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Zahnschmerzen in philosophischer und politökonomischer Rücksicht

Maintainer: Konrad Stoeber, Version 2, 24.01.2007
Projekt-Typ:
Status: Archiv

Das Problem

(1) Ich habe Zahnschmerzen. Ein kariöser Zahn signalisiert damit mir als Subjekt, was immer auch darunter zu verstehen ist - über einen meiner Sinne, Schmerz sein gegenständliches Dasein als Objekt. Der Zahn war sicher schon vorher da, aber als Objekt ist er mir ein anderer, als er es war, bevor er mir zum Objekt wurde. In schöner Selbstverständlichkeit war er, bevor er anfing zu schmerzen, Teil meiner selbst wie Herz, Magen, Arme und Beine, Teil meines Daseins als natürlicher Mensch.

(1.1) Subjektauffassung, 03.02.2007, 03:52, Claudia van Beilen: Dies erscheint mir als spezielle Auffassung von sich selbst als "Subjekt". Es ist enthalten: Ich bin Subjekt nur, insoweit ich meinen Körper entweder gar nicht oder lustvoll merke. Das Leidbringende trenne ich als Objekt von mir ab. Wie sich später im Text zeigen wird, ist diese Abtrennung kompatibel zur Entsubjektivierung des Körpers durch die Schulmedizin. Wenn ein Mensch sich als Subjekt anders begreift als im Text dargestellt, kann er/sie Schulmedizin als gewalttätige Angelegenheit empfinden. Die Entsubjektivierung des Körpers bei medizinischen Behandlungen, wenn einE PatientIn sie nicht selbst vornimmt, kann als schmerzvoll erlebt werden.

PS: Wegen einer technischen Eigentümlichkeit steht über diesem Beitrag Claudia (die zeitgleich angemeldet ist). Ich bin Maike.

(1.1.1) Re: Subjektauffassung, 05.02.2007, 14:20, Konrad Stoeber: Ich habe, wenn ich Zahnschmerzen habe, gar nichts von mir abgetrennt. Wenn Du so willst, ist mir mein Zahn durch das unerfreuliche Wirken von Bakterien abgetrennt worden. Mein Zahn und ich bilden eben keine Einheit mehr.

(2) Nun hat der Zahn sich selbständig gemacht. Er ist nicht mehr mein Zahn. (Hier eine Zweckrationalität bei der Konstituierung von Objekten zu unterstellen, stellt das wirklichen Verhältnis nachgerade auf den Kopf.)

(3) Meine Zahnschmerzen okkupieren alle meine Sinne. Ich kann an nichts anderes mehr denken als an meinen Zahn. Damit bin ich borniert, ich habe eine eingeschränkte Wahrnehmung, habe jede Menge Vorurteile, weil ich alles nach Maßgabe meines schmerzenden Zahnes beurteile. Ich habe keinen Sinn mehr für ein gutes Buch - es interessiert mich nicht, gutes Essen (schon gar nicht), Trinken - ich habe keinen Durst, Brahms - ergibt unschöne Resonanzen mit meinem Zahn, ein interessantes philosophisches Gespräch mit guten Freunden - ich habe keine Freunde, ich habe nur noch einen schmerzenden Zahn.

(3.1) Borniertheit, 03.02.2007, 03:57, Claudia van Beilen: Weshalb ist die Konzentration auf ein gutes Essen weniger borniert als die Konzentration auf einen Zahnschmerz? (Maike)

(3.1.1) Re: Borniertheit, 05.02.2007, 14:22, Konrad Stoeber: Missverständnis, denke ich. Ich habe geschrieben, dass ich keinen Sinn für gutes Essen habe. Ein Ausgehungerter hat einen bornierter Sinn gegenüber (gutem) Essen. Für den Hungrigen ist nicht interessant, ob gutes Essen oder nicht, für ihn zählt nur das abstrakte Dasein der Speise, eben nicht die Vielfalt der Sinne, die durch gutes Essen angesprochen werden. Er hat nur einen Sinn: Hunger, ein Interesse: Essen.
Viel beser bei Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte MEW, EB I, 541 f.
Um bei meinen Zahnschmerzen zu bleiben, ich habe nur einen Sinn: Schmerz, nur ein Interesse: Zum Zahnarzt (oder zur fernöstlichen Medizin) zu gehen.

(4) Den Widerspruch zwischen mir als Subjekt und meinem Zahn als mir fremdem Objekt empfinde ich als Qual. Ich will mir den Zahn wieder aneignen, ihn zu meinem Zahn machen, seinen Charakter als Objekt aufheben und ihn zu meinem Mittel machen, mit dem ich beißen kann.

