich auf Menschen einzulassen. Es geht um gemeinsame Lebenspraxen, die nicht nur eigenes widerständiges Fühlen und Denken stützen, sondern wenigstens teilweise auch einen materiellen Rückhalt geben - und sei es die Sicherheit, eventuell vorhandene Kinder versorgt zu sehen und zugleich Freiheiten für Kultur und Leidenschaften zu haben. So etwas läuft in meiner Gemeinschaft, in der ich lebe. Ohne solche Rückhalte, die natürlich auch ihre Zwänge setzen, geht es nicht. Anderenfalls läuft die 'Alternativ-Geschichte' nach dieser Logik ab: Nimm an, du bist ein junger Mensch, geistvoll, ambitioniert, weltoffen. Nimm weiter an, du kennst das Establishment von innen, hast dich daraus gelöst, bist aus der Kirche ausgetreten usw. Dies mit einem tiefen Verständnis, das heißt mit einem wirklichen Begreifen der Zusammenhänge. Du denunzierst also nicht einfach - wie manche 68er ihre Eltern (um dann heute selbst ein ganz ähnliches Leben zu führen) -, du hast eine Ahnung, was die 'Aufhebung' dieser Verhältnisse bedeuten könnte. Als Studentin oder Student läuft deine Lebensweise etwas neben dem Mainstream, deine konkreten menschlichen Beziehungen auch. Du scheinst auf einem guten Weg zu sein: Mit anderen zusammen wirst du ein alternatives Leben gestalten. In deinen Geschichten erzählst du schon das Ende dieser Gesellschaft, in der Theorie den Beginn von etwas Neuem. Dann sind die ersten akademischen Hürden genommen, glänzend. Du hast dir einen Fundus an wunderbaren Gedanken aufgebaut: Welt, ich komme! Auf Massen musst du wirken, denkst du, treiben sie in ihrer Verblendung doch in üble Richtungen. Wie bringst du ihnen deine Gedanken nahe? Über die Medien, du kannst wunderbar schreiben, gut reden. Also weiter. Arbeiten, arbeiten. Geld verdienen, Zumutungen hinnehmen, Positionen erringen, um wirksam zu werden. Auf Menschen einlassen? Ja, du hast viele Bekannte, verschiedene Kreise. Diese für das eine Bedürfnis, jene für das andere. Von menschlichen Vereinnahmungen, von unmittelbarem Leben darfst du dich nicht fesseln lassen. Du musst freizügig bleiben, Hemmendes schnell abwerfen, Anderes und Andere klug nutzen. Das ist nicht einfach. Manches ist auch schade. Das und das brauchst du dann noch, um für die guten Zwecke zu wirken usw. Der Erfolg, wenn er denn eintritt, ist jedoch das blanke Elend: Du bist Establishment, ein modernisiertes natürlich. Herrschaftsförmig, indem du entsprechende Strukturen einsetzt und sie rationalisierst, wirst du Menschen führen - zu ihrem Besten selbstverständlich. Dabei wolltest du doch mal die bürgerliche Position verlassen, die, nach der »ein Geist für tausend Hände« genügt - du kennst ja deinen Goethe. Mit oder ohne Marx hattest du auch vom menschlichen Standpunkt geredet, nach dem die Gesellschaft eben nicht in zwei Teile gespalten sein müsste, von denen der eine über den anderen erhaben wäre, Erzieher und Zögling und so, Herr und Knecht.

Ja, seit 30 Jahren und noch länger: immer das Gleiche, wenn du's so betrachtest. Aber nicht die eigenen Fähigkeiten ausprägen, nicht Geld verdienen, nicht auf Menschen wirken wollen - wie soll das anders gehen?

