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Warum vorauseilender Gehorsam auch im zwischenmenschlichen Bereich mehr schadet als nutzt

Maintainer: James Root, Version 1, 20.04.2004
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Warum vorauseilender Gehorsam auch im zwischenmenschlichen Bereich mehr schadet als nutzt

(1) Spätestens seit 9/11 ist vorauseilender Gehorsam als weitverbreitete Medienkrankheit in der Diskussion. Dabei handelt es sich, wie wir noch sehen werden, keinesfalls um ein verbales Konstrukt einiger "Spinner", "Fanatiker" oder was auch immer die gutbezahlten Angestellten der großen Nachrichtenhäuser als Titulierung für Ihre unabhängigen Kollegen übrig haben.

(1.1) Medienkrankheit, 22.04.2004, 01:13, Maike Arft-Jacobi: Könntest du bitte erklären, was mit "Medienkrankheit" gemeint ist?

(1.1.1) Re: Medienkrankheit, 22.04.2004, 14:15, James Root: Als "gesund" definiere ich Medien, die ihrer natürlichen Funktion, nämlich mit Mitteln wie investigativem Journalismus über die Geschehnisse um uns zu berichten, nachkommen. Erhält ein Redakteur - beispielsweise einer großen Zeitung wie dem Spiegel - eine Pressemitteilung einer anderen der vier Gewalten einer demokratischen Gemeinschaft (eine Konkretisierung wären z.B. Pentagon, Weißes Haus, Reichstag, Ministerium XY) und befragt die involvierten Entscheidungsträger (und ggf. von den Entscheidungen Betroffene), so kommt er damit seiner journalistischen Pflicht nach. Unterläßt er dies und schreibt stattdessen einen Artikel, der bestenfalls eine Umformulierung der ihm vorgelegten Pressemitteilung darstellt, so führt dies dazu, daß die Öffentlichkeit einseitig informiert wird, was den pluralistischen Grundgedanken einer aufgeklärten Gesellschaft unterminiert. Dann reden wir von "Medienkrankheit".

(2) Wenn wir von "vorauseilendem Gehorsam" sprechen, so müssen wir uns zunächst der Bedeutung der beiden Worte, "vorauseilend" und "Gehorsam" klar werden. Gehorsam bedeutet Autoritätshörigkeit, d.h. ich verinnerliche den Willen einer bestimmten natürlichen oder juristischen Person ungeachtet der Tatsache, ob er meinen eigenen Interessen entspricht oder diesen zuwiderläuft. Im Kindesalter ist dies ein völlig normaler Vorgang, da wir uns hier - normalerweise aufgrund mangelnden Wissens um die Hintergründe der jeweiligen Situation - darauf verlassen, daß die uns erteilten Befehle im Interesse unseres Wohlergehens sind. Im Laufe unserer Adoleszenz, d.h. unseres Erwachsenwerdens, beginnen wir dann, die (scheinbar feststehenden) Regeln zu hinterfragen. Wir wollen wissen, warum wir nach dem Verfalldatum schauen müssen, wenn wir etwas aus dem Küchenschrank holen. Wir wollen wissen, warum wir Hausaufgaben machen müssen. Wir wollen wissen, warum wir all die Dinge lernen sollten, die man uns in der Schule beizubringen versucht. Wir wollen wissen, warum wir darauf achten müssen, nur die Toilette mit dem richtigen Symbol auf der Tür aufzusuchen. Es sind Fragen wie diese, die für die Transformation vom kindlichen zum erwachsenen Bewußtsein unerläßlich sind. [1] Letztlich stellt das beharrliche Fragen nach dem, was hinter den Dingen steckt, die Grundlage der wissenschaftlichen Forschung an sich dar. Ohne die Möglichkeit, solche Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, gäbe es z.B. keine Medizin, und wir müßten uns etwa nach der Infektion mit einem simplen Grippevirus auf unseren unweigerlichen Tod einstellen. Nur indem wir den Sinn dessen verstehen, was wir tun, können wir selbstverantwortlich handeln und leben. Indem ich eine Entscheidung damit begründe, daß jemand anderes sich genauso entschieden hat, stehle ich mich aus der Verantwortung für meine Handlung. Eine solche Argumentationsweise entspricht nicht der eines aufgeklärten Individuums, sondern etwa der einer Ameise, deren Interaktion mit ihren Artgenossen auf dem Austausch eines begrenzten Satzes verschiedener Hormone besteht. Ein bekanntes Beispiel aus dem Fernsehen hierfür liegt in der Serie "Raumschiff Enterprise" vor, wo es unter all den außerirdischen Zivilisationen auch eine Spezies namens "Borg" gibt - eine Ansammlung fast aller Entscheidungsfreiheit beraubter Maschinenwesen, die nur im Sinne eines irrationalen Eroberungsauftrags handeln können. Ein Borg könnte - die benötigte Technik vorausgesetzt - die gesamte Biosphäre eines Planeten vernichten, ohne sich überhaupt der Destruktivität seiner Tat bewußt zu sein - weil ihm das Wissen fehlt, um seine Handlungen selbst zu bewerten. Jeder Diktator vom Planeten Erde hätte wohl seine helle Freude daran (gehabt), das Oberhaupt dieser Spezies zu sein.