(4.1) Widerspruch, 03.02.2007, 03:59, Claudia van Beilen: Handelt es sich um einen Widerspruch zwischen "mir als Subjekt und meinem Zahn" oder um einen Widerspruch zwischen "mir, wie ich mich als Subjekt verstehe, und meinem Zahn, was ich von ihm halte"? (Maike)

(4.1.1) Re: Widerspruch, 07.02.2007, 16:57, Konrad Stoeber: Keinesfalls handelt es sich um einen Widerspruch nur in irgendwelchen Vorstellungen. Wenn Schmerzen nur Vorstellungen wären, dann würde es reichen, sich diese aus dem Kopf zu schlagen.

(5) Dieser Widerspruch macht meine (bornierte) Bestimmtheit als Subjekt aus und treibt mich zur Tätigkeit. Zunächst erwäge ich (notgedrungen etwas halbherzig) die Möglichkeiten, die ich habe, tätig zu werden. Es sind deren unendlich viele. Ich kann mich am Kopf kratzen, Karten spielen, Kartoffeln schälen, an der menschlichen Emanzipation arbeiten, Schuhe kaufen ... Der Zahn tut noch immer weh.

(6) Ich erwäge, Schmerztabletten zu nehmen. Zunächst ist diese Erwägung nur eine gedankliche. Damit würde ich mich aber zum Objekt machen, an mir etwas ändern, den Zahn in seiner mich bestimmenden Selbständigkeit belassen. Der Zahn wäre der Herr, ich der Knecht.

(7) Die Schmerztabletten wären mir lediglich Mittel, den Zahn vorübergehend aus meiner Wahrnehmung verschwinden zu lassen. Da der Zahn in seiner Selbständigkeit mir als Subjekt gegenüber in seinem alten Zustand als Objekt bestehen bleibt, weiß ich, dass ich mich ein paar Stunden später auf’s Neue unterwerfen muss. Der Kampf auf Leben und Tod würde am Ende zu meinen Ungunsten ausgehen. Da mein Zahn ohne mich auch nicht leben kann, würde ich ihn mit in den Tod reißen. Das Ganze gefällt mir überhaupt nicht. Ich belasse es bei dieser Erwägung und werde auf diese Weise nicht sinnlich-menschlich also praktisch tätig. [1]

(8) Da mein Zahn aber kein Wesen der Vorstellung, noch geistiges Wesen, noch Gedankending sondern ein nachdrücklich sinnliches Ding, ein handfester sinnlicher Gegenstand ist, der nicht nur schmerzt sondern an dem man außerdem hilflos herumwackeln kann, helfen keine Erwägungen, es muß eine ebenso sinnliche, praktische Aktion her.

(9) Es folgt der erste praktische Versuch, mir den Zahn mir anzueignen: Die gutmütigen aber wenig kenntnisreichen Vorschläge meiner Großmutter Hand an- und Umschläge aufzulegen zeigen nicht die beabsichtigten Wirkungen. Mein Zahn gibt sich gegen solche Tätigkeit und ihre Mittel widerständig. Die Tat war unangemessen, der Zahn bleibt Objekt. Ich bleibe ein borniertes Subjekt.

Exkurs in die politische Ökonomie

(10) Als Mensch und gesellschaftliches Subjekt entsinne ich mich aber nun der Existenz bestimmter anderer Subjekte, also der Existenz von Zahnärzten, Mitmenschen, die sich die subjektiven Fähigkeiten - Kenntnisse, eingelernte Motorik - und die Mittel - Behandlungsstühle, Bohrer und Zahnarzthelferinnen - angeeignet, mithin die – nicht eingebildete - Möglichkeit haben, diesen Zahn wieder zu meinem Zahn zu machen. ihn in einen Zustand zu versetzen, in dem er mir wieder Mittel ist.

(11) Man sieht hier im übrigen deutlich, was für eine eingeschränkte Wahrnehmung die Identifizierung von besitzen und haben darstellt. Wenn der Zahn Mittel meiner Subjektivität ist, besitze ich ihn wirklich. Ich will ihn besitzen, nicht weil ich ihn haben will, sondern weil ich damit beißen will. Haben kann ich ihn auch, wenn er gezogen ist.

(12) Dem Zahnart ist mein Zahn zweifelsfrei zunächst ein Arbeitsgegenstand. Außerdem hat er das Wissen und seine Mittel, diesem Dilemma ein Ende zu machen. Er verändert seinen Arbeitsgegenstand in einer seiner (und meiner) Zwecksetzung dienlichen Weise. Er produziert einen Gebrauchswert und leistet auf diese Weise konkrete Arbeit. Das schöne an dieser Situation ist, dass er mit seinem Gebrauchswert nicht auf dem Markt hausieren gehen muß, sondern der von ihm produzierte Gebrauchswert, die in meinem wiederhergestellten Zahn geronnene konkrete Arbeit realisiert sich nach einer angemessenen Wartezeit zum Aushärten der Füllung beim nächsten Gebrauch meines Beißwerkzeugs ganz von selbst.