(31) Uli: Das Mittel, die bürgerliche Form des Wirkens, wird zum Zweck. Das ist das Problem. Du hast gar keine Chance, von diesen Verhältnissen nicht aufgesogen zu werden, wenn du dir nicht eines schaffst: Gemeinschaften, die dich menschlich tragen, die nicht in diesen Formen funktionieren, in denen du vielmehr menschlich, geistig, praktisch herausgefordert bist. Hier menschliche Vereinnahmungen - das ist ja mit einem Zuwachs an Freiheit durchaus vereinbar, allerdings nicht in der Sicht des bürgerlichen Individuums -, dort Verwertungs- und Herrschaftslogiken. Du lebst in einem tiefem Widerspruch, aber eben in einem, den du bewusst annimmst und den du in deinem begrenzten Bereich beherrschen kannst. Hast du das nicht, solltest du aus menschlichen Gründen eher froh sein, wenn dir eine solche Karriere nicht gelingt. Das ist noch nicht die neue Gesellschaft. Doch ohne solche Hintergründe kriegst du jene gar nicht ins Blickfeld.

Sieht es in den real existierenden Projekten und Polit-Gruppen nicht ähnlich trostlos aus wie im Rest der Gesellschaft?

(32) Stefan: Ja, das stimmt. Wenn die totalitäre Warengesellschaft dich nicht schon zur Minna gemacht hat, dann tut es bestimmt das Alternativprojekt - so ungefähr jedenfalls. Das ist ja das Grauenvolle: Wir reproduzieren in unseren Projekten die gleiche Scheiße, von der wir eigentlich weg wollen. Warum auch sollte es anders sein, es sind schließlich keine besseren Menschen, die da aktiv sind. Dennoch ist es kein Naturgesetz, dass wir uns auch dort noch als Konkurrenten gegenseitig zusetzen. Wir müssen - wie so vielen Mist - auch das zum Thema machen. Da gibt es eine Reihe von Vorschlägen. Etwa Christoph Spehrs »Freie Kooperation«, der zwar ein merkwürdiges Gesellschaftsmodell zugrunde liegt, in der aber ganz praktische Regeln für den Fall des Scheiterns von Projekten aufgestellt werden. Oder die erwähnte Bewegung Freier Software, die jenseits der Warenform mit Software die Welt verändert. Oder die Stiftung »FreiRäume«, die sich zum Ziel gesetzt hat, Eigentumsrechte zu liquidieren, die im Fall des Scheiterns in diesen Projekten dazu benutzt werden, um sich gegen Andere durchzusetzen - denn viele davon sind Schönwetterprojekte. Was aber passiert im Fall des Scheiterns? Hier hat die 'Linke' mit ihren Spaltungen historisch eine reichhaltige Erfahrung aufzuweisen - ohne daraus zu lernen allerdings.

(33) Wie man das Scheitern gleich von vornherein in die Projektkonstruktion einbaut, zeigt die Freie Software. Hier gibt es den »Fork«, die Projektspaltung, als reale Handlungsoption. Da alle Produkte frei verfügbar und als digitale Produkte schnell kopiert sind, kann jede und jeder alles mitnehmen, das Projekt spalten und eine eigenständige Entwicklungsrichtung einschlagen. Die entscheidende Frage: Wie viele Menschen gehen meinen abgespaltenen Weg mit? Ist meine Begründung der Abspaltung so überzeugend, dass ich genügend personale Ressourcen, also Menschen, die etwas im Projekt tun, anziehe, sodass eine erfolgreiche Entwicklung klappen kann? Oder ist es vielleicht Erfolg versprechender, innerhalb des Projektes die Entwicklungsrichtung zu beeinflussen? Diese Abwägung ist das Regulationsmoment in freien Projekten. Deswegen kommt es nicht sehr häufig zu Forks, und wenn, dann passiert es nicht selten, dass die getrennten Wege wieder zusammenführen oder weiter nebeneinander bestehen und eine gute Kooperation aufgebaut wird. Sich bis aufs Messer zu bekämpfen, wie in der Linken üblich, kommt wirklich sehr selten vor, es ist einfach unsinnig.

In der Linken gibt es ja auch gewisse Regulationsformen, das läuft dann meistens unter 'Basisdemokratie'?