(2.1) "ich lehne das ab", 21.04.2004, 16:41, Meike Udelhoven: Ich halte die Definition als Annäherung an den Begriff der Gehorsamkeit insofern für unrichtig, d.h. FALSCH, als der Begriff hier a) als Aktion, die man aktiv ergreifen kann dargestellt wird und die daraus abgeleitet b) eine vermeintliche Option zum Ungehorsam darstellt. Gehorsamkeit ist aber weit davon entfernt eine aktive Tätigkeit (oder im Sinne von "sich aus der Verantwortung stehlen" auch Passivität)zu sein...Gehorsamkeit ist vielmehr Teil einer Interaktion mit dem eigenen Umfeld (die Beispiele "Kindeserziehung" und so, sind auf den Kulturkreis als ein solches Umfeld anwendbar). In dieser Interaktion stellt sich Gehorsamkeit als Teil einer ganzen Bandbreite von reaktiven Aktionen, also vielmehr Reaktionen dar. Ich will das jetzt nicht allzu deterministisch deklarieren. Das bittet dann auch keinen Boden für eine Diskussion,ich stelle es vielmehr zur Diskussion an diesem Punkt und ziehe noch keine Schlüsse daraus..

(2.2) Definition Gehorsam, 22.04.2004, 01:28, Maike Arft-Jacobi: Gibt es einen Unterschied zwischen "Gehorsam" und "Autoritätshörigkeit" oder sind das zwei Wörter für dasselbe? Ist "Autoritätshörigkeit" dasselbe wie "den Willen einer ... Person ungeachtet der Tatsache ... zu verinnerlichen" oder gibt es einen Unterschied zwischen diesen beiden?

(2.2.1) einsamGehörgang, 25.04.2004, 22:00, Uvvell H:W:Berger: im 12.Jhdt versank das Wort "aufmerksamkeit-schenken", ein Auge auf etwas werfen, jemandem sein Ohr leihen, zu obeir -beobachten ins Gehörige, zwar hat der Mensch kein Horn (krümmt sich beim Widder spitz nach vorn) was sich nicht gehört, wurde heimlich; und was sich nicht hören ließ, lernte man fühlen,
täts tautologisch selbstda rithus sein, was wären dann schwab´, schweig´ und schwein´?
gruß_uweb

(3) Wir können also sofort zwei Nachteile von Gehorsam feststellen: 1. Gehorsam behindert nicht nur die geistige Entwicklung des Individuums, sondern die technologische Entwicklung einer ganzen Zivilisation. 2. Gehorsam führt zum Verlust von Moral, da wir nicht nach unseren eigenen Wertmaßstäben handeln, sondern unser Handeln nach unhinterfragt übernommenen Vorstellungen eines ordentlichen Lebens ausrichten.

(3.1) Gehorsam als Ursache, 22.04.2004, 02:53, Maike Arft-Jacobi: Der Eindruck, dass man an dieser Stelle schon etwas "feststellen" kann, ergibt sich m.E. daraus, dass "Gehorsam" negativ bewertet wird und "die geistige Entwicklung des Individuums", "die technologische Entwicklung" sowie "Moral" positiv. Die unterstellten Zusammenhänge zwischen Gehorsam und Behinderung/Verlust von diesem und jenem beruhen an dieser Stelle auf einer moralischen Bewertung: aus Schlechtem folgt eben Schlechtes.
Sobald man die Bewertungen ändert, löst sich der Zusammenhang auf und es zeigt sich, dass die "Feststellungen" begründungsbedürftig sind. Zum Beispiel: Gehorsam kombiniert mit Wissensdrang und technologischer Entwicklung könnte prima Atombomben ergeben. Gehorsam kombiniert mit Moral könnte zur Steinigung abtreibender Frauen motivieren.
Ich glaube, dass in der Argumentation eine Form von "Autoritätshörigkeit" wirksam ist. Die "Autorität" ist dabei ein verinnerlichtes System, das so fest sitzt, dass es nicht mehr auffällt, wenn auf seiner Basis "Feststellungen" getroffen werden, die eigentlich völlig in der Luft hängen. Zum Beispiel unterstellt die Argumentation, dass "Moral" bedeutet, "nach unseren eigenen Wertmaßstäben [zu] handeln" und dass dies auf jeden Fall besser sei als unhinterfragt Vorstellungen zu übernehmen. Was, wenn die Moral, das Gut/Schlecht-Denken selber, eine unhinterfragte Übernahme von Vorstellungen wäre? Was, wenn das Konzept der "eigenen Wertmaßstäbe" das Resultat einer Individuuierung wäre, die auf dem Gegensatz und der Einsamkeit der Individuen in bürgerlichen Gesellschaften gründet?
Wie wirkt sich der Gehorsam, den wir nicht bemerken, auf zwischenmenschliche Beziehungen aus? Wie können wir einen Gehorsam bemerken, den wir nicht bemerken?