(13) Gesetzt, mein Zahnarzt hätte als Mensch produziert. Er hätte in seiner Produktion sich und mich doppelt bejaht. Er hätte 1. in seiner Produktion die Eigentümlichkeit seiner Individualität vergegenständlicht und daher sowohl während der Tätigkeit eine individuelle Lebensäußerung genossen, als im Anschauen seines Gegenstandes (hier wäre wohl „Produkt“ passender gewesen K.S.) die individuelle Freude, seine Persönlichkeit als gegenständliche, sinnlich anschaubare und darum über alle Zweifel erhabene Macht zu wissen. In meinem Genuß oder meinem Gebrauch seines Produkts (des reparierten Zahnes) hätte er unmittelbat den Genuß, sowohl des Bewußtseins, in seiner Arbeit ein menschliches Bedürfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfnis eines anderen menschlichen Wesen seinen entsprechenden Gegenstand (hier wäre wohl „Mittel“ passender gewesen K.S.) verschafft zu haben. 3. Für mich der Mittler zwischen mir und der Gattung gewesen zu sein, also von mir als eine Ergänzung meines eigenen Wesens und als notwendiger Teil meiner selbst gewußt und empfunden zu werden, also sowohl in meinem Denken als in meiner Liebe sich bestätigt zu wissen. 4. in seiner individuellen Lebensäußerung unmittelbar meine Lebensäußerung geschaffen zu haben, also in seiner individuellen Tätigkeit sein wahres Wesen, sein menschliches, sein Gemeinwesen betätigt und verwirklicht zu haben.[2] So könnte alles in schönster Ordnung sein, wenn es nicht um eine Ware ginge...

(14) Ganz beiläufig macht diese Passage aber deutlich, dass das Marx etwa von Habermas und gleichermaßen vom „Arbeiterbewegungsmarxismus“ unterstellte „Produktionsparadigma“ daran krankt, daß der von diesen verwendete Begriff der Arbeit respektive Produktion die Realisierung des Produkts in der Konsumtion nicht erfasst. In dieser Denkungsart ist der Arbeitsprozess mit dem Produkt abgeschlossen. Die Realisierung des Produkts gehört dann natürlich einer ganz anderen, der Arbeit ganz äußerlichen Sphäre an.

(15) Unser Beispiel zeigt die unmittelbare Realisierung des Gebrauchswertes des Produkts in der Konsumtion. Die Realisation des Tauschwertes kann sich hier nicht wie ein Gespenst zwischen die Produktion des Gebrauchswertes und dessen Realisation schieben. Beispiel: Tätowierer, Mediziner und Friseure. Das heißt natürlich nicht, dass der Warencharakter des Produkts damit aufgehoben wäre.

(16) Gleichzeitig hat mein Zahnarzt nun auch abstrakt allgemeine Arbeit geleistet, eine gewisse Zeit für die Instandsetzung meines Zahns von seiner Lebenszeit abgelassen, dies aber nicht um mein Leid zu lindern, auch nicht nur, um seine mit der Behandlung entstandenen Selbstkosten zu decken und seine eigene Subsistenz zu sichern. Nein, ein bißchen Mehrwert möchte er auch produzieren. Wozu sollte seine Mühe sonst gut sein ?

(17) Als „warenförmig zugerichtetes“ Subjekt zahle ich meinen (gemessen an meinen Einlagen bei der Krankenkasse) selbstverständlich viel zu hohen Eigenanteil an dem geforderten natürlich fairen Preis. Das ist mir mein wieder angeeigneter Zahn schon wert.

(18) Der Wert meines reparierten Zahnes als Ware und sein Gebrauchswert fallen in Ihre Identität. Der Tausch ist vollzogen, das Produkt angeeignet. Die geleistete konkrete Arbeit und die geleistete abstrakte Arbeit finden im gelungenen wirklichen Produkt, meinem wieder angeeigneten Zahn ihren „finishing stroke“[3]. Der Zahnarzt und ich gehen zufrieden auseiander, jeder von uns hat das seine zur Steigerung des Bruttosozialprodukts und der erweiterten Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft getan.

(19) Hat da nun bei meinem Zahnarzt ein Wertbildungs- oder ein Verwertungsprozeß stattgefunden?. Sollte ein Verwertungsprozeß stattgefunden haben, wofür ich plädiere, müßte der Zahnarzt seine Arbeitskraft an sich selbst verkauft haben. Das wäre ein rein formaler Akt, da kein Geld flösse. Buchungstechnisch ist das kein Problem. Ist es eines in der politökonomischen Theorie ?