(34) Stefan: Ja, und manchmal wird dieser Begriff der Basisdemokratie auch der Freien Softwarebewegung übergestülpt - aber das machen Leute, die keinen anderen Begriff haben für das, was in der Freien Software passiert. Im Grunde ist das genauso unbeholfen wie die häufig anzutreffende Eigenzuschreibung des »benevolent dictatorship«, also der »gütigen Diktatorenschaft«. 'Demokratie' und 'Diktatur' sind Begriffe der bürgerlichen Gesellschaft, die beide nicht auf die Freie Software passen, genauso wenig wie das 'Rätemodell'. Das sind alles Modelle, die im Kern von der Interessen-Stellvertretung ausgehen: Diktatoren, Mandatsträger oder Räte vertreten meine Interessen. Dass individuelle Bedürfnisse zu kollektiven Interessen mutieren, ist in diesen Modellen stets verankert. Es erscheint geradezu unvorstellbar, dass Menschen ihre Bedürfnisse auch selbst artikulieren und Formen finden, in denen sie danach handeln können. Doch nur dann - und das ist der Witz - wird Individualität zur unmittelbaren Produktivkraft.

(35) Um es noch einmal drastisch zu sagen: Die bürgerliche Gesellschaft braucht Demokratie oder verwandte Regulationsformen, weil sie auf dem Prinzip der sich ausschließenden, konkurrierenden Partialinteressen beruht. Hierbei muss reguliert werden, welche Partialinteressen sich durchsetzen. In diesem Regulationsmodus ist die ganze Palette struktureller Erniedrigung und Ausgrenzung angelegt, denn es gibt immer Unterlegene. Rassismus, Sexismus, Homophobie usw. sind Erniedrigungsformen zur Erhöhung der eigenen Lage, sie sind nicht das Gegenteil von Demokratie, sondern ihr Ergebnis.

Aber es gibt doch immer Meinungsverschiedenheiten, wieso soll man darüber nicht auch abstimmen?

(36) Stefan: Abstimmungen sind doch nicht das Problem, natürlich kann man auch mal abstimmen. Demokratie ist aber nicht bloß 'Abstimmen', sondern eine geronnene Regulationsform zum Austragen von Partialinteressen, zur Entscheidung der Frage, welche Mehrheit welche Minderheit gerade unterbuttern 'darf'. Wenn du beispielsweise im Debian-Projekt[4] über eine bestimmte Frage abstimmst, dann hat diese Abstimmung einen völlig anderen Charakter. Hier wird niemand ausgegrenzt. Im Extremfall, wenn dir das Ergebnis partout nicht passt, gibt es den Fork: Du gehst raus und nimmst alles mit. Okay, das ist im Fall der Freien Software ein Sonderbereich, weil man quasi kostenlos die digitalen Produkte kopieren kann. Aber es ist auch dringend nötig, dass wir mal in einem Sonderbereich andere Lösungen als die üblichen ausprobieren können, anstatt immer wieder das Alte zu reproduzieren. Und es zeigt sich, dass man unter den Bedingungen der Abwesenheit von Partialinteressen die unterschiedlichen individuellen Bedürfnisse ganz anders kommuniziert und reguliert bekommt - durchaus unter Nutzung von Werkzeugen, die auch in Demokratien verwendet werden, aber nicht mit Demokratie als Form. Wer Demokratie braucht, hat schon verloren.

Noch eine Frage zum Abschluss: Welches Buch lest ihr gerade und könnt ihr es empfehlen?

(37) Stefan: Ich lese gerade »Im Takt des Geldes« von Eske Bockelmann[5] - ein unglaublich spannendes und unbedingt empfehlenswertes Buch über den Umbruch der Denkformen der Menschen zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Bockelmann zeigt auf sehr genaue Weise, wie die Verallgemeinerung der Warenform in Europa noch unter feudalen Bedingungen das Fühlen und Denken der Menschen radikal veränderte. Er zeigt wie das »materiale Denken« der Antike und des Mittelalters durch ein inhaltlich entleertes »funktionales Denken« abgelöst wurde. Das findet man von der Musik - er zeigt es am Beispiel des Taktes - bis zur Entstehung der modernen Wissenschaften. Zwei Dinge finde ich daran faszinierend: Erstens zeigt der Autor, dass Menschen keinesfalls immer so gedacht haben wie die Menschen heute. Damit können viele Zuschreibungen in der Art von »die Menschen sind nun einmal so« als großer Unfug erkannt werden. Zum Beispiel konnten die Menschen 'Wert' als ein von jeder Substanz entbundenes Abstraktum, was heute jedes Kind schon im Kindergarten lernt, nicht denken. Daraus folgt dann zweitens, dass die Menschen zukünftig nicht immer so denken und handeln müssen, wie sie es heute tun. Der gesellschaftliche Umbruch, in dem wir derzeit leben, bietet auch Chancen für einen Umbruch des Denkens.