(4) Weiterhin birgt blinder Gehorsam in der Schule, am Arbeitsplatz, im Verein - allgemein: in der Gemeinschaft mit anderen Menschen - die Gefahr, daß sich auch objektiv falsche Vorgehensweisen immer weiter ausbreiten. Ein Beispiel:

(4.1) Blinder Gehorsam und objektiv falsch, 22.04.2004, 03:04, Maike Arft-Jacobi: Was unterscheidet "blinden Gehorsam" von "Gehorsam"?
Bedeutet der Ausdruck "objektiv falsch", dass es eine Wahrheit gibt, die nicht zu hinterfragen ist?

(5) Die Geschäftsführung eines Betriebs verbietet allen Angestellten per Arbeitsvertrag, ihre Fahrzeuge auf dem Firmengelände zu parken, obwohl dieser Platz für das Tagesgeschäft der Firma nicht benötigt wird. Weil die gehorsamen Angestellten nicht auf die Idee kommen, nach dem (vermeintlichen) Sinn dieses Verbots zu fragen, parken sie ihre Autos und Fahrräder auf öffentlichem Territorium. Das geht etwa bei fünf Angestellten noch gut, aber spätestens ab zehn Angestellten sind diese dazu gezwungen, allmorgentlich die Umgebung der Firma nach Parkmöglichkeiten abzugrasen. Um nicht zu spät an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen, beginnen sie schließlich, auch im Parkverbot zu parken (und die damit einhergehenden rechtlichen Konsequenzen zu tragen) oder sich im Falle eines gleichzeitigen Interesses an einem nahegelegenen Parkplatz in die Haare zu geraten. Und so breiten sich unter den Angestellten sinnlose Feindseligkeiten aus und das Betriebsklima beginnt, darunter zu leiden. Die Geschäftsleitung - ebenfalls nicht daran gewohnt, nach dem Warum zu fragen - beklagt indes die rückläufige Produktivität ihrer Angestellten und flucht über "faules Kommunistenpack", während ihre zwei bis drei Autos auf dem 20 mal 20 Meter großen gepflasterten Innenhof alleine dastehen.

(5.1) 22.04.2004, 03:07, Maike Arft-Jacobi: Wäre dies alles nicht großartig, wenn der Betrieb Atombomben herstellt?

(5.1.1) ABC#D#trieb fies-moll, 25.04.2004, 22:06, Uwe Berger: oder Autobomben oder Mautkatakomben oder "a tombriders digest"

(6) Kommen wir nun zu der Bedeutung des Wortes "vorauseilend". Kein denkendes Wesen wird einem anderen denkenden Wesen vorauseilen, wenn es nicht zumindest glaubt, das andere denkende Wesen bedürfte einer gewissen Führung, um sich nicht selbst zu schaden. Wenn wir etwa einem blinden Menschen begegnen, dann greifen wir auch nicht blindlings nach seiner Hand, sondern fragen schon alleine aus Gründen wie Höflichkeit oder Menschenwürde, ob die betreffende Person überhaupt unsere Hilfe benötigt. Nur in ganz bestimmten Ausnahmefällen - etwa, wenn wir der Vormund eines an Alzheimer erkrankten Menschen sind - können wir auch trotz einer Ablehnung unseres Hilfsangebots eingreifen. Indem ich einem anderen Menschen vorauseile, handle ich also im Glauben, dieser Mensch sei aufgrund von irgendwie gearteten Einschränkungen nicht voll handlungsfähig und benötigt daher meine Hilfe.