(20) Unser Zahnarzt und seine Zahnarzthelferin würden unter dieser Voraussetzung nur dann einen Mehrwert produzieren, wenn sie tatsächlich am Behandlungsstuhl stehen bzw. vor- und nachbereitende Arbeiten ausführen.
Die in der und für die Zirkulationssphäre anfallende Arbeit produziert keinen Mehrwert - aber Kosten. Sitzt mein Zahnarzt also abends über seinen Kassenabrechnungen und Büchern, produziert er keinen Mehrwert.

(21) Das Ganze wird dann einleuchtend, wenn unterstellt wird, dass die Besonderheit des Subjekts in der Bestimmtheit seiner Tätigkeit liegt. Dann ist mein Zahnarzt wenn er am Behandlungsstuhl steht Proletarier, könnte sich also umgehend mit seinen Klassenbrüdern und –schwestern zum Meta- oder Übersubjekt vereinigen. Das macht er aber nicht, weil er möglicherweise seine Zeit nutzen muss, um die mit seiner Praxis zusammenhängenden kommerziellen Erfordernisse abzuwickeln.

(22) Wir sehen also bei unserem Zahnarzt den Klassengegensatz „mittenhindurch“ gehen. Unser Zahnarzt ist eine gespaltene Persönlichkeit, politökonomisch gesehen schizophren. Durch die Brille des Psychaters gesehen – unauffällig.. Steht er am Behandlungsstuhl, ist er Arbeiter, spekuliert er mit seiner Revenue oder kauft Erforderliches, um seine Praxis zu vergrößern, ist er Kapitalist, geht er zur FDP-Ortsgruppenversammlung ist er weder Fisch noch Fleisch. .

Die Tätigkeit des Zahnarztes

(23) Wenden wir uns Inhalt und Form der konkreten gebrauchswertproduzierenden praktischen, sinnlich-menschlichen Arbeit zu.
Es versteht sich, dass mein Zahn dem Zahnarzt ein anderes Objekt ist, als mir. Schließlich tut mein Zahn nicht ihm weh. Ihm ist es egal, wem dieser Zahn Mittel zum Beißen war.

(24) Die Darstellung eines kariösen menschlichen Zahnes in einem beliebigen Lehrbuch der Zahnmedizin zeigt etwas allgemeines, was mein Zahn zweifellos mit dem abgebildeten kariösen Zahn gemeinsam hat – ein allgemeines Schadensbild. Was diese Darstellung nicht zeigt, ist der gravierende Unterschied zwischen meinem Zahn und dem abgebildeten. Meiner tut etwas, er tut weh. Für meinen Zahnarzt repräsentiert diese Abbildung einen kariösen Zahn schlechthin. Die Abbildung zeigt einen Zahn, der mausetot ist. Sie repräsentiert also etwas (abstrakt) Allgemeines, für das mein Zahn lediglich ein Exempel ist – abstrakt Einzelnes. Als dieses Exempel wird mein Zahn wie gezeigt, nach seinem „unlebendigen Dasein“ (Hegel) erkannt. Das wird mir erst durch meine Zahnschmerzen nachdrücklich deutlich, weil der allgemeine kariöse Zahn, der durch diese Abbildung repräsentiert wird, mir nicht weh tut.

(25) Auf dieser Darstellung ruht die gesamte Wissenschaft von der Behandlung kariöser Zähne. Sie ist das Alpha und Omega der Zahnärzte.
Für die praktische Tätigkeit meines Zahnarztes ist mein Zahn ein ebenso totes wie technisches Objekt, wie der Zahn, der in der oben erwähnten Abbildung gezeigt wurde bzw. wie es der Dummy war, an dem er das Bohren gelernt hat. Dieses Objekt muss repariert werden. Mein Zahn weist also ein allgemeines Schadensbild auf, und alle Zähne, meine und die meiner Mitmenschen, die dieses Schadensbild aufweisen, werden diesem Schadensbild entsprechend behandelt. Peter Ruben würde für dieses Schadensbild kariöser Zähne sicher den Terminus „Modell“[5] wählen, auch wenn es hier zunächst nichts zu messen, sondern eher zu bohren gibt.