(37.1) so, wie die Menschen, so wie immer, sowieso gedacht haben:, 06.11.2005, 18:06, Uvvell H:W:Berger: hier mal in eine Wiki diskussion verlinkt...
http://coforum.de/index.php4?Identit%E4t
Die Entwicklungsbeteuerungen [keinesfalls immer so] hinken. Da ließe sich zum Beispiel der Traum und seine S.Freud-mäßige Verwissentschaftlichung (verwortung) mit Bedeutungsverfrachtung am Träumenden sowie Lebenden verfolgen.

Außerdem gibt es einen Untschied zwischen 'denken' und 'in Worten ausdrücken', bzw. 'in Metaphern vermitteln' können.
es müßten denn heißen, daß die Menschen keineswegs immer so denken sollten (wie der logistiker heute verknappen kann). Aber diese Gedanken sind frei, das sieht man an der Mühe der Vordenker.

Es ließ sich in der Antike auch der Wert der Worte denken und berechnen. Doch warum die Menschen so handeln müssen (wie sie es heute tun), da werden sie nur selbst drauf kommen.
.
verändert wird nur die Bereitschaft: seinen Elektrolythen-Haushalt - mit den Angeboten, mittels denken-fühlen-wollen sich zu erglauben. Sich etwas verbieten ist das einfachste, was der NachDenker sich vorstellen kann, aber er kann es nicht kontrollieren.
Umbruch ist wohl auch dem bäuerlichen Pflugverhalten verschuldet, das bietet dem Todesstreifen und dem Harken vor der eigenen Tür die Chance endlich mal wieder das "Für und ansich" zu erfahren.
phönizisches umBrecht aus dem Oder Bruch. betroffen
Weil, wo ein Wort lautet, da~ad ,tetaul troW nei ow ,life

(38) Uli: Ich lese gerade Partituren der allereinfachsten Art. Ich dilettiere seit ein paar Monaten am Klavier. Ein Freund, der auch Klavierlehrer ist, bringt in unsere Diskussionen über mögliche Wege aus dem Kapitalismus immer wieder Analogien aus der Musikgeschichte ein - wie da Neues sich im Alten ankündigte, wie es - etwa bei Schönberg - plötzlich zu sich kam. Er meint, das könnte sogar ich begreifen [lacht]. Nachdem ich vor 100 Jahren mal rechter Flügelmann im Spielmannszug war und wir Menschen zum 1. Mai zu schmissigem Schritt verhalfen, will ich das jetzt wissen. Verrückt, nicht wahr?

(38.1) 10.12.2005, 18:44, Uvvell H:W:Berger: das Do, Re, Mi, antiFa, Solitär, La, Si - der Dorer - der Donau - Dur und Moldau ;
Don dominante Melodie Minorietät(er), im Fluss wohltemperiert und ohne Disonanzfähigkeit, schon die Septime ist das höchste der gefühlten Temperatur. Aber in der Geometrie gibt es nicht nur Maße, sondern auch Meßbecher und Maßstäbe.
Was wäre, wenn auf den Waagen nur noch ganz einfache Gewichte gegeneinander abgewogen werden, ohne damit irgendetwas iks-beliebiges zu handeln und erzählen. Kein "darf´s ein bißchen mehr sein" mehr an der Kassenwaage; und ein Grunzen hört sich nur bei ganzen Unzen. "qui á change ma chanson?"

Anmerkungen

(39)
[1] Oekonux steht für »Oekonomie & Linux« und ist ein Projekt, das die Frage der gesellschaftlichen Verallgemeinerbarkeit der Prinzipien Freier Software diskutiert. Vgl. www.oekonux.de
[2] Marx, Karl (1974): Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin.
[3] Gorz, André (2004): Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie. Zürich.
[4] Das globale Debian-Projekt entwickelt die gleichnamige GNU/Linux-Software. Vgl. www.debian.org
[5] Bockelmann, Eske (2004): Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens. Springe, zu Klampen!


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