(6.1) Blinde, 22.04.2004, 03:13, Maike Arft-Jacobi: Dies klingt sehr liebenswürdig und moralisch. Es unterstellt indessen, dass "wir" nicht blind sind und nicht Alzheimer haben, Blinde und Alzheimer-Leute also nicht zu "uns" dazu gehören. Wie verhalten sich Normalität und Gehorsam zueinander?

(6.2) Ist bedürftig der Bedarf, wie er soll, 25.04.2004, 23:05, Uwe Berger: dann kantn sein, daß... und lenken vor-aus_eiligen Blicken folgt. Nun, henken will gelehrnt sein, sagt der Zimmermann. Die enkel fechten´s besser aus. Und mancher Herrscher braucht Vorkoster, weil falz er glaubt, er hätte noch nicht gelebt und könnte vermeiden, vorher zu wissen, wie tod schmecken tut. Alzheimer ist die Überzeichnung dessen, des "noch nie etwas für sich tun zu konnten". Impulsverschiebung in die paranoide exi^tens. (Benötigung macht erfinder frisch)

(7) Weiter oben habe ich deutlich gemacht, daß Gehorsam gegenüber einer bestimmten Autorität bei mir die Überzeugung voraussetzt, daß ich mich auf diese Autorität verlassen kann, d.h. ich muß der Meinung sein, daß die Befehle, die mir diese Autorität erteilt, ungeachtet ihres konkreten Inhalts meinem Wohle dienen. Spätestens hier müsste den aufmerksamen Leserinnen und Lesern der Widerspruch klar werden, in dem ich mich verfange, wenn ich vorauseilenden Gehorsam praktizieren will: Ich erkenne durch meinen Gehorsam zum einen stillschweigend an, daß mir diese Autorität geistig voraus ist, verleugne diese Sichtweise aber gleichzeitig durch meinen Versuch, schon im Voraus zu erahnen, was mein Vordenker von mir erwarten könnte. Anders ausgedrückt: Durch meinen Gehorsam schlüpfe ich in die Rolle eines Führungsbedürftigen, während ich gleichzeitig meinem Führenden voraus sein will - guten Morgen, Schizophrenie und gute Nacht, Entwicklung!

(7.1) Autorität, 22.04.2004, 03:25, Maike Arft-Jacobi: Diese Ableitung begeistert mich! Was ist, wenn ich (40) Annika (4) in vorauseilendem Gehorsam ein Eis kaufe, weil ich weiß, dass sie mir in 5 Minuten befehlen wird, eins zu kaufen? Geht das oder ist das kein Gehorsam? Ist Gehorsam nur gegenüber Autoritäten möglich? Und wenn ja: sind es bestimmte Formen von Autorität? Könnte es auch eine Autorität des Willens geben, den ich nicht verstehe, dem ich mich aber beuge, ohne dazu gezwungen zu sein?

(7.1.1) gutenetag, 25.04.2004, 22:50, Uwe Berger: beäugen sich zungen, denn sie verstehen? darf sich der Zukunftforscher dort kratzen, wo er weiß, daß es ihn gleich jucken wird? Besser für Annikaruskorsira wär´, erst 5 Minuten nach dem "Befehl" zu preagieren, da das Kind dann nicht nachvollziehen kann, welche seiner Handlungen eigentlich die Bewegende wäre. Auslöser für Neurodermitis kann auch sein, daß jede pRegung des Kindes beackert wird (kratzt es sich am Unterarm ist es fünf und will, aber was?)

(8) Einer gesunden und für beide Seiten förderlichen Beziehung zwischen zwei Menschen steht diese stereotype Form der Loyalität ebenfalls im Wege. Das Aufeinander-Eingehen und das Kennenlernen des anderen Wesens, das die Grundlage einer intimen, dauerhaften und im positiven Sinne fruchtbaren Beziehung zwischen zwei Menschen bildet, kann nicht stattfinden, wenn sich eine Hälfte kritiklos und unreflektiert der anderen fügt. Dann handelt es sich nämlich nicht mehr um ein Verhältnis von Mensch zu Mensch, sondern um ein Verhältnis von Vorgesetztem zu Untergebenem, und was nach außen hin als "Liebe" präsentiert wird, ist nicht mehr als ein entwürdigendes Machtspiel. Daß solche Paare - egal, ob hetero oder homo - keine förderliche Umgebung für die Entwicklung eines Kindes darstellen, sei hier nur am Rande vermerkt.

Literatur

(9) [1] Branden, N.: Die 6 Säulen des Selbstwertgefühls, München 1995, S. 193 ff.

(9.1) Re: Literatur, 25.04.2004, 22:51, Uwe Berger: und an der siebenten säule steht Lord Byron?


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