(26) (Die Verfahrensweise bei der taxonomischen Bestimmung einer biologischen Art ist prinzipiell die gleiche: So findet sich in einer zoologischen Sammlung ein ausgestopftes putziges kleine Tierchen, das durch ein Schildchen sogleich als Exemplar der Art Glis glis (L.) zu deutsch Siebenschläfer ausgemacht werden kann. Wenn die Führung durch die Sammlung dann mit dem Hinweis: „Das ist ein Siebenschläfer“ darauf aufmerksam macht, wird der weise Besucher zumindest vor sich hinmurmeln: „Ist ja kein richtiger Siebenschläfer, ist ja tot und ausgestopft.“)

(27) Die Schulmedizin, kommt übrigens auf die gleiche Weise zu der Lesart von der „Leber mit der defekten Dehydrogenase auf Zimmer 1003“ [5]. Ihr ist es ebenso egal, wem diese Leber gehört, wie es dem Automechaniker egal ist, wem das Auto gehört, das reparieren soll. Es ist das Auto mit der defekten Kurbelwelle. Kurzform: Dahinten steht die defekte Kurbelwelle.

(28) Als Mensch appliziert er mir möglicherweise schmerzstillende Mittel vor der Tortur. Das ist mir nicht gleichgültig, aber für den eigentlichen Akt der Reparatur gleichgültig. Ebenso gut könnte er mich fixieren und sein Handwerk ausüben, wie es ehedem die Bader gemacht haben, wenn sie das Objekt der Begierde extrahieren wollten.

Das Produkt

(29) Kurzum: der Zahnarzt repariert also in seiner sinnlich-menschlichen Tätigkeit nicht meinen (oder seinen) Zahn, sondern einen abstrakten Zahn unter der Form eines toten Dings. Und wenn der Zahn nicht schon tot ist, muß er im Zweifelsfalle in diesen Zustand überführt werden. Für meinen konkreten Fall nehme ich das aber billigend in Kauf.

(29.1) Schulmedizin und Schwierigkeit der Subjektbestimmung, 03.02.2007, 03:41, Claudia van Beilen: Einen "abstrakten" Zahn zu behandeln, ist ein spezieller Ansatz der Schulmedizin. Allgemein geht es in der Medizin darum, Erfahrungen mit einem Menschen auf einen anderen zu übertragen, um verallgemeinerbare Behandlungsmöglichkeiten = Medizin zu entwickeln.

In der Schulmedizin wird dieses Ziel durch "Abstraktionen ins Konkrete" erreicht. Ich nenne das mal so, obwohl die Begrifflichkeit wohl nicht so hinhaut. Man landet am Ende bei Genen und anderen Kleinteilen, die sämtlich abstrakt sind, objektiv und antisubjektiv. Es herrscht der Glaube, Subjektivität überwinden zu müssen, um Erfahrungen von einem Menschen auf andere übertragen zu können. Im Ergebnis steht die "Reparatur" von Menschenteilen, die nicht in ihrer Einmaligkeit und Individualität wahrgenommen werden, aber gleichwohl als Konkreta erscheinen, die sich messen lassen etc.

In östlichen Medizinen (das ist jetzt eine grobe Vereinfachung) wird das Ziel der Übertragung von Erfahrungen von einem Menschen auf andere anders erreicht: mit "Abstraktionen ins Abstrakte". Man landet am Ende bei "Energieströmen", Yin und Yang etc. Im Ergebnis steht die "Heilung" von Menschen, die - weil die Abstraktion abstrahiert - nicht auf eine Verneinung der Subjektivität und Individualität angewiesen ist.

Aus dem schulmedizinischen Ansatz, der mit der Entwicklung des Kapitalismus zusammenhängt, ergibt sich die Möglichkeit, einen konkreten Zahn so zu behandeln als sei es ein abstrakter. Diese Möglichkeit und die daraus resultierende Problematik der Subjektbestimmung sind nicht unvermeidlich und nicht selbstverständlich.

PS: Wegen der technischen Eigentümlichkeit: Ich bin Maike und nicht Claudia.

(29.1.1) Re: Schulmedizin und Schwierigkeit der Subjektbestimmung, 05.02.2007, 14:34, Konrad Stoeber: Mit der Übertragung von Erfahrungen ist das so ein Ding. Man braucht einen Maßstab, an dem ausgemacht werden kann, was gleich ist.
Bei der Bewertung der Schulmedizin sind wir uns offensichtlich im Großen und Ganzen einig, obwohl ich glaube, dass Du das Kind mit dem Bade ausschüttest. Innerhalb Ihrer Grenzen, wie bei meinem Zahn, funktioniert sie ja. Ihre Grenzen sind eben durch die Art ihrer Modellbildung gesetzt.

(29.1.2) Re: Schulmedizin und Schwierigkeit der Subjektbestimmung, 05.02.2007, 14:35, Konrad Stoeber: Die Möglichkeit, einen konkreten Zahn wie einen abstrakten zu behandeln, gab es mit Sicherheit schon vor dem Kapitalismus. Wenn der Bader das Objekt extrahiert, extrahiert er auch einen abstrakten Zahn.

