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Zahnschmerzen in philosophischer und politökonomischer Rücksicht

Maintainer: Konrad Stoeber, Version 1, 23.01.2007
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Das Problem

(1) Ich habe Zahnschmerzen. Ein kariöser Zahn signalisiert damit mir als Subjekt, was immer auch darunter zu verstehen ist - über einen meiner Sinne, Schmerz sein gegenständliches Dasein als Objekt. Der Zahn war sicher schon vorher da, aber als Objekt ist er mir ein anderer, als er es war, bevor er mir zum Objekt wurde. In schöner Selbstverständlichkeit war er, bevor er anfing zu schmerzen, Teil meiner selbst wie Herz, Magen, Arme und Beine, Teil meines Daseins als natürlicher Mensch.

(2) Nun hat der Zahn sich selbständig gemacht. Er ist nicht mehr mein Zahn. (Hier eine Zweckrationalität bei der Konstituierung von Objekten zu unterstellen, stellt das wirklichen Verhältnis nachgerade auf den Kopf.)

(3) Meine Zahnschmerzen okkupieren alle meine Sinne. Ich kann an nichts anderes mehr denken als an meinen Zahn. Damit bin ich borniert, ich habe eine eingeschränkte Wahrnehmung, habe jede Menge Vorurteile, weil ich alles nach Maßgabe meines schmerzenden Zahnes beurteile. Ich habe keinen Sinn mehr für ein gutes Buch - es interessiert mich nicht, gutes Essen (schon gar nicht), Trinken - ich habe keinen Durst, Brahms - ergibt unschöne Resonanzen mit meinem Zahn, ein interessantes philosophisches Gespräch mit guten Freunden - ich habe keine Freunde, ich habe nur noch einen schmerzenden Zahn.

(4) Den Widerspruch zwischen mir als Subjekt und meinem Zahn als mir fremdem Objekt empfinde ich als Qual. Ich will mir den Zahn wieder aneignen, ihn zu meinem Zahn machen, seinen Charakter als Objekt aufheben und ihn zu meinem Mittel machen, mit dem ich beißen kann.

(5) Dieser Widerspruch macht meine (bornierte) Bestimmtheit als Subjekt aus und treibt mich zur Tätigkeit. Zunächst erwäge ich (notgedrungen etwas halbherzig) die Möglichkeiten, die ich habe, tätig zu werden. Es sind deren unendlich viele. Ich kann mich am Kopf kratzen, Karten spielen, Kartoffeln schälen, an der menschlichen Emanzipation arbeiten, Schuhe kaufen ... Der Zahn tut noch immer weh.

(6) Ich erwäge, Schmerztabletten zu nehmen. Zunächst ist diese Erwägung nur eine gedankliche. Damit würde ich mich aber zum Objekt machen, an mir etwas ändern, den Zahn in seiner mich bestimmenden Selbständigkeit belassen. Der Zahn wäre der Herr, ich der Knecht.

(7) Die Schmerztabletten wären mir lediglich Mittel, den Zahn vorübergehend aus meiner Wahrnehmung verschwinden zu lassen. Da der Zahn in seiner Selbständigkeit mir als Subjekt gegenüber in seinem alten Zustand als Objekt bestehen bleibt, weiß ich, dass ich mich ein paar Stunden später auf’s Neue unterwerfen muss. Der Kampf auf Leben und Tod würde am Ende zu meinen Ungunsten ausgehen. Da mein Zahn ohne mich auch nicht leben kann, würde ich ihn mit in den Tod reißen. Das Ganze gefällt mir überhaupt nicht. Ich belasse es bei dieser Erwägung und werde auf diese Weise nicht sinnlich-menschlich also praktisch tätig. [1]

(8) Da mein Zahn aber kein Wesen der Vorstellung, noch geistiges Wesen, noch Gedankending sondern ein nachdrücklich sinnliches Ding, ein handfester sinnlicher Gegenstand ist, der nicht nur schmerzt sondern an dem man außerdem hilflos herumwackeln kann, helfen keine Erwägungen, es muß eine ebenso sinnliche, praktische Aktion her.

(9) Es folgt der erste praktische Versuch, mir den Zahn mir anzueignen: Die gutmütigen aber wenig kenntnisreichen Vorschläge meiner Großmutter Hand an- und Umschläge aufzulegen zeigen nicht die beabsichtigten Wirkungen. Mein Zahn gibt sich gegen solche Tätigkeit und ihre Mittel widerständig. Die Tat war unangemessen, der Zahn bleibt Objekt. Ich bleibe ein borniertes Subjekt.

Exkurs in die politische Ökonomie

(10) Als Mensch und gesellschaftliches Subjekt entsinne ich mich aber nun der Existenz bestimmter anderer Subjekte, also der Existenz von Zahnärzten, Mitmenschen, die sich die subjektiven Fähigkeiten - Kenntnisse, eingelernte Motorik - und die Mittel - Behandlungsstühle, Bohrer und Zahnarzthelferinnen - angeeignet, mithin die – nicht eingebildete - Möglichkeit haben, diesen Zahn wieder zu meinem Zahn zu machen. ihn in einen Zustand zu versetzen, in dem er mir wieder Mittel ist.

(11) Man sieht hier im übrigen deutlich, was für eine eingeschränkte Wahrnehmung die Identifizierung von besitzen und haben darstellt. Wenn der Zahn Mittel meiner Subjektivität ist, besitze ich ihn wirklich. Ich will ihn besitzen, nicht weil ich ihn haben will, sondern weil ich damit beißen will. Haben kann ich ihn auch, wenn er gezogen ist.

(12) Dem Zahnart ist mein Zahn zweifelsfrei zunächst ein Arbeitsgegenstand. Außerdem hat er das Wissen und seine Mittel, diesem Dilemma ein Ende zu machen. Er verändert seinen Arbeitsgegenstand in einer seiner (und meiner) Zwecksetzung dienlichen Weise. Er produziert einen Gebrauchswert und leistet auf diese Weise konkrete Arbeit. Das schöne an dieser Situation ist, dass er mit seinem Gebrauchswert nicht auf dem Markt hausieren gehen muß, sondern der von ihm produzierte Gebrauchswert, die in meinem wiederhergestellten Zahn geronnene konkrete Arbeit realisiert sich nach einer angemessenen Wartezeit zum Aushärten der Füllung beim nächsten Gebrauch meines Beißwerkzeugs ganz von selbst.

(13) Gesetzt, mein Zahnarzt hätte als Mensch produziert. Er hätte in seiner Produktion sich und mich doppelt bejaht. Er hätte 1. in seiner Produktion die Eigentümlichkeit seiner Individualität vergegenständlicht und daher sowohl während der Tätigkeit eine individuelle Lebensäußerung genossen, als im Anschauen seines Gegenstandes (hier wäre wohl „Produkt“ passender gewesen K.S.) die individuelle Freude, seine Persönlichkeit als gegenständliche, sinnlich anschaubare und darum über alle Zweifel erhabene Macht zu wissen. In meinem Genuß oder meinem Gebrauch seines Produkts (des reparierten Zahnes) hätte er unmittelbat den Genuß, sowohl des Bewußtseins, in seiner Arbeit ein menschliches Bedürfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfnis eines anderen menschlichen Wesen seinen entsprechenden Gegenstand (hier wäre wohl „Mittel“ passender gewesen K.S.) verschafft zu haben. 3. Für mich der Mittler zwischen mir und der Gattung gewesen zu sein, also von mir als eine Ergänzung meines eigenen Wesens und als notwendiger Teil meiner selbst gewußt und empfunden zu werden, also sowohl in meinem Denken als in meiner Liebe sich bestätigt zu wissen. 4. in seiner individuellen Lebensäußerung unmittelbar meine Lebensäußerung geschaffen zu haben, also in seiner individuellen Tätigkeit sein wahres Wesen, sein menschliches, sein Gemeinwesen betätigt und verwirklicht zu haben.[2] So könnte alles in schönster Ordnung sein, wenn es nicht um eine Ware ginge...