(29.1.3) Re: Schulmedizin und Schwierigkeit der Subjektbestimmung, 05.02.2007, 15:18, Konrad Stoeber: Das mit den östlichen Medizinen verstehe ich nicht so recht. Wenn mit der "Abstraktion ins Abstrakte", Energieströmen und Ying & Yang Menschen geheilt werden, ist's ja in Ordnung.
Ich bin aber eher der Meinung, dass die Erfolge dieser Medizinen auf über sehr lange Zeit gesammelten Erfahrungen beruhen.

(30) Dass der Zahnarzt dieses Objekt Zahn wieder zu meinem Zahn macht, zum Mittel meiner Subjektivität, hat er so natürlich nicht bedacht, er repariert den Zahn trotzdem zu meiner Zufriedenheit.. Für ihn genügt es zu wissen, dass mir der Zahn hinterher, wenn alles gut geht, nicht mehr weh tut, sich damit aus meiner Objektwelt verabschiedet. Endlich können sich mir wieder andere Objekte auftun, die meine Tätigkeit erheischen. Ich vergesse den Zahn, aber nicht den Zahnarzt.

Das Subjekt

(31) Wie auch immer ich ein Subjekt bestimme – als Selbstbewusstsein, als Handlungs- und Bewusstseins- , Rock- oder Hosenträger, als autonomes, selbstbestimmtes Teil der Gesellschaft oder ihm eine oder mehrere beliebige andere allgemeine Bestimmung verleihe, es bleiben Eigenschaften, die in der Trennung von seiner Tätigkeit verbleiben. Das heißt aber in jedem Falle, das diese (abstrakten) Bestimmungen sich nicht verändern, wenn sich die Tätigkeit des Subjekts verändert. Damit bleibt die Tätigkeit bleibt gegenüber dem Subjekt akzidentiell und betrifft nicht das Wesen des Subjekts.

(32) Wenn wir aber annehmen wollen, dass das Wesen des Subjekts durch seine Tätigkeit gegeben ist, muss das begriffliche Konsequenzen haben. Marx schlägt vor, den „Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit ... als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, ...subjektiv“ [6] zu fassen.

(33) Das konkret Allgemeine, die Bestimmtheit des Subjekts „Zahnarzt Dr. Extractio“ liegt, wenn ich mich dessen annehme, nun nicht in irgendwelchen psychischen oder physischen Eigenschaften, auch nicht in dem Umstand, dass er Vernunft hat, nicht in seinen Zielen, Wünschen, Ideen, Bedürfnissen, sondern in der Tätigkeit, die er aktuell ausübt. Diese ist deshalb allgemein, weil es andere Zahnärzte gibt, die kariöse Zähne genauso behandeln, wie mein Dr. Extractio. Schließlich bin ich ja auch deshalb zu ihm gegangen und nicht, weil er so schön ist.

(33.1) Allgemeine Tätigkeit, 03.02.2007, 02:42, Claudia van Beilen: Die Tätigkeit des Zahnarztes "ist deshalb allgemein, weil es andere Zahnärzte gibt, die kariöse Zähne genauso behandeln, wie mein Dr. Extractio":

Diese Argumentation setzt einen "allgemeinen" kariösen Zahn voraus. Ein konkreter, bestimmter Zahn lässt sich nicht durch andere Menschen "genauso behandeln". Allein schon deshalb nicht, weil ein konkreter, bestimmter Zahn nach einer Behandlung verändert ist. Es wird also hier im Grunde argumentiert: Die Tätigkeit des Zahnarztes ist deshalb allgemein, weil es allgemeine Zähne gibt.

PS: Ich bin Maike - die Technik zeigt Claudia. Wir sind zur selben Zeit angemeldet.

(33.1.1) Re: Allgemeine Tätigkeit, 05.02.2007, 14:41, Konrad Stoeber: Hier geht es nicht um einen „allgemeinen“ kariösen Zahn, sondern um ein allgemeines Schadensbild, also ein Maßstab für das, was einen kariösen Zahn ausmacht. Entspricht ein vorgeführter Zahn diesem Schadensbild, wird er wie ein kariöser Zahn behandelt.

(33.1.2) Re: Allgemeine Tätigkeit, 05.02.2007, 14:41, Konrad Stoeber: Das „genauso behandeln“ ist hier eine Kurzfassung für ein Allgemeines bei der Behandlung verschiedener kariöser Zähne. Selbstverständlich ist damit die jedesmalige Situation ausgeblendet wie etwa: Wo sitzt der Zahn, wie groß ist der Schaden, welche Zahnteile sind in Mitleidenschaft gezogen worden ...