(14) Ganz beiläufig macht diese Passage aber deutlich, dass das Marx etwa von Habermas und gleichermaßen vom „Arbeiterbewegungsmarxismus“ unterstellte „Produktionsparadigma“ daran krankt, daß der von diesen verwendete Begriff der Arbeit respektive Produktion die Realisierung des Produkts in der Konsumtion nicht erfasst. In dieser Denkungsart ist der Arbeitsprozess mit dem Produkt abgeschlossen. Die Realisierung des Produkts gehört dann natürlich einer ganz anderen, der Arbeit ganz äußerlichen Sphäre an.

(15) Unser Beispiel zeigt die unmittelbare Realisierung des Gebrauchswertes des Produkts in der Konsumtion. Die Realisation des Tauschwertes kann sich hier nicht wie ein Gespenst zwischen die Produktion des Gebrauchswertes und dessen Realisation schieben. Beispiel: Tätowierer, Mediziner und Friseure. Das heißt natürlich nicht, dass der Warencharakter des Produkts damit aufgehoben wäre.

(16) Gleichzeitig hat mein Zahnarzt nun auch abstrakt allgemeine Arbeit geleistet, eine gewisse Zeit für die Instandsetzung meines Zahns von seiner Lebenszeit abgelassen, dies aber nicht um mein Leid zu lindern, auch nicht nur, um seine mit der Behandlung entstandenen Selbstkosten zu decken und seine eigene Subsistenz zu sichern. Nein, ein bißchen Mehrwert möchte er auch produzieren. Wozu sollte seine Mühe sonst gut sein ?

(17) Als „warenförmig zugerichtetes“ Subjekt zahle ich meinen (gemessen an meinen Einlagen bei der Krankenkasse) selbstverständlich viel zu hohen Eigenanteil an dem geforderten natürlich fairen Preis. Das ist mir mein wieder angeeigneter Zahn schon wert.

(18) Als "warenförmig zugerichtetes" Subjekt zahle ich meinen (gemessen an meinen Einlagen bei der Krankenkasse) selbstverständlich viel zu hohen Eigenanteil an dem geforderten natürlich fairen Preis. Das ist mir mein wieder angeeigneter Zahn schon wert.

(19) Der Wert meines reparierten Zahnes als Ware und sein Gebrauchswert fallen in Ihre Identität. Der Tausch ist vollzogen, das Produkt angeeignet. Die geleistete konkrete Arbeit und die geleistete abstrakte Arbeit finden im gelungenen wirklichen Produkt, meinem wieder angeeigneten Zahn ihren „finishing stroke“[3]. Der Zahnarzt und ich gehen zufrieden auseiander, jeder von uns hat das seine zur Steigerung des Bruttosozialprodukts und der erweiterten Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft getan.

(20) Hat da nun bei meinem Zahnarzt ein Wertbildungs- oder ein Verwertungsprozeß stattgefunden?. Sollte ein Verwertungsprozeß stattgefunden haben, wofür ich plädiere, müßte der Zahnarzt seine Arbeitskraft an sich selbst verkauft haben. Das wäre ein rein formaler Akt, da kein Geld flösse. Buchungstechnisch ist das kein Problem. Ist es eines in der politökonomischen Theorie ? .

(21) Unser Zahnarzt und seine Zahnarzthelferin würden unter dieser Voraussetzung nurdann einen Mehrwert produzieren, wenn sie tatsächlich am Behandlungsstuhl stehen bzw. vor- und nachbereitende Arbeiten ausführen. Allerdings produziert die in der und für die Zirkulationssphäre anfallende Arbeit keinen Mehrwert. Sitzt mein Zahnarzt also abends über seinen Kassenabrechnungen und Büchern, produziert er keinen Mehrwert.

(22) Das Ganze wird dann einleuchtend, wenn unterstellt wird, dass die Besonderheit des Subjekts in der Bestimmtheit seiner Tätigkeit liegt. Dann ist mein Zahnarzt wenn er am Behandlungsstuhl steht Proletarier, könnte sich also umgehend mit seinen Klassenbrüdern zum Meta- oder Übersubjekt vereinigen. Das macht er aber nicht, weil er möglicherweise seine Zeit nutzen muss, um die mit seiner Praxis zusammenhängenden kommerziellen Erfordernisse abzuwickeln.

(23) Wir sehen also bei unserem Zahnarzt den Klassengegensatz "mittenhindurch" gehen. Unser Zahnarzt ist eine gespaltene Persönlichkeit, politökonomisch gesehen schizophren. Durch die Brille des Psychaters gesehen - höchst normal. Steht er am Behandlungsstuhl, ist er Arbeiter, spekuliert er mit seiner Revenue oder kauft Erforderliches, um seine Praxis zu vergrößern, ist er Kapitalist, geht er zur FDP-Ortsgruppenversammlung ist er weder Fisch noch Fleisch.

Die Tätigkeit des Zahnarztes

(24) Wenden wir uns Inhalt und Form der konkreten gebrauchswertproduzierenden praktischen, sinnlich-menschlichen Arbeit zu. Es versteht sich, dass mein Zahn dem Zahnarzt ein anderes Objekt ist, als mir. Schließlich tut mein Zahn nicht ihm weh. Ihm ist es egal, wem dieser Zahn Mittel zum Beißen war.

(25) Die Darstellung eines kariösen menschlichen Zahnes in einem beliebigen Lehrbuch der Zahnmedizin zeigt etwas allgemeines, was mein Zahn zweifellos mit dem abgebildeten kariösen Zahn gemeinsam hat - ein allgemeines Schadensbild. Was diese Darstellung nicht zeigt, ist der gravierende Unterschied zwischen meinem Zahn und dem abgebildeten. Meiner tut etwas, er tut weh. Für meinen Zahnarzt repräsentiert diese Abbildung einen kariösen Zahn schlechthin. Die Abbildung zeigt also einen Zahn, der mausetot ist. Sie repräsentiert also etwas (abstrakt) Allgemeines, für das mein Zahn lediglich ein Exempel ist - abstrakt Einzelnes. Als dieses Exempel wird mein Zahn wie gezeigt, nach seinem "unlebendigen Dasein" (Hegel) erkannt. Das wird mir erst durch meine Zahnschmerzen nachdrücklich deutlich, weil der allgemeine kariöse Zahn, der durch diese Abbildung repräsentiert wird, mir nicht weh tut.

(26) Auf obiger Darstellung ruht die gesamte Wissenschaft von der Behandlung kariöser Zähne. Sie ist das Alpha und Omega der Zahnärzte.
Für die praktische Tätigkeit meines Zahnarztes ist mein Zahn ein totes, technisches Objekt, wie der Zahn, der in der oben erwähnten Abbildung gezeigt wurde bzw. wie es der Dummy war, an dem er das Bohren gelernt hat. Dieses Objekt muss repariert werden. Mein Zahn weist also ein allgemeines Schadensbild auf, und alle Zähne, meine und die meiner Mitmenschen, die dieses Schadensbild aufweisen, werden diesem Schadensbild entsprechend behandelt. Peter Ruben würde für dieses Schadensbild kariöser Zähne sicher den Terminus "Modell"[4] wählen, auch wenn es hier zunächst nichts zu messen, sondern eher zu bohren gibt.

(27) Die Schulmedizin, kommt übrigens auf die gleiche Weise zu der Lesart von der "Leber mit der defekten Dehydrogenase auf Zimmer 1003".[5] Ihr ist es ebenso egal, wem diese Leber gehört, wie es dem Automechaniker egal ist, wem das Auto gehört, das er repariert. Es ist das Auto mit der defekten Kurbelwelle. Kurzform: Dahinten steht die defekte Kurbelwelle.