(33.1.2.1) Re: Allgemeine Tätigkeit, 07.02.2007, 16:53, Konrad Stoeber: Das Allgemeine dieser Tätigkeiten wird durch die Mittel dieser Tätigkeiten repräsentiert.

(33.1.3) Re: Allgemeine Tätigkeit, 05.02.2007, 14:42, Konrad Stoeber: Das Schadensbild „kariöser Zahn“, hat sicher noch eine Menge weiterer Schadensbilder, die dem Schadensbild „kariöser Zahn“ subordiniert sind. Diese „Unterschadensbilder“ sind dann natürlich auch Teil der Wissenschaft von den kariösen Zahnen. Diese wird dadurch aber nicht „konkreter“.

(34) In und mit seiner konkreten Arbeit hat sich zwangsläufig auch die Bestimmtheit seines Arbeitsgegenstandes, des abstrakten Zahns, und dessen Unterschied zu meinem Zahn ergeben. Die Tätigkeit meines Dr. Extractio figuriert dann natürlich in dieser Konstellation als konkret Einzelnes, als Beispiel also für das konkret Allgemeine.

(35) Das hat natürlich die auf den ersten Blick befremdliche Konsequenz, dass mein Dr. Extractio, den ich dann abends in der Kneipe treffe, ein anderes Subjekt ist, weil er offenkundig einer anderen Tätigkeit nachgeht. Das sind die Tücken der Konkretion, beiläufig aber auch der Grund, warum Marx im Kapital von konkreter Arbeit spricht.

(36) Die oben angemerkten „irgendwelchen psychischen oder physischen Eigenschaften, Ziele, Wünsche, Ideen, Bedürfnisse etc. der Person „Zahnarzt Dr. Extractio“ werden damit nun keineswegs weggeschwätzt, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Diese äußern dann in anderen praktischen Kontexten der Menschen, wie wir bei unserem Dr. Extractio sehen werden, wenn wir seinen Weg aus der Praxis in die Kneipe verfolgen.

(37) Selbstverständlich hat mein Zahnarzt darüberhinaus auch jede Menge Bestimmungen, in denen er sich von den physischen und psychischen Eigenschaften anderer menschlicher Individuen – unbeschadet ihres konkreten Subjekt-Seins - unterscheidet [7]. An solchen (endlichen) Eigenschaften erkenne ich z.B. meinen Dr. Extractio wieder, wenn er mir über den Weg läuft, Polizei und Geheimdienste können ihn auf der Grundlage ebendieser und auch weiterer Eigenschaften zum Zwecke der Terrorbekämpfung identifizieren.

(38) Wenn der geneigte Leser nun die Auffassung teilt, die Bestimmtheit des Subjekts Dr. Extractio liegt in der Bestimmtheit der Tätigkeit, in der mein Zahnarzt mit einer bestimmten Motorik seine Leiblichkeit , seine Mittel und sein Objekt, seinen abstrakten (meinen konkreten) Zahn zusammenbringt und meinen Zahn in erfreulicher Weise verändert, kann von einem Subjekt, getrennt von seiner Tätigkeit und den Mitteln seiner Tätigkeit keine Rede mehr sein.

(38.1) Bestimmtheit des Subjekts, 03.02.2007, 03:12, Claudia van Beilen: Damit "von einem Subjekt, getrennt von seiner Tätigkeit und den Mitteln seiner Tätigkeit" keine Rede sein kann, ist es nich erforderlich, die Bestimmtheit des Subjekts in der Bestimmtheit der Tätigkeit liegen zu sehen. - Jedenfalls nicht auf die beschriebene Weise, denke ich.

Die Subjektbestimmung in der Kneipe misslingt nicht deshalb, weil der Zahnarzt nicht tätig ist, sondern deshalb, weil sie "a-sozial" ist, weil sie "objektiv" anhand von Wahrnehmungen unternommen wird, die ein x-beliebiger Mensch machen könnte.

Daraus erkläre ich mir auch eine Verkürzung in (39): "Das konkrete, wirkliche (weil wirkende) Subjekt" - wobei sich "wirkende" auf die berufliche Tätigkeit bezieht. "Wirkende" kann - und sollte m.E. - aber meinen: auf mich oder andere Menschen wirken. Ein Subjekt ist wirklich, weil es auf andere Subjekte wirkt - ob es nun tätig ist oder nicht. Auch ein Subjekt, dass untätig ist, z.B. weil es im Koma liegt, wird von Menschen als Subjekt wahrgenommen. Anders gesagt: die Wirklichkeit des Subjekts ist eine soziale Konstruktion. In diesem Text funktioniert diese Konstruktion so, dass Subjekten Wirklichkeit abgesprochen wird, wenn sie nicht in einem engeren Sinn des Wortes "wirken". Dies ist m.E. eine speziell kapitalistische soziale Konstruktion.