(28) (Die Verfahrensweise bei der taxonomischen Bestimmung einer biologischen Art ist prinzipiell die gleiche: So findet sich in einer zoologischen Sammlung ein ausgestopftes putziges kleine Tierchen, das durch ein Schildchen sogleich als Exemplar der Art Glis glis (L.) zu deutsch Siebenschläfer ausgemacht werden kann. Wenn die Führung durch die Sammlung dann mit dem Hinweis: „Das ist ein Siebenschläfer“ darauf aufmerksam macht, wird der weise Besucher zumindest vor sich hinmurmeln: „Ist ja kein richtiger Siebenschläfer, ist ja tot und ausgestopft.“)

(29) Als Mensch appliziert er mir möglicherweise schmerzstillende Mittel vor der Tortur. Das ist mir nicht gleichgültig, aber für den eigentlichen Akt der Reparatur gleichgültig. Ebenso gut könnte er mich fixieren und sein Handwerk ausüben, wie es ehedem die Bader gemacht haben, wenn sie das Objekt der Begierde extrahieren wollten.

Das Produkt

(30) Kurzum: der Zahnarzt repariert also in seiner sinnlich-menschlichen Tätigkeit nicht meinen (oder seinen) Zahn, sondern einen abstrakten Zahn unter der Form eines toten Dings. Und wenn der Zahn nicht schon tot ist, muß er in diesen Zustand überführt werden. Für meinen konkreten Fall nehme ich das aber billigend in Kauf.

(31) Dass der Zahnarzt dieses Objekt Zahn wieder zu meinem Zahn macht, zum Mittel meiner Subjektivität, hat er so natürlich nicht bedacht, er repariert den Zahn trotzdem zu meiner Zufriedenheit.. Für ihn genügt es zu wissen, dass mir der Zahn hinterher, wenn alles gut geht, nicht mehr weh tut, sich damit aus meiner Objektwelt verabschiedet. Endlich können sich mir wieder andere Objekte auftun, die meine Tätigkeit erheischen. Ich vergesse den Zahn, aber nicht den Zahnarzt.

Das Subjekt

(32) Wie auch immer ich ein Subjekt bestimme - als Selbstbewusstsein, als Handlungs-und Bewusstseins- , Rock - oder Hosenträger, als autonomes, selbstbestimmtes Teil der Gesellschaft oder ihm eine oder mehrere beliebige andere allgemeine Bestimmung verleihe, es bleiben Eigenschaften, die in der Trennung von seiner Tätigkeit verbleiben. Das heißt aber in jedem Falle, das diese Bestimmungen sich nicht verändern, wenn sich die Tätigkeit des Subjekts verändert. Die Tätigkeit bleibt gegenüber dem Subjekt akzidentiell und betrifft nicht das Wesen.

(33) Wenn wir aber annehmen wollen, daß das Wesen des Subjekts in seiner Tätigkeit besteht, muss das begriffliche Konsequenzen haben. Marx schlägt vor, den "Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit ... als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, ...subjektiv" [6] zu fassen.
Das konkret Allgemeine, die Bestimmtheit des Subjekts "Zahnarzt Dr. Extractio" liegt, wenn ich mich dessen annehme, nun nicht in irgendwelchen psychischen oder physischen Eigenschaften, Zielen, Wünschen, Ideen, Bedürfnissen der Person "Zahnarzt Dr. Extractio", sondern in seiner Tätigkeit, die er ausübt. Diese ist deshalb allgemein, weil es andere Zahnärzte gibt, die kariöse Zähne genauso behandeln, wie mein Dr. Extractio. Schließlich bin ich ja auch deshalb zu ihm gegangen und nicht, weil er so schön ist.

(34) In und mit seiner konkreten Arbeit hat sich wie gesehen zwangsläufig auch die Bestimmtheit seines Arbeitsgegenstandes, des abstrakten Zahns, und dessen Unterschied zu meinem Zahn ergeben. Die Tätigkeit meines Dr. Extractio figuriert dann natürlich in dieser Konstellation als konkret Einzelnes, als Beispiel also für das konkret Allgemeine.

(35) Das hat natürlich die auf den ersten Blick befremdliche Konsequenz, dass mein Dr. Extractio, den ich dann abends in der Kneipe treffe, ein anderes Subjekt ist, weil er offenkundig einer anderen Tätigkeit nachgeht. Das sind die Tücken der Konkretion, beiläufig aber auch der Grund, warum Marx im Kapital von konkreter Arbeit spricht.

(36) Die oben angemerkten „irgendwelchen psychischen oder physischen Eigenschaften, Ziele, Wünsche, Ideen, Bedürfnisse etc. der Person „Zahnarzt Dr. Extractio“ werden damit nun keineswegs weggeschwätzt, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Diese äußern, oder verwirklichen sich dann manchmal auch in anderen praktischen Kontexten der Menschen, wie wir bei unserem Dr. Extractio sehen werden, wenn wir seinen Weg aus der Praxis in die Kneipe verfolgen.

(37) Selbstverständlich hat mein Zahnarzt auch jede Menge Bestimmungen, in denen er sich von den physischen und psychischen Eigenschaften anderer menschlicher Individuen – unbeschadet ihres konkreten Subjekt-Seins - unterscheidet [7] . An solchen (endlichen) Eigenschaften erkenne ich z.B. meinen Dr. Extractio wieder, wenn er mir über den Weg läuft, Polizei und Geheimdienste können ihn auf der Grundlage ebendieser und auch weiterer Eigenschaften zum Zwecke der Terrorbekämpfung identifizieren.

(38) Wenn der geneigte Leser nun die Auffassung teilt, die Bestimmtheit des Subjekts Dr. Extractio liegt in der Bestimmtheit der Tätigkeit, in der mein Zahnarzt mit einer bestimmten Motorik seine Leiblichkeit, seine Mittel und sein Objekt, seinen abstrakten (meinen konkreten) Zahn zusammenbringt und meinen Zahn in erfreulicher Weise verändert, kann von einem Subjekt, getrennt von seiner Tätigkeit und den Mitteln seiner Tätigkeit keine Rede mehr sein.

(39) Das konkrete, wirkliche (weil wirkende) Subjekt Dr. Extractio finden wir nun mit Freunden in der Kneipe. Ich habe ihn wiedererkannt. Er verwirklicht sich als Subjekt diesmal im Gespräch und im Genuss von Wernesgrüner Bier. Hier sind ihm Geld (für’s Bier), sein Charme, sein Witz und seine Belesenheit (für das Gespräch) Mittel, durch die er die Subjektivität seiner Gegenüber bestätigt. (Im Falle des Bieres besonders dann, wenn er einen ausgibt.)

(40) Zähne behandeln, in der Kneipe sitzen, Balzac lesen, Klavier spielen ... machen seine Universalität aus, sind aber (solange er in der Kneipe sitzt) "nur" Tätigkeitsweisen der Möglichkeit nach, solange dieser Mensch von den Mitteln für diese Betätigungsweisen getrennt ist.

(41) Mein Dr. Extractio hat, wenn er nicht zuviel gesoffen hat, subjektiv das Wissen und die praktischen Fähigkeiten, die physischen und psychischen Voraussetzungen, sein Handwerk auszuüben - dabei bleibt's denn aber auch. Er wird aber erst zum bestimmten, wirklichen und damit konkreten Subjekt, wenn er die für seine Tätigkeit erforderlichen Mittel zur Hand hat und sich an meinen nächsten Zahn macht.

(42) Anmerkungen

[1] "sinnlich-menschlich" heißt hier nichts anderes, als dass diese Tätigkeit zunächst Gegenstand der Sinne eines menschlichen Beobachters ist, der ich selbst sein kann.

[2] leicht verändert nach MEW, EB I, 462 - Im Original wird natürlich davon ausgegangen, dass ich auch als Mensch produziert hätte.

[3] K. Marx: Einleitung [zur Kritik der Politischen Ökonomie], MEW 13, 623

[4] vgl. P. Ruben: Wissenschaft als allgemeine Arbeit. Sozialistische Politik (Westberlin) 1976, H.2, S. 7-39

[5] Rainer Hohlfeld: Der Mensch als Objekt von Biotechnologie und biomedizinischer Forschung , Gewerkschaftliche Monatshefte, 10 (1983) 591 f.

[6] Erste These über Feuerbach

[7] Der Zahnarzt, der mir meinen ersten Zahn gezogen hat, war einarmig. Welchen Zahn er gezogen hat, weiß ich natürlich nicht mehr.


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