PS: Ich bin Maike, nicht Claudia.

(38.1.1) Re: Bestimmtheit des Subjekts, 05.02.2007, 15:00, Konrad Stoeber: Wieso ist die Bestimmung des Subjekts in der Kneipe mißlungen, und wieso „a-sozial“ ? Das konkrete, wirkliche, weil wirkende Subjekt ist mitnichten an die berufliche Tätigkeit gebunden. Die gilt hier als ein Beispiel. In der Beiz ist unser Zahnarzt auch Subjekt- aber halt ein anderes – kein Zahnarzt-Subjekt.
Im Übrigen finde ich es prima, wenn eine theoretische Überlegung an Wahrnehmungen anknüpft, die jeder x-bliebige machen kann.

(38.1.2) Re: Bestimmtheit des Subjekts, 05.02.2007, 15:00, Konrad Stoeber: Du schreibst: Ein Subjekt ist wirklich, weil es auf andere Subjekte wirkt - ob es nun tätig ist oder nicht. Auch ein Subjekt, dass untätig ist, z.B. weil es im Koma liegt, wird von Menschen als Subjekt wahrgenommen.
Das ist nicht falsch, wenn es aber um Konkretion geht, geht es um die Frage: Wie wirkt ein Subjekt auf ein anderes. Der Zahnarzt hat auf bestimmte Weise auf mich als Subjekt (ein)gewirkt, auf seine Freunde in der Kneipe auf eine andere Art und Weise. Dieses „Wirken“ beschränkt sich keineswegs auf irgend einen Aktivismus im herkömmlichen Sinne. Ein Koma-Patient wirkt auch auf Dich oder den behandelnden Arzt, aber anders als ein wacher Patient. Wenn Du ein Buch liest, dann wirken alle Beteiligten bei der Herstellung des Buches – nicht nur der Autor auf Dich...der Autor wirkt mit seinem Text auf Dich, andere, dass Du auf den Druckseiten was sehen kannst und wieder andere, dass Du was zum Umblättern hast...Ob das nun das Ziel dieser anderen Akteure war, oder diese vielleicht eher Geld machen wollten – sie haben es getan.

(38.1.3) Re: Bestimmtheit des Subjekts, 05.02.2007, 15:03, Konrad Stoeber: Im übrigen wäre es sicher hilfreich, wenn Du für die Diskussion deutlich machst, wie Du „Subjekt“ bestimmst.

(39) Das konkrete, wirkliche (weil wirkende) Subjekt Dr. Extractio finden wir nun mit Freunden in der Kneipe. Ich habe ihn wiedererkannt. Er verwirklicht sich als Subjekt diesmal im Gespräch und im Genuss von Wernesgrüner Bier. Hier sind ihm Geld (für’s Bier), sein Charme, sein Witz und seine Belesenheit (für das Gespräch) Mittel, durch die er die Subjektivität seiner Gegenüber bestätigt. (Im Falle des Bieres besonders dann, wenn er einen ausgibt.)

(40) Mein Dr. Extractio hat, wenn er nicht zuviel gesoffen hat, subjektiv das Wissen und die praktischen Fähigkeiten, die physischen und psychischen Voraussetzungen, sein Handwerk auszuüben – dabei bleibt’s denn aber auch. Er wird aber erst zum bestimmten, wirklichen und damit konkreten Subjekt, wenn er die für seine Tätigkeit erforderlichen Mittel zur Hand hat und sich an meinen nächsten Zahn macht.

(41) Anmerkungen

1) „sinnlich-menschlich“ heißt hier nichts anderes, als dass diese Tätigkeit zunächst Gegenstand der Sinne eines menschlichen Beobachters ist, der ich selbst sein kann.

2.) leicht verändert nach MEW, EB I, 462 – Im Original wird natürlich davon ausgegangen, dass ich auch als Mensch produziert hätte.

3.) Marx.. Einleitung [zur Kritik der Politischen Ökonomie], MEW 13, 623

4.) vgl. P. Ruben: Wissenschaft als allgemeine Arbeit. Sozialistische Politik (Westberlin) 1976, H.2, S. 7-39

5.) Rainer Hohlfeld, Der Mensch als Objekt von Biotechnologie und biomedizinischer Forschung , Gewerkschaftliche Monatshefte, 10 (1983) 591 f.

6.) Erste These über Feuerbach

7.) Der Zahnarzt, der mir meinen ersten Zahn gezogen hat, war einarmig. Welchen Zahn er gezogen hat, weiß ich natürlich nicht mehr.


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